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Eine mutige Frau im Kreuzverhör Wenn Gott uns ruft, zählt nur noch das. Sabine gibt in Deutschland alles auf und gründet eine Schule für syrische Flüchtlingskinder in der Türkei. Doch das wird nicht überall gern gesehen ... Männer in langen schwarzen Mänteln verhören sie am Flughafen. Als sie wissen will, warum, heißt es: Sie stehe auf einer Terrorliste. Die deutsche Botschaft rät ihr, ihren Freunden ihre Flugdaten zu schicken: "Für den Fall, dass Sie verschwinden …" Doch wenn Gott uns ruft, passt er auch auf uns auf. Der unglaubliche Bericht einer ganz normalen Deutschen, der zeigt, was Gott tun kann, wenn wir uns auf ihn einlassen. inkl. 8 S. Bildteil
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Seitenzahl: 388
Veröffentlichungsjahr: 2022
SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
Einige Namen im Buch wurden zum Schutz der Persönlichkeit geändert.
Die Autoreneinnahmen für dieses Buch wird der CVJM Schlesische Oberlausitz e. V. für syrische Kinder in Syrien und der Türkei einsetzen.
ISBN 978-3-7751-7568-5 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-6104-6 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck
© 2022 SCM Verlagsgruppe GmbH
Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]
Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Weiter wurden verwendet:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen
Bildnachweis:
Alle Bildrechte liegen bei Sabine Schnabowitz,
außer: Sarah Yona Zweig: S. 4 unten, S. 5, S. 6 oben
Birte Wieda: S. 8 unten
Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de
Umschlaggestaltung: Mathea Kitzki, Hildesheim
Titelbild: © Jonas Kinski Photography, www.jonaskinski.de (Porträt); © Unsplash,
Daniel Burka (Gebäude)
Autorenfoto: © Lena Benecke
Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Druck und Bindung: typoscript GmbH, Walddorfhäslach
Über die Autorin
1 – Loslassen
2 – Die unendliche Treppe
3 – Paranoia – oder wem kann man vertrauen?
4 – Ein zweiter Anfang und ein zweites Ende
5 – Über Nacht
6 – Fünf Fische
7 – Leute wie dich wollen wir hier nicht
8 – Berlin – meine Hoffnung
9 – In die Höhle der Löwen
10 – Salam – Frieden in stürmischen Zeiten
11 – Terrorist oder harmlos?
12 – Die Welten verschwimmen
13 – Unberechenbar
14 – Mehr wert als Gold
15 – Ein Ende mit Schrecken
16 – Die Wüste lebt
17 – Wunder über Wunder
18 – Loslassen – immer wieder
Danke!
Türkische und arabische Vokabeln
Anmerkungen
Sabine Schnabowitz (Jg. 1981) lebt in Wiesbaden. Sie ist Jugendreferentin, interkultureller Coach und arbeitet im Büro einer Missionsgesellschaft. In ihrer Freizeit engagiert sie sich mit ihrem Mann und ihrem dreijährigen Sohn in einer evangelischen Kirche in einem Brennpunktstadtteil.
»Was ist denn los? Warum geht der Flieger immer noch nicht auf die Startbahn?«, fragte ich mich selbst. Langsam wurde ich nervös. Es war der 7. Dezember 2011. Draußen war es dunkel und es regnete in Strömen, während ich mich im halbwarmen Flieger in meinen Schal einkuschelte und darauf hoffte, bald schlafen zu können. Inzwischen waren wir schon fast eine Stunde hinter dem Abflugplan, das würde den Leuten, die mich mitten in der Nacht am Flughafen von Gaziantep abholen sollten, sicher nicht gefallen. Wahrscheinlich würde die erste Begegnung dadurch etwas getrübt, um es einigermaßen positiv auszudrücken. Meine Laune sank immer weiter in den Keller und die Angst, schon zu Beginn in Gaziantep einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, nahm zu.
Die Stimmung im Flugzeug war so gar nicht nach Abflug. Die Lichter waren zwar längst aus, aber alle liefen laut telefonierend mit ihren Handys auf dem Gang herum. Hier und da wurden Beutel mit Pistazien und anderen Leckereien durch die Sitzreihen gereicht und die Lautstärke der Gespräche stieg immer mehr. Dann kam eine Durchsage auf Türkisch, von der ich kein Wort verstand. Mein Sitznachbar erklärte mir, dass zwei Passagiere nicht zum Boarding erschienen waren, ihr Gepäck aber aufgegeben hatten. Nun musste dieses Gepäck im Bauch des Flugzeugs ausfindig gemacht und zurück zum Flughafen transportiert werden. Danach sollte es aber gleich losgehen, deshalb sollten sich alle schon mal hinsetzen und anschnallen.
Wir beide taten das sofort, die übrigen Passagiere blieben jedoch von der Durchsage völlig unbeeindruckt, liefen weiterhin herum und telefonierten lautstark.
Eine Flugbegleiterin versuchte, für Ordnung zu sorgen. Leider erfolglos. Sie startete erneut eine Durchsage. Wieder ohne Erfolg.
Schließlich kam eine Durchsage auf Deutsch von einer tiefen, sehr ernsten Männerstimme: »Hier spricht der Pilot. Schalten Sie sofort alle Handys aus, setzen Sie sich hin und schnallen Sie sich an. Sonst ist hier gleich was los!«
Ich war völlig überrascht und wusste nicht, ob ich lachen oder doch lieber Angst haben sollte. Bisher hatte ich noch nie erlebt, dass ein Pilot so eine ruppige Ansage machte, um eine Meute unter Kontrolle zu bringen. Aber immerhin zeigte diese Wirkung.
Wenn das in Gaziantep auch so lief, wäre das Leben dort auf jeden Fall nicht langweilig. Alles fühlte sich jetzt schon ganz anders an als bei der Reise vor einem Dreivierteljahr mit meiner Oma nach Antalya.
Antalya im Februar – das war ein besonderer Urlaub gewesen. So etwas hatte ich bisher noch nie gemacht, fünf Sterne all-inclusive wäre mir im Traum nicht eingefallen – aber meiner Oma schon, und sie hatte mich eingeladen. Allein wollte sie ungern eine Flugreise wagen, da sie die Schilder am Flughafen nicht mehr so gut sehen konnte. Ich war es bis dahin eher gewohnt gewesen, auf Abenteuerreise zu gehen, mit dem Rucksack durch Schweden oder irgendwohin, wo ich etwas Sinnvolles tun und Menschen helfen konnte. Dass diese Reise ins Luxushotel die abenteuerlichsten Folgen haben würde, ahnte ich nicht.
Da es im Februar nur wenige Urlauber gab und das Meer nicht wirklich zum Baden einlud, war es in Antalya anfangs ziemlich langweilig. Das große Hotel wirkte nach ein paar Tagen gar nicht mehr so riesig und spannend wie beim ersten Eindruck. Auch das Büfett, bei dem man Tag und Nacht schlemmen konnte, hat irgendwann seinen Reiz verloren. Eher hatte ich bald das große Bedürfnis, mich zu bewegen, um der vielen Völlerei wenigstens ein bisschen entgegenzuwirken. Also ging es immer den Strand hoch und runter, morgens joggend, mittags spazierend.
