Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt - Nicole Henneberg - E-Book

Gabriele Tergit. Zur Freundschaft begabt E-Book

Nicole Henneberg

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Beschreibung

Die erste umfassende Biographie über die große wiederentdeckte jüdische Schriftstellerin Wer war Gabriele Tergit, der zu Lebzeiten der literarische Erfolg verwehrt wurde und die heute als große wiederent­deckte jüdische Autorin gefeiert wird? Mit ihren so politisch mutigen wie journalistisch brillanten Gerichtsreportagen er­regte sie in der Weimarer Republik Aufsehen. Tergit war nicht nur eine couragierte Journalistin, sondern vor allem eine leidenschaftliche Schriftstellerin, die über ihr Leben und ihre Zeit berichten wollte. Das tat sie in drei großen Roma­nen, am bekanntesten davon Effingers. Sie wurde von den Nationalsozialisten gehasst, entging in der Nacht des 4. November 1933 nur knapp einer Verhaftung und musste fliehen. Doch auch im Exil, erst in Palästina, später in Lon­don, blieb sie Optimistin und baute sich mit viel Energie ein neues Leben auf. Die Tergit­-Herausgeberin und ­-Expertin Nicole Henneberg zeichnet auf Grundlage von Hunderten von Briefen der Autorin, die glücklicherweise bis heute erhalten sind, die Biographie dieser beeindruckenden Frau nach.

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Seitenzahl: 505

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Inhalt

[Cover]

Titel

»Niemand ist mehr da, wo er hingehört«

Stadtspaziergang

Ein Blick auf die Neue Frau

Frühe Prägungen

Ein kluger Industriepionier. Der Vater

Die Mutter. Kindheit im Osten Berlins

Auf dem Weg zum Geschichtsstudium

Berufsanfang

Die begabte Gerichtsreporterin findet ihre Stimme

»Montag und Donnerstag Überfall«

Der erste Roman

»Feurio! Mordio!«

Hausfriedensbruch. Der Sturm 33

Exil

Palästina

Zurück nach Europa

Die Kommode

Der erste Berlin-Besuch nach dem Krieg

Die Effingers

Zweite Reise nach Deutschland 1949

Kalte Umschläge

Reisen in ein dunkles, unbekanntes Land (I)

Reisen in ein dunkles unbekanntes Land (II)

Neue Wege

Kaiserkron und Päonien rot

Berliner Impressionen

Der dritte Roman

Heinz stirbt

Sekretär des PEN

Berufskummer

Wiederentdeckung

Erinnerungen

Das Effingerhaus und die Kunstsammlungen der Familie

Nachbemerkung

Anmerkungen

Stadtspaziergang

Ein Blick auf die Neue Frau

Ein kluger Industriepionier. Der Vater

Die Mutter. Kindheit im Osten Berlins

Auf dem Weg zum Geschichtsstudium

Berufsanfang

Die begabte Gerichtsreporterin findet ihre Stimme

»Montag und Donnerstag Überfall«

Der erste Roman

»Feurio! Mordio!«

Hausfriedensbruch. Der Sturm 33

Exil

Palästina

Zurück nach Europa

Die Kommode

Der erste Berlin-Besuch nach dem Krieg

Die Effingers

Zweite Reise nach Deutschland 1949

Kalte Umschläge

Reisen in ein dunkles unbekanntes Land (I)

Reisen in ein dunkles unbekanntes Land (II)

Neue Wege

Kaiserkron und Päonien rot

Berliner Impressionen

Der dritte Roman

Heinz stirbt

Sekretär des PEN

Berufskummer

Wiederentdeckung

Erinnerungen

Das Effingerhaus und die Kunstsammlungen der Familie

Literaturverzeichnis

Gabriele Tergit Werke

Hörbücher

Interviews mit Gabriele Tergit

Benutzte Quellen (Auswahl)

Namensverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Dank

Über die Autorin

Kurzbeschreibung

Impressum

Gabriele Tergit – Zur Freundschaft begabt

»Niemand ist mehr da, wo er hingehört«

Das Leben von Gabriele Tergit ist exemplarisch für das Schicksal einer ganzen Generation. Nach nur wenigen glücklichen und erfolgreichen Jahren als Journalistin und Gerichtsreporterin – sie war die erste Frau, die über Prozesse berichten durfte – wurde sie aus Deutschland vertrieben. Sie verlor damit nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch ihre Familie und alle Freunde, die jetzt in der ganzen Welt verstreut waren. Und sie verlor ihr sprachliches Umfeld: Nie mehr würde sie so leicht und spielerisch schreiben wie in Berlin.

Geboren wurde sie 1894 in einer gutbürgerlichen Berliner Familie, einer Familie stolzer Juden, die aber wenig religiös waren – eher waren sie gute Preußen. Mit bürgerlichem Namen hieß sie Elise Hirschmann, die Eltern und später auch ihr Ehemann Heinz Reifenberg nannten sie liebevoll Lieschen. Nach erkämpftem Abitur und anschließendem Studium promovierte sie 1925 – jetzt war sie Dr. Elise Hirschmann. Sie war eine der ersten Frauen, die, nach Stationen in Heidelberg und München, an der Berliner Universität studiert hatten.

Zu Beginn des Studiums suchte sie nach einem Pseudonym, weil sie in der Öffentlichkeit nicht als »Elise Hirschmann« auftreten wollte: Ihr Vater Siegfried Hirschmann war einer der erolgreichsten Industriepioniere Berlins.

So erfand sie in den Heidelberger Jahren den Autorennamen »Gabriele Tergit«: »Gabriele« hatte sie sich in ihrem Schullesekränzchen genannt, »Tergit« war ein Sprachspiel, ein umgedrehtes »Gitter« – eine Idee, die sie beim Kaffeetrinken in einem Park hatte. Fortan zeichnete sie alle Artikel als »Gabriele Tergit«. In ihrem Pass stand natürlich weiterhin »Dr. Elise Reifenberg« – Reifenberg war ihr Familienname seit ihrer Heirat 1928.

Als die Nationalsozialisten sie 1933, unmittelbar vor der verhängnisvollen Reichstagswahl, in ihrer Berliner Wohnung überfielen, war sie nicht nur eine viel gelesene und beliebte Journalistin, sondern, mit ihrem ersten Roman, auch eine erfolgreiche Schriftstellerin. An diesen Erfolg konnte sie zu Lebzeiten nie mehr anknüpfen.

Ein halbes Jahr lebte sie dann in Spindlermühle im Riesengebirge und in Prag, sie genoss diese freie und relativ unbeschwerte Zeit sehr. Im November 1933 folgte sie ihrem Mann Heinz nach Palästina, widerstrebend, weil sie die Arbeit an ihrem Roman Effingers nicht unterbrechen wollte und sich überdies vor dem »orientalischen Land« fürchtete. Es wurden fünf schwierige Jahre.

Ende 1937 floh die Familie aus dem unzivilisierten, kargen Palästina zurück nach Europa, nach schweren Krankheiten und vielen erlittenen Kränkungen. Ein kurzer Zwischenstopp in Paris, um die Weltausstellung zu sehen, dann reisten sie weiter nach London – und liebten diese Stadt vom ersten Moment an. Sie erlebten hier den Krieg und konnten in diesen Jahren günstig ein Haus erwerben. London wurde ihr neuer Lebensort, »Heimat« wollte Tergit ihn nicht nennen.

Ihr Name in der Öffentlichkeit blieb »Gabriele Tergit«, nur im Familienkreis wurde sie weiter »Lise« genannt. Auch als PEN-Sekretärin, ab 1956, blieb sie bei ihrem Schriftstellernamen – alle Welt habe sie immer nur »Liebe Tergit« genannt, erklärte sie in einem Brief. Nur war jetzt »niemand […] mehr da, wo er hingehört« – doch davon ließ Tergit sich nicht entmutigen. Sie recherchierte und schrieb immer neue Briefe und warb damit auch neue Mitglieder für ihren Londoner Exil-PEN, der bald eine Freundesgruppe wurde. Ihre vielen liebevollen und fürsorglichen Briefe belegen, wie begabt sie zur Freundschaft war.

Stadtspaziergang

Es gibt noch einige Orte in Berlin, an denen man Gabriele Tergit nahekommen kann. Das ehemalige Zeitungsviertel gehört dazu, das Tiergartenviertel, das ehemalige Fabrikgelände der Hirschmann-Werke in Friedrichshain und ihre letzte Wohnung, Siegmundshof 22 am Rand des Tiergartens, auch wenn nur noch das Nebenhaus steht, von dem aus sich aber ein guter Eindruck des früheren Eckgebäudes Nr. 22 gewinnen lässt.

Schon um 1900 war die Leipziger Straße in Berlin eine quirlige Einkaufsstraße. Das Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz markierte ihren Anfang, und bis zur Höhe des Dönhoffplatzes reihte sich Geschäft an Geschäft. Heute steht an der Stelle des Kaufhauses, die frühere Tradition aufgreifend, die Mall of Berlin, und noch an etlichen der alten Geschäftshäuser, wie an der Ecke Friedrichstraße, sind die goldenen Jugendstilmosaiken mit den ursprünglichen Namen zu sehen. An dieser Ecke Friedrichstraße befand sich auch das Moka Efti, eines der beliebtesten und größten Tanzlokale. Es erhielt einen Ehrenplatz im Baedeker (und wurde aus diesen Gründen auch 2017 ein Hauptschauplatz der Serie Babylon Berlin).

Nach einigen Gehminuten öffnet sich rechts der Dönhoffplatz, verziert mit den hierher versetzten Spittelkolonnaden – sie schmückten den schon lange zugeschütteten Festungsgraben nahe des Spittelmarkts. Hundert Jahre zuvor stand noch ein steinerner Obelisk mitten auf dem Platz, ein Meilenanzeiger für die Entfernung nach Potsdam, der Sommer-Residenz der preußischen Könige.

Den Dönhoffplatz beherrschte das Kaufhaus Tietz, in dem 1925 Berlins erste Rolltreppe anlief. Ursprünglich war der Platz nach dem preußischen Stadtkommandanten Alexander von Dönhoff benannt, inzwischen heißt er Marion Gräfin Dönhoff-Platz – er blieb also in der Familie. Auf dem Platz wurden Märkte abgehalten, auch der Weihnachtsmarkt, den Tergit in ihrem ersten Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm ausführlich beschreibt, findet hier statt: Größter Verkaufsschlager sind die Käsebier-Puppen, und die Redakteure der fiktiven Berliner Rundschau suchen deshalb vergeblich nach passenden Weihnachtsgeschenken – höchstens eine Füllfeder Marke Käsebier ziehen sie in Erwägung.

