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Winfried Schäfer, den alle nur "Winnie" nennen, hat in seiner langen Karriere viel erlebt. In diesem Buch schildert er, wie er als junger Trainer beim Karlsruher SC eine Ära prägte und was er danach auf seinen zahlreichen Stationen im Ausland an unglaublichen Begebenheiten erlebte. Es ist eine Reise, die in einer fensterlosen Militärmaschine über dem afrikanischen Dschungel beginnt, ihn zwischen die Fronten im Iran bringt und letztlich zur Flucht aus Lebensangst treibt. So etwas haben Fußballfans noch nie gelesen!
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Seitenzahl: 320
Veröffentlichungsjahr: 2025
Oliver Kahn: Winnie war mein Mentor
Prolog: Willkommen in Afrika!
1Das erste Mal Europa: Trainerjahre beim Karlsruher SC
2VfB Stuttgart und Tennis Borussia Berlin: Katastrophe hoch zwei
3Kamerun: Kontinental-Triumph und Tragödie
4Al-Ahli: Wunder in der Wüste
5Al-Ain: Pokal-Triple für den Scheich
6Baku: Koks und Kaviar
7Thailand: Kerzen für den König, aber keine Pässe
8Jamaika: Reggae-Boyz gegen Klinsmänner
9Iran: Hollywood in Teheran
Mohammad Zarandi: Die Ära Schäfer ist in die Klubgeschichte eingegangen
10Baniyas: Abstiegskampf und Sabotage
11Al-Khor: Klasse gehalten, Job erledigt
12Kicker-Jahre: Gladbach, Offenbach, Karlsruhe und zurück
Epilog: Fußball könnte so einfach sein
Günter Netzer: In Winnie brennt ein Feuer
Von Oliver Kahn
Als ich mit 18 Jahren im November 1987 mein erstes Bundesligaspiel mit dem Karlsruher SC gegen den 1. FC Köln bestritt und wir mit 0:4 verloren, hätte ich nie gedacht, dass dieser Moment der Beginn einer außergewöhnlichen Reise sein würde. Eine Reise, die maßgeblich von einem Mann geprägt wurde: Winnie Schäfer.
Winnie war nicht nur mein Trainer, sondern auch mein Mentor und Förderer. Nach meinem Bundesliga-Debüt gegen Köln dauerte es allerdings noch ein paar Jahre, bis ich zur dauerhaften Nummer 1 beim KSC wurde. Ich bekam meine Chance im November 1990 beim Bundesligaspiel gegen den VfL Bochum. Als ich zur Halbzeit eingewechselt wurde, stand es 1:2 gegen uns. Winnie Schäfer entschied sich, mich für Alexander Famulla ins Tor zu stellen. Mit einer wichtigen Parade konnte ich dazu beitragen, dass wir das Spiel noch mit 3:2 gewannen. Dieser Sieg war nicht nur ein Wendepunkt für das Team, sondern auch für mich persönlich. Nach dem Spiel rief Winnie mich zu sich und sagte: „Pass auf, Oli. Du bist jetzt meine neue Nummer eins. Und du darfst auch mal Fehler machen, ich werde trotzdem an dir festhalten.“ So ließ er mich spüren, dass er von meinen Fähigkeiten überzeugt war und an mich glaubte – komme was wolle. Momente wie diese gaben mir das Selbstvertrauen, das ich brauchte, um mich weiterzuentwickeln.
Winnie Schäfer war bekannt dafür, junge Spieler zu fördern und ihnen die Angst und den Respekt vor großen Herausforderungen zu nehmen. Er sah in mir nicht nur einen talentierten Torwart, sondern auch jemanden mit dem absoluten Willen und dem Biss, sich durchzusetzen. Diese Eigenschaften waren es, die ihn dazu bewogen, sich in der Entscheidung zwischen Stefan Wimmer – dem Sohn der KSC-Torwartlegende Rudi Wimmer – und mir für mich zu entscheiden.
Ein denkwürdiger Moment für mich war die Mannschaftssitzung vor einem Spiel des KSC in München gegen den FC Bayern. Winnie sagte damals: „Von diesen Bayern Spielern möchte ich keinen im Kader haben.“ Auch wenn ich heute darüber schmunzeln muss, zeigte diese Ansprache sehr deutlich seinen Mut und seine Fähigkeit, uns als Team zu motivieren und zu stärken.
Winnie Schäfer hat mich nicht nur als Spieler, sondern auch als Mensch geprägt. Seine unerschütterliche Unterstützung und sein Glaube an meine Fähigkeiten haben mir den Weg zu einer erfolgreichen Karriere geebnet. Er ist ein großartiger Trainer und Mensch, der immer an das Potential seiner Spieler geglaubt hat.
Da stand ich nun. Nicht souverän, cool und siegesgewiss am Rand des Spielfelds, sondern etwas verloren auf dem Rollfeld eines Flughafens, des Nsimalen International Airport in Yaoundé, der Hauptstadt Kameruns. Im Januar 2002 wartete ich auf die Maschine, die mein Team und mich nach Mali bringen sollte.
Dabei waren wir erst tags zuvor von einer langen Reise aus Radès in Tunesien zurückgekommen. Das waren über zehn Flugstunden gewesen. Als Nationaltrainer Kameruns hatte ich auf diesem letzten Testspiel bestanden, bevor wir zum Afrika-Cup aufbrechen würden. Auf dem Hinflug hatten wir mit zwei kleinen Propellermaschinen vorliebnehmen müssen statt der versprochenen Boeing 707. Ich hatte Blut und Wasser geschwitzt, und auch die Spieler hatten sich zunächst geweigert, in die kleinen Flugzeuge einzusteigen. Glücklicherweise hatten wir gegen die Tunesier 1:0 gewonnen, das war gut für die Stimmung. Der Verbandspräsident hatte uns per Telefon gratuliert: „Coach, jetzt bist du in Afrika angekommen!“
Jetzt also, keine 24 Stunden später, die Reise zum Afrika-Cup nach Bamako. Es war stickig heiß, weit über 30 Grad, ich war hundemüde, die Warterei war nervenzehrend. Da riss mich Markus Jestaedt, ein deutscher TV-Journalist, der uns zum Turnier begleitete, aus meinen Gedanken: „Es geht los, Winnie!“
„Aber die Maschine ist doch noch nicht da!“, stöhnte ich.