An einem Nachmittag, meine Oma hatte sich wie gewohnt nach dem Essen zum Mittagsschlaf hingelegt, spazierte ich wieder alleine am Strand entlang. Diesmal wollte ich Muscheln sammeln. Vielleicht konnte ich damit meiner Oma und der alten Dame, die immer mit uns um acht Uhr am Frühstückstisch saß, eine kleine Freude machen. Es dauerte nicht lange, bis ich fündig wurde. So lief und lief und sammelte und sammelte ich, bis ich viel weiter den Strand entlanggelaufen war als je zuvor. Schön sah es hier aus, und endlich kam auch mal ein bisschen Sonne raus.
Als ich mich gerade für eine kleine Pause auf einem großen Stein niederlassen wollte, funkelte mir eine besonders große bunte Muschel entgegen. Sie war so viel schöner als all die anderen in meinen bereits stark gefüllten Händen. Nur wie sollte ich sie aufheben? Ich hatte ja keine Hand mehr frei.
Plötzlich war es, als wenn mir eine Stimme sagte: »Lass los, was du dir angesammelt hast. Ich will dir etwas Besonderes geben.«
Ein paarmal schon hatte es diese Momente in meinem Leben gegeben, die alles verändert hatten. Gott war, seit ich etwa fünfzehn Jahre alt war, ein fester Bestandteil meines Lebens und daran, dass er zu mir reden konnte und wollte, hatte ich keine Zweifel.
Nun stand ich vor der Entscheidung, die Stimme ernst zu nehmen und tatsächlich die Muscheln fallen zu lassen oder den Gedanken einfach beiseitezuschieben. Dass es hier nicht nur um Muscheln ging, sondern eine Symbolik dahintersteckte, war mir sofort klar. Aber was genau das war, wusste ich noch nicht.
Die Neugierde überwog, ich ließ die Muscheln fallen, nahm die eine besondere in die Hand und setzte mich auf den großen Stein in die Sonne. »Was meinst du Gott? Was willst du mir sagen? Hier bin ich nun und hab endlich Zeit, dir, und nur dir, zuzuhören.« Das waren meine Gedanken, mein inneres Gebet.
Prompt kam eine Antwort: »Lass los, was du dir in Deutschland angesammelt hast, und komm in die Türkei. Ich will dich hier gebrauchen.«
Diesen Gedanken fand ich ein bisschen schräg. Ich konnte ja kein Wort Türkisch und Ahnung von diesem Land hatte ich auch keine, denn das Fünfsternehotel in Antalya war sicher nicht repräsentativ für die Türkei und abgesehen von den Spaziergängen am Strand hatte ich bisher kaum was vom Land gesehen. Ich war wirklich nicht prädestiniert für so eine Aufgabe.
Apropos – was für eine Aufgabe überhaupt? Was sollte ich alleine als Frau in so einem fremden Land? Mit diesen vielen Fragen ging ich teils betend, teils kopfschüttelnd, aber auch in freudiger Spannung zurück ins Hotel. Meine schöne Muschel hielt ich fest in der Hand verschlossen.
Der Spaziergang hatte länger gedauert, als ich gedacht hatte, denn meine Oma war längst nicht mehr im Bett, sondern saß Kuchen essend in der Hotellobby. Sie hatte sich gewundert, wo ich war, und sich große Sorgen um mich gemacht, da sie den einheimischen Männern gegenüber etwas misstrauisch war. Vielleicht sollte ich ihr besser nicht von der wundersamen Begegnung am Strand erzählen.
Am Abend wurde es plötzlich etwas lauter im Hotel. Aus dem gläsernen Aufzug heraus sah ich in der Lobby eine Truppe junger Leute. Ich fragte mich, was die wohl hier in dieser, ich hätte fast »Seniorenresidenz« gesagt, zu suchen hatten.
Als der Aufzug im vierten Stock anhielt, stiegen weitere junge Leute zu. Sie sprachen gebrochenes Englisch miteinander, schienen alle aus verschiedenen Ländern zu kommen und hielten mich witzigerweise für eine von ihnen. »Und wo kommst du her?«, fragten sie mich.
»Deutschland«, war meine Antwort.
»Ahh, aus Deutschland sind ja nicht so viele dabei. Und wo arbeitest du?«
»Ähhh … in Deutschland?«
In mir stiegen immer mehr Fragen auf – aber bei der bunten Truppe um mich herum scheinbar auch.
»Nein, wo arbeitest du in der Türkei?«
»Mhhh, gar nicht. Ich mache hier nur Urlaub.«
Sie lachten über sich selbst und das Missverständnis. Schnell erklärten sie mir, dass sie eine Gruppe von EFDlern seien, die hier im Land für mehrere Monate einen Freiwilligendienst machten und in diesem Hotel eine Schulung bekamen. Manche von ihnen arbeiteten in Schulen, andere sollten Schildkröten am Strand schützen und wieder andere arbeiteten bei Umweltschutzprojekten.
»Das könntest du ja auch mal machen«, schlugen sie mir vor.
Der Europäische Freiwilligendienst war mir nicht unbekannt, zumal eine junge Frau aus Italien uns gerade als EFDlerin im Schulklub in Kodersdorf unterstützte. Daher wusste ich auch, dass man einen solchen Dienst leider nur bis zu einem Alter von maximal 27 Jahren machen konnte. Als ich dies sagte, wurde ich jedoch eines Besseren belehrt: »Nein, nein. Man kann das jetzt bis einschließlich dreißig Jahre machen. Das wurde gerade erst vor ein paar Wochen geändert.«
Nun war ich überrascht und sofort fügte sich in mir das Puzzle des Tages zusammen. Wäre das nicht ein guter Einstieg in Land, Kultur und Sprache? Immerhin war der Europäische Freiwilligendienst ein vertrauenswürdiges Dach, wo man versichert war und sogar ein kleines Taschengeld bekam!
Der Urlaub mit meiner Oma ging bald zu Ende. Zurück im vergleichsweise eisigen Februar in Deutschland klemmte ich mich sofort nach dem mühsamen Entzünden des Kachelofens, meiner einzigen Heizmöglichkeit im Görlitzer Altbau-WG-Zimmer, hinter den Computer und recherchierte, wer, wo, wie, wann und wie lange man einen Europäischen Freiwilligendienst in der Türkei machen konnte.
Es schien gar nicht so kompliziert zu sein. Auf der Türkei-Karte mit den Stellenangeboten fiel mein Blick gleich auf die Stadt Gaziantep im Südosten an der syrischen Grenze. Eigentlich war an der Stadt nichts Besonderes. Von Krieg in Syrien war Anfang 2011 noch keine Rede und Gaziantep erschien keineswegs eine bedenkliche Region. Vermutlich war es weit genug weg von jeglichen Touristenhotels, in denen jeder türkische Kellner fließend Deutsch, Englisch und Russisch sprach – also ein guter Ort, um mal so richtig in der Türkei zu sein.
Ich war mir sicher, dass der Europäische Freiwilligendienst keine christlichen Projekte in einem muslimischen Land haben würde, aber ich hatte die Hoffnung, in der Ein-Millionen-Stadt Gaziantep selbst Christen zu finden.
