Geburtsgeheimnis - Petra Welkers - E-Book

Geburtsgeheimnis E-Book

Petra Welkers

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Beschreibung

Geburtsgeheimnis – die unbekannte und dunkle Seite der Familienforschung. Etwa 290000 inkognito adoptierte Menschen zwischen 1950 und 1990 haben häufig erst in ihrer Jugend, manche erst im höheren Erwachsenenalter, erfahren, dass ihre Herkunftsgeschichte eine andere ist als die, mit der sie aufwuchsen. Die Herkunftsfragen „Wer bin ich?“ und „Wo gehöre ich hin?“ beschäftigten auch Petra Welkers, Jahrgang 1965, die im Buch ihren Weg zwischen Familienforschung, Psychotherapie, Biographie- und Märchenarbeit beschreibt. Sie räumt mit Familiengeheimnissen auf und findet dabei überraschende und verstörende Antworten. Über allem schwebt nebelhaft ein jahrzehntelanges Tabu: die Inkognito-Adoption. Welkers’ Buch berührt nicht nur durch die tragische Familiengeschichte und die Suche nach Wahrheit und Bestand. Sie ist auch eine Auseinandersetzung mit der Praxis der Inkognito-Adoption im Deutschland der 50er bis 90er Jahre. Eine autobiographisch reflektierte Reise in die Kindheit, angetrieben von einer lebenslang verborgenen Wut und Not, Verletzungen der Vergangenheit aufzuarbeiten, damit Frieden zu schließen und frei davon zu werden.

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Copyright: © 2022 Petra Welkers

Lektorat: Michael Lohmann · worttaten.de

Satz u. Layout / E-Book: Gabi Schmid · buechermacherei.de

Titelbild: © agsandrew Bildnummer 2114979380 bei Shutterstock

Covergestaltung: © Gabi Schmid · buechermacherei.de

© Riccardo Weyerstraß · it-neuss.de

Porträtfoto: Foto Vennemann + Bohr, Lüdinghausen

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung Impressumservice, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über dnb.de abrufbar.

Verlag und Druck: tredition GmbH

An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

ISBN Softcover: 978-3-347-59734-1

ISBN E-Book: 978-3-75790-598-9 (Tolino, Version 1.0)

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen

Teil 1 – Adoption im Spiegel von Geschichte und Therapie

Geleitwort

Eine unerwartete Reise

Keine Geheimnisse mehr

Die Krise

Zwischen den Welten

Leben kann ein Anfang sein

Das Leben verlieren und wiederfinden

Zukunft wächst aus Herkunft

Adoption

Eine tragische Ehe

Geheimnisse

Familiengeschichte und das, was man Erziehung nennt

Auswirkungen früher Verletzungen

Geschichte in uns

Das Familienpuzzle abschließen

Perspektivwechsel

Das eigene Leben leben

Traumzeit

Am Ende der Geheimnisse

Epilog

Teil 2 – Schutzengelgeschenke

Es war einmal … – Schutzengelgeschenke

Literatur

Danke …

Die Autorin

Vorbemerkungen

Die Namen noch lebender und die Namen bereits verstorbener Personen wurden geändert. Im Folgenden, weil namentlich am häufigsten erwähnt, ist / sind:

Marlene und Theodor (verstorben)

meine leiblichen Eltern

Frank (verstorben), Udo und Renate

meine leiblichen Geschwister (drei von insgesamt sieben, drei weitere früh verstorben, eine Schwester ohne Kontakt)

Opa Erik und Oma Maria (verstorben)

meine Pflege- / Adoptiveltern, Eleonore und Friedrich deren ältere Kinder, zunächst meine Stief- / Adoptivgeschwister

Eleonore (verstorben) und Harald

zunächst meine Stiefschwester, Harald, deren Ehemann. Beide waren per Adoptionsbeschluss seit 2007 meine zweiten Adoptiveltern, die ich im Buch als meine Eltern bezeichne.

Als Erstautorin freue ich mich über Ihre Rezension meines Buches im Online-Handel. Nutzen Sie gerne Kontaktformular, Gästebuch oder den Blogbereich auf meiner Homepage: geburtsgeheimnis.de.