Staatschef Paul Biya hatte uns für den Flug nach Mali seine Präsidentenmaschine versprochen, von der aber weit und breit nichts zu sehen war.
„Doch, Winnie“, beharrte Markus, „da steht sie.“ Er deutete auf eine alte Militärmaschine, ziemlich abgerockt, nicht sehr vertrauenerweckend.
Die Präsidentenmaschine hatte ich mir anders vorgestellt.
„Das ist nicht die Präsidentenmaschine“, schaltete sich Monsieur André ein, Generalsekretär des kamerunischen Fußballverbandes, „die steht heute nicht zur Verfügung. Das hier ist die Ersatzmaschine.“
Wie wir später erfahren sollten, hatte sich die Präsidentengattin spontan entschlossen, zum Shopping nach Paris zu fliegen, standesgemäß mit der Maschine, die zum Amt ihres Ehemanns gehörte. Willkommen in Afrika!
„Na gut, Hauptsache, es geht endlich los. Aber dann möchte ich wenigstens vorne sitzen“, sagte ich.
„Kannst du vergessen“, sagte Jestaedt. „Wenn es eine Militärmaschine ist, gibt es keine Sitzreihen wie in einem Passagierflugzeug.“
Monsieur André nickte betroffen.
Tatsächlich, es gab nur zwei Sitzbänke längs der Flugzeugwände. Darüber waren Netze gespannt, an denen man sich festhalten konnte. Günther Kroth, unser Masseur, den ich zusammen mit Mannschaftsarzt Heinz-Walther Löhr vom Karlsruher SC zu Kameruns Nationalmannschaft gelotst hatte, verdrehte die Augen. Umso mehr wunderte es mich, dass er kurz nach dem Start selig zu schlafen schien. Sein Kopf lehnte an der Schulter einer neben ihm sitzenden Soldatin, die uns begleitete. Löhr hatte die Augen geschlossen.
Die Bedingungen an Bord spotteten jeder Beschreibung. Besonders krass waren die sanitären Anlagen, beziehungsweise die Alternative zu selbigen. Denn eine Toilette gab es nicht. Stattdessen war im Heck des Flugzeugs ein Vorhang gespannt, dahinter stand ein Blecheimer.
Ich weiß nicht, wie ich diese Reise überstanden habe. Nach einem über sechsstündigen Flug und einer abenteuerlichen Landung in Bamako, der Hauptstadt des Gastgeberlandes Mali, dankte ich dem lieben Gott, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und fragte mich nicht zum ersten Mal: „War es das wert? Wo bin ich hier nur gelandet?“
16 Jahre zuvor, Mönchengladbach. Im Herbst meiner Spielerkarriere, während meiner letzten Saison bei der Borussia, war ich mit meinen 36 Jahren auf dem Platz so etwas wie ein Spielertrainer. Mitspieler wie Armin Veh und Wolfram Wuttke beschwerten sich, dass ich mich ihnen gegenüber als Coach aufspielte. So hielt ich Armin Veh an, an der Mauer des Trainingsgeländes Spannstöße zu üben – wie ich es einst als Jungspund von meinem Trainer Hennes Weisweiler gelernt hatte.
Zudem hatte ich nach anfänglichen Erfahrungen als Jugendtrainer zusätzlich einen ‚aushäusigen‘ Trainerjob angenommen, beim VfL Mennrath, der damals wahrscheinlich in der Bezirksliga spielte. Das war eine Aufgabe, die mir gehörig Spaß bereitete, wir haben damals sogar den Aufstieg geschafft. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie meine Frau reagierte, als ich ihr eines Nachts sagte: „Angelika, ich denke das ist wirklich was für mich. Ich glaube, das kann ich gut.“ Sie schaute mich nur an und meinte: „Dann mach es aber richtig. Ab nach Köln, mache deinen Trainerschein.“ Sie gab mir den Rückhalt, den ich gebraucht hatte.
Borussia Mönchengladbachs Coach Jupp Heynckes schickte mich damals außerdem hin und wieder los, um Spiele zu beobachten und Spieler für ihn zu scouten. Also reiste ich nun durch Deutschland, wenn ich nicht in Köln für meinen Trainerschein büffelte. Eines Tages war ich wieder einmal in der Duisburger Wedau zu Gast, um mir ein Spiel der Niederrhein-Auswahl anzuschauen. Ich kann mich an keine Details zur Mannschaft, zum Gegner oder zum Spiel mehr erinnern. Aber ich weiß noch genau, dass dieser Besuch wegweisend für mich war. Denn ich traf dort auf Carl-Heinz „Calli“ Rühl, meinen ehemaligen Trainer beim Karlsruher SC. Inzwischen war er dort zum Manager aufgestiegen. Der KSC spielte damals in der Zweiten Liga und hatte die Saison 1985/86 als Siebter abgeschlossen. Trainer war Rainer Ulrich, der im Verlauf der Saison interimistisch Lothar Buchmann ersetzt hatte und den Job schließlich behalten hatte. Beide sind 2023 gestorben.
Trotz des sportlich passablen Abschneidens war klar, dass der Klub nicht plante, mit meinem früheren KSC-Mitspieler Rainer als Cheftrainer in die neue Saison zu gehen. Ich sprach Calli spontan an, was da los sei, bei „meinem“ KSC. Calli sagte, er würde mich die Woche über mal anrufen. Und so kam eins zum andern. Klar wollte ich Trainer werden, sogar unbedingt, aber konnte ich damit rechnen, dass es so schnell klappen würde?
In Karlsruhe herrschte damals sehr viel Unruhe. Seit Anfang der 1980er-Jahre hatte man jede Saison den Trainer gewechselt, ein ungeheurer und kostspieliger Verschleiß. Calli machte auch keinen Hehl daraus, dass beim KSC nur wenig Geld vorhanden war, Spielerneuverpflichtungen im Grunde nicht zur Debatte standen. Tatsächlich würde ich später mit dem kleinsten Etat aller Zweitligateams in die neue Saison gehen müssen.
Aber ich greife vor.