Unweit der nördlichen, der ruhigen Seite des Dönhoffplatzes steht noch heute das imposante Mosse-Haus. Vor hundert Jahren überragte es alle umliegenden Gebäude, jetzt verschwindet es fast zwischen den Hochhäusern des Springer-Konzerns, und der Schriftzug BZ + Bild scheint über seinem Dachfirst zu schweben. Axel Springer wusste genau, was er tat, als er Ende der 1960er Jahre mit seinem Zeitungskonzern von Hamburg nach Berlin zog, direkt an die Mauer und damit auch genau an den Rand des ehemaligen Zeitungsviertels, dessen Kern zwischen Leipziger- und Kochstraße lag – dort findet sich als eine der letzten Redaktionen die der Tageszeitung taz samt ihrem Treffpunkt, dem italienischen Restaurant Sale e Tabacci. Solche Treffpunkte haben im Zeitungsviertel Tradition, auch die Redaktion des Berliner Tageblatts hatte einen solchen, es war das Capri in der nahen Anhaltstraße. Dass es direkt am Springer-Hochhaus nicht nur eine Axel-Springer-Straße, sondern, als Teil der Kochstraße, jetzt auch eine Rudi-Dutschke-Straße gibt, ist eine typisch Berlinische Ironie und hätte den erzkonservativen Verlagschef sicher zur Weißglut getrieben – der Springer-Konzern prozessierte auch jahrelang dagegen.

Rudolf Mosse gründete als junger Mann zunächst eine Zeitungs-Annoncen-Expedition, ein Anzeigengeschäft, das die Gestaltung, Vervielfältigung und Platzierung von Werbeannoncen übernahm, auch ihre Übersetzung in andere Sprachen. Das Geschäft wurde so erfolgreich, dass er auch bald Berliner Adressbücher druckt und sich auf den Zeitungsmarkt wagt – 1871 lanciert er das Berliner Tageblatt, etliche Jahre vor Leopold UllsteinsBerliner Zeitung und dem Berliner Lokal-Anzeiger aus dem Druckhaus von August Scherl – diese drei grundverschiedenen Charaktere, Ullstein, Mosse und Scherl, werden schnell zu den dominierenden Zeitungsgiganten in Berlin, »dieser zeitungshungrigsten aller Städte« (Peter de Mendelssohn).

Schon 1901 lässt sich Rudolf Mosse auf acht erworbenen Grundstücken zwischen Jerusalemer- und Schützenstraße einen gewaltigen Jugendstilbau aus Sandstein errichten, der sich über das ganze Karree erstreckt. Die abgerundete Gebäudeecke wird als Turm gestaltet, bekrönt von zwei himmelstrebenden Säulen. Während der Januarunruhen 1918 besetzen bewaffnete Arbeiter und Soldaten das Gebäude und errichten vor dem Haupteingang Barrikaden aus Zeitungspapierrollen. Während der Kämpfe wird das Gebäude so stark beschädigt, dass Mosse den Architekten Erich Mendelsohn mit seiner Neugestaltung beauftragt. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude teilweise zerstört, später aber wieder aufgebaut – zu DDR-Zeiten glättete und verputzte man allerdings die Fassade. Heute ist Mendelsohns Entwurf originalgetreu rekonstruiert, wir sehen die ausgeprägten Fenstersimse wieder, die vor allem die horizontalen Linien betonen, sehen die abgerundete Eingangsecke, die an einen futuristischen Schiffsbug erinnert und mit schwarzen Keramikfliesen, die funktional und kühl wirken, verziert ist. Mendelsohns Entwurf sei auch ein kleiner Etikettenschwindel gewesen, behauptet Walther Kiaulehn in seinem Berlin-Buch, »es sah sehr nach aufgeregtem Kapitalismus und Amerika aus, war aber nichts als eine romantische Spielerei. Innen drehten sich immer noch die Barocktreppen um den verschnörkelten Fahrstuhl.«1 Wahrscheinlich hatte der scharfzüngige Kollege von Tergit recht – zumindest legt das ein Blick durch die Eingangstür nahe, hinter der sich ein niedriger, barock anmutender Durchgang öffnet. Die Redaktionen befanden sich in den oberen Stockwerken, rechts und links vom runden Eingangsturm, der Setzersaal, der im Käsebier-Roman eine so große Rolle spielt, war am Ende des Flügels Schützenstraße untergebracht, über den Druckereisälen.

Tergit hatte Glück und erlebte hier 1925 bis 1933 eine Blütezeit der Berliner Presse. Die Republik hatte sich konsolidiert, die Inflation und den Hunger überwunden, und die Berliner gierten nach Informationen über den jungen Staat. Stresemann wurde Reichskanzler, es gelang ihm eine Große Koalition zwischen Deutscher Volkspartei und Sozialdemokraten. Amerika hatte mit Deutschland Frieden geschlossen und sich damit von den Rachegedanken des Versailler Vertrags verabschiedet, und dem brillanten Außenminister Walther Rathenau gelang in Rapallo sogar ein Friedensvertrag mit Sowjetrussland. So begannen sie, die »Goldenen« Zwanziger Jahre.

Jedes der großen Zeitungshäuser hatte seine Eigenheiten. Im Hause Ullstein (damals Kochstraße/Ecke Friedrichstraße) setzte man auf Sport und Tempo, es gab einen großen, opulent ausgestatteten Turnsaal samt Boxmatten und ausgefeilten Geräten, daneben lagen große Bäder mit Höhensonnen. Das berühmte Foto von Vicki Baum im kurzen schwarzen Sportdress, mit Boxhandschuhen am Punchingball trainierend, entstand hier. Die Schriftstellerin arbeitete im Haus als Redakteurin der Zeitschrift Die Dame, ein Hochglanzblatt für den gehobenen Geschmack, mit vielen modischen Fotos, aber auch sozialkritischem Blick. Diese Zeitschrift prägte wesentlich das Bild der modernen, politisch aufgeklärten Großstädterin, die natürlich selbst ein Auto besitzt, mit dem sie auch selbstbewusst auf Reisen geht – gebildet genug ist sie dafür allemal.

Im Hause Mosse setzte man auf eine etwas altmodische Eleganz, es galt als schick, am Stehpult zu schreiben, wie es der Chefredakteur Theodor Wolff tat, den Augenschirm auf die Stirn geschoben. In den Redaktionen ging es oft zu wie in einem Club, es wurde viel geraucht und ausgiebig debattiert, und die einzelnen Ressorts trugen lange Schachpartien gegeneinander aus. Der große, verwinkelte Bau besaß mehrere Ausgänge auf die stillen Nebenstraßen, es war für die Redakteure also kein Problem, ungesehen zu kommen und zu gehen. Theodor Wolff ging stets zu Fuß nach Hause und lehnte standhaft alle Versuche seines Verlegers ab, ihm ein Auto zu schenken.

Der Erbe von Rudolf Mosse, sein Schwiegersohn Hans Lachmann-Mosse, der die Modernisierung der Fassade durch Mendelsohn angeregt hatte, versuchte vergeblich, im Haus selbst technische Neuerungen einzuführen – er hätte gerne die Manuskripte aus den Redaktionen mit Förderbändern in den Setzersaal befördern lassen –, doch stieß er damit auf heftige Ablehnung. Von den drei großen Verlagshäusern wurde das Mosse-Haus nach dem Krieg als einziges wieder aufgebaut.

Zurück am Potsdamer Platz sehen wir linkerhand eine Gabriele-Tergit-Promenade, die schnurgerade zum Monbijoupark führt. Eine sinnvolle Benennung, denn gleich hinter dem Potsdamer Platz begann das Tiergartenviertel – die Tiergartenstraße begrenzte es im Norden, der Landwehrkanal im Süden. Hier lebten Bankiers und Industrielle in herrschaftlichen Villen, auch die weitverzweigte und sehr vermögende Familie von Heinz Reifenberg besaß hier mehrere Häuser – Tergit hat die Geschichte der Vorfahren ihres späteren Mannes in den Effingers erzählt. Das Haus von Heinz’ Großeltern Ginsberg-Reifenberg stand in der Viktoriastraße (einem Teil der heutigen Potsdamer Straße). Sie wurde ab 1850 ein beliebter Wohnort, was vor allem dem Architekten Friedrich Hitzig zu verdanken war, der fast die ganze Straße bebaute. Er schuf, wie in einer zeitgenössischen Baugeschichte Berlins zu lesen war, eine Gattung von Wohnhäusern, »die zwischen dem städtischen Hause und der Villa in der Mitte steht hat hier besonders anmutige Erzeugnisse geliefert«. »Altane, von Säulen getragen, und zierliche Erker beleben die Facaden, die Häuserreihe wird immer durch Gärten und hohe Bäume unterbrochen, aus denen Veranden und Gartensitze auftauchen. Freitreppen führen zu dem unteren Stockwerk empor, Unterfahrt-Hallen lehnen sich seitlich an, Portale und Fenster, Brüstungen und Gesimse sind mit reichem und zart durchgebildetem Ornament geschmückt. Es überwiegt der antikisierende Stilcharakter der Berliner Schule, aber mitunter nähert er sich einer späteren, selbst der französischen Renaissance. Der Eindruck dieser Anlagen ist angenehm und erfreulich.«2

Viktoriastraße 9, das Haus von Heinz’ Großeltern Ginsberg-Reifenberg in Berlin-Tiergarten

Die Stadtvilla der Familie Ginsberg-Reifenberg entwarf allerdings der Schinkel-Schüler und königliche Baumeister Ludwig Persius, sie war weniger verspielt und streng klassizistisch. Als die junge Gabriele Tergit, die damals noch Elise Hirschmann hieß, die Familie kennenlernt, ist sie von deren Eleganz und Weltläufigkeit enorm beeindruckt, sie bewundert auch den Kunstverstand, der sich in jedem Raum des Hauses zeigt. Das Haus war nach dem Geschmack der Zeit mit schweren, dunklen Möbeln eingerichtet, deren Bezüge waren bestickt, darüber hingen Ahnenfotos in Reihen übereinander – Petersburger Hängung nennt das die Kunstgeschichte. Die Räume wirken wie Gesamtkunstwerke, jede freie Stelle auf den geschwungenen Tischchen und Kommoden bedecken kostbare Vasen und Porzellansammlungen aller Art, größere Bronzen schmücken die Ecken.

