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»Don't look back in anger« Dass die zerstrittenen Brüder Noel und Liam Gallagher eines Tages wieder zueinander finden würden, haben Fans nicht zu hoffen gewagt. Als Oasis im Sommer 2024 ihre Reunion und Tour verkündete, war die Freude umso größer. Dieses Buch erzählt, wie es dazu kam. Der Autor schreibt von der persönlichen und musikalischen Entwicklung der Brüder, von dem Bruch der Band im Jahr 2009 und den anschließenden Solokarrieren. Fundiert recherchiert ist dieses Buch eine Chronik bedeutender Musikgeschichte, einer Band, die immer noch Massen begeistert und von zwei Brüdern, die nie so ganz ohneeinander konnten.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die Originalausgabe erscheint 2025 unter dem Titel Gallagher. The Fall and Rise of Oasis, bei Sphere, einem Imprint von Little, Brown Book Group UK.
© PJ Harrison, 2025
Für die deutsche Ausgabe:
© der deutschsprachigen Ausgabe 2025
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Cover & Impressum
Vorwort
Einleitung
Die Vergangenheit ist das Vorspiel:Oasis 1992–2009
1 Waiting For The Rapture –Liam, 2009
2 The Death Of You And Me –Noel, 2009
3 The Roller – Liam, 2010–2011
4 Dream On –Noel, 2010–2011
5 Second Bite Of The Apple –Liam, 2012–2014
6 You Know We Can’t Go Back –Noel, 2012–2014
7 For Whats It’s Worth – Liam, 2015–2017
8 Keep On Reaching –Noel, 2015–2017
9 Why Me? –Liam, 2018–2019
10 This Is The Place –Noel, 2018–2019
11 One Of Us, 2019
12 Bring It Down –Noel und Liam, 1972–1993
13 Supersonic –Liam und Noel, 1994–1996
14 Some Might Say –Noel und Liam, 1997
15 Fade In-Out –Noel und Liam, 1997–2009
16 Too Good For Giving Up –Liam, 2020–2021
17 Back The Way We Came –Noel, 2020–2021
18 Just Another Rainbow –Liam, 2022–2024
19 Trying To Find A World That’s Been And Gone – Noel, 2022–2024
20 Hello –Noel und Liam, 2024
Danksagung
Bildteil
Bildnachweis
Anmerkungen
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Also, PJ habe ich zum ersten Mal am Flughafen von Vancouver getroffen. Ich war mit Mickey Rourke, dem Auto, nicht dem Schauspieler, rausgefahren, weil er mir geschrieben hatte.[1] Ich glaube, es ging um mein Buch oder so was Ähnliches wie mein Buch. Sein Brief war sehr gut. Er schreibt sehr gut, eigentlich macht er alles sehr gut. Ich hatte ihn eingeladen. Und da war ich nun am Flughafen von Vancouver, als PJ aufkreuzte. Ich glaube, ich hatte ihn kommen lassen, damit er mir bei einem Filmschwindel unter die Arme greift. Ich muss das mal im Wörterbuch nachschlagen … ja, da steht’s: »Filmschwindel«, Seite 47B.[2] Das mit dem Filmschwindel hat nicht funktioniert, aber das mit uns schon … Tja, die Leute waren unter unserem Niveau. Wir wurden empfangen wie für einen B-Movie von Richard Attenborough, wo wir doch reinkamen wie Daniel Craig auf der Suche nach dem Blockbuster. Aber zwischen uns lief es. Denn so geht es einem mit PJ. Und das ist das Tolle an ihm, denken Sie daran, wenn er jetzt in Ihr Leben tritt: Sträuben Sie sich nicht. Öffnen Sie sich. Sie werden ihn mögen. Und er wird Ihnen guttun. Lassen Sie es einfach zu.
Andrew Loog Oldham
27.08.24
Die sechs Ziffern, die unmittelbar nach dem Headliner-Auftritt der Blossoms im Wythenshawe Park im Süden Manchesters auf den großen Bildschirmen pulsierten, bestätigten, dass das scheinbar Unmögliche Wirklichkeit werden würde. Das von Brian Cannons ikonischem Oasis-Logo im frühen Decca-Design eingerahmte Datum ließ die gesamte Musikwelt wissen, dass die Waffen zum Schweigen gekommen waren und eine Feuerpause zwischen den Brüdern ausgehandelt worden war. Fans aus aller Welt, mich eingeschlossen, hielten sich den 27. August ab acht Uhr morgens frei für den bevorstehenden Ansturm auf die Tickets – fast auf den Tag genau fünfzehn Jahre waren vergangen, seit eine andere Anzeige auf einer Reihe von Großbildschirmen ein französisches Festivalpublikum darüber informiert hatte, dass Oasis ihren Auftritt abgesagt hatten. Noel und Liam hatten offenbar endgültig die Schnauze voll voneinander. Die Nadel im Heuhaufen zu finden wäre ein Klacks im Vergleich dazu gewesen, Tickets für die Reunion-Tour zu bekommen, als Ticketmaster an diesem Tag um acht Uhr morgens auf den großen Knopf drückte und die dynamische Preisgestaltung in Gang setzte. Dabei hatte es den Anschein gehabt, als wäre der Zeitpunkt vorbei, dass Oasis jemals wieder zusammenfinden würden. Liam hatte sich lange dafür eingesetzt, bevor er die Hoffnung aufgegeben hatte. Dann hatte Noel die Tür einen Spaltbreit geöffnet – unter dem Vorbehalt, es müsste genügend Geld in die Kasse kommen. Aber am gleichen Strang hatten die beiden zu keiner Zeit gezogen. Als es dann doch passierte, passierte es schnell und unter beeindruckender Geheimhaltung. Schock.
Ich hatte dieses Buch ursprünglich als Doppelbiografie konzipiert, die die Solokarrieren von Liam und Noel beleuchten sollte. Mich faszinierten diese Abschnitte ihres Lebens, und ich fand, dass sie nicht ausreichend gewürdigt wurden. Das Bild, das die Öffentlichkeit von ihnen hat, ist nach wie vor geprägt von den Schlagzeilen in der Boulevardpresse der Neunzigerjahre: Bier in der Hand, das ausgestreckte Victory-Zeichen als Stinkefinger. Die Bewertung ihrer Musik bleibt nach wie vor oberflächlich und reduziert sich auf die Erwähnung von T. Rex und den Beatles. Doch Oasis und die Gallaghers verdienen eine Neubetrachtung, eine andere Perspektive. Und just als ich an einer solchen arbeitete, kündigte die Band ihre Wiedervereinigung an. Vor diesem Hintergrund präsentiert sich das Buch nun im neuen Kontext, als Schilderung des Wegs, den die Brüder von der Trennung bis zur Wiedervereinigung zurückgelegt haben. Geschrieben hat es ein Fan, der Episoden durchlebte, die sich vor Almost Famous nicht verstecken müssen. Der Teenager, der in Plattenläden Schlange stand, um die CD-Singles der Band zu kaufen, wuchs heran, ging mit Oasis auf Tour und verbrachte sogar Zeit mit ihnen im Studio, als sie Dig Out Your Soul aufnahmen. Was für eine außergewöhnliche Erfahrung, was für ein Geschenk für mein Teenager-Ich.