Geleitwort

Geburtsgeheimnis – mit dieser in sich widersprüchlichen Wortschöpfung beschreibt Petra Welkers das Identitätsdilemma, mit dem Adoptierte konfrontiert sind. Denn normalerweise ist die Geburt eines Kindes ein fröhlicher, glücklicher Moment, der mit aller Welt geteilt werden soll. Für Adoptierte ist die eigene Geburt jedoch mit einem – meist dunkel anmutenden – Geheimnis ummantelt, das sie zeit ihres Lebens begleiten kann.

Petra Welkers ging als erwachsene Frau daran, dieses Geheimnis zu lüften.

Aufrüttelnd ehrlich und offen schreibt sie über die Begleitumstände, die sie zur biografischen Aneignung ihrer Adoptionsgeschichte führten. Sie beschreibt, warum sie jahrzehntelang nicht auf die Suche nach ihrer leiblichen Herkunft ging. Sie erzählt von Angepasstsein, Loyalitätserwartungen seitens der Pflege- / Adoptiv-Oma, von dem Drang, den viele Adoptierte in sich spüren, in der Familie stets gut zu funktionieren, ›sich unauffällig, lautlos stets gut zu benehmen: der Familie bloß keine Schande machen, Vorzeigekind sein, Klavier vorspielen, Tanten durch Gedichte beeindrucken […] implizit wird Dankbarkeit abverlangt‹.

Mit über fünfzig Jahren nun – nach der Gründung einer eigenen Familie, beruflichem Erfolg und einem Burn-out – stellt sie sich im Kontext einer Therapie ihrer Herkunftsgeschichte und ihren ›Monstern im Keller‹, wie sie es ausdrückt, die sie seit vielen Jahren in sich spürte. Und sie stellt fest, wie sich ihre Haltung zu sich selbst, zur Adoptivfamilie und zur Herkunftsmutter sukzessive verändert.

Es ist ihre erzählte und reflektierte Lebensgeschichte, die sie aufarbeitet, neu schreibt und interpretiert. Dabei nimmt sie immer wieder literarische Bezüge und auch die aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse der Adoptionsforschung auf.

Dennoch ist das Buch nicht im Wissenschafts-Sprech gehalten. Es gelingt ihr, die Forschung in den Kontext ihrer Geschichte einzubauen und so gut verständlich exemplarisch Zusammenhänge zu erklären und verstehbar zu machen.

Ihre Lebensgeschichte stellt Petra Welkers in einen größeren, auch gesellschaftlichen und historischen Kontext. In gut verständlichen Worten spricht sie beispielsweise an, wie sich Traumatisierungsprozesse über Generationen hin ›vererben‹ können und bezieht das in Ansätzen sowohl auf ihre leibliche als auch auf ihre Adoptivfamilie.

Schließlich steht auch für Petra Welkers die befreiende Erkenntnis: Ich bin nicht schuld.

Es bleibt ihr Fazit: Das Finden der eigenen Geschichte und Wahrheit kann schmerzhaft sein [ist jedoch] – auf ein ganzes Leben bezogen – allemal heilsamer als das Leben mit Lügen und Vermutungen.

Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch anderen, Adoptierten und Nichtadoptierten, Mut macht, ihrer Herkunft und Vergangenheit tapfer und frohgemut zu begegnen.

Dr. phil. Peter G. Kühn, adoptionsforschung.de

Eine unerwartete Reise

Die zwei wichtigsten Tage in Deinem Leben sind der, an dem Du geboren wurdest, und der, an dem Du herausfindest, warum.

(Mark Twain, 1835–1910)

Mit dem Wort ›Geburt‹ wird gewöhnlich ein überaus erfreuliches Lebensereignis beschrieben, sowohl im Leben eines geborenen Kindes als auch im Leben der Eltern. Sie werden eine neue Rolle, nämlich die von Vater und Mutter, übernehmen. Ein ›Geheimnis‹, dazu ergänzend, ist eine sensible Information, die jemand lieber für sich behalten möchte und von der meist nur eine oder wenige Personen wissen.

›Geburt‹ und ›Geheimnis‹ scheinen sich in der Wortschöpfung ›Geburtsgeheimnis‹ zu widersprechen.

Warum also aus einer Geburt ein Geheimnis machen?

Darum geht es hier.