Das Haus wurde im Krieg zerstört, und auf dem Grundstück, das die Stadt Berlin den Erben zu einem günstigen Preis abkaufte, wurde in den 1960er Jahren die Philharmonie erbaut. Neben Tergits Roman erinnert heute nur noch ein einziger erhaltener Baum an das Haus, die sogenannte Kaiserplatane, die früher direkt vor dem Haus stand. Sie wurde 1858 anlässlich der Hochzeit des Kronprinzen Friedrich Wilhelm mit Prinzessin Victoria, der ältesten Tochter Queen Victorias, gepflanzt und findet sich heute gegenüber dem Kammermusiksaal an der Potsdamer Straße. Diese uralte Platane ist einer der ganz wenigen Bäume, die von der alten Bepflanzung des Viertels geblieben sind, eine »Kämpferin«, die nicht nur die Bombardierung und die dadurch ausgelösten Brände, sondern auch die radikalen Straßenbauprojekte der 1960er Jahre überstanden hat.

Die Potsdamer Straße verlief vor 1945 in gerader Linie von der Brücke auf den Potsdamer Platz zu, nur ein kleines Stück der früheren Straße blieb erhalten, es heißt heute Alte Potsdamer Straße und mündet auf die Gabriele-Tergit-Promenade, womit sich der Kreis schließt. Ein original erhaltenes Haus gibt es dort noch, das einen Eindruck der früheren Straße vermittelt: das Haus Huth, 1912 erbaut, in dem sich seit damals eine Weinhandlung und ein Restaurant befinden.

Mit ihrem Freund, dem jungen Architekten Heinz Reifenberg, traf Elise Hirschmann sich jeden Abend am Landwehrkanal. Sie wohnte damals noch bei ihren Eltern, die 1908 in die Corneliusstraße 6 gezogen waren, ein bürgerlich respektables Haus an dessen Ufer. Zuvor hatten sie zwei Jahre, von 1906 bis 1908, in der nahen Stülerstraße 2 gewohnt, gleichsam als erstem Zwischenstopp auf ihrem Weg von Friedrichshain ins Tiergartenviertel (leider ist keines der Häuser erhalten). Das Haus in der Corneliusstraße war ein gewaltiger Gründerzeitbau, fünf Etagen mit Balkonen, der Eckteil mit einem Türmchen verziert. Die Inneneinrichtung der Wohnung wirkt gediegen, auch hier gibt es Bilder und Büsten aus Porzellan, nur macht die etwas spärliche Pracht den Eindruck, relativ neu erworben zu sein –dafür stehen im Salon zwei große verglaste Bücherschränke.

Als Vater Siegfried Hirschmann 1894 in der Boxhagener Straße in Friedrichshain seine Fabrik zu bauen beginnt, verwandelt sich das bis dahin von weitflächigen Gärtnereien geprägte Viertel binnen weniger Jahre, immer neue Industriezweige siedeln sich neben seiner Fabrik, den Deutschen Kabelwerken, an. Siegfried Hirschmann setzt von Anfang an auf Expansion, er ist einer der wichtigen und vorausschauenden Industriepioniere der Zeit, der durchaus neben Emil Rathenau, dem Gründer der AEG, bestehen kann – auch wenn sein Imperium nicht ganz so mächtig war. Immerhin schuf er über tausend Arbeitsplätze in Friedrichshain, und sein Umsatz verdreifachte sich binnen eines Jahrzehnts. Seine Fabrik stellte Kabel aller Art her, die Blutbahnen aller elektrischen Anlagen, er entwickelte und erwarb immer neue Patente und standardisierte die Produktionsverfahren. Seine Kunden waren die aufstrebenden Eisenbahn- und Telefongesellschaften. Die Hirschmann-Werke kauften fast im Jahresrhythmus neue Firmen, sie setzten auch auf die entstehende Autoindustrie und stellten das motorbetriebene Dreirad Cyklonette her, das vor allem als Lieferfahrzeug großen Erfolg hatte; überdies produzierten sie Gummireifen jeder Größe – ihre Marke DEKA existiert bis heute.

Um das ehemalige Werksgelände zwischen Boxhagener- und Weserstraße zu umrunden, braucht man etwa 20 Minuten, heute befindet sich hier eine großzügige Wohnanlage mit begrüntem Innenhof, der zu Ehren des früheren Besitzers Siegfried-Hirschmann-Park heißt. Auf dem Nachbargrundstück steht noch ein einzelnes Industriegebäude, die früheren Ariadne Draht- und Kabelwerke. Das kleine Gebäude, zu DDR-Zeiten eine Schreibfederfabrik, erinnert an die frühere Bebauung des ganzen Karrees.

Auf dem Weg zurück in die City West fährt die S-Bahn direkt an der letzten Wohnung von Gabriele Tergit vorbei: Siegmundshof 22. Es steht nur noch das Nachbarhaus, gelb leuchtend – so sah wahrscheinlich auch das Eckhaus aus, in dem die Familie Reifenberg seit ihrer Eheschließung 1928 wohnte. Tergit schildert in ihren Lebenserinnerungen Etwas Seltenes überhaupt halb elegisch und halb amüsiert, wie einer ihrer letzten Besucher vor ihrer Flucht, der Graf Robert von Zedlitz-Trützschler, ehemals Oberhofmarschall des Kaisers, überrascht und fasziniert aus dem Fenster des Wohnzimmers schaut – es ging direkt auf den nur eine Straßenbreite entfernten Bahnhof Tiergarten. »Er war sicher noch nie in einem Zimmer empfangen worden, von dem aus er einen Bahnhof sah, und das tat er jetzt intensiv«, schreibt sie.3 Der Oberhofmarschall will sie als Co-Autorin für sein geplantes Buch gegen Hitler gewinnen, weil er ihre Artikel in der Weltbühne ausgezeichnet fand. Doch sie freut sich nicht über den hohen Besuch, im Gegenteil, es überfällt sie eine furchtbare Vorahnung, wie alles enden könnte.

Ein Blick auf die Neue Frau

Sie hatte sich zwar ihren Traum verwirklicht, bei einer angesehenen Zeitung zu arbeiten, aber als Berufsanfängerin war Gabriele Tergit noch etwas schüchtern. Doch hinter dieser Fassade einer wohlerzogenen, zurückhaltenden Tochter aus gutem Haus war sie selbstbewusst und überaus mutig. Es war nicht einfach, sich als einzige Frau in der Redaktion zu behaupten, obwohl sie sich in einem überwiegend freundlichen und Frauen gegenüber aufgeschlossenen Umfeld bewegte – dafür sorgte schon Theodor Wolff, der ihr sehr gewogen war. Aber Tergit hätte gerne mehr Frauen kennenglernt, die so spezialisiert, eigenwillig und auch erfolgreich waren wie sie selbst – die fand sie erst, als sie schon eine bekannte Journalistin war. Im folgenden Artikel schildert sie solche engagierten Frauen, von denen sie rückhaltlos begeistert war – sie waren ganz anders als die Frauen, die sie um 1910 in der Frauenbewegung kennengelernt hatte.

»Die sorores optimae, der ›Soroptimist‹, der Klub berufstätiger Frauen, hatte zu einem Tee eingeladen zum Empfang von Madame de Noël, der berühmten Schönheitsoperateurin in Paris, die sich selber die Mutter aller dieser Vereine berufstätiger Frauen nennt. Es waren 200 Frauen und dazu 50 Männer da, und man hat sich großartig amüsiert, wahrscheinlich besonders gut, wenn man eine Frau war, denn dann ging einem das Herz auf, was das für ein Staat ist mit diesen modernen Frauen. Wie hübsch sie sind, wie elegant und wie gescheit, und wenn sie gar nicht hübsch sind, dann sind sie immer noch hübsch, weil sie so gescheit aussehen, und wenn sie gar nicht elegant sind, dann sind sie immer noch elegant, weil sie sicher sind in ihrem Auftreten, befriedigt von Tätigkeit und Arbeit, oder befriedigt vom Suchen und Streben und Weiterwollen oder befriedigt vom Sichquälen.

Wenn man denkt, wie solch ein Klub vor zwanzig Jahren ausgesehen hätte. O Gott, wieviel Protest und wie viel innere Unsicherheit und wie viel Krampf und wie viel Gemöchte. Einfach eine Ordensversammlung der Schwestern zum höheren Menschentum. Seele hätte in jedem Händedruck gelegen und der ganze Hochmut der Menschen, die glauben, allein den Schlüssel zur wahren Ethik zu haben. Wie viel Protest und Unsicherheit in Eigenkleid und eisengehämmerter Brosche am runden Ausschnitt. […]

Wenn Madame de Noël im dahlienfarbenen Ballkleid graziöse französische Worte auf noch graziösere Weise sagt, kann man sich kaum vorstellen, daß sie in weißer Schürze am Operationstisch steht, entstellten Mitschwestern die Nase gerade zu rücken, die Falten zu glätten, damit sie ein Generaldirektor als Sekretärin engagiert. Das ist es, das ist der Unterschied. Die Freundschaft der Frauen untereinander gehört heute zu den besten Erlebnissen, wie die Freundschaft der Männer ja immer schon einging in die Geschichte und Literaturgeschichte.«1

Es ist die erste Veranstaltung des Berliner Klubs, gegründet im Januar 1930 in einer Konditorei am Nollendorfplatz, die sie hier beschreibt. Neben Tergit waren die Schauspielerin Tilla Durieux und die Fotografin Lotte Jacobi Gründungmitglieder, und Tergit lernte hier ihre wichtigsten Freundinnen kennen. »Die Männer sind die gleichen geblieben«, so endet der Artikel, »geändert hat sich überall in allen Ländern der Menschheit anderer Teil, die Frau.«