In erster Linie ist dies aber ein Buch über Familie und darüber, was es bedeutet, den Namen Gallagher zu tragen. Es zeigt Liam und Noel als Individuen, sowohl im als auch außerhalb des Kontexts ihres Geschwisterdaseins. Beide haben in den Jahren seit der Auflösung von Oasis große Erfolge als Solokünstler erzielt und mussten sich in dieser Zeit mit verschiedenen persönlichen Herausforderungen auseinandersetzen. Liam und Noel, wie wir sie heutzutage erleben, haben sich deutlich weiterentwickelt, es sind andere Menschen als jene, die mit Definitely Maybe an den Start gingen. Dennoch bleibt die Dynamik unter den beiden unverändert. Ihre disharmonische Beziehung, die noch in der Pubertät feststeckt, fasziniert Musikfans seit Jahrzehnten. Woran liegt es, dass die beiden nicht miteinander auskommen? Wirkt sich das Trauma ihrer Kindheit noch immer auf die unbeständige Chemie im Herzen von Oasis aus, und wie prägt es ihr Privatleben? Es wäre schön, wenn wir diesen Fragen auf den Grund gehen könnten. Dazu hoffe ich, dass alle Journalisten, die dieses Buch lesen, solche Aspekte im Hinterkopf behalten haben, wenn sie in Zukunft über die Band berichten werden, und dass sie bei ihren Reportagen die angemessene Portion Menschlichkeit walten lassen.
Zunächst möchte ich festhalten, wie groß mein Respekt vor jedem Selfmademan ist, der sich an die Spitze einer von erbittertem Wettbewerb geprägten Branche emporgearbeitet hat. Erst recht, wenn er aus einer Sozialbausiedlung im Norden Englands stammt. Und noch dazu unter schwierigen familiären Verhältnissen aufgewachsen ist. Ich entstamme derselben Klasse wie die Gallaghers und bin in einer ähnlichen Gegend aufgewachsen. Ich habe unmittelbar miterlebt, wie hart das Leben für manche Kinder und Ehefrauen sein kann, wenn das Zuhause keine Sicherheit, keine Zuflucht bietet. Den Medienberichten über die beiden mangelt es im Hinblick darauf fast immer an Empathie. In den britischen Medien werden Artikel über ihre unglaublichen Erfolge oft von blanker Klassendiskriminierung überschattet. Noel und Liam Gallagher sind mit Abstand die erfolgreichsten und faszinierendsten Geschwister in der Geschichte der britischen Musik. Sie sind über ihre Kunstform hinausgewachsen und haben über Jahrzehnte die britische Kulturlandschaft beeinflusst. Zwei Jungs aus einer an Moss Side, einen innerstädtischen Distrikt von Manchester, angrenzenden Siedlung, die die Welt zum Beben brachten, zwei Finger der einen Hand, an der man die britischen Musiker abzählen kann, die nach dem Verlassen ihrer Band als Solokünstler auf ähnlichem Niveau erfolgreich waren. Es ist die bemerkenswerte Erfolgsgeschichte zweier unverwechselbar verschiedener Brüder.
Was mich angeht, so haben Oasis mein Leben verändert. Als ich sie zum ersten Mal hörte, kam es mir vor, als hätte jemand eine Startpistole in meinem Gehirn abgefeuert und das echte Leben hätte begonnen. Ich saß hinten in einem Minibus meiner Schule und starrte durch das beschlagene Fenster in die stockfinstere Nacht, unterwegs auf einer Biologie-Exkursion ins matschige Wales, nur wenige Kilometer von Monnow Valley entfernt, wo Definitely Maybe aufgenommen worden war. Einer der Jungs vorne im Bus hatte darauf bestanden, sein neues Tape einzulegen. Er drückte die Play-Taste, und aus den scheppernden Lautsprechern des Busses erklang Noels Gitarrensirene, die die Landebahn freiräumte für Liams supersonischen Anflug – der Einstieg zu Rock ’n’ Roll Star. Bei dem guten Dutzend Teenager auf dem Weg zur Ausgrabungsstelle stieß das auf offene Ohren, alles wurde fallen gelassen, und alle hörten gebannt zu. Liams knurrende Lydon-meets-Lennon-Art, mit der er die Zeile sang, dass seine Träume in seinem Kopf real seien, traf bei einem selbst erklärten Tagträumer und sich notorisch als Außenseiter fühlenden Typen aus dem Norden wie mir genau den richtigen Nerv. Die quälende Vorstellung, ein Wochenende lang in der walisischen Erde herumstochern zu müssen, hatte damit ihren Schrecken verloren. Das war nicht nur Musik – es war eine Proklamation. Danach war für mich nichts mehr wie zuvor. In den darauffolgenden achtzehn Monaten wurden Oasis zur größten Band der Welt und prägten die Kultur der Neunziger.
Ihr drittes Album erschien an dem Tag, an dem unsere Prüfungsergebnisse verkündet wurden. Doch was interessierten mich die Schule und meine Noten, wenn ich es mir bei HMV direkt am Tag der Veröffentlichung sichern konnte. Sein Titel Be Here Now (es war ein Album, das mir später die surreale Erfahrung bescherte, es vor dem Mann, der die Songs darauf geschrieben hatte, zu rechtfertigen) war für mich wie ein Befehl. Was bedeuteten schon Prüfungsergebnisse im Vergleich zu Rock ’n’ Roll? Die gespannte Erwartung der neuen Veröffentlichung hatte eine ganze Generation erfasst. Landesweite Nachrichtensender schickten Reportageteams los, um den Moment festzuhalten, in dem die ersten Exemplare über den Ladentisch gingen. Ich schnappte mir diese LP, als wäre sie eine Eintrittskarte in die Zukunft, und verschlang die Songs mit den Ohren, verlor mich mit den Augen im dazugehörigen Artwork. Es war mehr als einfach nur Musik; es war die Flutwelle des »Cool Britannia«-Tsunamis, die in den Jahren zuvor angeschwollen war und mich und Millionen anderer mit sich riss.