Eine Geburt und auch die vorausgehende Schwangerschaft sind nämlich dann ein Geheimnis, ein Tabu oder eine Tragödie, wenn Mutter beziehungsweise Eltern und / oder Lebensumstände gegen das Kind wirken und entscheiden. Die Geheimnisse vor, während und nach der Geburt können in der Person der Mutter und / oder des Vaters und / oder in den familiären oder gesellschaftlichen Bedingungen des sozialen Umfeldes liegen. Falls also ein Verbleib des Kindes bei seiner Mutter und / oder seinem Vater nicht möglich ist, können Eltern sich entscheiden, ihr Kind zur Adoption freizugeben.

Damit erfolgt juristisch die vollständige Trennung des Kindes von den leiblichen Eltern. Es wird rechtlich in die Familie der Adoptivfamilie aufgenommen, ›hineingeboren‹ könnte ich sagen. Eine zweite Geburt? Tatsache – und dies bis in die Gegenwart hinein – ist, dass Zehntausende Adoptierte, seit 1950 und auch früher schon, von ihrer Adoption erst im höheren Erwachsenenalter erfahren (haben). Im günstigeren Fall zwischen sechs und acht Jahren oder spätestens vor ihrem achtzehnten Lebensjahr. Dieses Geburtsgeheimnis kann im Leben der Adoptierten unsichtbar wirken und viel Leid bewirken.

Im Jahr 2020 hatten statistisch betrachtet (hoch gerechnet) circa 600 000 Menschen in Deutschland den Status ›adoptiert‹.1,2,3

Laut den Forschungen und Berechnungen von Doktor Peter G. Kühn spreche ich im Folgenden (und im Rückblick auf meine eigene Kindheitsgeschichte) von den knapp 290 000 Menschen, die zwischen 1950 und 1990 ›inkognito‹4 adoptiert wurden.

Darin eingerechnet sind auch alle anderen inkognito adoptierten Kinder und Erwachsenen mit offenen Herkunftsfragen.

Zum Beispiel infolge der Abgabe in einer Babyklappe, einer anonymen oder einer vertraulichen Geburt, ebenso sogenannte Kuckuckskinder, Kinder aus einer Leihmutterschaft, Spenderkinder, Kinder mit dem Hintergrund einer Zwangsadoption oder auf dubiosen bis kriminellen Wegen aus dem Ausland adoptiert. Allen Kindern, damals und heute, auch heute Erwachsenen mit einem solchen Hintergrund, ist dies gemeinsam: dass sie ihre wahre Herkunft und Identität im ungünstigsten Fall gar nicht und im günstigeren Fall nur mit viel Einsatz und Aufwand klären können.

Manchmal nur Teilerfolge, wenn nur ein leiblicher Elternteil gefunden werden kann. Manchmal traurige Erfolge, wenn die leiblichen Eltern nicht mehr leben.

Dieses Geheimnis zu lüften beziehungsweise zu entzaubern und der Wahrheit über die eigene Geburt, der eigenen Herkunftsgeschichte, auf die Spur zu kommen, war und ist mein Anliegen.

1 Kühn, Peter G.: Zukunft wächst aus Herkunft (2015, S. 74), eigene Hochrechnungen (nicht valide)

2www.adoptionsforschung.de (Homepage von Dr. Peter G. Kühn)

3 Adoptionszahlen auch auf der Homepage von PFAD e.V., Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien: https://www.pfad-bv.de/dokumente/2021-07-19%20PM%20Adoptionsstatistik.pdf (aufgerufen am 02.07.2022)

4 Inkognitoadoption, auch ›geschlossene Adoption‹ genannt. Damit wurde bis zu den 90er Jahren verhindert / verunmöglicht, dass Kinder nach ihrer Adoption ihre leiblichen Eltern finden und kennenlernen. Umgekehrt haben die leiblichen Eltern danach kaum eine Möglichkeit, Kontakt zu ihrem Kind aufzunehmen. Ein Kind kann dann frühestens ab dem 16. Lebensjahr bei der Adoptionsvermittlungsstelle seiner Heimatstadt Einsicht in seine Adoptionsakte nehmen.

Keine Geheimnisse mehr

Jeder ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt.