Mit einem Klick öffnete sich das Bewerbungsformular für ein Projekt des EFD. In Windeseile war es ausgefüllt und mit einem weiteren Klick abgeschickt. Nach gerade mal dreißig Minuten kam schon die persönliche Antwort: »Wir würden uns sehr freuen, dich in Gaziantep begrüßen zu dürfen.«
Dass diese Begrüßung neun Monate später mitten in der Nacht stattfinden würde, hätte ich jedoch nicht erwartet und ich war mir den gesamten vierstündigen Flug über nicht so sicher, ob die Leute sich nun immer noch so auf mich freuten.
Mit etwas mehr als zwei Stunden Verspätung und einem knurrenden Magen stieg ich um drei Uhr morgens die Treppen vom Flugzeug hinunter in eine mir völlig fremde Welt. Es war genauso kalt wie in Deutschland und es wehte ein eisiger Wind. Schnell lief ich über das Flughafengelände dem Gebäude mit der offenen Tür entgegen, immer der Menschenmasse aus dem Flugzeug hinterher. Die Schlange an der Passkontrolle war lang und es ging nur schleppend vorwärts. Von allen Seiten schienen die Leute mich zu beobachten und über mich zu tuscheln.
Schließlich fasste sich einer ein Herz und sagte mit lauter Stimme in gebrochenem Englisch zu mir: »This is Gaziantep.« Er musste erst kurz überlegen, bevor er weitersprach: »Here no holiday. Dangerous. Better Istanbul, Antalya.«
In dem Moment wurde mir anders zumute. Ich versuchte meinerseits zu erklären, dass es für den Ratschlag zu spät war und ich ja nun hier gelandet sei. Um uns herum schien kein weiterer Reisender Englisch zu verstehen, aber alle lauschten mucksmäuschenstill dem Gespräch und starrten mich mit großen Augen an. Es war ein komisches Gefühl, der einzige Ausländer zu sein.
»What do you want here?«, erkundigte er sich.
Was willst du hier? Diese Frage stellte ich mir inzwischen selbst. In der Ausschreibung der EFD-Stelle stand, dass ich mit Blinden und mit Straßenkindern Mosaike bauen würde, dass ich in Grundschulen Englisch unterrichten sollte und dreimal die Woche türkischen Sprachunterricht bekommen würde. Vorausgesetzt, die Person, die mich am Flughafen abholen soll, steht auch um diese Uhrzeit noch draußen und wartet auf mich, schoss es mir durch den Kopf. Ein Schreck durchzuckte mich: Und was, wenn nicht? Langsam bekam ich Panik.
Nachdem ich unter den skeptischen Blicken der Grenzpolizisten endlich die Passkontrolle hinter mich gebracht hatte, musste ich nur noch mein Gepäck auf dem scheinbar einzigen Fließband des Flughafens finden.
Dann war ich so weit, um mich zwischen den Massen an kopftuchtragenden älteren Damen und mit viel Sperrgepäck beladenen Männern nach draußen schieben zu lassen. Kaum an der frischen Luft hörte ich schon meinen Namen: »Sabine!« »Sabine!« »Sabine!« Es waren gleich mehrere Stimmen.
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich war nicht mehr alleine!
Eine ganze Horde junger türkischer Leute kam gut gelaunt zu mir gestürmt und nahm mir mein Gepäck ab. Nachdem sie es in einen Kleinbus verladen hatten, baten sie mich, einzusteigen. Im Bus saßen noch mehr gut gelaunte Leute und die Musik war so laut, dass es mir schwerfiel, die Namen zu verstehen. Einer, der besonders gut Englisch konnte, stellte sich mir als Co-Manager des Projektes vor und erklärte mir, dass alle bis gerade eben Party gemacht und getrunken hatten, um mich anschließend gemeinsam am Flughafen abzuholen. Es war absolut kein Problem, dass ich zu spät kam.
Ich war erleichtert, wobei ich noch mal einen Blick auf den Fahrer warf, um zu sehen, ob denn wenigstens er nüchtern aussah. Und ja, das tat er.
Die Atmosphäre in dem Kleinbus war eine völlig andere als gerade eben noch im Flughafen, wo man mir so viel Angst gemacht hatte. Auf der circa dreißigminütigen Fahrt versuchte ich, so viel wie möglich durchs Fenster im durch orangefarbene Laternen beleuchteten Gaziantep zu erkennen. Es sah staubig aus und ärmlich. Viele kleine Buden mit heruntergelassenen Rollläden, die nicht so wirkten, als würden dort tatsächlich Leute einkaufen gehen, standen dicht an dicht. Ich konnte es kaum erwarten, bei Tageslicht alles zu erkunden – aber sicherlich nicht alleine. Irgendwie hatte ich doch Respekt vor den Warnungen in der Schlange am Flughafen. Das mulmige Gefühl hatte mich noch nicht so ganz verlassen.
Nachdem mir mein Zimmer zugewiesen worden war, fiel ich um kurz nach vier Uhr todmüde ins Bett. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Hier gab es nämlich im Gegensatz zu den Buden am Straßenrand leider keine Rollläden. Das orangefarbene Licht der Straßenlaterne schien direkt in mein Fenster und ließ mich vielmehr im Zimmer umherstarren und denken: Was mache ich hier bloß? Ob das so eine gute Idee war, nach Gaziantep zu gehen? Außer dem Bett gab es nichts, absolut nichts in dem Zimmer. Werde ich es schaffen, hier ein Jahr zu leben?, fragte ich mich.
Als ich endlich einschlief, wurde ich bald wieder vom sehr lauten Gebetsruf der Moschee nebenan aufgeschreckt. Im Urlaub mit meiner Oma hatte ich das auch schon mal gehört, aber da schien es so viel weiter weg als jetzt. Und warum mitten in der Nacht? Würde das jetzt jede Nacht so gehen? »Natürlich, gewöhn dich dran, Sabine«, sagte ich zu mir selbst, drückte das Kissen auf meinen Kopf und versuchte, noch einmal einzunicken. Stattdessen knurrte mir der Magen und mir fiel auf, dass ich einen Riesenhunger hatte. Ich hatte ja quasi die Nacht durchgemacht, ohne einen Bissen zu essen. Frühstück gab es erst um neun Uhr, wie mir der Co-Manager auf der Fahrt vom Flughafen zum EFD-Haus gesagt hatte. Bis dahin musste ich es noch irgendwie aushalten. Also war es besser, ich versuchte, noch ein wenig zu schlafen.
Als es endlich neun Uhr war, stand ich bereits im Esszimmer – als Einzige. Es sah auch nicht so aus, als würde hier irgendwer Frühstück vorbereiten. Ich lief ein bisschen durch die weiteren Räume, guckte mir Listen, Briefe und Postkarten an der Pinnwand im Flur an, fand ein paar deutsche Türkischlernbücher und versuchte, mir die Zeit zu vertreiben, bis endlich um elf Uhr die ersten Stimmen zu hören waren. Deutsche Stimmen. Zwei junge Frauen kamen die Treppe herunter, begrüßten mich freundlich und stellten sich als Marlene und Jennifer vor. Nach einem kurzen Small-Talk war meine erste Frage direkt die nach dem Frühstück, das es doch eigentlich um neun Uhr geben sollte.