Etwa einen Monat später sah ich mein erstes Oasis-Konzert in der Sheffield Arena und einen Monat später mein zweites im G-Mex in Manchester. Die Stunden, in denen ich mir in der Schlange den Hintern abfror, um mir einen Platz an der Absperrung direkt vor Noel zu sichern, lohnten sich. Es war Adrenalin pur, ausgeschüttet direkt in die Ohren. Ich war sofort süchtig, eine dekadenprägende Hymne jagte die andere. Und das laut … sehr laut. Der letzte Nachhall der Gitarrenakkorde, die durch Noels Marshall-Turm dröhnten, blieb mir tagelang erhalten, meine Ohren klingelten bis weit in die nächste Woche hinein. Doch ich war stolz auf meine akustische Kriegsverletzung, genoss den vorübergehenden Tinnitus. Ich hatte mir dieses hochfrequente Piepsen verdient. Mit Teilzeitjobs begann ich, Geld zusammenzukratzen, und kaufte mir eine Squier Stratocaster. Es war bei Weitem keine gute Gitarre und auch nicht mein bevorzugtes Modell (eine Epiphone Sheraton hätte es sein sollen, ist doch klar), doch etwas anderes konnte ich mir nicht leisten. Aber immerhin konnte ich mit der Gitarre diese Lebenskraft spendenden Lieder nun selbst spielen, also erfüllte sie ihren Zweck.
Was Oasis für Leute meines Alters, insbesondere im Nordwesten Englands, bedeuteten, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ihre Musik vermittelte ein Gefühl von Zuversicht, von Potenzial. Solange diese Lieder liefen, hatten wir das Gefühl, alles erreichen zu können. Leute meiner Herkunft wurden in den Medien häufig als entweder kriminell oder zurückgeblieben dargestellt. Dass Oasis Jungs aus meiner Gegend waren, die aussahen und sich kleideten wie meine Freunde und ich, eröffnete uns neue Welten, auf einmal war es cool, ein Lad, ein junger Kerl aus dem Norden in Umbro-Klamotten zu sein. Es war ein kollektiver Quell des Optimismus. Von nun an war alles möglich.
Jahre später, in meinen Zwanzigern, nachdem ich den Weg weitergegangen war, den mir mein musikalisches Erweckungserlebnis in Manchester vorgezeichnet hatte, gründete ich mein eigenes Plattenlabel als Joint Venture mit Sony Music. Und das auch noch als Teil derselben Unterabteilung, zu der das Label von Oasis, Creation, gehörte. Oasis gefielen einige der Bands, die ich unter Vertrag genommen hatte, und ich hatte die außergewöhnliche Möglichkeit, mit den Gallaghers einige Male durch Großbritannien und die USA zu touren. Direkt vom Bühnenrand wurde ich Zeuge ihrer mitreißenden Energie, spielte in leeren Stadien Fußball mit ihnen, bevor die Tore geöffnet wurden, plauschte beim Catering mit ihnen und hing nach den Shows in ihrer Garderobe ab.
Im Laufe der Jahre freundete ich mich mit mehreren Leuten aus Band und Umfeld an und traf mich von Zeit zu Zeit mit ihnen. Einmal schauten ein Kumpel und ich im Studio in L. A. vorbei, wo sie gerade Dig Out Your Soul aufnahmen. Ich saß im Aufnahmeraum, und wir plauderten ein wenig (nur Liam fehlte mal wieder unentschuldigt), während der Produzent Dave Sardy im Kontrollraum die Tracks zusammenstellte. Noel suchte ein paar YouTube-Videos heraus, die er lustig fand, und wir schauten uns eines nach dem anderen auf seinem Laptop an, bis uns vor Lachen die Tränen kamen. Zu den Videos, die ihm in dieser Woche besonders gefielen, gehörte eins mit einem irakischen Soldaten, den der Rückstoß seines Gewehrs jedes Mal aus den Latschen haute, und das »Santana shreds«-Video, eine verdammt lustige Neuvertonung.
Erfahrungen wie diese haben meine Sympathie für die Gallagher-Brüder weiter verstärkt und sie mir als Menschen nähergebracht. Zufällig war ich auch bei ihrem letzten Konzert überhaupt dabei. Als ich ein paar Tage später von der Trennung hörte, fiel mir ein, was Liam gesagt hatte, als ich ihm das letzte Mal begegnet war. Ich hatte schon immer den Verdacht, dass Liam im tiefsten Inneren schüchtern oder zumindest vor seinen großen Auftritten auch nicht vor Lampenfieber gefeit ist. Im Gegensatz zu Noel und den anderen ist er eher ein Einzelgänger, sagt mal freundlich Hallo, bleibt aber nie stehen und unterhält sich. Dennoch ist der jüngere Gallagher-Bruder auch ein Mann, der Leute bei den Eiern packt, sowohl im übertragenen als auch im wortwörtlichen Sinn. Ich erinnere mich, wie wir nach einem Konzert in der Umkleidekabine der englischen Nationalmannschaft im Wembley-Stadion waren. Liam hat wohl den unverwechselbarsten Gang der Welt, und er stolzierte nun auf mich zu, die Füße auf zehn und zwei Uhr. Dann blieb er stehen, packte mich im Schritt, sah mir in die Augen und fragte mit süffisantem Grinsen: »Alright?«
Schon geraume Zeit war »alright?« das einzige Wort, das Liam und ich miteinander wechselten. Täglich hatten wir umfangreiche Gespräche geführt, die nur aus »alright?« bestanden. Bestimmte Worte im nordenglischen Sprachschatz sind unglaublich vielseitig einsetzbar, und »alright?« steht in seinem Gebrauchswert nicht hinter »mate« zurück.
»Dann lass uns endlich mal den scheiß Drink nehmen«, fuhr er fort und deutete auf den gut gefüllten Kühlschrank.
Im Verlauf dieses und der folgenden Drinks begann Liam zu erzählen, wie sehr ihn die Konzerte anödeten. Er sagte es mit der ihm eigenen Direktheit, kurz und prägnant: »Jeden verdammten Abend die gleiche Show. Es ist langweilig, Mann.« Er teilte auch nicht meine Begeisterung dafür, dass wir auf den gleichen Sitzen saßen wie Wayne Rooney, David Beckham und der Rest der Three Lions, wenn sie sich auf ein Länderspiel vorbereiteten. Aber warum sollte er auch? Für ihn war das alles nichts Neues. Gerade mit diesem Stadion verbindet ihn eine lange und wechselvolle Historie, und ohnehin ist er im Grunde seines Herzens Ire.