(Mark Twain, 1835–1910)

Die Geheimnisse hören aber nicht mit deren Aufdeckung auf. Wenn nicht schon früher gespürt, entstehen bei Adoptierten und anderen Herkunftssuchenden spätestens jetzt, mit der Offenbarung des Geheimnisses, die drängendsten Fragen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Und: Wo gehöre ich hin?

Fragen nach der eigenen Identität können Adoptierte erst einmal nicht beantworten. Und augenscheinlich dürfen oder durften sie das nicht. Loyalität mit den Adoptiveltern und eine unausgesprochene (gefühlt vermittelte) Erwartung von Dankbarkeit, Verschweigen, Verleugnen und Lügen prägten jahrzehntelang das Adoptionsgeschehen. Einmal damit angefangen, kamen und kommen Adoptiveltern aus dieser Nummer auch kaum noch heraus.

Die Geschichte der Adoption reicht mindestens zurück bis in biblische Zeiten. Moses zum Beispiel war ein Findelkind. Die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen veränderten sich über die Jahrhunderte, auch die individuellen und partnerschaftlichen Motive zur Annahme eines Kindes.

Die Lebensphase ›Kindheit‹ ist eine Entdeckung der Neuzeit ab etwa der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Was in der Antike und im Mittelalter, im Hochadel und im Bildungsbürgertum noch unter dem Etikett der Erbfolgeregelung üblich und anerkannt war, verkehrte sich in folgenden Jahrzehnten zu einer Kinderverwertungsindustrie.5 Natürlich gab es so etwas auch in allen Jahrhunderten zuvor in ärmeren Teilen der Bevölkerung. Elend und Armut trennten zu jeder Zeit Eltern und Kinder. Ob durch Kriege oder Hungersnöte, Krankheiten oder andere Schicksalsschläge.

Herrenlose Kinder vagabundierten durch die Lande, bettelten, stahlen, schufteten auf Feldern, starben beim Kohleabbau in Bergbaustollen. Kinder waren in diesen aus heutiger Sicht unvorstellbar grausamen Zeiten eine Ware, lebendig mehr wert als tot. Sie wurden gegen Waren getauscht, verkauft, versklavt, entführt, als Pfand gegeben, verliehen, bewaffnet und in Kriegen geopfert.6

Und ich stelle ernüchtert fest, dass Elemente dieser Praxis in Teilen unserer heutigen zivilisierten Welt auch im 21. Jahrhundert noch gelebte Wirklichkeit, reales Elend sind. Adoption als selbstlose, zweckfreie und liebevolle Aufnahme eines Kindes in eine Familie, verbunden mit elterlichen Pflichten und Verantwortung, war in den so beschriebenen Verhältnissen auch nicht erforderlich. Es gab genügend Kinder und ständig wurden neue Kinder geboren. Im Mittelalter erreichte nur die Hälfte der Bevölkerung das achtzehnte Lebensjahr.

Die Zeiten hoher Geburtenraten sind spätestens seit den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts endgültig vorbei. Kinder sind heute mehrheitlich Wunschkinder.

Kinderlosigkeit kann daher für ein Paar, das sich sehnlichst ein Kind wünscht, aber ungewollt kinderlos bleibt, eine seelische Katastrophe sein.

Wo heute die Fortschritte der Reproduktionsmedizin genutzt werden, Kinderwunschzentren boomen und der Kinderwunsch – zynisch ausgedrückt – eine Frage des Geldbeutels, der Leidensfähigkeit und des Durchhaltevermögens ist, wurden in früheren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts viel mehr Kinder adoptiert.

In den Nachkriegsjahren bis Ende der Siebzigerjahre hinein wurden jahresdurchschnittlich bis zu 11 000 Kinder adoptiert, danach kontinuierlich weniger.

Gründe waren die Verbreitung von Verhütungsmitteln, der Abbau staatlicher oder gesellschaftlicher Eingriffe und Vorschriften im Abtreibungsrecht sowie der Abbau von Angst und Vorurteilen gegenüber unehelichen Geburten.

Heute werden jahresdurchschnittlich circa 3 000 Kinder adoptiert, dabei handelt es sich etwa zu zwei Dritteln um Stiefkind- und Verwandtenadoptionen und zu einem Drittel um Fremdadoptionen. Könnte das bedeuten, dass das Thema Adoption gar keines mehr ist? Vielleicht nicht für jene Kinder, die ab den Neunzigerjahren geboren, zur Adoption freigegeben und in eine Adoptivfamilie aufgenommen wurden.