Sie schmunzelten und erklärten: »Hier macht sich jeder sein Frühstück selbst, du kannst dich einfach am Kühlschrank bedienen.«
Das war an sich eine gute Nachricht, aber verwundert war ich schon ein wenig über die Info, die mir nachts gegeben worden war. »Tja, das sind die sprachlichen und kulturellen Missverständnisse«, versuchten mich meine beiden Mit-EFDlerinnen zu besänftigen. »Und wir können dir sagen, es wird auch im Laufe des Jahres nicht viel anders werden.«
Nach einem eher deutschen Frühstück bestehend aus Schokomüsli mit Äpfeln und Bananen, aber immerhin mit einem gut gefüllten Bauch, konnte ich der Herausforderung, mich auf eine neue Kultur einzulassen, schon wieder etwas freudiger entgegensehen.
Zurück in meinem leeren Zimmer sortierte ich meine Sachen aus dem Koffer in ein leeres Wandregal. Dort war immerhin Platz, um ein paar Kleidungsstücke unterzubringen. Alles, was ich nun besaß, war in diesem alten Koffer und dem kleinen Handgepäck. Ich war gespannt, wie es mir gelingen würde, für so lange Zeit so reduziert zu leben. Es fühlte sich aber auch irgendwie gut an, mit so wenig unterwegs zu sein.
Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass das nicht mein gesamter Besitz war. Obwohl die Ansage am Strand in Antalya gelautet hatte, dass ich alles loslassen sollte, was ich mir angesammelt hatte, konnte ich das trotzdem noch nicht zu hundert Prozent. Wenn ich in einem Jahr zurück in Deutschland wäre, dann brauchte ich doch wenigstens wieder meine Waschmaschine, meinen Kühlschrank und mein Auto, so hatte ich gedacht. Während ich viele andere Dinge tatsächlich verschenkt oder beim Sozialen Möbeldienst abgegeben hatte, hatte ich diese drei, in meinen Augen sehr wertvollen Dinge, nur verliehen. Irgendwie ließ sich das meinem Gewissen gegenüber gut rechtfertigen. Und die Kisten mit den Büchern und persönlichen Dingen, die auf dem Dachboden der Kirchgemeinde in Kodersdorf eingelagert waren, auch.
Es klopfte an meiner Tür. Die beiden deutschen Mädels kamen herein und fragten mich, ob ich gerne mit ihnen nach Kahramanmaras fahren wolle. Was auch immer das war, ich hatte große Lust, in ihrer Gesellschaft etwas von der Umgebung zu entdecken. Zuerst guckte ich mir die beiden jedoch noch mal genauer an, um zu erahnen, was man bei so einem Ausflug wohl anziehen sollte. Beide waren europäisch in Jeans und Winterjacke unterwegs, daher brauchte ich mir wohl keine Sorgen zu machen, ob ich vielleicht einen Rock oder gar ein Kopftuch bräuchte.
Marlene war mit ihrem Auto aus Deutschland gekommen und mit diesem fuhren wir nun eine Dreiviertelstunde nördlich in die zauberhafte Stadt Kahramanmaras. Allein der Weg dorthin, bei laut dudelnder türkischer Radiomusik, vorbei an weitem, bergigem, kargem Land und kleinen Dörfchen mit spitzen, raketenähnlichen Minaretten, war wie das Eintauchen in eine neue Welt.
In Kahramanmaras angekommen entdeckte ich überall Eisrestaurants, die mitten im Dezember geöffnet waren, denn genau das ist das berühmte Markenzeichen der Stadt, das »Kahramanmaras-Eis«, das aus besonderen Zutaten aus den Bergen hergestellt wird. Wir setzten uns in ein traditionelles Eiscafé mitten in der Marktstraße und bekamen weißes Eis im Block serviert und dazu, statt einem kleinen Löffel, Messer und Gabel in eine Serviette eingewickelt. Der Geschmack überzeugte mich zunächst nicht so, aber von der Tatsache, dass es hier so viel Neues zu entdecken gab, war ich hellauf begeistert.
Ich war sehr dankbar, dass ich mit Marlene und Jennifer unterwegs sein durfte. Sie sprachen beide schon richtig gut türkisch und bewegten sich völlig frei und selbstbewusst in diesem mir noch sehr fremden Land. An ihrer Seite fühlte ich mich bei diesem ersten Ausflug ins türkische Leben gut aufgehoben und hatte auch nicht den Eindruck, dass wir besonders angestarrt wurden.
Das einzig Seltsame war, als wir mitten in Kahramanmaras an einer roten Ampel standen und alle Autos hinter uns erbost hupten. Als dann sogar einer ausstieg und wutentbrannt an unsere Fahrerscheibe klopfte, gab Marlene tatsächlich bei Rot Gas. Alle anderen Autos fuhren dann auch bei Rot hinter uns her. »Wieder was gelernt«, lachte Marlene laut und wir machten uns auf zu einer traumhaften Rückfahrt nach Gaziantep.
In der Abenddämmerung leuchteten die leicht mit Schnee bepuderten Berge rosa. Als es Nacht wurde, sahen wir, dass sich über den nun dunkelblauen Bergen auch der tief orangefarbene Mond verdunkelte. Wow, eine Mondfinsternis! Und noch dazu sahen wir zwei Sternschnuppen!
»In welchem Märchenland sind wir denn hier gelandet?«, fragten wir uns.
»Sabine, du hast es gut. Du hast ja noch ein ganzes Jahr hier vor dir. Warte erst mal, bis der Sommer kommt. Das ist so schön!«, sagte Marlene ein wenig wehmütig, weil ihr selbst nur noch wenige Wochen blieben.
Am Wochenende waren alle anderen Bewohner des Hauses entweder im Rückzugsmodus oder verreist gewesen, was vielleicht erklärte, warum Marlene, Jennifer und ich den Frühstücksraum am Sonntag für uns allein gehabt hatten. Aber Montagfrüh sollte der EFD-Alltag für alle wieder starten und nun traf ich endlich alle wichtigen Personen für meinen Einsatz hier.
Meine wesentlich jüngere »Mentorin« rief mich ins Büro, stellte sich kurz vor und führte mich dann zum »Boss«. Ahmed, genauso alt wie ich, war der Leiter des Projektes. Er war freundlich, aber sehr bestimmt. Als Erstes sprach er an, dass ich doch bitte der Entsendeorganisation in Deutschland noch mal sagen solle, sie möchten bitte bald das Geld für mich an ihn überweisen. Wie das alles beim EFD mit den Finanzen abgewickelt wurde, wusste ich nicht, aber natürlich versprach ich, noch am selben Tag meiner Entsendeorganisation in Görlitz Bescheid zu sagen. Dann ging es ein wenig um das, was sie mit den 25 Freiwilligen so alles machten und zuvor schon gemacht hatten und dass es ein entspanntes und lockeres Leben im Haus war und bleiben sollte. Wie ich mich darin einbringen könnte oder was meine Begabungen sind, war nicht unbedingt gefragt. Das war ungewohnt für mich als Deutsche, noch dazu als ausgebildete Jugendreferentin, schließlich hatte ich einiges an Erfahrung in der Jugendarbeit zu bieten. Aber ich konnte es auch als eine gute Erfahrung sehen, einfach mal mitzumachen.