Ich fühlte mich auf jeden Fall geschmeichelt, dass er mir das Traineramt mit so jungen Jahren – ich war gerade 36 Jahre alt – zutraute. Und was hatte ich zu verlieren? Außerdem hatte ich das – manchmal überhebliche – Selbstvertrauen des ehemaligen Vollprofis: „Man kann jeden schlagen und alles erreichen!“ Also schaute ich mir einige Spiele der sich dem Ende entgegenneigenden Saison an, unter anderem den Auftritt des KSC bei Hannover 96. Ich erkannte sofort, woran es bei der Mannschaft des KSC krankte: Die Spieler agierten mit angezogener Handbremse, sie gingen kaum an ihre Grenzen und nie darüber hinaus. Sie spielten wie ein Team, das sich mit dem Status quo begnügt. War denn da niemand, der ihnen die volle Leistungsbereitschaft abverlangte? Kurzum: Im Kader herrschte eine verheerend lethargische Mentalität. Man kann ja auch im Schatten braun werden!
Kein Geld, dafür Spieler, die zu wenig aus ihren Möglichkeiten machten – das waren eher bescheidene Voraussetzungen, um das Amt des KSC-Cheftrainers anzustreben. Und doch entschied ich mich dafür, den Job in Karlsruhe zu übernehmen, auf einem der größten Schleudersitze des deutschen Fußballs – weil ich Lust darauf hatte und weil ich Potential sah. Wo sonst könnte ich meine Ideen voll umsetzen!
Vorher beriet ich mich mit meiner Frau Angelika. Wir entschieden, dass es unter den gegebenen Umständen besser sei, wenn sie und Sascha, unser Sohn, zunächst in Mönchengladbach bleiben würden. (Meine Tochter Aylissa war damals noch nicht geboren.) Wir wollten lieber nicht umziehen, solange wir nicht wussten, ob das Unternehmen Karlsruhe nicht eine Eintagsfliege sein würde. Wie gesagt, ich war noch nie Cheftrainer gewesen und konnte mir ausrechnen, bei Erfolglosigkeit nach kürzester Zeit wieder gefeuert zu werden.
Dass es mit dem Rausschmiss dann etwas länger dauern sollte, elf Jahre, um genau zu sein, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen, am wenigsten ich.
Ich begab mich nach dem Gespräch mit Calli also mutig nach Karlsruhe, wo mich Roland Schmider erwartete. Schmider war Präsident, der starke Mann im Verein. Calli Rühl muss man sich als rheinländischen Gentleman vorstellen, den es ins Badische verschlagen hatte und der die Gelassenheit, die so typisch für die Region ist, dankbar verinnerlicht hatte. Immer adrett, charmant und ruhig, vielleicht ein bisschen zu ruhig, bedenkt man die Umstände. Roland war das genau Gegenteil. Nicht, dass er kein Gentleman gewesen wäre. Den konnte er auf jeden Fall geben. Charmant, gewitzt, mit ganz viel Humor und Herz. Vor allem mit Energie und Mut, neue Wege zu gehen. Dabei war er durch und durch Badener. Stolz auf Mundart und Herkunft. Es war einem sofort klar, dem lagen Verein und die Stadt, die Region am Herzen. Er hatte mich als Trainer unbedingt haben wollen, erklärte mir bei unserem ersten Termin aber auch unverblümt, dass kein Geld da war, nicht für Spieler-Neuverpflichtungen, und eigentlich auch nicht für einen Trainer. Unser Zeugwart Seppel Klimesch, ein badisches Original, mit riesigem Herz und leidenschaftlicher „Gosch“, war noch lange in dem Sparmodus befangen. Neues Schuhwerk beispielsweise rückte er nur sehr ungern aus seiner Asservatenkammer raus. Ich werde nie vergessen, wie Seppel im ersten Jahr mit mir umging. Da war kein Respekt. Er war der erste, der mich immer wieder grummelnd daran erinnerte, dass ich viel zu jung sei. Aber ich nahm ihm das nicht übel. Vielleicht hatte er ja recht! Auf jedem Fall lebte er für den Verein und war durch und durch ehrlich.
Ich wusste also, dass es finanziell schlecht stand, aber als Schmider mir eine Monatsgage von 9.000 D-Mark anbot, war das eine Art Hungerlohn, wenn man sich das Gehaltsgefüge im damaligen Fußball anschaute und insofern wenig motivierend.
Meine Frau hatte das erwartet und mich gewarnt, allerdings auch einen Rat mit auf den Weg gegeben. Der Verein hatte Schulden und war gezwungen, zu knausern, daran war nicht zu rütteln. Ich hatte gelesen, dass man durchschnittlich 5.600 Karten verkaufen musste, um die Lizenz vom DFB zu erhalten. „Schau, Roland“ – jetzt musste ich zum ersten Mal als Trainer verhandeln und erinnerte mich an Angelikas Idee: „Ich bin einverstanden. Aber ich brauche auch eine Motivation. Ab jedem Zuschauer jenseits der 5.600er-Schallmauer bekomme ich eine D-Mark.“ Roland lachte und ließ sich gern darauf ein. Gut für mich! Am Ende war es ein sensationeller Deal. Nachdem wir in meiner ersten Saison aufgestiegen waren, hatten wir einen Schnitt von 20-25.000 Zuschauern.
Nachdem dieser Punkt geklärt war, startete ich meine Mission.
Als erstes schaute ich mir zwei Freundschaftsspiele in Hessen an und unterhielt mich mit Günther Kroth, ehemaliger Spieler bei München 1860, jetzt Masseur beim KSC. Als solcher wusste er alles über die Spieler. Einer von ihnen war Rainer Schütterle. Er war auf dem Weg in den Urlaub nach Mexiko. Dabei dachte ich unweigerlich an Montezumas Rache. Ich versuchte, es ihm auszureden. Als wir uns nach dem Urlaub wiedersahen, fragte ich ihn, wie es in Mexiko denn gewesen sei. Seine Antwort: „Ich war nicht in Mexiko“ – offensichtlich hatte er sich meine Bedenken zu Herzen genommen.
Dies war mein erstes Ziel: Jedem einzelnen Spieler das zu vermitteln, was ich in Mönchengladbach von meinem ersten Tag an aufgesogen hatte: die Belange des Vereins über Persönliches zu stellen, das Sich-nicht-Zufriedengeben, das Mehr-Wollen, den Ehrgeiz, immer alles zu geben und sich zu verbessern, sein Potential auszuschöpfen.