Dieser Typus der Neuen Frau gehört zum Aufregendsten, was diese Jahre hervorgebracht haben, er begründete den glanzvollen Mythos der Zwanziger Jahre. Schon damals wurde das Phänomen beschrieben und analysiert, und jeder Autor, vor allem natürlich jede Autorin hatte ihre ganz eigenen Vorstellungen von diesen modernen Frauen, die das Straßenbild prägten. Irmgard Keun erzählte von den kleinen Angestellten, die rekordverdächtig schnell tippen können und nach einem anstrengenden, meist unerfreulichen Tag im Büro abends trotzdem schick ausgehen, in Kunstseide zwar nur, aber strahlend und lebenshungrig. Keuns junge Frauen sind Heldinnen des Alltags, sie kämpfen und rackern – das hatten die eleganten jungen Damen, über die Vicki Baum schrieb, nicht nötig. Sie hatten Vermögen oder einen reichen Ehemann und waren die Trendsetterinnen der Zeit. In Baums Zeitschrift Die Dame gab es viele Fotos von ihnen, gerne mit Auto und großem Hund, einer Dogge oder einem Dalmatiner, passend zum Muster des Mantels. Die Damen flitzten in ihren heiß geliebten Autos durch die Stadt, zwischen Modesalon, elegantem Lunch und Vernissagen hin und her, und mussten sich beeilen, nicht zu spät im Theater zu sein oder im Kabarett bei Claire Waldoff. Und dann gab es natürlich die Boheme-Künstlerin, Malerin oder Schriftstellerin wie die bildschöne, androgyne Ruth Landshoff-Yorck, Nichte des Verlegers Samuel Fischer. Sie schrieb Reportagen und unterhaltsame Romane und war nachts der leuchtende Mittelpunkt des überaus freizügigen Salons Vollmoeller am Pariser Platz, wo gerne nackt getanzt wurde und Josephine Baker oft zu Gast war.

Alle diese Frauentypen und ihre Eskapaden interessierten Tergit nur am Rande, dienstlich sozusagen. Ihr eigenes Ideal sah ganz anders aus. Sie bewunderte die Spezialistin, die in ihrem Beruf an der Spitze stand, der Arbeit hingegeben, aber Dame genug, auch im Abendkleid eine gute Figur zu machen – es ist ihr ganz persönliches Ideal, das sie hier beschreibt. Paradoxerweise lehnte sie die Women’s Liberation-Bewegung heftig ab, lebte aber genau nach diesem Ideal: Sie sagte sich entschlossen von den eisernen Traditionen ihrer bürgerlichen Familie los, studierte als eine der ersten Frauen an der Berliner Universität und bewarb sich dann bei der besten Zeitung Berlins, und zwar direkt beim Chefredakteur Theodor Wolff, den sie schon beim Vorstellungsgespräch beeindruckte, weil sie zäh um ihr Gehalt rang – sehr ungewöhnlich für eine »höhere Tochter«.

In den vernichtenden Sätzen über die Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, über Sendungsbewusstsein und »Gemöchte« schwingt ihre große persönliche Enttäuschung mit. Sie spottet über das sackartige »Eigenkleid«, das die Frauen sich mit wenigen gleichgültigen Stichen selbst nähten und das provokant »schlicht« getragen wurde, samt der groben Brosche am keuschen Ausschnitt. Genauso heftig lehnte sie das Sendungsbewusstsein ab, hinter dem, so argwöhnte sie, die scheinbar so forsch missionarischen Frauen nur ihre Unsicherheit verstecken wollten. Sie hatte erlebt, wie ihre bewunderten Lehrerinnen in der neu gegründeten Frauenschule den Krieg verherrlichten, ihn als »heilsam« verklärten, und sich daraufhin empört von der ganzen Bewegung abgewandt.

An den Soroptimists schätzte sie besonders, dass diese gebildeten Frauen selbstbewusst genug waren, um ohne kämpferische Ideologie auszukommen, und dass sie es selbstverständlich und nicht der Rede wert fanden, hervorragende Arbeit zu leisten. Als sie dieses Feuilleton schrieb, war sie in Berlin beim Zeitungspublikum schon bekannt und beliebt, und als ein Jahr später ihr erster Roman erschien, wurde sie berühmt – alle Kollegen waren sich einig, dass eine große Zukunft vor ihr lag.

Frühe Prägungen

Gabriele Tergits Lebensgeschichte bekommt ihr ganz besonderes Gewicht durch die historischen Daten, mit denen sie untrennbar verknüpft ist – insofern kann ihr Schicksal als exemplarisch für ein ganzes Jahrhundert gelten: Es dokumentiert den Untergang einer bürgerlichen und intellektuellen Hochkultur. Noch heute sind die Folgen dieser beispiellosen Zerstörung und geistigen Verarmung in Deutschland, Ost wie West, spürbar, ganz besonders stark in Berlin.

Aufgewachsen in Berlin, in einer bürgerlichen, assimilierten jüdischen Familie der Kaiserzeit, bedeutete der Weltkrieg 1914 bis 1918 einen entscheidenden ersten Bruch in Tergits Leben. Die Rolle der Frauen in der Gesellschaft begann sich grundlegend zu verändern, ebenso das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Tucholskys Erzählung Rheinsberg: Ein Bilderbuch für Verliebte, 1912 erschienen, hat sie später eine umstürzende Leseerfahrung genannt – die freie Liebe, von der diese Geschichte handelt, wird später in allen ihren Romanen eine wichtige Rolle spielen.

Tergit war ein selbstbewusstes und temperamentvolles Mädchen, und sie wehrte sich schon von frühester Jugend an gegen die vielen Zwänge und gesellschaftlichen Regeln, die sie gegenüber ihrem Bruder benachteiligten. In der Familie war sie sehr auf ihre Selbstständigkeit bedacht und nahm sich viele Freiheiten. Die Erlaubnis, das Abitur nachzuholen und anschließend zu studieren, trotzte sie ihrem Vater in den schwierigen Kriegsjahren ab. In dieser Umbruchzeit hatte er so viele Sorgen mit seiner schnell wachsenden Fabrik, dass er weder Kraft noch Zeit hatte, sich auch noch Gedanken über die Kinder zu machen. Außerdem kannte er seine willensstarke Tochter: Ein ›Nein‹ hätte sie kaum akzeptiert.

Elise Hirschmann mit ihrer Freundin Lisel Sanger, um 1910

Ein kluger Industriepionier. Der Vater

Tergits Roman Effingers beginnt mit einem Brief des siebzehnjährigen Lehrlings Paul Effinger an seine Eltern, geschrieben 1878:

»Meine hochverehrten Eltern!

Euren 1. Brief vom 25.cr. habe ich empfangen, und beeile ich mich, denselben zu beantworten.

Auch hier merkt man den großen Aufschwung, der überall zu bemerken. Ich arbeite nun in der Eisengießerei, und ich kann sagen, es ist eine schwere Arbeit. Wir fangen um 5 Uhr früh an und hören um 6 Uhr am Nachmittag auf, das sind elf Stunden Arbeit. Vielfach wird auch erst um 7 Uhr aufgehört. Für die Arbeiter ist das schrecklich. Sie wohnen oft weit entfernt und kämen nur fünf Stunden zur Ruhe, wenn sie nach Hause gehen würden. So machen sie sich in den Fabriksälen selbst eine Lagerstatt und liegen dort, nach Geschlechtern nicht getrennt, in der scheußlichsten Weise durcheinander. Der Arbeiter ist hier tatsächlich nur ein besserer Bettler. Ich denke über diese Dinge viel nach. Abends versuche ich, mich technisch fortzubilden. Auch höre ich zweimal in der Woche Handelslehre. Französisch treibe ich auch. […]«

Für die Figur des Paul Effinger stand Tergits Vater Siegfried Hirschmann Modell, der im fränkischen Ansbach als zweitältester Sohn von Seligmann Hirschmann und seiner Frau Fanny, geborene Ullmann, zur Welt kam. Er hatte noch zwei Brüder und fünf Schwestern. Von Beruf war sein Vater Metzger, er wohnte mit seiner Familie in der Kronengasse 3 in Ansbach, dort wuchs der Sohn Siegfried auf. Das Haus steht noch, ein stattliches, zweistöckiges Eckhaus in Ansbach.1

Der Großvater war Vorsteher der orthodoxen Gemeinde in Nürnberg, und Tergit beschreibt ihn als ungemein frommen Mann. »Man kann seine Religiosität vielleicht orthodox nennen, aber es ist doch eine andere Orthodoxie als sie im Osten herrschte«, erzählte sie Henri Jacob Hempel.2 Der Berliner Journalist hatte Tergit 1979 in London besucht und sie zu ihrer Herkunft und ihrer Lebens- und Fluchtgeschichte befragt.

Ursprünglich stammte ihre Familie aus dem Allgäu. Dort gab es den Ort Altenstadt, der »völlig jüdisch war, der andere war Illertissen, der völlig christlich war«.3 Aus Altenstadt stammte zum Beispiel auch Hugo Hirsch, der später als Lord Hearst in London geadelt wurde, der Begründer der General Electric Company, den der Vater Siegfried später mehrfach besuchte, um Erfahrungen auszutauschen und sich über technische und betriebliche Neuerungen in England zu informieren.

Die Besuche bei den Großeltern Hirschmann gehören zu Tergits stärksten Kindheitseindrücken. Hier erlebte sie die jüdischen Feste, die in ihrem liberalen und assimilierten Berliner Elternhaus keine Rolle mehr spielten. In den Effingers nennt sie die Psalmen »die schönste Poesie der Welt«.4 Und zum Sederabend, mit dem das Pessach-Fest beginnt, und den folgenden Nachtstunden heißt es dort: »Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten? In allen Nächten essen wir Gesäuertes und Ungesäuertes. In dieser Nacht nur Ungesäuertes. In allen Nächten essen wir vielerlei Kräuter. In dieser Nacht Bitterkraut. In allen Nächten tunken wir nicht ein, nicht einmal. In dieser Nacht zweimal. In allen Nächten essen wir entweder frei sitzend oder angelehnt. In dieser Nacht nur angelehnt. Und alle antworteten dem Jüngsten: ›Sklaven waren wir dem Pharao in Ägypten. Es führte uns heraus der Ewige, unser Gott, mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Und hätte der Heilige, gelobt sei er, unsere Väter nicht aus Ägypten geführt, dann wären wir und unsere Kinder und unsere Kindeskinder dem Pharao in Ägypten dienstbar geblieben.‹ Überlegte einer am Tisch, ob die Fragen voll Sinn waren? Dort oben am Tisch saß der Mann mit dem weißen Bart Kaiser Franz Josefs – wie er geboren 1830 –, und sie überlegten nicht.«5

Auch Seligmann Hirschmann ist 1830 geboren, er stirbt 1926 in Nürnberg. Ein unbeugsamer, strenger Mann mit dem zerfurchten Gesicht eines fränkischen Bauern, seinen Bart trägt er wie der österreichische Kaiser. Die Hirschmanns sind eine hart arbeitende, bescheidene und begabte Familie, ihr Abbild ist die Familie Effinger im fiktiven Kragsheim. Im Roman wird dieses Haus mit seinen Bewohnern sehr liebevoll geschildert, auch der verschmitzte Humor des Hausherrn, der beim Seder-Festmahl die Kinder fragt, »ob sie noch ein Stückle vom Braten wollten. ›Nein‹, sagten sie, ›wir haben schon.‹ ›Also das Stückle habt ihr noch nit gegessen‹, sagte er, und alle lachten.«6 Diese Szene wirkt, wie viele kleine Szenen des Romans, so authentisch, dass man sie durchaus als erlebte Szenen der Autorin lesen darf.