Zum Abschluss wünschte er mir schöne sechs Monate in seinem Haus. »Oh, hab ich da richtig gehört? Das sollte wohl ein Scherz sein? Ich habe ja in Deutschland einen EFD-Vertrag für ein Jahr unterschrieben«, wandte ich erschrocken ein.
Wenig beeindruckt erwiderte er, da sei ihm wohl ein Fehler passiert. Er habe für mich nur sechs Monate bei der Nationalagentur des EFD Türkei beantragt. Das ließe sich nun leider nicht mehr rückgängig machen. Aber wenn ich am Ende länger bleiben wolle, fände sich sicher irgendwie eine Lösung.
Das war erst mal ein Schock für mich. Klar, Fehler können passieren. Aber nach sechs Monaten schon wieder heimzufliegen, kam mir absurd vor, wenn es wirklich Gott war, der mich da in die Türkei gerufen hatte. Was und wo war jetzt überhaupt noch zu Hause? Meine Waschmaschine, mein Kühlschrank und mein Auto waren jedenfalls quer über die Republik verteilt. Außerdem hatte ich meine Arbeit im Schulklub in Kodersdorf gekündigt, um hier zu sein. Hatte ich tatsächlich für gerade mal sechs Monate alles zu Hause loslassen sollen?
Nochmals musste ich loslassen von meinen Plänen, wenigstens für ein Jahr in der Türkei zu sein. Die Aufenthaltsgenehmigung hatte ich zwar bereits bis Dezember 2012, aber wo sollte ich bleiben und was sollte ich tun, wenn ich das EFD-Haus verlassen musste? Fragen über Fragen.
Ich wollte trotzdem versuchen, diese sechs Monate mein Bestes in dem Projekt zu geben. Es blieb mir ohnehin nichts anderes übrig, als abzuwarten, wie sich die Dinge entwickelten, ja, und zu beten, dass Gott gute Lösungen schenken würde.
Inzwischen waren schon zwei Wochen ins Land gegangen. Kurz vor Weihnachten fiel Schnee, Schnee, Schnee in Gaziantep. Alle waren völlig aus dem Häuschen, denn es hatte seit acht Jahren keinen Schnee mehr in der Stadt gegeben. Vorsichtig wagten sich einige Kinder aus der Nachbarschaft auf die Stufen vor ihren Mehrfamilienhäusern, um die Winterlandschaft von Nahem zu betrachten. Auf der Straße sah man so gut wie niemanden mehr. Nur ein paar mutige Männer liefen mit ihren Motorradhelmen die zugeschneiten und natürlich nicht geräumten Straßen entlang.
Ich fand es witzig, dass es völlig selbstverständlich war, ohne Helm Motorrad zu fahren, aber bei Schnee auf der Straße so viele Leute ohne Motorrad, aber mit Motorradhelmen zu sehen waren. Ich konnte es mir nicht verkneifen, ein Foto davon zu machen.
Schon seit Beginn meiner Pläne, in die Türkei zu gehen, war es mir ein wichtiges Anliegen gewesen, andere Christen in Gaziantep zu finden. Von Görlitz aus hatte ich viel im Internet recherchiert, doch bei der Google-Suche »Christen Gaziantep« stieß ich immer auf Zeitungsartikel, in denen berichtet wurde, dass christliche Gemeinden in Gaziantep von der Polizei gestürmt und Pastoren verhaftet worden waren. Der einzige Buchladen, in dem christliche Bücher und sogar Bibeln in den Regalen gestanden hatten, war nach einem Bombenanschlag nie wieder eröffnet worden. Das war nicht gerade ermutigend. Andererseits waren diese Artikel schon mehrere Jahre alt und ich wollte die Hoffnung nicht aufgeben, dass es in einer Ein-Millionen-Metropole, deren ursprünglicher armenischer Name »Aintap« noch dazu »Quellen des Lobpreises« bedeutet, irgendwo Christen gab. Die Suche ging deshalb auch in Gaziantep auf meinem Bett mit dem Laptop weiter.
Immer wieder stieß ich bei meiner Recherche auf einen Namen und eine E-Mail-Adresse, die westlich klangen. Ich fasste mir ein Herz und schrieb an diese Adresse. Ich stellte mich vor, erzählte, dass ich neu in Gaziantep sei und auf der Suche nach Christen war. Gewagt, gewagt! Aber noch am gleichen Tag kam eine Mail zurück, die mich beruhigte und Hoffnung weckte: » Hey Sabine. Wie schön, dass du schreibst. Wir sind eine kleine Hauskirche in der Huseyinstraße 7 und würden uns sehr freuen, wenn du am Sonntag um elf Uhr zu unserem Gottesdienst kommen möchtest.«
Große Freude überkam mich. Das bedeutete, dass ich noch in der gleichen Woche auf Glaubensgeschwister stoßen würde! Was für eine Weihnachtsvorfreude!
Aber diese Woche hatte noch mehr Spektakuläres zu bieten. In der gleichen Nacht hatte ich einen ziemlich abgefahrenen Traum. Man träumt ja öfter mal interessante Dinge und das meiste erledigt sich schon wieder mit dem Aufwachen. Aber es gibt auch diese besondere Art von Träumen, die man sich am liebsten sofort aufschreiben möchte, weil man das Gefühl hat, dass sie eine Bedeutung für das Leben haben könnten. Und so einen Traum hatte ich.
In meinem Traum wollte ich jemanden, den ich noch nicht kannte, in einem Mehrfamilienhaus in der Wohnung oben unterm Dach besuchen. Ich stieg die Treppen nach oben, aber ein Stockwerk zu früh hörten die Treppenstufen einfach auf und schlossen mit einer kleinen Mauer ab. In meiner Not klingelte ich bei den Bewohnern dieses Stockwerkes. Eine ältere, sehr vertrauenswürdig wirkende Dame öffnete. Ich fragte, warum denn die Treppe hier aufhörte, wenn es doch weiter oben noch eine Wohnung gab. Die Frau zeigte mit ihrem Finger auf die Wand und sagte: »Wenn man genau hinsieht, findet man eine Konstruktion in der Wand aus alten Stühlen. Über die kann man sich bis zum nächsten Stock hochhangeln.«
Tatsächlich! Jetzt, wo sie es sagte, sah ich es auch. Es sah nicht besonders stabil aus und wirkte auch nicht ungefährlich. Aber wenn das der Weg war, dann wollte ich es versuchen. Ich machte mich ans wackelige Werk. Etwa bei der Hälfte des Weges wurde ich wach. Ich lag im Bett und wusste: Das war es! Es gab einen Weg für mich, in der Türkei zu bleiben, den ich jetzt noch nicht sehen konnte. Es gab hier ein Ziel für mich, das ich nur noch nicht kannte.