Ein Beispiel: Die Mannschaft steht bei 29 Punkten, sie benötigt 30 Punkte, um die Klasse zu halten. Bei drei ausstehenden Spielen waren nach dem damaligen Zwei-Punkte-System sechs Punkte möglich. Die Jungs wissen, dass sie aus diesen drei Spielen nur einen Punkt holen müssen, um das Saisonziel zu erreichen und nicht abzusteigen. Eine leichte Aufgabe?
Mitnichten! Geht die Mannschaft die Aufgabe mit einer solchen Einstellung an, wird sie das erste Spiel garantiert verlieren, der Rahmen wird daraufhin enger werden, und trotzdem werden die Spieler sich vormachen: „Einen Punkt von immer noch vier möglichen – wo ist das Problem?“
Falsch! Größer kann ein Problem gar nicht sein. Denn die Jungs werden auch das zweite Spiel verlieren und dann am letzten Spieltag unter extremem Druck stehen.
Um solche Situationen zu vermeiden, wollte ich damals die Gladbacher „Denke“ in Karlsruhe implementieren – auch wenn Borussia zu der Zeit eine regelrechte Powermaschine und ein übergroßes Vorbild war.
Aber das war kein Grund, von meinen Zielen abzurücken. Ich drehte den Spieß um und sagte den Jungs: „Ich bin nach Karlsruhe gekommen, um mit euch so schnell wie möglich in die Bundesliga aufzusteigen.“ Ich blickte in ungläubige Gesichter. „Warum verschwenden wir unsere Zeit in der Zweiten Liga? Mit mir ist das nicht zu machen. Ihr habt die Qualität, um aufzusteigen, also werden wir dafür knochenhart arbeiten.“
Mir war bewusst, dass das nicht zuletzt für mich selbst galt, wollte ich die Jungs dazu bringen mitzuziehen. Ich war damals 36 alt, in unserem Trainingscamp im Schwarzwald lief ich stets vorneweg, und beim Fünf gegen Zwei kickte ich meist mit. Das imponierte den Spielern.
Zu meiner Philosophie gehörte aber auch, diejenigen, die nicht so mitzogen, wie ich mir das vorstellte, nicht gleich in den Senkel zu stellen. Ich suchte das Gespräch unter vier Augen und versuchte herauszufinden, ob es irgendwelche Probleme gab: im Privatleben, in der Familie, wo auch immer.
Die Spieler in Karlsruhe machten erst einmal große Augen. Zugewandtheit und Wertschätzung von einem, der nicht viel älter als sie war, irritierte sie.
Mit Michael Harforth hatten wir einen Mittelfeldspieler in der Mannschaft, der seine Möglichkeiten längst nicht ausschöpfte. Er war unser Spielmacher und als solcher ungeheuer wichtig, also fing ich an, gezielt mit ihm zu arbeiten. Unser Kapitän damals war Emanuel Günther. Ihn nahm ich zur Seite und fragte ihn, ob er bereit wäre, die Binde an Harforth abzugeben. Ich war mir sicher, dass alle davon profitieren würden. Günther war einverstanden, und es passierte genau das, worauf ich spekuliert hatte. Harforth trug die Binde mit Stolz, genoss die ihm übertragene Verantwortung und war in jeder Hinsicht ein Vorbild, immer als Erster beim Training, er ging voran. Vor allem aber war er jetzt endlich der Spielmacher, wie die Fans und ich ihn uns vorstellten: Er spielte überragend. Er war der Mann, der die überraschenden, die entscheidenden Pässe draufhatte.
Aber er war nicht der Einzige, der an seine Grenzen und darüber hinaus ging.
Ob Rainer Schütterle – ohnehin schon ein klasse Fußballer –, Srecko Bogdan oder Wolfgang Trapp, um nur diese drei hervorzuheben: Alle machten einen riesigen Leistungssprung. Aber auch bei den allermeisten anderen KSC-Spielern gelang es mir, den Ehrgeiz wachzukitzeln, sie wurden deutlich besser. Bezeichnend war, dass im Training, wo ich viele Übungsformen von Jupp Heynckes übernommen hatte, alle mit ungeheurer Freude dabei waren und es richtig zur Sache ging. Die Spieler spürten, dass eine Entwicklung in Gang kam, und zogen volle Pulle mit. Das ist einer der wichtigsten Punkte, den ein guter Trainer verstehen muss, ganz gleich in welchem Sport. Die Spieler müssen spüren, dass ihnen das Training guttut, und sie sich stetig verbessern. Klar geht es ums Team, aber Profis werden Profis, weil sie sich knallhart behauptet haben. Ganz gleich, ob einer eine Flaute hat, mal lustlos wirkt oder unmotiviert. In den meisten steckt dieser Ehrgeiz, sich selbst zu verbessern, und den muss man als Trainer manchmal wieder wecken. Und wir wurden im Training besser und besser.
Unser Saisonstart spiegelte das jedoch noch nicht wider. Wir holten aus den ersten drei Spielen nur einen Punkt und standen auf einem Abstiegsplatz.
Gut, dass Manager Calli Rühl mir den Rücken freihielt, uns unseren Weg gehen und sich nicht von der aufkommenden Negativstimmung im Umfeld beeinflussen ließ. Der ein oder andere Kritiker stellte in Frage, ob ich aufgrund meines jungen Alters für den Trainerjob geeignet sei. Aber Calli blieb ruhig und ließ sich auf keine Diskussion ein. Und dasselbe galt für Präsident Schmider. Dafür war ich dankbar, auch wenn ich vermutete, dass es nicht nur Vertrauen in mein Potential war, sondern auch die Tatsache, dass für eine Trainerentlassung schlicht nicht genug Geld da war. Für mich war es wichtig, die Rückendeckung zu haben. Als junger Trainer brauchst du Leute, die an dich glauben und dir den Rücken freihalten. Die beiden gaben mir das Selbstvertrauen, meinen Weg trotz der Startschwierigkeiten weiterzuverfolgen. Ganz gleich, wie sehr mich das Ende beim KSC verletzt hat und wie sehr ich noch Jahre später mit Roland haderte. Ich werde nie vergessen, wie er mich damals unterstützt hat.
