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Wie lebte ich als Kind mit einer Behinderung? Was erlebte ich mit dem ersten Freund? Was erlebte ich als Teenager? Wie ist es die Ausbildung in einer Institution zu absolvieren? Wie fühlt es sich an, wenn Freundschaft sich in Liebe verwandelt? Wie fühlt es sich an, wenn ich spüre, dass der Tod näher kommt? Wie bereitet mich mein Freund auf sein baldiges Sterben vor? Wie bewältige ich seinen Tod? Wie lebe ich heute im Lindli-Huus.
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Seitenzahl: 115
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Widmung
Für Thomas, meine Familie und Freunde
Herzlichen Dank an die Pro Infimis Thurgau-Schaffhausen und Cerebral Schweiz
Vorwort
Zweites Vorwort
So lernte ich Tom kennen
Raufereien
Toms Freude über seinen Elektro-Rollstuhl
Ein wichtiger Brief
Die Sitzschale wird angepasst
Endlich kommt mein Elektro-Rolli
Pferdegeschichten
Der Unfall
Sprachlos
Ein neues Sitzkissen für Tom
So ein Zirkus
Schulverlegung in Rüdlingen
Glück im Unglück
Erlebnisse mit Tom
Ferien mit Tom
Arzttermin in Winterthur und in Zürich
Vorbereitungen für die Klinik
Besichtigung der Stiftung Rodtegg
Empfang in der Wilhelm Schulthess Klinik
Erste grosse Visite und verschiedene Untersuchungen
Der erste Tag
Der Haloring
Schule und Basteln im Spital
Die erste Operation
Der Aufwachraum
Die zweite Operation
Anderes Körpergefühl
Freude für den Professor / Urlaub daheim
Seltsame Schmerzen
Entlassung aus der Klinik
Schulverlegung in Bad Ragaz
Gemischte Gefühle
Empfang in der Rodtegg
Nachdenkliche Erlebnisse
Neue Erfahrungen
Verzweifelt
Willst du mit mir gehen?
Zärtlichkeiten austauschen
Vortrag über mich selbst, Sexualität und Behinderung
Fasnachtszeit
Schnupperpraktikum in der BFL
Die Sauerstoff-Flasche
Abschluss in der Berufsfindung
Zeltlager
Erinnerungen an die Pfadi trotz allem
Wechsel auf die Erwachsenen-Wohngruppe
Neues Zimmer, fremde Menschen
Knall
Toms Gesundheit
Sterbenskrank
Das weitere Leben nach Toms Tod
Nachtrag
Zwei meiner Freizeitbeschäftigungen: die Veeh-Harfe und Bonsai
Mein grosser Wunsch – ein Ausflug zur grossen Bonsai-Ausstellung, 9. 9. 2017
Mein Tag
C., eine lange Freundschaft
Nachwort
Mein Name ist Regula Liner, ich bin 20 Jahre alt und seit Geburt körperbehindert. Cerebrale Parese ist der Name der Behinderung, sie zeigt sich in ganz verschiedenen Formen. Bei mir können Bewegungen nicht so genau koordiniert werden. Meine Muskeln sind spastisch, das heisst permanent angespannt, aber nicht schmerzhaft. Der Intellekt ist aber überhaupt nicht betroffen.
Mein Freund heisst Tom. Er bat mich, ein Buch über unser Leben zu schreiben. Damals sah ich ihn ungläubig an und fragte, ob er denn nun völlig verrückt geworden sei. Tom meinte es aber sehr ernst.
Nun erfülle ich Tom diesen grossen Wunsch. Ich kann aber nicht garantieren, dass in meinem Buch alles ganz und gar der Wahrheit entspricht. Mit der Erinnerung an vergangene Zeiten wird doch vieles verklärt. Ich versuche ganz bewusst zu schreiben. Nun hoffe ich, dass diese Biografie viel Freude bereitet und Ihnen einen spannenden Einblick in unseren Alltag ermöglicht.
Regula Liner
Nun bin ich 46 Jahre alt. Tom verstarb am 2. April 1993, seine Mutter lebt ebenfalls nicht mehr. Sinn dieses Buches ist: Tom soll nicht vergessen werden. Seine grosse Angst war, dass seine Freunde und Weggefährten ihn nicht im Gedächtnis behalten. Dies ist einer der Gründe, weshalb ich überhaupt zu schreiben begann. Während des Schreibens durchlief ich viele Phasen. Zu schreiben begonnen haben wir zusammen. Toms Freude während des Schreibens war gross. Er fühlte sich von mir ernst genommen. Sein innigster Wunsch wurde nun langsam Wirklichkeit. Ich konnte nicht ahnen, dass bis zum fertigen Buch 23 Jahre vergehen würden.