Es kam noch verrückter. Zum Abschied von meiner vorherigen Arbeitsstelle in der Mittelschule Kodersdorf bei Görlitz hatten mir die 24 Lehrkräfte einen Adventskalender geschenkt. Jede Person hatte eine Filzsocke befüllt. Als ich nun nach diesem intensiven Traum aufstand und die zwanzigste Socke leerte, war ich völlig platt. Die Kunstlehrerin hatte mir ein kleines Bildchen gemalt. Auf der Rückseite stand der Titel des eigens erdachten Gemäldes. Er lautete: »Die unendliche Treppe«. Diese Kunstlehrerin war bekennende Atheistin. Doch ihr Bild passte perfekt zu meinem Traum.
Sprachlos und doch übervoll von Eindrücken und Gedanken setzte ich mich sofort an meinen Laptop und schrieb meinem Mentor und Begleiter vom CVJM Schlesische Oberlausitz eine ausführliche Mail. Zunächst erzählte ich ihm, dass hier in der Organisation ein Fehler wegen des EFD-Vertrages gemacht worden war und ich nur sechs Monate statt einem Jahr bleiben sollte. Dann schrieb ich ihm von dem Traum und dem Adventskalender und davon, dass ich glaubte, dass Gott einen Plan hatte. Ziemlich bald hatte ich eine ermutigende Antwort von ihm: »Wir haben dich ja vom CVJM nicht nur für den EFD entsandt, sondern wir glauben, dass Gott dort längerfristige Pläne für dich hat.«
Eigentlich glaubte ich das ja selbst auch. Aber ich brauchte die Erinnerung von anderen, damit mir die Gewissheit nicht wieder flöten ging. Der CVJM war zwar nicht mehr mein Arbeitgeber, aber sie wollten mich trotzdem aussenden, und damit verbunden weiterhin für mich beten und mich geistlich begleiten. Es tat gut, in diesem Sinne nicht allein unterwegs zu sein.
In unserem Team von europäischen Freiwilligen war ich physisch zwar fast nie allein unterwegs, geistlich gesehen aber oft sehr einsam. Im EFD-Haus gab es ganz andere Themen. In Gesprächen mit den Freiwilligen ging es eher um Partys, Reisen, kulturelle Unterschiede, Sprache, Konflikte im Haus und natürlich besonders auch um die Freiwilligenarbeit und darum, wie man am besten seine verrückte türkische Grundschulklasse beim Englischunterricht in den Griff bekommen konnte. Das war keine einfache Aufgabe.
Die ersten Tage durfte ich einfach bei den anderen im Unterricht dabei sein, aber dann war ich selbst an der Reihe. In der Grundschule im sozialen Brennpunktstadtteil Yukaribayir sollte nun ebenfalls Englischunterricht gegeben werden. Jetzt war mir schon anders zumute, als ich als Neuling ein neues Unterrichtsfach starten sollte. Jeder Tipp und jede Idee von meinen Weggefährten waren mir herzlichst willkommen. Gott sei Dank war ich für meine erste Stunde in Begleitung eines türkischen Jugendlichen, der für mich übersetzte.
Es war schon seltsam, plötzlich vor einer Klasse mit vierzig bis fünfzig Kindern zu stehen, von denen die meisten noch nie einen Ausländer gesehen hatten und deren Sprache ich nicht verstand. Zuerst kam wie immer die Frage nach meinen Haaren. »Sind die echt? Wie macht man das?«
Meine Dreadlocks waren extrem außergewöhnlich in Gaziantep, wahrscheinlich war ich sogar die Einzige mit so einer Frisur. Um vom Thema abzulenken und vor allem auch vom Türkischen ins Englische überzuleiten, versuchte ich mich an meinem ersten Tag mit englischen Liedern, zu denen man Bewegungen machen konnte. Dass das viel zu viel Unruhe in so eine Klasse bringen würde, war mir leider nicht bewusst. Noch dazu ließ ich bei meiner Liedwahl leider kein Fettnäpfchen aus, sondern stolperte direkt hinein mit dem Lied »I’ve got peace like a river«. Ich zeigte den Kindern das internationale Zeichen für »peace«, also Frieden, indem ich Zeige- und Mittelfinger in V-Form nach oben streckte. Die Kinder, die fast alle kurdischer Herkunft waren, brachen in lautes Grölen und Jubeln aus. Mein türkischer Helfer ermahnte mich, dass das Zeichen in Schulen verboten sei, da es das Zeichen der kurdischen Autonomiebewegung ist. Ups. Na gut, wenigstens hatte ich nun auch das gelernt.
Ich versuchte, wieder Ruhe in die Klasse zu bringen, und dachte mir ein anderes Zeichen für Frieden aus. Die Hand aufs Herz zu legen ist doch auch ein schönes Zeichen für Frieden – vielleicht sogar ein schöneres.
Von Deutschland wusste ich, dass Grundschullehrer immer mal den »Schweigefuchs« nutzen, um Ruhe in ihre Klasse zu bringen. Dazu schließt man alle Finger mit dem Daumen zu einem spitzen Mund zusammen und sagt »MUND ZU«. Dann streckt man den Zeige- und den kleinen Finger nach oben, sodass ein Fuchsgesicht entsteht, und sagt »OHREN AUF«. Die Wörter dazu hatte ich sogar in Vorbereitung für meine Stunde extra auf Türkisch auswendig gelernt.
Der Erfolg dieser Methode war allerdings mehr als miserabel. Wieder brachen die Kinder in lautes Schreien und Lachen aus und mein Helfer musste mich erneut ermahnen: »Sabine, dieses Zeichen ist absolut verboten. Es ist das Zeichen der Grauen Wölfe, einer extrem nationalistischen Vereinigung.« Ach du grüne Neune. Jetzt stand ich mit beiden Beinen tief im Fettnäpfchen. Ich bat den Helfer, den Kindern meine Unwissenheit zu erklären, und entschuldigte mich vielmals. Meine Autorität hatte ich in dieser Klasse allerdings völlig verloren.
War ich kulturell wirklich so unerfahren und naiv? Vielleicht war es gut, gleich in den ersten beiden Wochen auf den Boden der Tatsachen geholt zu werden. Ich nahm mir vor, mich beim nächsten Mal besser vorzubereiten und vor allem mehr nachzufragen, was ging und was nicht. In den nächsten Schulen und Klassen lief es besser, aber bei dieser einen Klasse hatte ich für immer verspielt und wurde zu jeder Stunde mit lautem Jubeln und Schreien begrüßt, als würde ein Komödiant den Raum betreten.
Endlich Weihnachten. Mit viel Enthusiasmus machte ich mich am Sonntag, dem 25. 12. 2011, um kurz vor elf Uhr auf den Weg zu der kleinen Hauskirche. Überraschenderweise lag sie gerade mal 400 Meter von unserem EFD-Haus entfernt. Das konnte doch kein Zufall sein! Ich hatte mich schon gesorgt, wie ich denn überhaupt in so einer großen Stadt ohne klares Bussystem von A nach B kommen sollte. Aber die Huseyinstraße lag tatsächlich »nur einmal ums Eck«.