Wir spielten keine berauschende Hinrunde, in der Winterpause standen wir auf Rang 6, mit fünf Punkten Rückstand auf einen Aufstiegsplatz.
Dann hatten wir ein Trainingsspiel, auf Schnee, ich war nicht nur Trainer, sondern auch Schiedsrichter und Spieler zugleich. Das merkten die anderen sofort, ich war nicht zu bremsen, ging mit heiligem Ernst zur Sache, so, wie es in meiner Fußballer-DNA verankert war. Das war kein normales Trainingsspiel, es wurde bissig. Irgendwann pfiff ich Foul gegen Emanuel Günther. Der regte sich auf, wollte meine Entscheidung nicht akzeptieren. Das wiederum durfte ich nicht akzeptieren – als Trainer muss man die Mannschaft lesen und ein Gespür für die richtigen Momente entwickeln, für Schlüsselsituationen, die Alles verändern können. Das war so ein Moment. Ich musste zeigen, dass ich nicht aufgegeben hatte und keine Kompromisse eingehen würde, wenn es um unseren Erfolg geht. Ich unterbrach den Kick:
„Manu, du hast genau zwei Wochen Zeit, dein Verhalten zu ändern. Tust du das nicht, gibt es richtig Ärger.“
Günther wollte etwas einwenden, ich unterbrach ihn sofort:
„Manu, noch eine Woche!“
Die anderen Spieler hatten die Ohren gespitzt und genau hingehört. Von diesem Tag an entwickelte die Mannschaft eine enorme Power, das war wirklich Wahnsinn.
Einen ebenso großen Effekt hatte meine Reaktion nach einer krachenden Niederlage. Wir waren gegen Hannover 96 mit sage und schreibe 0:8 untergegangen, bis heute die zweithöchste Niederlage der Vereinsgeschichte.
Nach dem Spiel in der Kabine schien die Mannschaft zu erwarten, dass ich sie gehörig zusammenfalte. Aber genau das tat ich nicht.
Ich war mit meinem Privatauto von Karlsruhe nach Hannover gereist, da ich im Anschluss an das Spiel zu meiner Familie nach Mönchengladbach wollte; die Mannschaft war ins Hotel in Hannover zurückgekehrt, wo sie bis zum Mittwochspiel gegen Bielefeld bleiben sollte – eine Rückreise nach Karlsruhe hätte nicht gelohnt (wir mussten ja aufs Geld gucken …). Kurz nachdem ich in Hannover losgefahren war, schoss mir eine Idee durch den Kopf. Über mein Autotelefon rief ich Rainer Schütterle an und erkundigte mich nach der Stimmung, wie die Mannschaft die Niederlage verkraftet habe.
„Trainer, wir sind am Boden zerstört. Das hätte nicht passieren dürfen. Das wirft uns echt zurück.“
„‚Schütte“‘, antwortete ich, „so was passiert. Ihr geht jetzt alle zusammen mal ein Bier trinken, oder zwei oder drei, und hakt das ab.“
Schweigen in der Leitung. Dann fragte Schütterle fast ungläubig: „Wirklich, Trainer?“
„Auf jeden Fall! Wir gewinnen zusammen und wir verlieren auch zusammen. Nicht ihr habt verloren, sondern wir haben gemeinsam verloren.“
Derartige Manöver hatte ich übrigens nicht von Jupp Heynckes, sondern von einem anderen meiner Gladbach-Trainer gelernt, von Udo Lattek. Nach einer Niederlage mit der Borussia hatten wir, die gesamte Mannschaft, damit gerechnet, dass der bei Lattek am Dienstag übliche Waldlauf mindestens doppelt so lange dauern würde. Aber was machte Lattek? Er fuhr mit uns nicht etwa in den Wald, sondern in ein Café und spendierte allen Kaffee und Kuchen. Und wir? Wir hauten in den nächsten Spielen die Gegner reihenweise weg.
Oft sind es kleine Dinge, die große Wirkung erzielen.
Mit dem KSC verloren wir in der Rückrunde nur noch ein Spiel. Am 27. Spieltag eroberten wir durch ein 3:0 bei der SG Wattenscheid 09 den zweiten Tabellenplatz. Und den gaben wir bis zum 38. und damit letzten Spieltag – die Zweite Liga umfasste damals zwanzig Klubs –, nicht mehr her. Wir stiegen in die Bundesliga auf – wie ich es angekündigt hatte! Karlsruhe war wie berauscht, jeder im Club feierte, aber der schönste Moment für mich kam in derselben Nacht, in der Kabine, als ich meine Tasche holte und dort Seppel, unseren grantigen Zeugwart, sitzen sah. Allein, mit einer Flasche Bier in der Hand, saß er nachdenklich lächelnd da. „Seppel, bin ich eigentlich zu jung?“ fragte ich. Er sprang auf und schrie: „Du Arschloch!“ Dann umarmte er mich, mit Tränen in den Augen. Unser Seppel liebte den KSC wirklich von Herzen.
Die Stimmung im Team war sensationell, ich ließ die Jungs sehr viel mit Ball trainieren, so wie ich es bei Hennes Weisweiler erlebt hatte. Der hatte den Ball ins Training integriert, wo immer es möglich war, sogar in die Laufeinheiten. In den 2000er-Jahren wurde das als spanische Methode neu entdeckt. Die Fußballwelt hat eine Tendenz, sich immer wieder neu zu erfinden, auch wenn sie sich wiederholen muss.
Besonders gern ließ ich zwei Tage vor dem Spieltag auf dem Kleinfeld neun gegen neun spielen und setzte die Teams in meinem Sinn zusammen.
Ich erinnere mich gut an einen Tag Anfang der 1990er-Jahre, an dem ich Oliver Kahn und Manfred „Manni“ Bender ins selbe Team gesteckt hatte. Bender war vom FC Bayern zu uns gekommen und hatte das „Mia-san-mia“-Bayern-Gen verinnerlicht. Im Training ließ er es gern ein wenig lässiger angehen. Das schmeckte einem wie Oliver Kahn natürlich gar nicht, und als das Kahn/Bender-Team mit 0:2 hinten lag, rastete Kahn aus: „Bender, wenn du jetzt nicht endlich rennst …“
Bender konnte das natürlich nicht auf sich sitzen lassen: „Ja, was ist dann, was willst du von mir?“ Und schon war ordentlich Feuer unterm Dach! Ich drehte mich einfach weg und tat so, als ob ich nichts mitbekomme. Genau das hatte ich ja erreichen wollen.