Der Umgang mit Adoption ist gesamtgesellschaftlich offener und ehrlicher, auch unkomplizierter geworden. Kinder werden heutzutage in der Regel früh über ihren Adoptionsstatus und ihre Herkunft aufgeklärt. Adoptionsvermittlungsstellen arbeiten vertrauensvoll und unterstützend mit leiblichen Eltern – meistens mit abgebenden Müttern – und mit den zukünftigen Adoptiveltern zusammen.

Heutiges Verständnis und Praxis (teil-)offener Adoptionen haben eine lange Vorgeschichte, während derer das Adoptionsrecht mehrere Male reformiert und Schritt für Schritt den veränderten Erkenntnissen auf den Gebieten der Kinder- und Jugendhilfe, Psychologie und Pädagogik angepasst wurde: Die UN-Kinderrechtskonvention trat für Deutschland am 5. April 1992 in Kraft. Dieses Gesetz bildet – in meinen Worten – den Rahmen dessen, was wir gemeinhin meinen und wünschen, wenn wir davon sprechen, die Rechte, Würde, körperliche und seelische Unversehrtheit, Glück, Gesundheit, Bildung und freie Entfaltung der Persönlichkeit eines Kindes fordern und fördern zu wollen (im Kontext von Adoption, insbesondere Artikel 7–9, 20–22).7

Bereits zuvor, nämlich mit Urteil vom 31.01.19898, hatte das Bundesverfassungsgericht das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung festgestellt und sich dabei auch auf das Grundgesetz, Artikel 3 (3) bezogen.

Zum 1. April 2021 fand mit dem Adoptionshilfegesetz die letzte Änderung des deutschen Adoptionsrechts statt, worauf ich am Ende des Buches noch einmal näher eingehen werde.9

Meine Adoptionsgeschichte verstehe ich heute als ›grenzwertig‹ zwischen diesen Zeitenwechseln. Ein einzelnes, sehr individuelles Geburtsgeheimnis. Eins unter Zehntausenden nach 1945.

Grenzwertig, weil die Rechtsprechung zumindest auf dem Papier das Wohl des Kindes in den Vordergrund stellte, meine gelebte Adoptionswelt bis 1978 / 79 eine andere war. Trotzdem fühlte und fühle ich mich damit nicht allein. Denn es waren und sind tatsächlich knapp 290 000 Kinder in den Fünfziger- bis Neunzigerjahren – auch davor und danach –, die mit Geheimnissen aufwuchsen und teilweise erst sehr spät im Leben davon erfuhren. Grenzwertig auch deshalb, weil unsere Beurteilungsmaßstäbe heute andere sind als vor siebzig oder dreißig Jahren. Diese Maßstäbe veränderten sich folglich entlang der Wissenschaftsgeschichte.

Fachbücher zum Thema Adoption und erste wissenschaftliche Auseinandersetzungen damit gibt es etwa seit den Achtzigerjahren. In der jüngeren Vergangenheit – damit meine ich die Zeit etwa ab dem Jahr 2000 – melden sich immer mehr Pflege- und Adoptivkinder oder Heimkinder mit Lebensberichten zu Wort. Sie erzählen, wie sie ihre Welt und ihr Leben in der Zeit vor den Achtzigerjahren erfahren und gelebt haben, manche von ihnen auch hochbetagt. Was mir persönlich fehlte, als ich mein Geburtsgeheimnis erkannt und verstanden hatte, war eine Verbindung zwischen Zeitgeschichte, Wissenschaft, Psychotherapie, Biografiearbeit und Poesie.

Mein Buch ist daher der Versuch, diese Lücke zu schließen. Eine ganz persönliche Fallstudie. Ein Experiment, jenseits des Anspruches, wissenschaftlich und zeitgeschichtlich vollständig oder richtig zu sein. Meine Geschichte ist im Gegenteil sehr subjektiv.

Mein größtes Motiv10 war und ist, die Lücken in meiner Biografie zu rekonstruieren und zu schließen, Deutungshoheit über die fehlenden Teile und deren Beziehung untereinander zu erlangen, meine Lebensgeschichte nicht nur in einen sachlichen, sondern auch in einen seelischen, gefühlten Zusammenhang mit den Verletzungen und Bedürfnissen meiner Kindheit zu stellen.