Umso gewisser, dass sich alles zusammenfügte und Gott einen großen Plan haben musste, stiefelte ich also durch den Schnee den Berg nach oben. Es ging einmal leicht rechts um eine Kurve und dann war das Ziel schon fast erreicht. Fast, wohlbemerkt. Da sprachen mich nämlich von einem alten Auto zwei Männer an und fragten, wo ich denn hinwolle. Als ich sie verdattert anschaute, sagten sie sogleich, dass sie Polizisten in Zivil seien.
»Ach so, na dann«, dachte ich, »dann kann ich es ja ehrlich sagen.« Der Ausspruch »Die Polizei, dein Freund und Helfer« war gut in meinem deutschen Kopf verankert.
»Ich gehe zur Kirche«, antwortete ich lächelnd.
»Zur Kirche also«, meinten sie ebenfalls lächelnd, aber es war eher ein siegessicheres Lächeln, so ein Lächeln nach dem Motto: Haben wir dich also erwischt!!! O weia, hatte ich da etwas Falsches gesagt?
»Reisepass, Aufenthaltsgenehmigung!«, forderten die beiden nun. Sie notierten sich meine Daten mit Kugelschreiber auf einer abgegriffenen Liste, auf der schon viele andere Namen standen. Danach durfte ich weitergehen. Es ging noch mal zwanzig Meter rechts runter, dann stand ich vor der Hausnummer 7, immer noch im Blickfeld der beiden Polizisten. Die Metalltür war offen und ich ging hinein.
Da ich niemanden entdeckte, ging ich die Treppen hoch. Bei jedem Stockwerk betrachtete ich die Wohnungstür mit der Frage: »Könnte es hier wohl sein?« Im letzten Stock wusste ich, dass ich richtig war, denn es hing ein Weihnachtskranz aus Plastik an der Tür. Wer sonst, wenn nicht Christen, würde sich in der Türkei so was an die Tür hängen? Ich klingelte und zog schon mal die Schuhe aus, wie man es hier überall machte. Das noch fast leere Schuhregal vor der Tür war eine gute Erinnerung daran.
Im nächsten Moment ging die Tür auf und ein breites Lächeln strahlte mir entgegen. »Hey Sabine, ich bin Sungjin«, begrüßte mich die Gastgeberin, eine etwa 45-jährige Koreanerin. Mit »Merry Christmas« und einer geschwisterlichen Umarmung wurde ich willkommen geheißen und herumgeführt.
Zuerst ging es in einen mittelgroßen Raum, der mit gemusterten Teppichen ausgelegt war. Blaue Plastikstühle waren präzise angeordnet. Vor den Reihen stand ein Notenständer und hinter diesem ein Mann mit grau meliertem Haar und einer Gitarre in der Hand. »Das ist mein Mann Peter«, stellte Sungjin vor.
»Hey Sabine, wir haben dich schon erwartet. Großartig, dass du gekommen bist«, begrüßte mich Peter. Sein Akzent verriet mir gleich, dass er aus den USA stammte. »Du kommst aus Deutschland, oder? Der Gottesdienst geht in etwa einer Stunde los. Du kannst dir in Ruhe alles anschauen.«
Hatte er zuvor in seiner Mail nicht geschrieben, dass es um elf Uhr losgehen würde? Egal. Ich sollte mich wohl daran gewöhnen, nicht allzu genau auf die Uhr zu schauen.
Als Erstes erzählte ich ihm mein Erlebnis mit den Polizisten unten auf der Straße. Wer weiß, was das für die Gemeinde bedeuten könnte, dass ich so ehrlich gesagt hatte, dass ich zur Kirche gehe. Ich hoffte sehr, dass ich in meiner Naivität nicht großen Schaden angerichtet hatte. Aber Peter lächelte nur und meinte: »Na, dann stehst du jetzt also auf der Liste der Christen in der Stadt. Mach dir keine Gedanken. Da stehen wir alle drauf. Die Polizei versucht nur, uns zu beschützen … und na ja … vielleicht auch einfach ein bisschen zu gucken, was wir so machen. Oft kommt einer von den beiden unten hoch und sitzt in der letzten Ecke mit im Gottesdienst. Vielleicht gefällt es ihm ja auch bei uns. Er hört jedenfalls fast immer bis zum Schluss zu.«
Peter und Sungjin hatten viele Geschichten zu erzählen. Sie waren inzwischen dreizehn Jahre in der Türkei, davon zehn Jahre in Gaziantep. Ihre drei Kinder waren hier geboren und gingen in türkische Schulen. Die beiden hatten die Gemeinde gegründet, in der sich, wie ich gleich feststellen würde, die verrücktesten Mafiatypen, schrägsten Vögel und auch schicksten türkischen Ladys vereinten. Ich war beeindruckt.
Beeindruckt war ich auch von der Einfachheit der Räumlichkeiten. Abgesehen von den Plastikstühlen, dem Notenständer und einem kleinen Regal für Liederbücher und Bibeln gab es in der Wohnung keine weiteren Möbel. Alle anderen Räume waren ebenfalls mit gemusterten Teppichen ausgelegt, an den Fenstern hingen Vorhänge, sonst war nichts darin. Sungjin lachte und meinte: »Ja, da hat man nachher nicht so viel aufzuräumen. Wenn es nur bei uns zu Hause auch so wenig gäbe.« Jetzt erst wurde mir klar, dass sie nicht hier wohnten, sondern die Räume tatsächlich nur für die Gemeinde genutzt wurden.
Um halb eins füllten sich die Räume nach und nach mit Leben. Kurz vor eins ging dann der Gottesdienst los. Er lief komplett in türkischer Sprache ab. Ich spitzte die Ohren wie der Schweigefuchs, um wenigstens hier und da ein Wort aufzugreifen und zu erahnen, was das Thema war. Tatsächlich konnte ich herausfinden, dass es um den Fischzug des Petrus ging. Balik, das Wort für Fisch, kannte ich schon und Petros klang nicht viel anders als bei uns. Auch wenn ich sonst nicht viel verstand, konnte ich mir doch als geistliches Futter für den Alltag mitnehmen, dass es sich lohnt, auf Gott zu vertrauen, auf sein Wort hin die Netze noch einmal auszuwerfen und bei Misserfolgen nicht gleich aufzugeben. Nach dem Gottesdienst aßen wir mit allen um eine Plastiktischdecke kniend Döner und redeten. Als ich gehen wollte, stoppte mich Peter und bot mir an, mich mit dem Auto heimzubringen. Ich erzählte ihm, dass es nur 400 Meter zu Fuß zu meiner Unterkunft waren. Er war sprachlos, dann meinte er: »Was für ein Wunder. Direkt um die Ecke?«
Dennoch bestand er darauf, mich nach Hause zu fahren, weil es schon dunkel wurde und die Huseyinstraße in einer sehr gefährlichen Gegend lag. Ich willigte ein und verließ mit Peter, seiner Frau und den drei Kindern als Letzte die Hauskirche mit dem sicheren Gefühl, dass ich hier Heimat finden konnte. Die Familie war mir auf Anhieb sympathisch und ich hätte noch ewig im Auto ihren Geschichten von der Entstehung der Gemeinde lauschen können. Schade, dass der Heimweg so kurz war!