Überhaupt Oliver Kahn!
Den schaute ich mir an, da war er gerade einmal 17 Jahre alt. Mir war schnell klar, dass dieser positiv Verrückte irgendwann ein ganz Großer werden würde. Für Oli gab es, eigentlich untypisch für einen Badener, immer nur eines: Gewinnen! Dass er später bei den Bayern landete, war absolut folgerichtig.
Dazu eine Anekdote: Neben unserem Stammkeeper Alexander Famulla brauchten wir einen zweiten Torwart. Wen sollte ich nehmen, Oli Kahn oder Stefan Wimmer, den Sohn von Rudi Wimmer, den langjährigen KSC-Torhüter, der hier von 1969 bis 1983 gespielt hatte? Ich bestellte die beiden für Montagmorgen um 10 Uhr zu einem Ausscheidungstraining ein, nur Oli, Stefan und ich. Am Ende der Einheit platzierte ich zehn Bälle um den Teilkreis am Strafraum und beorderte als erstes Oli ins Tor.
„Oli, wie viele Bälle, glaubst du, haue ich dir rein?“, frage ich ihn.
„Keinen!“, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.
Gleich den ersten Schuss zimmerte ich ihm oben links in den Winkel.
„Oli, wollen wir aufhören?“
Man sah förmlich den Rauch aus seinen Ohren steigen. Von den verbliebenen neun Schüssen versenkte ich noch ein oder zwei weitere Bälle in den Maschen.
Dann war Stefan dran: „Wie viele Bälle schieße ich dir rein?“
„Drei“, war Stefans Antwort.
In dem Augenblick war klar, dass Oli mein zweiter Torwart war.
Nach Trainingseinheiten wie diesen brachten die Jungs auch am Spieltag eine gesunde Aggression auf den Rasen, und genau das war es, was ich wollte. Wir waren für jeden Gegner sehr unangenehm zu bespielen. Einmal brachten wir es in der Bundesliga auf eine Serie von fünfzehn Partien in Folge, in denen wir ungeschlagen blieben.
Mein Plan war aufgegangen. Ich hatte die Mentalität der Mannschaft verändert, aus einem ordentlichen Team war ein bärenstarkes geworden.
Wir waren jetzt also aufgestiegen, aber bei allem sportlichen Erfolg waren die finanziellen Nöte beim KSC nicht geringer geworden. Um Geld in die Kasse zu spülen, mussten wir unter anderem Rainer Schütterle, unseren Torjäger, zum VfB Stuttgart ziehen lassen. Umgerechnet 600.000 D-Mark bekamen wir für ihn. Das mag einem heute wie ein Trinkgeld erscheinen, damals sicherte uns dieses Geld das wirtschaftliche Überleben. So sehr der Aderlass schmerzte, neue Spieler hätte ich trotzdem nicht verpflichten wollen. Die Jungs, die den Aufstieg ermöglicht hatten, sollten auch die Früchte ihrer Arbeit ernten. Ich spekulierte darauf, dass sie sich in der Bundesliga erst recht für den KSC zerreißen würden. Und sollte damit recht behalten. Es gibt genügend Beispiele aus der Bundesliga-Historie dafür, wie nach dem Aufstieg die halbe Mannschaft mit vermeintlich besseren Spielern runderneuert wird – und dann mehr oder weniger Schiffbruch erleidet, ganz einfach, weil ein solchermaßen neu zusammengestelltes Team sich erst finden muss und nicht mehr der verschworene Haufen ist, der zusammen etwas Einmaliges erreicht hat.
Parade-Negativbeispiel ist Hannover 96. Nach ihrem Aufstieg in die Erste Liga verpflichteten die Niedersachsen gleich fünf, sechs Spieler aus Leverkusens Nachwuchsmannschaft – um umgehend wieder abzusteigen.
Dazu fällt mir eine kleine Geschichte ein.
Während meiner Zeit später in Thailand rief mich Jürgen Klopp an. Man hatte ihm unter anderem auch einen Kameruner Spieler angeboten, und „Kloppo“ wollte von mir, dem ehemaligen Nationaltrainer Kameruns, wissen, was ich von diesem Spieler halte.
Sollte er eine detaillierte Einschätzung zu dem betreffenden Spieler erwartet haben, gab ich ihm einen gut gemeinten Rat. So gut der Spieler an sich auch sei, der entscheidende Faktor war meiner Meinung nach ein anderer: „Du kannst es nur schaffen, wenn du die Spieler mitnimmst, die für den Aufstieg und für den Verein gefightet haben. Diese Spieler geben alles.“ Leider weiß ich nicht mehr, wie sich Klopp letztlich entschied.
Unsere erste Saison mit dem KSC in der Bundesliga war schwierig, nach dem 31. Spieltag standen wir auf dem Relegationsplatz. Am 32. Spieltag überholten wir Waldhof Mannheim durch einen 2:0-Heimsieg über den 1. FC Nürnberg und lagen vor dem letzten Spieltag einen Punkt vor den Mannheimern und dem 1. FC Kaiserslautern. Während wir zu Hause gegen Eintracht Frankfurt antreten mussten, waren die Mannheimer beim VfB Stuttgart gefordert. Kaiserslautern hatte ebenfalls ein Heimspiel und traf auf meine alte Liebe Borussia Mönchengladbach.
Die Ausgangssituation war einfach: Wenn Mannheim und Lautern ihre Spiele gewinnen würden, mussten wir in die Relegation.
Die Spielverläufe auf dem Betzenberg und in Stuttgart entwickelten sich zu unseren Gunsten – Borussia führte zur Halbzeit mit 2:1, der VfB mit 1:0 –, insofern lief alles nach Plan. Bloß: Wir selbst spielten nicht mit. Wir lagen im Wildpark gegen die Eintracht ab der 16. Minute mit 0:1 hinten und mussten hoffen, dass die Borussia und der VfB auch in der zweiten Halbzeit einen guten Job machen würden. Aber: Es sollte anders kommen.