Für Tergits Eltern in Berlin spielte die jüdische Religion keine große Rolle, trotzdem bleibt das Judentum für sie zeitlebens sehr wichtig: Es habe ihr Halt gegeben, sie »geerdet«, erzählte sie später, und sie wurde zur begeisterten Bibel-Leserin. Die Propheten blieben ihr »liebe Freunde«, und der Spruch des Jesaja: Folge nicht dem großen Haufen nach, richte dich nicht nach dem Urteil der Menge, wurde einer ihrer Lebensgrundsätze.7

Ganz so bieder, wie es den Anschein hat, ist diese Familie Hirschmann allerdings nicht. Schon der Vater, Seligmann, weitete den Metzgerberuf aus und arbeitete auch als Viehhändler und Gastwirt. Überdies gründete er mit seinem ältesten Sohn Julius das Bankgeschäft Seligmann Hirschmann Söhne in Nürnberg, das 1917 von der Bayerischen Diskonto- und Wechselbank übernommen wird. Vorher wird es die jungen Hirschmann-Werke in Berlin unterstützen, die Siegfried Hirschmann 1890 gründet.

Siegfried, der Zweitgeborene, der als einziger der Söhne kein Gymnasium besucht hat, lernt, wie Paul Effinger, während seiner Lehrzeit in einem großen Textilhandelshaus abends Fremdsprachen, Buchhaltung und Volkswirtschaft, daneben Elektrotechnik. Er arbeitet in Nürnberg und Wien, und schon als junger Mann bekleidet er den Posten eines Prokuristen.8

Sein großes Erweckungserlebnis wird die erste elektrotechnische Ausstellung 1882 in Wien. Er erkennt das ungeheure Potenzial der Elektrizität sofort, begeistert sich für die ausgestellten Kabel und Telegrafenleitungen und beginnt, sich intensiv mit der neuen Technik zu beschäftigen. Bereits im Frühjahr 1890 gründet er seine erste Firma in Berlin, die rasch expandiert, vier Jahre später treten sein Bruder Bernhard und sein Schwager in die Firma ein, die nun Hirschmann und Co. heißt. Kabel aller Art werden dort hergestellt, für Strom und Telegrafie, ebenso Unterseekabel, es gibt auch eine Gummi- und Reifenproduktion. Siegfried wird in der Familie bewundert und respektiert, er ist ein bescheidener, viel arbeitender, aber auch sehr phantasievoller Mann und wird ein Pionier des neu entstehenden Industriezweiges.

Anders als Paul Effinger im Roman zieht sich Siegfried Hirschmann nicht in die Arbeit zurück, ist kein Eigenbrötler, sondern im Gegenteil ein äußerst kommunikativer Mensch, der Vorsitzender vieler Interessenverbände wird, auch hierin ein Pionier seiner Branche. Ein um 1930 entstandenes Foto zeigt ihn als selbstbewussten und humorvollen Mann, großstädtisch und jovial. Er hatte großen Einfluss auf seine Tochter Elise, die ihn bewundert und viel von ihm gelernt hat. Einer seiner Grundsätze: Man geht mit seinem Anliegen zum Schmied und nicht zum Schmiedchen, gab der jungen Journalistin später den entscheidenden Impuls, das Vorzimmer zu umgehen und sich direkt bei Theodor Wolff, dem Chefredakteur des Berliner Tageblatts, zu bewerben.

Die Deutsche Kabelwerke Aktiengesellschaft, wie die Firma seit 1899 heißt, hat ihren Standort in Berlin Friedrichshain. Das Firmengelände an der Boxhagener Straße wird stetig erweitert und prägt bald den ganzen Bezirk. 1903 wächst der Umsatz um 31 Prozent, 1905 sogar um 50 Prozent, die Zahl der Mitarbeiter verdreifacht sich innerhalb von zehn Jahren – von dreihundert auf bald tausend Arbeiter und Angestellte.

Neben der Geschichte der Familie Effinger erzählt Tergit in ihrem gleichnamigen Roman auch die wechselvolle Entwicklungsgeschichte der Fabrik ihres Vaters. Wie im Roman beschrieben, gibt es einen englischen Ingenieur im Werk, und schon seit 1900 sind die Brüder Hirschmann an einem Londoner elektrotechnischen Betrieb beteiligt, der ebenso rasch wächst wie der Berliner und zahlreiche große Elektrizitätswerke beliefert – für diesen Kontakt steht im Roman der Bruder Ben.

Das ehrgeizigste Projekt der Hirschmanns ist der sogenannte »schienenlose Wagen«, dessen Patent sie nur zwanzig Jahre nach dem Autobauer Carl Benz in Mannheim anmelden. Dieser Wagen ist ein Dreirad, er heißt Cyklonette und wird trotz des hohen Preises von dreitausend Mark ein großer Verkaufserfolg. 1904 beginnt die Serienproduktion, im gleichen Jahr testet die deutsche Heeresleitung zwei Cyklon-Motorräder bei einem Kaisermanöver in Mecklenburg und bewertet sie mit »sehr gut«. Sie gelten als »epochemachendstes Fahrzeug der Gegenwart« und sind natürlich mit Reifen aus den Deutschen Kabelwerken ausgerüstet – deren Marke Deka wird heute von Goodyear Dunlop geführt.

Die dreirädrige Cyklonette wurde mit verschiedenen Aufbauten geliefert und von der Post, dem Sanitätsdienst und verschiedenen Einzelhändlern eingesetzt.9 Während des Ersten Weltkriegs werden die meisten Rohstoffe beschlagnahmt und die Produktion auf kriegswichtige elektrische Zünder umgestellt. Die Londoner Firma wird von der Britischen Regierung beschlagnahmt. Doch schwerer als der Krieg setzen der Firma die Jahre der Inflation zu. Die Brüder behalten den Expansionskurs jedoch erfolgreich bei, und 1927 ist das Grundkapital auf zehn Millionen Reichsmark angewachsen. Damit waren die Hirschmanns eine der reichsten Familien Berlins.

Für die Tochter waren Ausflüge mit diesem Gefährt am Wochenende oder bei Bekannten-Besuchen eine traumatische Erfahrung: als staubig, zugig und sehr ungemütlich beschreibt sie diese Fahrten mit offenem Dach. Die Kinder mussten dick eingepackt werden, trotzdem war es immer zu kalt oder zu heiß.10 Das ist vielleicht einer der Gründe, warum Tergit während ihrer Ehe mit Heinz nie einen eigenen Wagen besitzen wollte. Erst ihr Sohn konnte sie Jahrzehnte später in London zur Mitfahrt in seinem modernen Ford überreden – in dem man in einem ruhigen, sauberen Innenraum saß und sich nicht mehr viele Schals um den Kopf wickeln musste.

Die Mutter. Kindheit im Osten Berlins

Trotz ihres großen Reichtums lebte die Familie Hirschmann eher bescheiden. Ihre Kindheit verbringt Elise im bitterarmen Osten Berlins, in der Raupachstraße 9, wo sie 1894 auch geboren wird. Diese Straße, damals zwischen Holzmarkt- und Ifflandstraße, nördlich des Bahnhofs Jannowitzbrücke, wurde aufgelöst und bebaut, dort steht heute der Wohnkomplex Holzmarktstraße.

Tergits Geburtshaus in der Raupachstraße 9 in Berlin

Elise durfte unbeaufsichtigt mit den anderen Kindern auf der Straße spielen, damals ganz ungewöhnlich für ein behütetes Mädchen aus gutbürgerlichem Haus. Aber ihre sehr liberale Mutter Frieda, geborene Ullmann (1873–1958), die aus dem freundlichen München stammte, erlaubte es. Sie war die Tochter eines Münchner Fabrikanten, der Posamenten herstellte, Quasten, Fransen und Borten für Polstermöbel. Frieda war eine empfindsame und warmherzige Frau, die gerne und gut kochte, meist süddeutsche Gerichte, und sie konnte besonders gut backen – von ihren Vanillekipferln schwärmte Tergit noch als alte Dame.

Sie erzog ihre Kinder großzügig und liebevoll, und sie ließ ihnen viele Freiheiten. Ihr war es wichtig, dass Tochter und Sohn selbstständig waren und beide eine gute Ausbildung erhielten – damals ein ungewöhnlicher und moderner Standpunkt. Tergit muss ein sehr entspanntes Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt haben, die sie weder beherrschen noch einengen wollte und die frei von der damaligen Mütter-Hysterie war, ihre Tochter vor allen Annäherungen des anderen Geschlechtes »beschützen« zu müssen und sie vor allem früh und angemessen zu verheiraten. Auch gegen den Besuch der »Sozialen Frauenschule« später hatte sie keine Einwände.