So vergingen viele Jahre und ich hätte nicht mehr an die Verwirklichung des Buches geglaubt, im Nachhinein würde ich eine so grosse Herausforderung nicht mehr annehmen. Ich bin jedoch sehr stolz, dass ich es geschafft habe trotz vieler Schreib-Blockaden und Zweifel, ob sich die Arbeit lohnt. Rückblickend, denke ich, habe ich Tom auf andere Weise erlebt. In Gedanken bin ich die Situationen seines Lebens durchgegangen, hatte das Gefühl, dass Tom mit dabei war und dass er irgendwie auch beteiligt war.
Mein Dank geht an meine Familie, insbesondere an meine Neffen, die mit grosser Neugier auf das Buch warten. Nicht vergessen möchte ich das Lindli-Huus, die Mitarbeiter des Team Wohnen, die mir vor allem mit Hilfe der Funktionalen Gesundheit ermöglicht haben, so zu leben, wie ich es möchte, nämlich sehr selbstständig, trotz meiner Beeinträchtigung.
Viel Freude beim Lesen!
Im Winter 1980 lernte ich Tom kennen. Unsere erste Begegnung war reiner Zufall, in der Heilpädagogischen Schule Ungarbühl. Damals war ich gerade in der zweiten Klasse. Es war der erste Schultag nach den Sportferien. Kaum war ich in der Schule angekommen, teilte mir die Schulleitung mit, dass meine Lehrerin sich in den Ferien das Bein gebrochen hatte. Ich müsse jetzt zu einer anderen Lehrerin wechseln. Was blieb mir anderes übrig, als mich mit dieser Tatsache abzufinden. Als ich im Klassenzimmer war, sah ich Tom zum ersten Mal. Er sass auf seinem Stuhl, schaute schüchtern zu mir herüber, sagte aber nichts.
Die neue Lehrerin war zum Glück sehr nett, so gewöhnte ich mich schnell in der Klasse ein. Langsam lernte ich auch Tom kennen. Wir waren fünf Kinder in der Klasse. Drei Knaben und zwei Mädchen. Das 1. Jahr mit Tom verging. Dann sagte man mir, dass ein Mädchen neu in die Klasse kommt, und bald sass S. neben mir.
Welche Behinderung Tom hatte, wusste ich überhaupt nicht. Es fiel mir nur auf, welche Mühe es ihn kostete, vom Stuhl aufzustehen. Irgendwann hörte ich das Wort «Muskelschwund» zum ersten Mal. Ich konnte mir unter dieser Diagnose überhaupt nichts vorstellen, aber mit der Zeit bekam ich mit, wie es Tom fast von Tag zu Tag schwerer fiel, auf seinen eigenen Beinen zu stehen, zu gehen, vom Stuhl aufzustehen. Vor allem fiel mir immer wieder auf, wie Toms Zunge von Zeit zu Zeit einfach so aus dem Mund hing. Ich fand es unanständig, aber auch ein bisschen komisch. Deswegen lachte ich ihn auch ein wenig aus, bis mir eine Praktikantin den Grund dafür erklärte. Tom habe eben Mühe, seine Zunge immer im Mund zu behalten, er müsse sich immer sehr darauf konzentrieren. Zuerst störte mich dies sehr.
Das erste Mal, als ich mit Tom zusammen etwas unternahm, war an einem Zauber-Nachmittag. Alle Kinder, die wollten, durften zwei Stunden lang einem Zauberer zusehen. Ich selbst kann mich kaum noch an dieses Ereignis erinnern. Ich weiss nur noch, wie der Zauberer eine ganz lange Nadel durch einen grossen durchsichtigen Ballon schob, ohne dass dieser zerplatzte. Jedoch als er sie wieder herauszog, zerplatzte der Ballon dann doch noch mit einem Knall, der so laut war, dass ich fast aus meinem Rollstuhl fiel. Während wir beide noch staunend dem Zauberer zusehen, möchte ich Toms Krankheitsgeschichte erzählen. Tom wurde am 10. 12. 73 geboren. Im Alter von sechs Jahren musste er operiert werden. Während dieser Operation setzte seine Atmung plötzlich aus. Zum Glück konnten die Ärzte Tom wieder reanimieren. Durch Gewebeproben wurde dann Toms Behinderung festgestellt.