Auf dem Betzenberg drehten die Lauterer innerhalb von drei Minuten die Partie und führten nun mit 3:2. Wenigstens die Stuttgarter schienen stabil zu bleiben und behaupteten bis kurz vor Schluss ihr knappes 1:0. Auf die Borussia konnten wir zu diesem Zeitpunkt indes längst nicht mehr setzen. Lautern lag mit 5:2 uneinholbar vorn. Und nur eine Minute später drohte uns die Relegation: Karl-Heinz Bührer glich für Mannheim aus: 1:1. Hätte Waldhof jetzt noch einen draufgesetzt, wären wir auf den 16. Tabellenplatz zurückgefallen.
Bekanntlich aber können sich die Dinge im Fußball blitzschnell ändern – nur zwei Minuten später erzielte Arno Glesius, den ich nach etwa einer Stunde ins Spiel geschmissen hatte, das 1:1 für uns.
Bis heute erzählt man sich über diesen Treffer eine bizarre Geschichte. Etliche Leute wollen gesehen haben, dass mein Co-Trainer Rainer Ulrich den Linienrichter am Arm gehalten hatte, damit der die Fahne nicht höbe und auf Abseits entschied.
Davon abgesehen, dass Glesius bei seinem Treffer meiner Meinung nach nicht im Abseits stand, hatte ich davon nichts mitbekommen. Jedenfalls zählte der Treffer, was unsere Rettung bedeutete. Das war das Ticket für ein weiteres Jahr Bundesliga, das mich jede Menge Schweiß gekostet hatte. Aber das war egal. Wichtig war: Der Aufsteiger hatte die Klasse gehalten!
Fortan konnte es nur noch bergauf gehen, daran glaubten wir felsenfest.
Der Klassenerhalt war Gold wert. Ich konnte den eingeschlagenen Weg mehr oder weniger in Ruhe fortsetzen und die Mannschaft Schritt für Schritt weiterentwickeln. Eine Entwicklung, die ich nicht zuletzt dadurch vorantrieb, dass ich mir fast jeden Sonntag die Spieler unserer A-Jugend und Amateure ansah. Wir mussten ja weiterhin Spieler aus den eigenen Reihen hervorbringen, denn das Geld reichte beim KSC hinten und vorne nicht.
Der Aufstieg und der Klassenerhalt waren für mich damals natürlich riesige Erfolge. Als junger Trainer war das etwas Besonderes. Aber was mich wirklich prägte, war im Grunde die prekäre Situation im Klub, die mich zwang, alle Spieler, von der Jugend bis zur ersten Mannschaft, als ein Team zu begreifen, parallel das Tagesgeschäft zu bewältigen und nicht zuletzt mittels der Jugendarbeit die Zukunft zu planen. Mir war es immer wichtig, so viele Trainingseinheiten und Spiele der Jugend wie möglich zu beobachten, den Nachwuchsspielern immer wieder zu zeigen: „Ihr werdet gesehen!“ Den Platz, auf dem die Jugend trainierte, bezeichnete ich den Medien gegenüber als Karlsruhes Sparkasse, bei der wir unser Geld für die Zukunft anlegen.
Eines unserer Talente war Jens Nowotny.
Jens fiel in der B-Jugend auf, weil er allen anderen Spielern seiner Altersklasse körperlich weit überlegen war. Er spielte damals Libero. Nachdem ich ihn eine Zeit lang beobachtet hatte, empfahl ich unserem Jugendtrainer, Jens ins Mittelfeld zu beordern. Dort wäre er noch wertvoller, weil er mit seiner Körperlichkeit und Schnelligkeit Angriffe unterbinden könnte.
„Aber wir haben doch gerade 8:0 gewonnen“, meinte der Jugendtrainer, „warum soll ich da was ändern?“
Und genau damit lag er falsch.
Denn viel wichtiger als ein 8:0-Sieg, bei dem Jens als Libero kaum gefordert wurde, war, dass er sich weiterentwickelte. Wie gesagt, wir mussten immer an die Zukunft denken und unsere Jugend so ausbilden, dass sie uns in der Zukunft helfen konnte. Dass wir die jungen Talente auf ihrem Weg begleiteten und ihnen halfen, sich zu verbessern – und damit langfristig den Verein! Ich musste Nowotnys Trainer gegenüber also deutlicher werden: „Ab sofort spielt Jens im Mittelfeld! Wenn Du 8:0 gewinnst, ist das schön, aber es ist doch klar, dass dir das Raum gibt, die Spieler mehr zu fordern“, erklärte ich.
Die Folge dieser Weisung?
Knapp sechs Monate später spielte Jens in unserem Bundesligateam, ein paar Jahre später wechselte er zu Bayer 04 Leverkusen und wurde Nationalspieler. Ähnlich war die Situation bei Mehmet Scholl.
Mehmet war eine Frohnatur, ein Spaßvogel, nie um eine Antwort verlegen. Und das galt längst nicht nur für sein Leben außerhalb des Platzes. Es war eine Wonne, ihm zuzuschauen, mit welcher Freude er Fußball spielte, mit welcher Begeisterung er dabei war. Mehmet war so was von dribbelstark. Dass er des Öfteren den Ball verlor, lag in der Natur der Sache, das störte mich überhaupt nicht.
Unseren damaligen Jugendtrainer aber schon, wie ich bei einem Spiel selbst erleben durfte. Nachdem Mehmet zwei-, dreimal den Ball verloren hatte, schrie der Trainer an der Seitenlinie: „Mehmet, willst du einen zweiten Ball? Dann kannst du Sperenzchen machen, wie du willst!“
Was soll ich sagen, spätestens nach diesem Vorfall hatte dieser Trainer ein Problem, lange blieb er jedenfalls nicht mehr beim KSC.
Ich konnte so frei entscheiden und Einfluss nehmen, weil zwischen Calli Rühl, Roland Schmider, Wernfried Feix, dem Verwaltungsratsvorsitzenden, und mich damals einfach kein Blatt Papier passte. Wir vier waren eine Einheit, so wie ich es Jahre zuvor in Mönchengladbach erlebt hatte, wo Cheftrainer Hennes Weisweiler mit Helmut Grashoff, Dr. Helmut Beyer und Dr. Alfred Gerhards ein Dreigestirn hinter sich wusste, dass alle seine Entscheidungen mittrug und ihn immer unterstützte. Die Folge: Borussia wurde zu einer der besten Mannschaften Europas und schrieb Fußballgeschichte.