Ich wandte ein, es könne doch nicht so langweilig sein, im Wembley-Stadion vor Zehntausenden Fans aufzutreten, aber er blieb dabei. Sein Blick schweifte in die Ferne. Was er sah, hatte nichts damit zu tun, was ich sah. Einen Monat später musste er sich keine Gedanken mehr über Langeweile bei einem Auftritt im Wembley-Stadion oder irgendeinem Oasis-Konzert mehr machen, das hatte sich für immer erübrigt. Oasis hatten sich getrennt. Dieses Mal endgültig. Zumindest dachten wir das …
Kaum vorstellbar, dass es über anderthalb Jahrzehnte her ist, dass die unbeständige Chemie zwischen Noel und Liam Oasis zum Implodieren brachte. Die inzwischen entfremdeten Brüder gingen getrennte Wege und entwickelten sich zu ganz unterschiedlichen Solokünstlern. Sowohl Liams als auch Noels Musik berührt mich nach wie vor tief in meinem Innersten, jeder Bruder hat etwas Unverkennbares zu bieten, in dem ich verschiedene Facetten meines Lebens wiederfinde, und so geht es Millionen Menschen auf der ganzen Welt.
Noels Musik speist sich aus vielen Quellen, ist aufmunternd und in sich gekehrt zugleich. Seine Texte vermitteln Emotionen und spenden Trost, ohne es jemals direkt auszusprechen. Mit Noel Gallagher’s High Flying Birds hat er sich in neue Klangwelten vorgewagt – Electronica, Orchestermusik, er setzt alles ein, was seine kreative Neugierde weckt. Dabei wahrt er den Anschein der Verletzlichkeit, hüllt sich in lyrische Vieldeutigkeit. Die von seiner Experimentierfreudigkeit geprägte Entwicklung, die er als Solokünstler vollzieht, hatte sich schon während seiner Zeit bei Oasis abgezeichnet, aber die festgelegte Rolle der Band und ihr Sound ließen ihn nicht aus der Rock-’n’-Roll-Umlaufbahn entkommen. Es mag nicht immer das sein, was Oasis-Fans hören wollen, aber Noels musikalischer Weg ist sein eigener, und er ist seiner Vision treu geblieben, unbeeindruckt von Kritik oder Marktanforderungen.
Noel hat ein außergewöhnliches Gespür für Melodien, und der Soloerfolg stellte sich sofort ein – sein Debütalbum war ein triumphaler Erfolg, sowohl was Verkaufszahlen angeht als auch in der Kritikerrezeption. Weil sich seine Musik vom klassischen Oasis-Sound entfernte, wandten sich aber auch Fans ab. Noel war das egal. Er lotete Grenzen aus und vergrößerte die Bandbreite seiner kreativen Möglichkeiten. Seine Musik wurde introspektiver, sie spiegelte den Einzelgänger, der seinen eigenen Weg geht.
Wie sich die Solokarrieren der beiden Brüder in kommerzieller Hinsicht und in der Kritikerwahrnehmung entwickelten, unterstreicht die individuellen Unterschiede. Die Anerkennung für sein Erstlingswerk hatte Noel gleichermaßen seinem Bekanntheitsgrad und seiner Fähigkeit, der Rockmusik neue Facetten abzuringen, zu verdanken. Als er jedoch abseits des Oasis-Sounds ausladendere Klangwelten erkundete, war der erwähnte Verlust von Fans auch mit einem allmählichen Rückgang der Konzertkartenverkäufe und Radioeinsätze verbunden. Sosehr Noel als Künstler dabei Erfüllung gefunden haben mag, macht diese Entwicklung auch deutlich, wie schwierig es ist, die persönliche musikalische Weiterentwicklung mit den Erwartungen des Publikums in Einklang zu bringen.
Liam hingegen hat seit 2016 als Solokünstler einen enormen Aufschwung in Bezug auf Wahrnehmung und kommerziellen Erfolg erlebt. Seine Alben belegten die Spitzenplätze der Charts, und seine Liveauftritte zogen das Publikum in Massen an, was seine anhaltende Popularität bestätigt. Liams Fähigkeit, den Geist von Oasis zu bewahren und gleichzeitig seine eigene Persönlichkeit in die Musik einfließen zu lassen, kommt sowohl bei den altgedienten Fans als auch bei der neuen Generation sehr gut an. Sein draufgängerisches Auftreten spiegelt pure, ungebremste Alpha-Männlichkeit. Er ist ein nahezu unverfälschter Megastar. Liams Bühnenpräsenz strotzt vor Selbstbewusstsein und Renitenz – ein Junge aus dem Nichts, der so tut, als gehörte ihm alles. Eine bessere Bühnenrolle kann man kaum erfinden. Dass es ihm gelingt, allein durch seine bloße Anwesenheit in der Bühnenmitte und gelegentliches Schütteln des Tambourins das Publikum für sich einzunehmen, beweist seine überdurchschnittliche Strahlkraft in einer Branche, der es an charismatischen Persönlichkeiten nicht mangelt. Bei seiner Solokarriere hat er auf das vertraut, was ihn während der Oasis-Jahre auszeichnete, und sich dabei als Songschreiber weiterentwickelt, auch wenn er unterschätzt bleibt. Dass er gereift ist, zeigt sich auch in der Bereitschaft, mit anderen Musikern zusammenzuarbeiten. Und seine Stimme bleibt einzigartig. Liam singt die Töne nicht, er sägt sie durch, und das mit der Kettensäge. Wenn man sich in Hörweite einer seiner Bühnenmonitore befindet, klingt es, als würde nebenan ein Düsenflugzeug starten. In seiner energiegeladenen Performance mit der für ihn typischen Körpersprache findet sich die Essenz des Phänomens Oasis.
Das Vermächtnis der Band überschattet sowohl Noels als auch Liams Schaffen. Beide werden stets an ihrer Vergangenheit gemessen, aber beide haben es geschafft, eigenständige und äußerst erfolgreiche Solokarrieren aufzubauen – eine echte Seltenheit bei Ex-Mitgliedern großer Bands der Rockgeschichte. Gemeinsam haben sie etwas geschaffen, das größer ist als die Summe seiner Teile, und nun stehen sie davor, der Welt aufs Neue zu zeigen, dass Oasis die ureigene Fähigkeit besitzen, ihr Publikum zusammenzuführen wie einen Stamm, dem sie eine Stimme verleihen. Bei ihren Konzerten geht es um mehr als nur Musik – hier wird ein gemeinsames kulturelles Erbe zelebriert. Der Aufstieg der von einer alleinerziehenden Mutter aufgezogenen Jungs aus der Sozialbausiedlung zu weltweit gefeierten Rockikonen zeugt gleichermaßen von ihrer Durchsetzungskraft und künstlerischen Integrität wie von ihrem Talent. Sind Künstler dermaßen kompromisslos authentisch, glaubt das Publikum an sie und ihre Musik. Auch die Gallaghers glauben wieder aneinander.