Muskeldystrophie Duchenne. Die Behinderung wurde immer sichtbarer, langsam, aber unaufhörlich. Zum Beispiel fiel es ihm immer schwerer, die Füsse zu heben, auch wenn er nur ein Trottoir zu überwinden hatte. Es kam auch öfter vor, dass Tom hinfiel und nicht wieder aufstehen konnte. Als das wieder einmal vorkam, so glaube ich heute, wurde Tom das erste Mal richtig bewusst, dass mit der Zeit seine Kräfte immer mehr nachlassen würden. S. litt auch an einer progressiven Behinderung (Friedreich’sche Ataxie). Sie war kräftiger als Tom und ihm deshalb überlegen. Manchmal in der Pause oder kurz nach der Schule, wenn gerade niemand in der Nähe war und wir auf den Schulbus warteten, gab sie Tom einen kleinen Stoss in die Rippen, sodass Tom wegen seiner nachlassenden Kräfte sofort hinfiel. Wenn er dann so hilflos am Boden lag, tat er mir richtig leid. Tom wurde dann immer jähzornig, sein Kopf wurde knallrot und er hatte nicht mehr Kraft genug, um aufzustehen. Das war für mich sehr schlimm, zumal ich ihm ja nicht helfen konnte. Mit zehn Jahren bekam Tom einen Rollstuhl. Wie er diese Tatsache verarbeitete, dass er von nun an sein ganzes Leben in dem orangefarbenen Ding auf vier Rädern verbringen musste, weiss ich nicht mehr. Wahrscheinlich war Tom noch zu jung, um wirklich verstehen zu können, dass es nie mehr besser, sondern nur noch schlechter würde. Tom war in dieser Zeit aggressiver als sonst. Das letzte Mal, als ich Tom stehen sah, war bei ihm zu Hause. Seine Mutter hielt ihn an den Schultern fest, sodass Tom ein paar Schritte gehen konnte. So jedenfalls habe ich dieses Erlebnis noch in dunkler Erinnerung.
Tom hatte auch von Anfang an Physiotherapie. Eine Zeit lang hatten er und ich dieselbe Therapeutin. T. kam von den Niederlanden. Sie war sehr sympathisch und hatte eine gute Art von Humor. Tom mochte sie sehr. Bis Tom jemand mochte oder gar vertraute, dauerte es meistens sehr lang. Zu ihr fasste er nur sehr langsam Vertrauen, dafür umso tiefer. Wenn aus einem Grund ein Therapeutinnen-Wechsel anstand, beliess man Tom bei T., und ich musste wohl oder übel zu einer anderen wechseln. Ich verkraftete solche Situationen viel leichter und schneller. Der ständige Wechsel machte mich aber auch wütend. Auch während der Ferien hatte Tom bei T. weiterhin Therapie. Als er noch bei T. und ich bei M. Therapie hatte, bekamen wir manchmal die Gelegenheit, uns am Ende der Stunde noch körperlich auszutoben. Wir «verhauten» einander, aber es tat uns niemals wirklich weh. Das muss man sich so vorstellen. Tom sass auf der Matte, die Beine gekreuzt. Ich lag auf der Seite dicht neben ihm. Nun liess sich Tom zur Seite kippen direkt auf mich drauf. Jetzt konnte ich ihn am Ohr ziehen, in die Nase kneifen oder an den Haaren ziehen und in die Rippen boxen. Dieses Gerangel dauerte etwa zehn Minuten. M. und T. amüsierten sich währenddessen köstlich, achteten darauf, dass wir nicht doch noch zu grob wurden, und vor allem, dass niemand hereinkam. Vor allem nicht die Schulleitung oder der Schularzt. Das war das einzige Mittel, um unsere überschüssigen Kräfte loszuwerden. Wenn wir danach wieder in unseren Rollstühlen sassen, fühlten wir uns glücklich und zufrieden.