Ich spürte, dass meine ›inneren Geister‹ zur Ruhe kommen müssten, damit ich von der Vergangenheit loslassen kann. Dass dieser Prozess mit dem Tod meiner Mutter Eleonore einsetzte, erscheint mir rückblickend plausibel. Ein kritisches Lebensereignis, das zum Wendepunkt in meinem Leben wurde.

Ich machte meine Herkunftssuche zu einem ›Projekt‹. Dazu gehörte für die verkopfte Erziehungswissenschaftlerin in mir, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen. Ich, die während ihres ›Karriere-ohne-Grenzen-Spiels‹ kaum andere als beruflich nützliche Bücher und Zeitschriften in die Hand genommen hatte, fing an, zweckfrei das zu lesen, was mich interessierte und Antworten geben könnte auf meine vielen inneren Fragen.

Ohne die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie aber, die ich im Frühjahr 2016 begann, hätte ich das Bücherwissen nicht reflektieren und integrieren können. Ich hätte vieles gar nicht verstanden, wenn meine Therapeutin mir nicht dabei geholfen hätte, abseits vom Sachwissen einen Zugang zu den damit verbundenen Gefühlen zu bekommen.

Sie fragte oft, was ich fühlte, wenn ich Vergangenes oder Alltägliches erzählte.

Ich hatte für vieles, was in mir vorging und schon gar nicht für Gefühle die richtigen Namen oder Beschreibungen. Zu weinen fiel mir unendlich schwer. Die Tränen, so kam es mir vor, steckten in meinem Kopf fest.

5 Vgl. Saietz, Doris: Das Adoptionsgeschäft (2018)

6 Vgl. deMause, Lloyd: Hört ihr die Kinder weinen (2018)

7https://www.unicef.de/informieren/ueber-uns/fuer-kinderrechte/un-kinderrechtskonvention (aufgerufen am 02.02.2022)

8https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Gericht=BVerfG&Datum=31.01.1989&Aktenzeichen=1%20BvL%2017%2F87 (aufgerufen am 28.09.2022)

9 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/gesetz-zur-verbesserung-der-hilfen-fuer-familien-bei-adoption-adoptionshilfe-gesetz--138362 (aufgerufen am 02.02.2022)

10 Kühn, Peter G.: Adoptierte auf der Suche nach ihrer genealogischen Verwurzelung (2014, S. 451 ff.)

Die Krise

Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.

(Friedrich Nietzsche, 1844–1900)

Meine ärztliche ›Diagnose‹, kurz vor meinem einundfünfzigsten Geburtstag, lautete Burn-out.11 Damit begann im Frühjahr 2016 mein Weg in die Psychotherapie und in meine Vergangenheit. Karriere, mehrere große Umzüge, die Erziehung von zwei Kindern, das Aufrechterhalten der familiären Fassade einer glücklichen Familie, dazu mein Perfektionismus, Angepasstheit, Gefallenwollen, Kontrollstreben, Versagensängste … da kam einiges zusammen.

Zu spüren waren unendliche Erschöpfung, Traurigkeit, eine Unfähigkeit zu einfachsten Alltagsaufgaben, Herzbeschwerden, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Niedergeschlagenheit und immer wiederkehrende, immer abscheulichere Albträume.

All die Vorzeichen nahm ich nicht wahr. Hauptsache, alles funktionierte wie am Schnürchen – besonders ich.

Ich konnte mir nicht erklären, warum mir denn die bekannten und teilweise vergangenen Erlebnisse und Belastungen derart schwer auf der Seele lagen. Burn-out – das hatten nur andere. Nicht ich!

Dazu kam meine tiefe Abneigung gegen Krankfeierer und Dauerkranke. Ich konnte mich mit meinem Burn-out nur wenig anfreunden und noch weniger damit anfangen. Ich schämte mich unendlich, auf ganzer Linie versagt zu haben. Und auch dafür, dass dieses Versagen nun gegenüber Arbeitgeber, Kolleginnen und Kollegen offenbar wurde. Es gab Gerüchte, ich wäre womöglich an Krebs erkrankt. Das hätte meine lange Abwesenheit verständlicher gemacht.