Es war so faszinierend zu hören, wie Gott sie hier in der Stadt schon seit vielen Jahren gebrauchte und wie die einzelnen Leute zur Gemeinde gekommen waren. Natürlich war es nicht immer einfach und sie hatten auch viele schwere Zeiten erlebt. Von Peter und Sungjin konnte ich viel lernen, und trotzdem schwebten sie nicht irgendwo weit oben, sondern waren real, authentisch und konnten über sich selbst lachen.
Im Auto fiel Sungjin plötzlich ein: »Der Gottesdienst war heute gar nicht weihnachtlich. Wir haben ja Weihnachten noch nicht mal erwähnt. Das haben wir völlig vergessen.« Stimmt, sie hatte mich zwar mit »Merry Christmas« begrüßt, aber das war es dann auch schon gewesen mit Weihnachten. Und ich selbst hatte vor lauter Aufregung, Begeisterung, Neugierde und Neuem gar nicht mehr auf dem Schirm gehabt, dass ja Weihachten war. Eigentlich ist genau dies das Tolle an Gott und auch an der Bedeutung von Weihnachten. Er kommt uns nah, zieht in unseren schlichten Stall ein und verändert alles, ob wir das auf dem Schirm haben oder nicht.
»Sungjin, für mich war es ein wunderschönes Weihnachten, ich freue mich so, euch kennengelernt zu haben und zu eurer Gemeinde kommen zu dürfen. Danke für eure unkomplizierte Einladung und euer Vertrauen«, sagte ich von ganzem Herzen mit einem Bein schon aus dem Auto.
Sie antwortete: »Gut, dass du jetzt zu uns gehörst. Nächstes Jahr stellen wir eine Krippe auf und feiern richtig.« Die Kinder winkten noch durch die beschlagenen Autoscheiben, dann waren sie weg.
Aus dem EFD-Haus dröhnte laute Musik. Als ich über die immer noch mit Schnee bedeckte Treppe ins Haus kam, war klar, dass hier gerade voll die Party stieg. Ahmed, unser Chef, hatte etliche Flaschen harten Alkohol zur Feier des Tages – damit war Weihnachten gemeint – mitgebracht und alle europäischen und türkischen jungen Leute tranken und tanzten, was das Zeug hielt. Selbstverständlich war ich keine Spielverderberin und tanzte und feierte mit, obwohl ich eigentlich gerade aus einer so anderen Stimmung kam.
Irgendwann entdeckte ich Marlene strickend in der Küche und gesellte mich zu ihr. Sie war immer der absolute Ruhepol im Haus und ich unterhielt mich sehr gerne mit ihr. Sie fragte mich, wo ich denn den ganzen Tag seit früh morgens gewesen wäre. Ich erzählte ihr die Geschichte und offenbarte damit, dass ich Christin bin. Zu meiner Überraschung fand sie das nicht seltsam oder etwa schlimm. Im Gegenteil. Sie wollte sogar gerne mal mit in die Gemeinde kommen und es gefiel ihr so gut, dass es nicht bei einem Mal blieb. In Deutschland hatte sie sich nicht für Kirche interessiert, aber in Gaziantep eine Hauskirche zu erleben, war auch wirklich etwas anderes. So ließen wir Weihnachten für uns noch recht besinnlich in der Küche ausklingen, bevor am nächsten Tag die Woche wieder mit einem normalen Schulmontag begann.
Wie fast immer in meinen bisherigen drei Wochen in der Türkei stand ich recht früh auf, so gegen sieben Uhr. Als Erstes war ich mit Marlene im Park joggen, dann frühstückten wir zusammen unser Müsli nach deutscher Art und danach bereitete ich meine Englischstunden für die Einsätze in den Grundschulen am Nachmittag vor. Meine Stunden hatte ich alle schon bis ins Detail geplant und war startklar zur Abfahrt, da rief mich Ahmed in sein Büro und erklärte: »Sabine, du fährst nicht mehr mit in die Grundschulen. Ich brauche dich ab sofort für ein spezielles Projekt in einer Schule für Hochbegabte namens BILSEM, und zwar täglich.«
Ich war entrüstet, wollte protestieren, diskutieren, doch er fuhr schon fort: »Sabine, du wirst es lieben. Du wirst da allein hingehen. Das wird dein Projekt. Sie brauchen jemanden wie dich. Außerdem bist du noch am längsten von allen derzeitigen Freiwilligen hier. Die anderen gehen ja alle in wenigen Wochen. Die Neuankömmlinge kann ich da nicht sofort hinschicken. Aber dein Türkisch ist schon so gut … und außerdem habe ich dem Direktor versprochen, dass er schon heute mit dir rechnen kann.«
Also war ich um den Finger gewickelt. Was blieb mir auch anderes übrig, als einzuwilligen? Und reizvoll fand ich es irgendwie auch. Trotzdem wollte ich wenigstens einmal pro Woche noch an einer normalen Schule bleiben. Das Los fiel auf eine Grundschule im berüchtigten Stadtteil Cinderesse, was so viel heißt wie »Tal der Dämonen«. Hier lebte auch Mustafa aus der Gemeinde. Der ältere Mann war wohl früher ein Mafioso gewesen und legte auch heute noch einen ziemlich rauen Ton an den Tag. Trotzdem wurde er in der Gemeinde von allen liebevoll Dede genannt – Opa. Später bekam ich mit, dass er in der Gemeinde immer wieder dafür warb, dass wir doch alle aktiver in seinem sehr armen und gefährlichen Stadtteil werden sollten. Deshalb freute ich mich sehr, dass ich jeden Donnerstagvormittag dort unterrichten durfte, wenn auch mit jeweils siebzig Kindern pro Klasse. Eine Herausforderung und ein Ort, an dem ich sicher viel lernen würde!
»Und übrigens Sabine – du müsstest bis heute Abend dein Zimmer räumen. Das wird jetzt mein Büro. Dein Bett wird zu der Freiwilligen aus Georgien mit reingestellt.«
Kurz war ich getroffen von der Willkür und dem fast schon entmündigenden Ton, in dem das alles geschah. Hier merkte ich wieder einmal, wie sehr ich als Deutsche es doch gewohnt war, wenigstens ansatzweise gefragt und mit auf den Weg genommen zu werden, anstatt einfach vor brutale und sofortige Tatsachen gestellt zu werden. »Eine gute Übung in Sachen Demut«, sagte ich mir innerlich und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich seine Art und Weise und überhaupt seinen Leitungsstil ziemlich daneben fand. Wenn ich daran dachte, wie wir im CVJM in Kodersdorf immer versucht hatten, alles möglich zu machen, damit die Freiwillige aus Italien sich wohlfühlte und ja nicht das Handtuch schmiss … Hier war es nun fast eher andersrum.
»Alles klar, Ahmed«, sagte ich und erhob mich, als klares Signal, dass ich jetzt lieber gehen würde. Er schrieb mir noch schnell die Adresse der BILSEM-Schule auf und schon zischte ich ab in mein Zimmerchen, das ich wenigstens noch für ein paar Stunden haben würde.