Und darum geht es jetzt. Die Brüder sind wieder vereint und bereiten sich darauf vor, zum ersten Mal seit 2009, als einer von ihnen in einer Pariser Garderobe mit einer Pflaume nach dem anderen warf, wieder gemeinsam auf der Bühne zu stehen.
Dieses Buch geht davon aus, dass sich die Leserinnen und Leser als einigermaßen sachkundige Fans der Band und ihrer Geschichte der Lektüre widmen. Wenn das Phänomen Oasis neu für Sie ist und Sie mit der Bandgeschichte weniger vertraut sind, dient dieser Abschnitt als kleine Orientierungshilfe. Auch in den folgenden Kapiteln werden Sie einiges über die Geschichte von Oasis erfahren, aber wenn Sie eine Zusammenfassung benötigen, sind Sie hier richtig. Sollten Sie sich bereits mit Oasis auskennen, dürfen Sie gern zu Kapitel 1 weiterblättern.
Oasis haben in siebzehn turbulenten Jahren einen weiten Weg zurückgelegt. Wir werden die Geschichte kurz durchgehen und beginnen im Jahr 1992 in Manchester, als Noel sich Liams Band The Rain anschloss, die sich danach in Oasis umbenannte.
Die ursprüngliche Besetzung bestand aus Liam Gallagher am Gesang, Paul »Bonehead« Arthurs an der Gitarre, Paul »Guigsy« McGuigan am Bass und Tony McCarroll am Schlagzeug. Liams älterer Bruder Noel stieg bei einer Probe im Übungsraum des Clubs The Boardwalk in Manchester mit ein und schloss sich ihnen bald darauf fest an. Er brachte seine Qualitäten als Songwriter und Gitarrist in die Band ein, zusammen mit einer gewissen Erfahrung in der Branche – er war bereits als Mitglied der Roadcrew der ebenfalls aus Manchester stammenden Inspiral Carpets um die Welt getourt. Noel bestand darauf, in der Band der einzige Songschreiber zu sein, und nachdem er ihnen Stücke wie Live Forever vorgespielt hatte, konnten sich alle Beteiligten leicht damit anfreunden.
Das Debütalbum von Oasis, Definitely Maybe von 1994, erlangte umgehend Klassikerstatus, zu der Zeit war es das sich am schnellsten verkaufende Debütalbum der britischen Musikgeschichte. Seine raue Energie und hymnische Titel wie Supersonic und Live Forever fingen den Zeitgeist ein und katapultierten Oasis an die Spitze.
Der Erfolg der Band setzte sich mit ihrem zweiten Album (What’s The Story) Morning Glory? fort, das 1995 veröffentlicht wurde. Es enthielt Megahits wie Wonderwall und Don’t Look Back In Anger und etablierte Oasis als eine der größten Bands der Welt. (What’s The Story) Morning Glory? ist nach wie vor das meistverkaufte Album, das in den Neunzigerjahren in Großbritannien entstanden ist.
1995 wurde Tony McCarroll Berichten zufolge aus seiner eigenen Band geworfen, weil Noel der Meinung war, dass seine Fähigkeiten an den Drums nicht mehr den gestiegenen Ansprüchen genügten. McCarroll verklagte Oasis später und erhielt eine Abfindung. Schon zuvor war er von der Band nicht immer fair behandelt worden, im Musikvideo zu Live Forever hatte man ihn sogar lebendig begraben.
McCarroll wurde durch Alan White ersetzt, den Schlagzeuger, der am längsten bei Oasis spielte und bis 2004 bei der Band blieb. Sein Schlagzeugstil war technisch versierter als der von McCarroll, und er war den komplexeren Rhythmen des späteren Materials besser gewachsen. Als eher zurückhaltender Charakter erregte White aber öfter den Unmut der temperamentvolleren Gallagher-Brüder.
Der kometenhafte Aufstieg von Oasis wurde von der notorischen Rivalität der beiden begleitet, die sich oft in Streits in der Öffentlichkeit und körperlichen Auseinandersetzungen entlud. Trotz der Spannungen produzierte die Band weiterhin Hitalben und sorgte für ausverkaufte Konzerte, darunter die zwei legendären Shows in Knebworth im Jahr 1996 vor über 250 000 Zuschauern.
Noch im selben Jahr stieg Liam bei der USA-Tournee mit der Begründung aus, sich dringend ein Haus kaufen zu müssen, sodass Noel die Shows als Frontmann allein bestreiten musste, was Oasis womöglich der Chance beraubte, in Amerika wirklich durchzustarten. Einige Wochen danach kehrte Liam zur Band zurück. Auch Noel verließ Oasis mehrmals, unter anderem im Jahr 2000 nach einem Streit mit Liam während eines Konzerts in Spanien. Noel sagte später, er habe die Band »sattgehabt« und habe »Abstand zu Liam gewinnen« müssen. Er spielte mit der Idee, es Brian Wilson von den Beach Boys gleichzutun und die Band ohne ihn auf Tour zu schicken, während er sich auf die Studioarbeit konzentrieren wollte. Bei den verbleibenden Shows für 2000 ersetzte ihn der Gitarrist Matt Deighton. Nicht lange darauf kehrte Noel jedoch wieder in die Reihen von Oasis zurück.
Das dritte Album der Band, Be Here Now, das 1997 herauskam, war wieder ein kommerzieller Erfolg und wurde bei Erscheinen auch von der Kritik gefeiert. Über die Jahre hat aber eine Neubewertung stattgefunden, selbst Noel äußerte sich im Nachhinein abfällig über die Platte. An der Überproduktion des Albums und seinen vielen Längen war abzulesen, dass die Band kreativ stagnierte.
1999 verließen McGuigan und Arthurs die Band, Erschöpfung (Guigsy) und musikalische Differenzen (Bonehead) wurden als Begründungen angeführt. Ersetzt wurden sie durch Gem Archer von Heavy Stereo an der Gitarre und Andy Bell von Ride am Bass. In der neuen Besetzung veröffentlichten Oasis im Jahr 2000 ihr viertes Album Standing On The Shoulder Of Giants.