Und genau diese Rückendeckung spürte ich auch beim KSC.
Ein Beispiel: War ein Spieler damals unzufrieden, weil er seiner Meinung nach zu wenig Einsatzzeit bekam, und meinte, er müsse sich beim Präsidenten beschweren, geriet er bei Roland Schmider an den Falschen. Der stand bedingungslos hinter mir und verschaffte mir dadurch die nötige Luft zum Atmen und die Freiheit, zu agieren, wie ich es für richtig hielt.
Das war etwas völlig anderes als ein paar Jahre später beim VfB Stuttgart, wo Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder sich von unzufriedenen Spielern einflüstern ließ und damit meine Autorität untergrub. Ein Trainer kann nur so stark sein, wie der Vorstand es zulässt. Erfährst du keinen Rückhalt, geht alles kaputt.
Und so würde es ein Jahrzehnt später auch in Karlsruhe kommen. Bis dahin aber leisteten wir mehrere Jahre lang Herausragendes.
In den kommenden Spielzeiten stabilisierten wir uns immer mehr, es ging stetig vorwärts. 1988/89 wurden wir Elfter, ein Jahr später Zehnter, danach Dreizehnter. Dann setzte ein wahrhaft atemberaubender Entwicklungsschub ein. In den kommenden sechs Jahren schlossen wir jede Saison in der oberen Tabellenhälfte ab, dreimal wurden wir Sechster. Aus der professionellen Einheit Roland, Calli, Wernfried und mir war inzwischen viel mehr geworden. Wir waren nicht nur Freunde, eher eine große Familie. Wir hatten volles Vertrauen zueinander, unsere Familien fühlten sich eng verbunden. Die dritte oder vierte Vertragsverlängerung macht das deutlich. Wir waren gemeinsam essen, wir KSCler und unsere Frauen, plauderten, tranken Wein, und irgendwann zu später Stunde meinte Roland: „Winnie, wir müssen bald mal über den nächsten Vertrag sprechen.“ Angelika zückte ihren Lippenstift, malte etwas auf einen Bierdeckel, schob diesen zu Roland, der blickte kurz darauf, stecke ihn dann mit gespielter Ernsthaftigkeit in die Tasche, hob sein Glas und meinte feierlich: „Deal! Mir gehe nemmer auseinander!“ Wir lachten und Rolands Frau Brigitte umarmte Angelika und sagte, sie wäre froh, wenn alles immer so bliebe.
Nach einem achten Platz in der Saison 1991/92 gelangte ich zu der Überzeugung, dass die Truppe zu mehr als „nur“ Rang acht in der Lage war, dass wir neue Ziele brauchten. Zu Beginn der folgenden Spielzeit schrieb ich etwas auf das Flipchart in unserem Kabinengang: „UEFA-Cup“. Jedes Mal, wenn die Jungs auf den Rasen oder zurück in die Kabine gingen, sahen sie den ominösen Begriff. Ich ließ das Ganze unkommentiert.
Als wir die Hinrunde für Außenstehende einigermaßen überraschend als Fünfter abschlossen, trommelte ich die Jungs zusammen: „Wir können es schaffen, wir können den UEFA-Cup erreichen.“ Damit war die Sache ausgesprochen und in der Welt.
Ich hatte Spieler im Kader, die ich damit ohne weiteres triggerte: Oliver Kahn, Manni Bender – und nicht zuletzt Wolfgang Rolff.
Rolff hatte ich im Sommer 1991 nach Karlsruhe gelotst. Er war einige Jahre zuvor mit dem Hamburger SV Meister geworden, hatte mit den Hanseaten den Europapokal der Landesmeister und mit Bayer 04 Leverkusen den UEFA-Cup gewonnen. Zu dieser Zeit war er vereinslos.
Rolff war für mich einer der besten Sechser der Liga und genau der Spieler, der mein Mannschaftspuzzle vervollständigte. Einer mit Gewinner-Mentalität, der die Defensive perfekt organisierte, vor der Abwehr aufräumte und dem Gegner nichts durchgehen ließ. Zwischen uns passte es einfach. Später nahm ich ihn als Co-Trainer mit nach Stuttgart.
Am 31. Spieltag der Saison 92/93 hatten wir beim 1. FC Köln mit 0:2 verloren und waren auf den siebten Tabellenrang zurückgefallen. In den drei verbleibenden Spielen mussten wir zwar nur einmal auswärts antreten, bei der SG Wattenscheid 09, die beiden Heimspiele aber hatten es in sich.
Zunächst bekamen wir es mit Tabellenführer Bayern München zu tun, und am letzten Spieltag würde der Tabellendritte, Borussia Dortmund, im Wildpark aufschlagen. Unsere Chancen, zumindest den sechsten Rang zurückzuerobern, waren, wenn man den Experten zuhörte, nicht allzu gut.
Tatsächlich aber legten wir im Endspurt eine Siegesserie hin. Zunächst schlugen wir die Bayern in einem herausragenden Spiel mit 4:2, hatten zwischenzeitlich gar mit 4:0 geführt; diese Niederlage kostete die Münchner den schon sicher geglaubten Titel, Werder Bremen wurde später mit einem Punkt Vorsprung Meister. Und wir gewannen auch die anderen beiden Spiele. Außerdem erfüllte sich unsere Hoffnung, dass Leverkusen gegen die Hertha-Amateure Pokalsieger in Berlin wurde – und wir als Tabellensechster dadurch aufrückten.
Das Flipchart hatte es geweissagt: Wir waren im UEFA-Cup!
Was dann in der Saison 1993/94 folgte, ging nicht nur in die Geschichte des Karlsruher SC, sondern auch in die des deutschen Fußballs ein. In den kommenden Monaten bekamen wir es mit einigen der besten Teams des europäischen Fußballs zu tun, mit der PSV Eindhoven – Spitzenreiter in Holland, mit Girondins Bordeaux – Spitzenreiter in Frankreich, Boavista Porto und nicht zuletzt mit dem FC Valencia – Spitzenreiter in Spanien.