Frieda Ullmann mit ihrer Tochter Elise, der späteren Gabriele Tergit, und ihrem Sohn Ernst-Joseph

Die Tochter dankte ihr das sehr und zeichnete ein liebevolles und lebendiges Portrait von ihr in ihrem dritten RomanSo war’s eben in der Figur der Roserl Mayer, der Mutter der Hauptfigur Grete, einer jungen Journalistin und Alter Ego Tergits. Im Roman verleiht sie ihr allerdings auch viele kleinbürgerliche Züge, Frieda Hirschmann hingegen war eine großbürgerliche und sehr elegante Frau – darüber hat Tergit in London einige Feuilletons geschrieben. Wie das über einen luxuriösen und flauschigen Morgenrock, den ihre Mutter besaß und der allein dafür gemacht schien, sich damit an einen hübsch gedeckten Frühstückstisch zu setzen. Um darin Öfen anzuheizen oder sich in kalten Bombennächten einzuwickeln, war er ganz ungeeignet. Dieses verspielte Kleidungsstück muss ungewöhnlich für die Mutter gewesen sein, die sich sonst schlicht, fast streng kleidete – wahrscheinlich hat er sich auch deshalb der Tochter so eingeprägt. Und er ist auch ein Bild für die glücklichen Jahre ihrer Kindheit und den Aufstieg der Familie.

Für Tergit waren ihre frühen Jahre im Osten Berlins prägend. Sie kannte die Armut, eine echte, schwer zu bekämpfende Armut, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde und unter der vor allem die Kinder litten. Die Lebensverhältnisse waren katastrophal: feuchte, enge Wohnungen ohne fließendes Wasser, ein Wasserhahn für zehn und mehr Mietparteien auf dem Flur, die Toilette auf dem Hof. Die Mietshäuser waren dicht aneinandergebaut und die Innenhöfe so eng, dass kein Sonnenstrahl bis auf den Boden fiel – als Maß war der Wendekreis eines Löschfahrzeugs vorgeschrieben. Die Kinder, die hier aufwuchsen, waren unterernährt, oft rachitisch.

Für das Mädchen aus gutbürgerlicher Familie war der Umgang mit den Proletarierkindern und die Anerkennung durch sie sehr wichtig. Elise wollte dazugehören, und sie hatte keine Probleme, sich mit den Kindern auf der Straße zu verständigen, trotz der ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen. Ihrem ersten Herausgeber Jens Brüning erzählte Tergit später amüsiert, dass auch der kommunistische Romanautor Willi Bredel in ihrer Straße aufgewachsen war.1

Ihre Eltern wussten sicher nicht, was die kleine Tochter im Einzelnen erlebte. Folgende Szene wirkt absolut realistisch – sie stammt aus dem Roman Effingers:

»›Kommt mal mit‹, sagte das Dienstmädchen zu den Kindern, die auf der Straße mit Murmeln spielten. Die Straße war eng und trostlos. Frau Schafstall, die Obst feilbot, kam mit und aus dem Heringskeller daneben Frau Butzke. ›Wenn de Polizei schon da is, geht’s aber nich.‹ Ganze Scharen von Kindern gingen eine ausgetretene Treppe hinauf. Die Tür stand offen. In dem fast leeren Zimmer war nur ein Stuhl, Bett und eisernes Gestell für die Waschschüssel. Ein schmutziger Lappen wehte am Fenster. Auf dem Bett lag etwas, ein Mensch offenbar, fest zugedeckt. Polizei kam und alles lief schnell hinunter.«2

Lotte, eine der Hauptfiguren des Romans und ein Alter Ego der Autorin, vergisst diesen Eindruck nie. Ihren Spielkameraden verriet sie nicht, dass ihr Vater Fabrikbesitzer war, das klang protzig und erregte Neid. Man musste Schutzmann oder Regierungsrat oder Ingenieur sein, um mitreden zu können in dieser Gegend. Auch in der Schule erzählt Lotte Effinger nichts von ihrem Elternhaus. Dieses Kapitel »1900« stellt die Familie von Lotte, die mit ihren Eltern Paul und Klärchen in Friedrichshain lebt, der ihrer Tante Annette im Tiergartenviertel gegenüber und beginnt mit dem Satz: »Nichts konnte verschiedener sein als die Kindheitseindrücke von Annettes und Klärchens Kindern.«3 Die Erlebnisse bei Besuchen in den extrem verschiedenen Stadtvierteln werden entscheidend für die Entwicklung der Kinder aus der großen Romanfamilie – Tergit kannte beide Welten aus eigener Anschauung.

Als sie während des Ersten Weltkriegs einmal mit ihrem späteren Mann Heinz Reifenberg den Apollo-Platz im Tiergarten besucht, auf dem Heinz als behütetes Kind einer großbürgerlichen Familie, begleitet vom Kindermädchen, seine Nachmittage verbracht hatte, fällt ihr Walter Benjamin ein, der seine Kindheit genauso verbracht hatte – und der also keine Ahnung haben konnte von dieser rauen großen Stadt ringsum und ihren verschiedenen Bewohnern: »Ich habe plötzlich das Gefühl gehabt, dass alles, was der heute so gepriesene Benjamin schreibt, sich daraus erklärt, dass er nichts anderes gekannt hat als die Welt des Apollo-Platzes, wo er stets mit einem Kinderfräulein gesessen hat. Ich habe eine ganz andere Welt gekannt.«4

Walter BenjaminsKindheit um 1900 erschien erst viele Jahre nach seinem Freitod auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Wahrscheinlich kannte Tergit die 1950 erschienene, von Theodor W. Adorno zusammengestellte Erstausgabe.

Erst 1906, die Eltern Hirschmann waren inzwischen vermögend geworden, zog die Familie in das vornehme Tiergartenviertel, das von großbürgerlichen Villen geprägt war – Tochter Elise war inzwischen zwölf Jahre alt. In der Nähe stand, auf dem Gelände der heutigen Philharmonie, auch das Elternhaus von Heinz Reifenberg, es bildet im Roman Effingers den Mittelpunkt der Familien Effinger – Oppner. Auf einem Foto, wahrscheinlich einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg aufgenommen, sieht man sie beide, kostümiert, bei einem Purim-Fest im Haus der Schwester von Heinz, der Malerin Adele Reifenberg, die bei Lovis Corinth studiert hatte. Sie war eine imposante, raumgreifende Dame und führte ein gesellig-luxuriöses Haus – Züge von ihr trägt Sofie Oppner in den Effingers. Jenes Foto wurde während eines prächtigen Kostümballs aufgenommen, Adele bildet das unangefochtene Zentrum der Gruppe, als Dritte rechts von ihr steht die junge Tergit, schmal, dunkle Locken, mit etwas angespanntem Gesicht – vielleicht gab es manchmal Spannungen zwischen ihr und Adele? Beide waren sehr impulsive und starke Persönlichkeiten, erzählt Dodi Reifenberg, der Enkel von Heinz’ Bruder Adolf, der vorne links im Bild sitzt, mit weißer Perücke und Schnurrbart. Hinter Tergit steht Heinz, groß, ernst, mit einem schmalen, blassen Gesicht, als Pierrot verkleidet.

Purim-Fest bei Adele Reifenberg, stehend als Zweite von rechts Gabriele Tergit, hinter ihr Heinz

Hirschmanns bezogen zunächst, gleichsam als Zwischenstopp, eine Wohnung in der Stülerstraße 2, dann, ab 1908, wohnten sie in der Corneliusstraße 6, direkt am Landwehrkanal, am Rand des heutigen Regierungsviertels. Als Tergit 1948 zum ersten Mal wieder Berlin besuchen konnte, wanderte sie durch diese Straßen, die »am 23. November 1943 in einem rasenden Sturm von Feuerbomben von der Gedächtniskirche bis zum Potsdamer Platz« verwüstet worden waren. »Vom Haus am Landwehrkanal, in dem meine Eltern gewohnt hatten, wo ich von 1908–1928 ein Kind, ein Backfisch, im Krieg, in der Inflation, gewesen war, standen die beiden Seiten mit den Erkern. In der Mitte wie ein versteinerter Wasserfall war das Treppenhaus eingestürzt. […]

Die alten Kastanienbäume am Ufer waren zum Teil verbrannt, hatten Zweige verloren, waren nicht mehr da. Von diesem Ufer, der früheren Königin-Augusta-Straße, jetzt unaussprechlich Admiral von Woyrsch-Straße, hatte mich Heinz ein Jahr lang jeden Abend angerufen: ›Ich gehe jetzt weg‹, und ging nach Westen, und ich ging von diesem selben Ufer nach Osten. Wir stießen meistens bei der Von-der-Heydt-Villa aufeinander.«5

Die Villa von der Heydt wurde im Krieg zu großen Teilen zerstört, nur das Kellergeschoss und die Außenmauern blieben fast unversehrt. Ende der 1970er Jahre wurde das Gebäude rekonstruiert, heute befinden sich hier der Sitz des Präsidenten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und ihre Hauptverwaltung. Dieses letzte wiederhergestellte, großzügige Gebäude im klassizistischen Stil mit Renaissance-Verzierungen und Freitreppe zum Garten vermittelt einen guten Eindruck von der einstigen Bebauung des Tiergartenviertels.

Tergit besuchte die »vorzügliche Charlottenschule in der Steglitzerstrasse«. Dort hatte sie mit Schulfreundinnen ein Lesekränzchen gegründet, das ihr sehr wichtig war und in dem sie sich »Gabriele« nannte – das wird später Teil ihres Künstlernamens. Ein anderes, sehr schönes Mädchen nannte sich »Maja«, die dritte »Hella«. Die Mädchen lasen die Romane von Jakob Wassermann und die Buddenbrooks. Auch ihre ersten Schreibversuche fallen in diese Zeit, die sie auf einer ausgemusterten Seite ihrer Erinnerungen so schildert: Zur Abschlussfeier der Schule »hatte ich mit einer Mitschülerin Backfischtypen geschrieben, die Brave, die Schwärmerin, der Flirt, das gelehrte Huhn, ohne zu ahnen, dass ich immer wieder solche Typen schreiben würde, die sogar Heinrich Mann auffielen, ›Berliner Existenzen‹, ›die Luxusgrossmama‹, ›die Vorkriegsexistenz‹, ›die Einspännerin‹. Aber nun wollte ich noch eine Abschiedszeitung machen. ›Das erlaubt dir der Direx nie‹, sagten meine Mitschülerinnen. Optimistisch wie ich bin ließ ich mich beim Direx melden. Er war ein hervorragender Mann, aber jetzt war er ärgerlich. ›Abschiedszeitung? Was soll das? Die Eitelkeit der Mitarbeiter fördern? Ich erlaube das natürlich nicht. Das Stück können Sie aufführen, obwohl ich nichts von selbstverfassten Stücken halte. Ein Jugendstück von Lessing oder Goethe hätte ich vorgezogen.‹«6 So erlebten die »Backfischtypen« eine Schulaufführung – über den Erfolg hat Tergit leider nichts berichtet. Das Kränzchen finden wir im RomanSo war’s eben beschrieben, es hat dort eine wichtige Funktion, denn es verknüpft, über die Töchter, die drei zentralen Familien miteinander, zwei jüdische und eine preußische.