Als Alan White 2004 seinen Abschied nahm, holten Oasis Zak Starkey, Sohn von Ringo Starr und Schlagzeuger bei The Who, in die Band. Starkey verschaffte den rockigeren Songs erheblich mehr Druck. Obwohl er einen weltberühmten Vater hat, wirkte er so unauffällig, dass sich selten jemand groß nach ihm umdrehte, selbst wenn er eine Stunde vor Auftritt durch die Vordereingänge in die Stadien spazierte. Die Höhe seiner Gagen machte ihn allerdings zu einem schwierigen Kostenfaktor, und nachdem Zak sich geweigert hatte, sich ganz für Oasis zu entscheiden und The Who zu verlassen, suchte sich die Band mit dem vielseitigen und erfahrenen Chris Sharrock einen neuen Drummer.
Auch in den 2000er-Jahren tourten Oasis und veröffentlichten weiterhin Alben. Zwar nahmen die Kritiker die nachfolgenden Platten nicht mehr mit der gleichen Begeisterung auf wie ihre frühen Werke, aber die Band blieb ein Monster der Konzertwelt, das wie Godzilla mit zusammengewachsenen Augenbrauen unter großem Getöse durch die Fußballstadien der Welt stampfte. Das letzte Album der Band, Dig Out Your Soul, kam 2008 heraus.
2009 gab Noel nach einem Backstage-Streit mit Liam bei einem Festival in Paris seinen endgültigen Ausstieg bekannt. Das Ende einer der erfolgreichsten, einflussreichsten und umstrittensten Bands der britischen Musikgeschichte – sowie der Beziehung zwischen den Gallagher-Brüdern – schien besiegelt.
22. August: ein Feld in England
Mit gereckter Faust zeichnet sich eine trotzige Silhouette vor den gleißenden Lichtern ab. Mit seinem unverkennbaren schwankenden Gang bahnt sich Liam Gallagher den Weg durch den Dunst, eine Naturgewalt, bereit, sich der tobenden, begeisterten Menge zu stellen. Während sein großer Bruder Noel den Gurt seiner wunderschönen roten Gibson überstreift, ertönt sein eigener Name als zweisilbiger Fußball-Schlachtruf … Liam, Liam, Liam! Oasis stehen kurz vor dem 114. von 118 geplanten Megakonzerten ihrer aktuellen einjährigen Tour. Sie sind der Headliner des zweitägigen V Festivals in England, das heute Abend in Staffordshire beginnt und morgen in Chelmsford weitergehen wird.
Die Sommerluft, in der ebenso die gespannte Vorfreude wie der Geruch von Zigarettenrauch, Urin und Tausenden verschütteten Bieren liegen, wird von einem urtümlichen Rauschen erfüllt, bevor sich 80 000 Menschen in eine einzige wogende Masse verwandeln, als der Snaredrum-Beat Fuckin’ In The Bushes einleitet und die Band auf die Bühne kommt. Das knurrige, rücksichtslos großspurige Intro dröhnt durch die Nacht. Es ist ein Ruf zu den Waffen, jeder Festivalbesucher weiß jetzt, was zu tun ist, und die auf diesem Feld in Zentralengland Versammelten reagieren wie auf ein Kommando.
Liam braucht diese Interaktion mit der Menge, die symbiotische Beziehung zwischen Künstler und Publikum, die gemeinsame Energie, die hin- und herfließt, körperlich spürbar ist, in der Luft knistert. Als die gesampelten Stimmen verärgerter Bewohner der Isle of Wight und die Helter-Skelter-Gitarren in den Lautsprechern verklingen, spuckt er vier simple einsilbige Worte aus, die das Pulverfass zur Explosion bringen: »Rock ’n’ Roll Star.«
Sein bekannt monotoner, fast schon nasaler Manchester-Akzent, dem auch die Tatsache, dass er seit Jahrzehnten im beschaulichen Norden Londons wohnt, nicht die Schärfe genommen hat, durchschneidet das Getöse wie eine Rasierklinge. Hier kommt eine Kriegserklärung an den Alltag, das Gewöhnliche, das Vorhersehbare.
Dieses vor fast fünfzehn Jahren erschienene Lied von Oasis’ Debütalbum ist für Liam wie ein Manifest, eine Blaupause. Er singt den Text nicht nur, er lebt und atmet ihn. Es ist sein Lebensentwurf. Heute Abend beschwört sein Singen den streitlustigen Geist des Rock ’n’ Roll herauf, Hoffnung und Ansporn entweichen der Flasche. Während sein Gesang durch die Massen brandet, vereinen sich deren Stimmen mit seiner und tragen sie in den Abendhimmel und noch weiter. Er singt mit ihnen, und er singt für sie. Heute Abend ist jeder ein Rock-’n’-Roll-Star. Darum geht es bei Oasis – ein bestärkendes, gemeinschaftliches Erlebnis, das den Moment großartig und eine bessere Zukunft möglich erscheinen lässt.
Liam lässt seinen Blick langsam über das Meer von Köpfen schweifen, das sich vor ihm ausbreitet. Es zieht sich bis hinter die neonbeleuchteten Fahrgeschäfte, wo am Horizont die Flut aus Gliedmaßen und Gesichtern verschwimmt und wie eine einzige Welle wogt. Er ringt sich ein dezentes Nicken ab, das erhobene Kinn und der selbstsichere Schmollmund wie bei einem siegreichen Boxer, der noch einmal den Ring umrundet, dann richtet er den Blick nach links.
Da ist er. Noel. Die verlässliche Konstante in Liams Leben seit seinem ersten Schrei als Neugeborener. Das stoische, Gitarre spielende Yin für Liams launisches, Tambourin schwingendes Yang. Noels kirschrote Gitarre glänzt im Licht. Zwei Brüder, Söhne irischer Einwanderer aus kaputten Familienverhältnissen und einer Großstadtsiedlung, die sich zu ihren Helden an die Tafelrunde des Rock ’n’ Roll gesetzt haben. Die Musik heute Abend hat eine durchdringende, archaische Kraft. Man hört sie nicht nur, man spürt sie, tief im Inneren, im Bauch und in der Seele.
Eingehüllt in einen olivgrünen Parka seiner eigenen Klamottenmarke Pretty Green, gibt Liam sich locker und herausfordernd – ein modischer Mittelfinger für die Welt – und strahlt unangestrengte Coolness aus, steht in der Positur, die ihn zur Legende gemacht hat. Er ist eine Rock-’n’-Roll-Ikone für die Ewigkeit. Auf der Bühne macht er nicht viele Worte, und selbst davon kommen nicht alle bei der tobenden, biergeduschten Menge an, aber er braucht keine durchdachten Anmoderationen oder witzigen Sprüche. Seine reine Präsenz ist ein Statement, eine Performance für sich. Er streift über die Bühne, die Bewegungen sparsam, aber stetig unter Strom. Man kann den Blick nicht von ihm abwenden, er ist die Personifizierung des kontrollierten Chaos.