Mit zwölf Jahren bekam Tom einen Elektro-Rollstuhl, weil er sich im handbetriebenen Rollstuhl nicht mehr fortbewegen konnte. Ich erinnere mich, dass ich damals sehr eifersüchtig auf Tom war. Es war schwer für mich zu verstehen, warum wir nicht gleichzeitig einen Elektrorollstuhl bekamen. An jenem Morgen, als der Rollstuhl geliefert wurde, bekam Tom vor lauter Freude Herzprobleme. Gespannt warteten wir auf das Eintreffen des Lieferwagens. Tom fühlte sich wieder pudelwohl. Als dann endlich das Auto eintraf, freuten wir uns sehr. Das Besondere war auch, dass dies der erste elektrische Rollstuhl in der Schule war. Als Tom im Rollstuhl sass, grinste er von einem Ohr zum anderen. Ich freute mich auch für ihn, aber ich dachte auch daran, wie es wohl sein würde, wenn ich einen solchen Rollstuhl bekäme. Am Abend zu Hause gab es für mich kein anderes Thema. Ich versuchte meine Eltern zu überreden, mir so schnell wie möglich auch so einen Rollstuhl zu besorgen. Sie sagten jedoch, erst wenn ich mich in der Schule verbessern und anstrengen würde, bekäme ich vielleicht in einem Jahr auch so ein Vehikel. Damit dieser Wunsch Wirklichkeit würde, wollte ich mich mit ganzer Kraft dafür einsetzen. Es gelang mir recht gut, dieses Vorhaben umzusetzen. Meine vermehrten Anstrengungen zeigten Erfolg.
Da ich wusste, dass mein Kinderarzt für die Verfügung für den Rollstuhl ein Arztzeugnis unterzeichnen musste, schrieb ich ihm einen Brief, in dem ich ihm meine Wünsche mitteilte. Die Möglichkeit, selbstständig und alleine auf Entdeckungsreise zu fahren. Mehr Unabhängigkeit und Freiraum zu erlangen und viele eigene Erfahrungen machen zu können. Ich bat ihn, das Formular zu unterschreiben. Der Arzt war über diesen Brief sehr gerührt. Er war erstaunt, wie gut und klar ich mich schriftlich ausdrücken kann. Er schrieb zurück, dass er selbstverständlich meinen Wunsch unterstützen werde.
Nachdem der Antrag an die IV gestellt worden war, verstrichen nun einige Monate, bis der Brief kam, der E-Rollstuhl sei bewilligt worden. An Ostern wurde nun auch mein Rollstuhl bestellt.
Nun musste Mass genommen und die Sitzschale angepasst werden. An einem heissen Sommernachmittag war es so weit. In einem Orthopädiegeschäft wurde mir eine Matrixschale angepasst. Das ist ein System, aus vielen beweglichen Plastikteilchen bestehend. Sie wurden ganz nah an meinen Körper gedrückt, und wenn es mir dann gut sass und bequem war, wurde jedes einzelne Teilchen mit einem Schraubenzieher angezogen. So konnte nichts mehr verrutschen, und die Schale hatte genau meine Form. Ich war sehr froh, als ich wieder in meinem Rollstuhl sass, denn die ganze Prozedur dauerte drei Stunden. Nun hiess es nur noch warten.
Zirka vier Monate vergingen. Es waren gerade Sommerferien, ich war mit einer Bekannten im Schwimmbad. Als ich nach Hause kam, teilte mir meine Mutter freudestrahlend mit: «Morgen wird dein E-Rolli geliefert.» Vor lauter Aufregung schlief ich in dieser Nacht natürlich kaum. Am anderen Morgen gegen zehn Uhr wurde der Rollstuhl geliefert. Als ich darinsass, fühlte ich mich wie der glücklichste Mensch der Welt. Der Monteur erklärte mir die Steuerung. So fuhr ich das erste Mal alleine durch die Wohnung. Der Mann staunte über meine Fahrkünste. So schnell habe noch niemand fahren gelernt. Die grosse Freiheit begann. Der erste Ausflug war eine merkwürdige Angelegenheit. Es geschah an einem schönen warmen Sommerabend. Ich hatte zum ersten Mal Lust, einfach loszufahren. Zum Spass fuhr ich dann ganz schnell los, als meine Eltern gerade nicht zu mir schauten. Ich kam aber nicht weit. Meine Mutter merkte rasch, dass ich ausgerissen war. Mein Vater kam mir auch schon hinterher. Sie konnten mir aber nicht böse sein. Sie sagten nur, ich solle ihnen in Zukunft mitteilen, wann ich spazieren fahren möchte. Ab diesem Moment durfte ich alleine los. So fuhr ich manchmal nach der Schule die Strasse entlang.