Freundschaften zwischen Deutschen und Juden waren auch vor dem Ersten Weltkrieg schon schwierig, und »Gabriele« hatte eines ihrer ersten antisemitischen Erlebnisse in der Familie einer dieser Kränzchenfreundinnen: Die Freundin hatte sich mit einem Leutnant verlobt, militärisch schon ein hoher Rang, und so wurde 1915 eine große Hochzeit ausgerichtet – Tergit war als Freundin der Braut eingeladen. Die Cousins der Braut, Söhne eines Berliner Bankdirektors, hatten sich für die Feier einen kleinen Sketch ausgedacht, in dem es, mitten im Krieg, nur darum ging, dass ihre Cousine, die sich bisher mit lauter Juden umgeben hatte und von diesen »Hella« genannt wurde, nun endlich wieder ein »Lenchen« wird – sie hieß Helene –, weil sie ja jetzt einen preußischen Offizier heiratet. Daraufhin ließ sich Gabriele an der Garderobe ihren Mantel geben und verließ das Fest. »So war es im Grunde genommen überall. Es war für diese Leute ungeheuer wichtig. Warum es für sie so wichtig war, habe ich nie begriffen«, fügt sie hinzu.7

Nach dem Abschluss des Lyzeums mit sechzehn Jahren wusste sie nicht recht, was sie machen sollte, und eine Freundin gab ihr den Rat, die neue, 1908 gegründete Soziale Frauenschule in Berlin-Schöneberg zu besuchen – sie gehörte zum 1874 von Hedwig Heyl und Henriette Schrader-Breymann gegründeten Pestalozzi-Fröbel-Haus, das noch heute besteht und dem eine Erzieherfachschule und sonderpädagogische Einrichtungen angehören. Im Rückblick fand sie, dass es ein falscher Rat war, denn wenn sie gleich das Abitur gemacht und studiert hätte, wäre sie früher zur Zeitung gekommen und hätte sich einen Umweg erspart.8 Doch ein Umweg war diese Frauenschule nicht, im Gegenteil: Sie entfaltete und prägte wesentlich Tergits politische Haltung und ihren Blick für soziale Missstände, was für ihre spätere Arbeit als Gerichtsreporterin entscheidend werden sollte. Ihr Lebensgrundsatz, ein nützliches Leben führen zu wollen, wurzelt in dieser Schulzeit.

Unterrichtet wurde sie dort von drei eindrucksvollen Lehrerinnen: der Gründerin Dr. Alice Salomon, daneben von Gertrud Bäumer und Lili Droescher, alle drei prominente Vertreterinnen der Frauenbewegung. Volkswirtschaft, soziale Fragen und Pädagogik standen im Zentrum des Lehrplans, daneben Hauswirtschaft, Kochen und Kinderpflege. Auch die Nichte von Friedrich Fröbel lehrte hier Pädagogik, Tergit nennt sie »eine bezaubernde, ältere Frau«.9 Die Schule bot einen zweijährigen dualen Lehrgang an, und schon in ihrer Eröffnungsrede betonte Alice Salomon, der vornehmste Zweck der neuen Schule sei es, den Mädchen Arbeit zu geben – aber nicht irgendeine, auch keine entfremdete, mechanische Arbeit, sondern IHRE Arbeit, also eine, die sie zutiefst erfüllt, die der Gesellschaft nützt und für die die jeweils Einzelne am besten geeignet ist – kein geringer Anspruch. Die drei Lehrerinnen verstanden sich als eher konservativ und bürgerlich – in ihren Fachgebieten vertraten sie aber durchaus radikale Standpunkte. Alice Salomon nahm das bürgerliche Freiheits- und Gleichheitsversprechen als moralischen Imperativ im Kantischen Sinne, der in jeder aufgeklärten Gesellschaft zu verwirklichen sei. Sie wollte das gesellschaftliche Umfeld der Frauen, der bürgerlichen wie der proletarischen, diesem Ideal entsprechend verändern. Das ganze großbürgerliche Selbstbewusstsein von Alice Salomon drückt sich in dieser Forderung aus – sie stammte aus einer wohlhabenden und gebildeten jüdischen Familie, war aber zum Christentum übergetreten und sah ihre jüdische Herkunft als bereicherndes, kulturelles Wissen an, nicht etwa als schwierige Identität, die sie religiös oder gesellschaftlich einengen könnte.

Wahrscheinlich war Helene Stöcker die konservativste von Tergits prägenden Lehrerinnen. Im November 1929 schrieb sie einen verehrungsvollen Geburtstagsartikel über »Die Sechzigjährige« im Berliner Tageblatt, seine zentrale These: Stöcker sei für ihre zutiefst menschlichen Forderungen ebenso verfemt worden wie die, für die sie energisch eintrat, die ledigen Mütter.

Der von Stöcker gegründete Bund für Mutterschutz wollte nicht nur sozial, sondern auch ethisch wirken, er sollte aufklären und erziehen, damit Mann und Frau sich in freier Verantwortung miteinander verbinden, ohne alle Doppelzüngigkeit und hohle Moral. Stöcker kämpfte dabei vor allem gegen die Diffamierung der ledigen Mütter und der Eheverlassenen. Das war ein eindrucksvolles Programm, das den geltenden Regeln der Zeit entschieden entgegentrat. Sehr klug und psychologisch hellsichtig argumentierte Stöcker in ihrem 1927 im Berliner Tageblatt erschienen Artikel »Mütter und Töchter. Der Hauptkampf wird noch ausgefochten werden«. Den Wunsch der Töchter, sich nicht nur von den überkommenen Vorstellungen ihrer Väter, sondern fast mehr noch von denen ihrer Mütter zu befreien, sah sie nicht nur als legitim, sondern als lebenswichtig für die junge Generation an. Deshalb ermahnte sie besonders die Mütter, weder halsstarrig zu sein, noch sich etwas vorzumachen: Mütter könnten, auch wenn sie sich das wünschten, nicht die besten Freundinnen ihrer Töchter sein. »Meine Tochter sagt mir alles. – Wie oft habe ich es gehört. Welch schwere Selbsttäuschung, jeder Fremde weiß mehr von ihrer Tochter als sie«,10 schrieb sie unverblümt – eine Feststellung, die bis heute aktuell ist.

Als junges Mädchen, um 1912

Zur Ausbildung an der Sozialen Frauenschule gehörte auch praktische Tätigkeit. Elise Hirschmann half während der Schulzeit im Büro der Lehrstellenvermittlung und betreute Kinder im Osten Berlins. Diese Arbeit in einem Hort für kleinere Schulkinder setzte sie auch nach dem Schulabschluss noch eine Weile fort – diese Zeit war eine verstörende, aber auch sehr wichtige Erfahrung. Die Kinder stammten aus armen Familien, sie wurden von Geburt an vernachlässigt, oft auch misshandelt. Die Not dieser Kinder vergaß Tergit nie mehr – die behütete Tochter verstand, wie schwer zu bekämpfen diese von Generation zu Generation weitergegebene Armut war und wie stark sie Menschen zeichnete.

Einen kleinen Trost boten ihr in dieser Zeit die Bäckerläden in der Nähe des Kindergartens, dort gab es »Schnecken oder Streusel, zwei Stück fünf Pfennig, das habe ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen«.11 Diese Art Gebäck spielt vor allem in ihrem dritten RomanSo war’s eben eine große Rolle. Dort lässt eine damit gefüllte bunte Schüssel mit einer Papierrose in der Mitte den Geschmack von Tergits Jugendzeit lebendig und die New Yorker Emigranten wieder zu einer verschworenen Gemeinschaft werden.

Im November 1915 druckte das Berliner Tageblatt ihren ersten großen Artikel: »Frauendienstjahr und Berufsbildung. Von Elise Hirschmann«. Er erschien am 22. November 1915 in der Beilage »Der Zeitgeist«, und der verantwortliche Redakteur Fritz Engel rief, als sie ins Zimmer trat: »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie so jung sind, hätte ich den Artikel nicht gebracht.«12 Tergit war damals 21 Jahre alt, sah aber wahrscheinlich jünger aus, weil sie klein und zierlich war.

Der Ton dieses Artikels ist sehr selbstbewusst und lässt von der ersten Zeile an keinen Zweifel an der Position, auf der die angehende Autorin ein Jahr nach Kriegsbeginn steht: 1915 hatte das Deutsche Reich die ersten, schweren Niederlagen erlitten, eine davon war die verlorene Schlacht an der Marne. Anfangs hatten kriegsbegeisterte Studenten Caféhausbesucher oder Passanten verprügelt, wenn sie vorbeimarschierendem Militär nicht zujubelten. Doch nun breitet sich, öffentlich sichtbar, materielle Not bei den ärmeren Schichten aus, und die anfängliche Kriegsbegeisterung klingt jetzt, vor allem in den bürgerlichen Familien, die Tote zu beklagen haben, schon sehr gedämpft.

»Unsere Zeit ist Männerzeit und die der Mütter. Unsere Zukunft liegt in den Kindern. Was dazwischen liegt an Altersstufen und Verbindungen jeder Art, ist in den Hintergrund gedrängt. Mit dem Kriege, der als ein Gebilde urältesten Menschentums erscheint, haben auch alle ursächlichen Bindungen und Vorstellungen neues Gewicht bekommen. Der Mann ist der Krieger, die Frau verwahrt das Haus und erzieht die Kinder. Die Stellung des Mannes ist neu gekräftet, und der Vater unantastbares Oberhaupt der Familie. Aus einer Zeit stark femininen Einflusses ist urplötzlich die Zeit des Herrn gekommen.

Eine derartige Entwicklung ist in Kriegsläuften nicht selten. Die Zeiten der geistigen Gärung, des theoretischen Schlachtenschlagens in den Salons pflegen die der Frau zu sein, im Augenblick aber, da aus der Gärung der Vulkan entsteht und rotglühende Lava sich ergießt, da aus Worten Taten werden, und man auf die Straße geht und Barrikaden baut, wird die Frau zu Hause gelassen.