Die Reaktion des Publikums steigert sich zum Aufschrei, gefolgt von stürmischem Gedränge in Richtung der Absperrgitter, um näher bei seinen Helden zu sein. Liam ist in seinem Element und genießt den Tumult. Zwischen den Songs steht er regungslos da, mustert die Gesichter vor sich, die ihn anhimmeln, und sieht zu, wie alles seinen Lauf nimmt. Er blüht auf in diesem kollektiven Durcheinander. Und das erst recht, wenn er seinen Bruder an seiner Seite weiß.
Es ist fast unmöglich, sicher zu definieren, was einen Star ausmacht, diese schwer greifbare Eigenschaft zu bestimmen, die die wirklich Großen von den einfach nur Guten unterscheidet. Aber Charisma, diese anziehende, fast mystische Aura, ist ein wesentlicher Bestandteil. Manche Künstler bauen auf ausgefeilte Bühnenshows, viel Bewegung und durchchoreografierte Tanzeinlagen. Oder sie erzählen witzige Anekdoten, die gut beim Publikum ankommen. Liam hingegen versprüht Charisma sogar beim Stehen. Das ist verdammt faszinierend. Was für ein interessanter Widerspruch: Er steht fast bewegungslos da, und doch sind alle Augen auf ihn gerichtet. Die rechte Hand umklammert das linke Handgelenk hinter seinem Rücken. In halb geduckter Haltung sind die Knie gebeugt, der Hals Richtung Mikrofon gereckt in einer für die Stimmbänder dermaßen strapaziösen Haltung, dass jedem Gesangslehrer bei diesem Anblick schwindlig wird. Reiner Instinkt. Gelegentlich ein Schritt rückwärts, eine gespannte Feder, die nachgibt, bevor Liam wieder zustößt, sich vorbeugt, um sich auf den nächsten Ton zu stürzen, die nächste gefauchte Zeile, den nächsten kehligen Schrei. Seine urwüchsige Energie, seine Anziehungskraft sorgen dafür, dass ihm die Aufmerksamkeit aller sicher ist – und sicher bleibt. Er ist ein Meister der Kontraste, die perfekte Verkörperung der Devise »weniger ist mehr«.
Liam Gallagher bringt etwas zutiefst Menschliches zum Vorschein. Seine Stimme, so kraftvoll wie eh und je, vielleicht sogar noch vielseitiger, weil Alter und Erfahrung ihr eine gewisse Körnung verliehen haben, behält ihre raue, unverfälschte Qualität. Da sind diese charakteristischen Tonhöhen-Sturzflüge und dann die mitreißenden, hymnischen Refrains, die sich den Weg durch die Nachtluft bahnen und den versammelten Massen Gänsehaut bescheren. Liams Präsenz auf der Bühne ist absolut hypnotisch, jede Geste, jeder Blick ist aufgeladen mit Bedeutung, ein Zeugnis seiner anhaltenden Ausstrahlung, seines unerschütterlichen Glaubens an sich selbst, seines Punk-Spirits, alles über Jahrzehnte im Rampenlicht gereift. Er zehrt von der Energie des Publikums, absorbiert sie und gibt sie zehnfach zurück, ein menschlicher Verstärker purer Rock-’n’-Roll-Energie. Während er durch die Songs powert, ist das Publikum weiterhin jederzeit an seiner Seite. Die Fans singen jedes Wort, jeden Refrain mit, ihre Stimmen verschmelzen mit seiner zu einem inbrünstigen Chor. Das ist nicht nur ein Konzert, es ist eine gemeinsame Erfahrung, ein kollektiver Gefühlsausbruch.
Die geballte Wucht von Oasis nimmt das gesamte Festivalgelände in Beschlag, vorangetrieben von Klassikern aus Noels Feder, die eine ganze Generation bewegt haben. Als der Abend sich dem Ende zuneigt, wandern die Bühnenstrahler über die Menge und werfen ein Netz über das endlose Wogen. Das letzte Lied, das Oasis spielen, ist der Beatles-Songs I Am The Walrus. Seit den Anfängen der Band und durch ihre Blütezeit hindurch hatten sie dieses Cover im Programm. Es war eine Hommage an den nachhaltigen Einfluss, den die Fab Four auf Oasis hatten, und für die Kritiker gleichzeitig die Bestätigung, dass sie es nie geschafft haben, sich von diesen Vorbildern zu lösen. In der zweiten Hälfte der Bandkarriere war es von The Whos My Generation abgelöst worden. Wie passend und kurios zugleich, dass ausgerechnet Zak Starkey, der das Schlagzeugspielen teilweise von Who-Drummer Keith Moon gelernt hatte und Tourschlagzeuger der Who war, einige Jahre lang den Rhythmus mit seinem großartigen Geknüppel vorantrieb. Zaks Fehlen bei der letzten Inkarnation von Oasis hat es der Band wahrscheinlich leichter gemacht, das Lied, das die Beatles mit seinem Vater Ringo aufgenommen hatten, wieder aufzugreifen. Erst vor Kurzem wurde es zurück ins Set genommen.
Noel, der Rückkopplungen liebt, die durch sein umfangreiches Pedalboard verfremdet werden, lässt den dröhnenden Ton aus seiner Halbakustik stehen und spendiert der Menge einen flüchtigen, gedämpften Applaus, bevor er die Bühne verlässt. Im Gegensatz zu den Fab Four haben Oasis nie viel von Verbeugungen gehalten, auch nicht, wenn sie sich endgültig verabschieden.
Liam tigert unterdessen zum Rand der gigantischen Bühne, nimmt das ohrenbetäubende Gebrüll entgegen, ein Geräusch, das ihm bis ins Mark zu gehen scheint. Die Bewunderung, die ihm in seinem frühen Leben so oft gefehlt hat, wird ihm nun von einem Chor Tausender begeisterter Stimmen zuteil. Er geht in die Hocke, ein Raubtier, das sein Revier inspiziert, und schaut hinaus, nimmt alles in sich auf. Dies ist sein Königreich. Er ist ganz oben. Der Schwergewichts-Weltchampion, der sich aus dem Nichts aufgemacht hat, um sich die Trophäe zu holen.
Aber dieser scheinbar perfekte Augenblick trägt eine bittersüße Ironie, eine unterschwellige Melancholie in sich. Die Saat der Zerstörung ist bereits gesät, tief in der DNA der Band verborgen, wie ein schlafender Vulkan, der auf seinen Ausbruch wartet, und zu dieser schicksalhaften Explosion wird es weniger als eine Woche später in Paris kommen.