Ich ging – für Außenstehende unbemerkt – still und heimlich durchs Leben und hoffte, nirgendwo aufzufallen oder anzuecken. Leider sah ich nicht besonders krank aus und selbstmordgefährdet war ich auch nicht. Wie es in meinem Innersten aussah, das wussten nur mein Ehemann Michael, engste Familienangehörige und Freunde.

Burn-out ist, so meine Zusammenfassung und Interpretation des Gelesenen, eine gesellschaftlich anerkannte und mögliche Etikettierung für ein Bündel an Symptomen.

Symptome sind beispielsweise Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Angst, Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen. Diese Symptome können sich über Depressionen oder verschiedene körperliche Erkrankungen (beispielsweise Migräne, Herzbeschwerden, Allergien, Immundefekte, Fibromyalgie, Magen-Darm-Erkrankungen) Ausdruck verschaffen und spürbar im Leben der Betroffenen wirksam werden. Die psychosomatische Medizin kennt die Zusammenhänge zwischen Seele und Körper und verfolgt daher ganzheitliche Strategien in der Therapie.

Es gab 2016, als ich in die Psychotherapie ging, viel zu tun, ich wusste oder merkte es aber nicht wirklich. Betty Jean Lifton resümiert: Ungeachtet ihres beruflichen oder sozialen Erfolges betrachten sie (die Adoptierten, Anm. d. V.) sich selbst als scheu und in sich gekehrt, als einsam, als Menschen, die sich vor Zurückweisung oder Konflikten fürchten, sich bemühen, alles recht zu machen, unterwürfig sind, aber viel Zorn in sich haben.12

Viel Zorn und Wut schleppte auch ich innerlich jahrzehntelang mit mir herum.

Im ersten Dreivierteljahr 2016 habe ich damit, ich weiß nicht wie, sogar weitergearbeitet. Durchhalten lautete die Devise. Das Eingeständnis von Scheitern, Schwäche oder Krankheit kam mir einem Tabubruch gleich. Es entsprach nicht meinem Bild von mir selbst, das ich so bemüht aufrechterhalten hatte. Aber geholfen hat es nicht. Ich glaube wirklich, dass ein ganz individueller Leidensdruck und Schmerz erreicht sein muss, bevor dieses innere Bild kippt.

Und es kippte.

Was war passiert? Angestoßen durch die Therapie, mich mit mir selbst und meiner Geschichte auseinanderzusetzen, wurde mir klar, dass ich das Thema ›Adoption‹ in meinem Leben stets verdrängt hatte. Ein leiser Anfangsverdacht kam auf, dass mein Burn-out und die riesengroße Trauer um meine Mutter Eleonore etwas mit dieser Kindheits- und Adoptionsgeschichte zu tun haben könnte.

Beruflich war ich fünfundzwanzig Jahre lang in meiner eigenen Unruhe und Rastlosigkeit, einem ewigen Streben nach besser, höher, weiter, schneller gefangen gewesen wie ein Hamster im Hamsterrad. Karriere, Familie, Haus, Weiterbildungen, immer neue berufliche Wechsel und Herausforderungen, nie war es gut – beziehungsweise nie gut genug. Nie war ich gut genug. Ich war ein Workaholic und ordnete mein Leben, meine Gesundheit und meine Familie der Arbeit unter. Ich erfüllte, wie ich erzogen war und es nie infrage gestellt hatte, stets die immer höheren Erwartungen Dritter. Ich setzte keine Grenzen, sagte niemals Nein und sehnte mich danach, bei der Arbeit jene Liebe und Anerkennung zu finden, die mir als Kind von meiner Pflege- / Adoptivoma Maria versagt worden war.

Heute ist mir klar, wie absurd das war.

Warum? Die Kraft innerer Glaubenssätze, vor allem die sehr schädlichen Glaubenssätze, setzte sich jahrelang durch: Ich fühlte mich wertlos, nicht wichtig, nicht richtig, nicht anerkannt, wenn ich nicht mehr als andere leistete. Lob schien mir wichtiger als Liebe. Seelischer und körperlicher Ausdruck dieses Funktionierens war eine sichtbare Rast- und Ruhelosigkeit. Ein Leben zwischen den Welten der Vergangenheit (Wo komme ich her?

---ENDE DER LESEPROBE---