Das Seltsame ist nun, daß unsere absolut männliche Zeit, die die Frau in den Hintergrund drängt, uns modernste Fragen der Frauenbewegung näher gebracht hat.«

Tergit ahnt, wie grundlegend die Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter sein werden – vor allem ihre Erfahrungen aus der Sozialen Frauenschule klingen hier an. Wie ihre Lehrerinnen plädiert sie entschieden dafür, sowohl die schulische als auch die soziale Ausbildung aller Frauen, der bürgerlichen wie der proletarischen, zu verbessern. Nicht nur ein soziales Pflichtjahr für bürgerliche Mädchen, wie es ihre frühere Lehrerin Gertrud Bäumer forderte, sei wichtig, denn das allein hätte wenig dauerhaften Nutzen für die jungen Frauen gebracht. Sie hätten zwar einige staatsbürgerliche und soziale Kenntnisse erworben, aber die könnten auch im Lyzeum (Realschule) vermittelt werden. Aus ihren eigenen, praktischen Erfahrungen folgert sie:

»Um dem Ideal näher zu kommen, die Frauen unseres Volkes zu einer sich verstehenden und vertrauenden Einheit zu verschmelzen, sollte man lieber beim Anfang der Mädchenerziehung einsetzen, nicht mit Mitleid dürfte das wohlhabende Kind das schlechter angezogene betrachten lernen, denn gerade Kindern ist der zu Bemitleidende der unbedingt Tieferstehende, sondern es müßte das Gefühl der unbedingten Kameradschaft genährt werden. […] Das Ideal wäre Fachbildung für die Volksmädchen, den bürgerkundlichen und volkswirtschaftlichen Unterricht in die fachliche Fortbildungsschule, nach deren Abschluß, das ist mit 17 Jahren, ein hauswirtschaftliches und erzieherisches Dienstjahr.«

Das war ein kluger und weitblickender Vorschlag, er nahm vor allem die Bildung der Proletarier- und Kleinbürgermädchen in den Blick. Jede Familie, egal in welcher sozialen Schicht, braucht eine kluge und tüchtige Mutter, davon war sie überzeugt, denn das Schicksal der Kinder hängt wesentlich am Bildungsstand der Mütter – das wusste sie, seit sie die Kinder armer, ungebildeter Familien betreut hatte.

Mit der Schilderung der Stunden vor dem Erscheinen des Artikels beginnen ihre erst im Alter geschriebenen Erinnerungen Etwas Seltenes überhaupt, das Kapitel heißt »Berufssuche und Berliner Tageblatt«:

»In der Nacht, bevor der Artikel erschien, bekam ich eine tödliche Angst, ich stand auf, zog mich an, aber schon beim Strumpfanziehen wurde mir klar, daß man keine Schnellpresse anhalten kann. Ich erkannte, daß ich zu wenig wußte, und faßte deshalb in dieser schrecklichen Nacht den Entschluß, mein Abiturium zu machen und zu studieren. Als ich zum Frühstück kam, sagte meine Münchner Mama: ›Ja, wie schaust du denn aus?‹ Als der Artikel erschien, sah ich, daß meine Angst völlig berechtigt war. Ein junges Mädchen hatte nicht in Zeitungen zu schreiben. Ich begegnete allgemeiner Verachtung.«13

Zuletzt wurden ihr auch noch die fünfzig Mark Honorar, das erste größere Geld, das sie verdient hatte, im Schulkorridor aus der Manteltasche gestohlen – alles zusammen eine niederschmetternde Erfahrung.

Wie stark und bis in die tiefsten Gefühle hinein die soziale Frauenschule Gabriele Tergits politische Wahrnehmung und ihren Blick auf die Gesellschaft verändert hatte, zeigt ihr nur wenige Monate zuvor, im selben Jahr 1915 geschriebener »Brief an eine Siebzehnjährige«. Er schildert das Sehnen eines jungen Mädchens, »mitzulieben und mitzuleiden in der großen Stunde, Verwundete zu pflegen, für andere etwas zu bedeuten«. Aber damit nicht genug: »Ein Abglanz dieses gewaltigen, freudigen Opfertodes zurückstrahlt auf die Heimgebliebenen, sie ernster macht und reiner: alles edle und feine blüht auf in uns, wir wagen Gefühle und Meinungen zu haben, denn wir sind wieder Deutsch geworden, das heißt, wir sind jeder einzelne eine Gesamtheit und sind erfüllt von der Mission des deutschen Wesens.«14 Hier wiederholt sie noch ganz unkritisch und backfischhaft-schwärmerisch die offizielle Propaganda des zweiten Kriegsjahres, die Kriegsbegeisterung ist in großen Teilen der Gesellschaft noch ungebrochen, und die deutschen Soldaten, dem Heldentod entgegengehend, erscheinen aus der Ferne als Götter. Schon im nächsten Winter, dem schrecklichen »Kohlrübenwinter 1916/1917«, wie sie ihn in ihren Erinnerungen nennt, wird die öffentliche Meinung kippen, und die vielen pazifistischen Stimmen werden mehr Gehör finden. Das in den Hungermonaten ausgegebene Kochbuch Die fettlose Küche hat die im Exil begeistert Kochrezepte sammelnde Gabriele Tergit aufgehoben.15

Die Kriegsbegeisterung wird aber in diesen Jahren nie verschwinden, auch in den aussichtslosesten Situationen nicht, und der unerschütterliche Glaube an die eigene militärische Stärke erklärt auch das Gefühl der tiefen Demütigung, das der Vertrag von Versailles hervorrief. Die Siegermächte wollen uns brechen – das glaubten die meisten Deutschen, und diese Überzeugung schürte Hitler. Tergit hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, warum sich die deutsche Demokratie einem Diktator auslieferte und sich damit selbst zerstörte. Mehrere dicke Mappen in ihrem Nachlass tragen den Titel: Warum, wieso, weshalb Hitler: Sie gehören zu Entwürfen und historischen Recherchen für ihren umfangreichsten Essay, der später die Keimzelle ihrer Erinnerungen werden sollte und an dem sie seit den späteren 1940er Jahren mit Unterbrechungen arbeitete. Eine Mappe trägt den handschriftlichen Titel: Bausteine zu Hitler, darin findet sich die autobiographische Szene, die später im Roman Effingers Marianne mit einer der kriegsbegeisterten Frauenführerinnen erlebt und die sie ebenso tief verstört wie die Autorin: »Plötzlich erschien mir alles falsch. Ich hatte mich für die Frauenbewegung, die von der Bewegung für das Frauenstimmrecht in England, den Sufragetten, ausging, begeistert, hatte sechzehnjährig in einem weissen Stickereikleid, eine blaue Schärpe schräg über dem Oberteil, Saaldienst gemacht und nun fand ich im Büro einer dieser deutschen Frauenführerinnen eine Holzbrandtafel auf der stand ›Halte aus mein Sohn‹, der müde werden wollte an der Aisne.«

Tergit zitiert ihre Lehrerin Gertrud Bäumer, die gesagt hatte: »Ströme Blutes müssen lebendig gemacht werden, daß Heil uns werde«, sie selbst aber hatte gerade ihr erstes Gedicht in der Zeitschrift Die Aktion veröffentlicht:

»Doch in Indien lebt ein goldner Buddha

1000 Hände hat der goldne Buddha

Und die kleinen Vögel nisten dort

Alle Augen, die in Tränen schwimmen

Alle Füsse, die sich wund gelaufen

Alle Schmerzen …

Nimmt der Buddha in die tausend Hände

1000 Hände müssen wärmen können

Denn sie sind ein ungeheures Mitleid.

Ich will nicht behaupten, dass dieses Gedicht etwas Besonderes ist, aber ich habe ganz allein für mich im Stübchen die Stimmung meiner Generation entdeckt, drei Jahre vor Leonhard FrankDer Mensch ist gut, vor dem Aufschrei des Franzosen BarbusseLe feu. Ich hatte damals eine Korrespondenz mit Pfemfert, dem Herausgeber der Aktion, der Menschenliebe mit Marxismus identisch hielt. Ich stand nicht auf diesem Standpunkt und damit gehörte ich nicht zur ›Neuen Jugend‹.«16

Das Gedicht findet sich beinahe wörtlich in ihrem RomanSo war’s eben, dort liest Jürgen von Rumke, der sich für sozialistische Ideen begeistert, es seiner Schwester Christine nach einem qualvollen Abendessen im Hause der Offiziersfamilie von Rumke vor. Bei Tisch spricht man, zwei Jahre vor dem Krieg, von der drohenden Gefahr, die unausweichlich scheint – aber Jürgen revoltiert gegen diesen fatalen Nationalstolz. »Es ist alles falsch, kutzowalachische Grenzberichtigungen und die deutschen Belange und französische Nationale Tat. Jeder Mensch soll Bruder heißen. Wir wollen die Gewalt beenden« – so fasst Jürgen von Rumke den Geist des Gedichts treffend zusammen, sicher im Sinne der Autorin.17

Auf dem Weg zum Geschichtsstudium

Um ihr Abitur als Externe ablegen zu können, meldete sich Tergit bei verschiedenen Gymnasialkursen an, »in meiner bekannten Wirrköpfigkeit«, heißt es in ihren Erinnerungen. »Für künftige Laufbahn und Unterhaltverdienen war Abiturium und Doktor, womit ich meine Jugend verdorben hatte, völlig überflüssig«,1 fügt sie hinzu, doch hat sie damit ganz sicher unrecht: Das Studium und vor allem ihr Doktorvater Friedrich Meinecke prägten sie nachhaltig. In vielen Briefen hat sie sich später ausdrücklich als »Meinecke-Schülerin« bezeichnet.2

Ihr Doktorvater, den sie sehr verehrte, war ein angesehener und weithin berühmter Historiker. Eines seiner Hauptwerke, Weltbürgertum und Nationalstaat, war 1908 erschienen. Während Tergit bei ihm promovierte, arbeitete er an seinem zweiten großen Werk, Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte (1924). Er unterstützte die junge Republik als bekennender »Vernunftdemokrat«, auch wenn sein Herz noch an der Monarchie hing, und war ein hochgeschätzter politischer Kommentator, abwägend und weltoffen, der an Bildung und Aufklärung glaubte und in vielem Tergits späterem Chefredakteur Theodor Wolff