Im Bandgefüge gab es von Anfang an Risse, auch wenn es zunächst nur Haarrisse gewesen sein mögen. In einem seltenen Moment der Selbsterkenntnis hat Liam Oasis mit einem hochgezüchteten Sportwagen verglichen, einer fein abgestimmten Maschine, die atemberaubende Leistung und berauschende Performance bietet, aber deshalb auch nicht leicht in der Spur zu halten ist, was nicht selten dazu führt, dass sie von der Straße abkommt und in Flammen aufgeht. Die unstete, oft konfliktgeladene Beziehung zwischen Liam und Noel – genau das, was Oasis so faszinierend, so einzigartig, so großartig macht; die spürbare Spannung, der Grund für das ungebrochene öffentliche Interesse – wird letztendlich schuld daran sein, dass Oasis von der Straße abkommen und in Flammen aufgehen. Die Frage, ob sie sich trennen werden, die seit der Gründung der Band wie ein Damoklesschwert über ihr hängt, wird bald eine endgültige Antwort erhalten.
Selbst in diesem triumphalen Moment in den Feldern von Staffordshire, wo einmal im Jahr Zehntausende Musikfans beim nördlichen Ableger des V Festivals zusammenkommen, ergeben sich neue Verwerfungen. Was zwischen Liam und Noel steht, hat ein Eigenleben, eine ständige bösartige Präsenz, die im Dunkeln lauert und beide zu verschlingen droht.
Am folgenden Abend erreicht die tektonische Verschiebung der brüderlichen Liebe auf der Rock-’n’-Roll-Richterskala neue Höchstwerte. Oasis sagen den Auftritt beim V Festival in Chelmsford ab, da Liam sich zwölf Stunden davor eine »virale Kehlkopfentzündung« eingefangen habe. In der Branche machen Gerüchte über eine wachsende Kluft zwischen Noel und Liam die Runde. Am 24. August 2009 eskalieren die brüderlichen Spannungen nach einem Artikel von Gordon Smart in der Klatschkolumne »Bizarre« der Sun. Smart spekuliert über die Zukunft der Band und deutet an, dass ihr bevorstehender Auftritt in Mailand ihr letzter sein könnte. Liam ist es seit Langem ein Dorn im Auge, dass sein Bruder die Nähe zu den Medienvertretern sucht, und er spricht oft spöttisch von dessen »Kumpels bei der Presse«. Er glaubt, Noel benutze die Medienöffentlichkeit, um ihn als Hauptquelle für die internen Probleme der Band darzustellen. Liams Abneigung gegen Gordon Smart ist besonders ausgeprägt, er sieht in ihm das Paradebeispiel für die externen Einflussnehmer, denen er misstraut. Liams »Wir gegen die«-Haltung ist tief in seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse verwurzelt. Er glaubt, dass die Stärke der Band in ihrem Zusammenhalt liegt, und ist besorgt, dass Einflüsse von außen ihn stören könnten. Dass Noel zunehmend Freundschaften außerhalb der Band pflegt, gerade mit Medienvertretern, sieht Liam als Bedrohung für diese Einheit. Auch Noel und Smart sind, weit über die berufliche Ebene hinaus, enge Freunde geworden. Dass sie sich nahestehen, hat Liams Gefühl der Ausgrenzung noch verstärkt, umso mehr sucht er die Aufmerksamkeit seines Bruders. Er kann sich nicht damit abfinden, dass Noel Außenstehenden Einblicke in sein Leben gewährt, und empfindet dies als Verrat an ihrem Geschwisterverhältnis. Und dass Noel die Sun als Plattform dafür nutzt, stößt auch Oasis-Fans besonders sauer auf.
Die Veröffentlichung von Smarts Artikel an diesem Augusttag gießt Öl ins Feuer, bringt unterschwellige Spannungen an die Oberfläche. Paranoia ist eine zersetzende Kraft. Sie nagt unerbittlich am Gemüt und verstärkt Unsicherheiten. Dazu kommt, dass Liams Vorliebe für Drogen und Alkohol nicht gerade dazu beiträgt, sein bereits vorhandenes Misstrauen abzumildern.
Wie zu erwarten schürt der Artikel Liams Zorn und trifft ihn gleich doppelt: Denn Noels Freund bei der Zeitung deutet nicht nur an, dass die Band kurz vor der Auflösung stehe, sondern auch, dass Liam der Grund dafür sei. Noel versteht Liams Psyche. Er weiß, wo er ihn treffen muss, um eine Reaktion zu provozieren. Wie Maggie Mouzakitis, die ehemalige Tourmanagerin der Band, es in der Dokumentation Oasis: Supersonic von 2016 treffend formulieren wird: »Liam hat viele wunde Punkte, und Noel hat viele Finger.«[1] Tatsächlich sagte Noel Jahre zuvor im Interview mit dem Magazin Spin: »Ich habe irgendwie gelernt, dass ich, anstatt mit [Liam] zu diskutieren und deswegen Streit zu kriegen, besser psychomäßig auf ihn einwirke, und jetzt hat er die Hosen voll. Er hat tatsächlich Schiss vor mir.«[2] In Nordengland nennen wir das »den Kopf bearbeiten«. Dieses Verhaltensmuster von Provokation und Reaktion bestimmt die Beziehung der beiden Brüder seit der Kindheit.
Unterwegs zum Headline-Auftritt von Oasis beim Rock-en-Seine-Festival in Paris an diesem Wochenende ist Liam eine tickende Zeitbombe. Seine Unsicherheit gegenüber Noel greift ihn nicht nur auf emotionaler Ebene an, sie greift seine ganze Existenz an, seinen Status als bedeutendster Rockstar seiner Generation.
Paris, 28. August 2009. Die Stadt des Lichts. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ein Streit hinter der Bühne, einer mehr in der langen und illustren Geschichte von Backstage-Disputen, angeheizt durch jahrzehntelang aufgestauten Frust, ungelöste Konflikte und schwerwiegende emotionale Altlasten, eskaliert zur ausgewachsenen Konfrontation. Das Unvermeidliche steht bevor. Ein Moment, der für immer in die Annalen des Rock ’n’ Roll eingehen wird.
Es hätte eine Show unter vielen sein können, ein weiterer Meilenstein ihrer aktuellen Tour, des scheinbar endlosen Zugs durch die Megadomes der Welt. Eine Nacht musikalischer Erfüllung für die Band. Eine Nacht gemeinschaftlicher Ausgelassenheit für das wartende Pariser Publikum. Stattdessen wird es die Nacht, in der alles zerbricht, die Nacht, in der die Musik stirbt. Die Fäden der brüderlichen Liebe, die all die Verletzungen zusammengehalten haben, reißen. Zurück bleibt die offene Wunde des Bruderhasses.