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Im Jahr 2009 war ich für sieben Wochen von Sevilla bis nach Santiago de Compostela unterwegs. Interessant wurde diese Expedition durch meinen Begleiter. Er war 15, mehrfach straffällig und ich dachte, ihn zu kennen. Immerhin betreute ich ihn schon ein halbes Jahr. Richtig kennen gelernt habe ich ihn trotz der langen Zeit auch nicht, dafür aber meine Grenzen. Gestartet mit höchster Überzeugung und Motivation, angekommen mit der Einsicht, weder die Welt noch einen Jugendlichen verändern zu können, wenn er das nicht will. Ein Buch über pädagogische Grundsätze, Selbstzweifel und Durchhaltevermögen. Begleiten Sie mich und Christian einmal quer durch vier Regionen Spaniens mit internationalen Begegnungen auf der Via de la Plata bis zur Pilgermesse in Santiago und lassen Sie sich überraschen, wie diese Reise zu Ende geht.
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Seitenzahl: 247
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Richard Schneider
Gelbe Pfeile
Richard Schneider
Gelbe Pfeile
Erzählung einer pädagogischen Reise durch Spanien
Impressum
Texte: © 2024 Copyright by Richard Schneider
Umschlag:© 2024 Copyright by Muhammad Salis Mazhar, Islamabad, Pakistan
Karte:© Larisa Sutyagina / Alamy Vektorgrafik
Verantwortlich für den Inhalt:
Richard Schneider
Stadtplatz 14
83278 Traunstein
Druck:epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Vorwort
Es war einmal … - so beginnen viele Märchen und auch unsere Geschichte. Auch wenn es keine erfundene Geschichte ist, sondern genauso vor 15 Jahren passiert ist. Und trotzdem passt dieser Beginn für diese Geschichte, weil es märchenhafte Erinnerungen sind, die mir immer noch so präsent sind, als wäre das alles erst ein paar Monate her.
Natürlich habe ich in den vergangenen Jahren sehr viel reflektiert und dabei viele neue Erkenntnisse gewonnen – vor allem über mich. Nicht immer schöne Erkenntnisse und trotzdem bezeichne ich diese sieben Wochen im Frühjahr 2009 als die prägendsten meines bisherigen Lebens. Immerhin bin ich jetzt auch schon 50. Verzweiflung, Resignation, Wut, Enttäuschung – aber auch Freude, Optimismus und Stolz sind es, worauf ich zurückblicken kann. Aber was ist eigentlich passiert? Wenn ich es auf ein Minimum herunterbrechen möchte, habe ich eine sogenannte ISE (Intensive Sozialpädagogische Einzelfallhilfe) durchgeführt und bin mit einem 15-jährigen die „Via de la Plata“, einen Jakobsweg von Sevilla nach Santiago de Compostela, gewandert.
Nun sitze ich an meinem Küchentisch, schwelge schon wieder in Erinnerungen und habe mich eingedeckt: ich habe den Pilgerausweis rausgeholt, genauso wie den Reiseführer und natürlich mein Tagebuch, das ich in den letzten Jahren immer mal wieder gelesen habe, um meine Erinnerungen aufleben zu lassen. Aber vor allem, weil ich große Lust darauf habe, mir diese Geschichte immer und immer wieder vor Augen zu führen. Und nach vielen Hinweisen in den letzten Jahren, darüber doch ein Buch zu schreiben, mache ich dies nun endlich. Ich möchte Sie mitnehmen in eine Welt, die sich so einfach anhört und die doch so komplex ist. Lassen sie sich treiben und freuen sie sich mit uns. Wenn sie wollen dürfen sie auch gerne mit uns leiden! Vor allem mit mir!! Viel Spaß beim Lesen.
Prolog
So fing alles an. Ich arbeitete bei einem Jugendhilfeträger im Berchtesgadener Land. Es war meine erste Arbeitsstelle nach dem Studium der Sozialpädagogik. Ich war voller Begeisterung und Tatendrang und fand einen Arbeitgeber, bei dem ich mich richtig ausleben konnte. Die Schwerpunkte unserer Arbeit waren die ambulante Jugendhilfe und die Jugendgerichtshilfe. Die Kombination aus Hausbesuchen, Freizeit- und konkreten Hilfsangeboten hatte einen sehr großen Reiz in mir ausgelöst. Jeder Fall war anders und einzigartig, mal ging es um Suchtproblematiken, mal um Schule, fast immer um eine Trennungsgeschichte, dazu noch psychische Auffälligkeiten, Gewalt und jede Menge Straftaten – was kann es Schöneres geben? Wir versuchten neue Wege zu gehen, ein „Geht nicht“ gab es nicht. Nichts war uns zu komplex, um nicht eine Lösung zu suchen. Wir waren ein recht junges Team voller Ideale und hatten mit Rainer einen Vorgesetzten und Mentor, dem ich viel zu verdanken habe. Mit einem hohen Maß an Einsatz und Energie versuchten wir, den Problemen massiv entgegenzuwirken. Oft wurden am Abend, als alle von den Hausbesuchen wieder im Büro waren, diskutiert, analysiert und an den nächsten kreativen Ideen gebastelt. Immer wieder dauerten unsere „Supervisionen“ in verschiedenen Lokalitäten von Bad Reichenhall bis weit in die Nacht und wurden mit zahlreichen kleinen Bieren gepuscht. Wir beflügelten und unterstützten uns gegenseitig, es herrschte immer Aufbruchsstimmung. Rainer hat mich auch entscheidend unterstützt, meine Idee der intensiven Betreuung von Christian – so soll er in dieser Geschichte heißen – zu verfolgen.
Ich kannte Christian zu Beginn der Reiseplanung etwa ein halbes Jahr. Im Rahmen einer richterlichen Weisung des Jugendgerichts war er mir zugwiesen worden. Bei meinem ersten Kontakt mit ihm war er wie viele andere Jugendlichen. Durchschnittlich groß, schlank, leichter „Ghetto-Style“. Nur eines hat ihn von allen anderen unterschieden, sein Gesicht. Es schien unfähig zu lachen. Schnell wurde mir bewusst, dass Christians bisheriges Leben alles andere als nach Plan verlaufen war. Er verweigerte die Schule, er konsumierte erlaubte (Alkohol, Nikotin) und diverse unerlaubte Substanzen, bewegte sich auch im Drogenmilieu. Sein Vater verstarb sehr überraschend etwa ein Jahr vor unserem Kennenlernen an einem Herzinfarkt. Seine Mutter war mit der Erziehung von Christian völlig überfordert und weitgehend chancenlos. Sie war damals nikotin- und alkoholabhängig.
Es war sehr schwer überhaupt mit Christian zu arbeiten, da er keinerlei Struktur kannte. Zu den vom Richter vorgeschriebenen Betreuungsstunden erschien er häufig nicht. Und genau diese Unzuverlässigkeit forderte mich heraus. Er tat mir auch leid, sein Gesicht war fast immer wie versteinert, ernst und traurig. Sein Lachen lernte ich erst auf unserer Reise kennen. Ich musste ihn oft suchen, wenn die Schule mich wieder einmal informierte, dass er nicht erschienen war. Auch die Mutter wusste nur selten, wo er zu finden war. Letztendlich hatte ich nur zwei Möglichkeiten. Entweder ging ich den regulären Weg, der eine Mitteilung an den Richter bedeutete, wenn die Jugendlichen nicht regelmäßig an der Maßnahme teilnahmen. Oder ich musste die Betreuung umstellen. Irgendwie musste es doch möglich sein, auch Christian zu „knacken“. Ich kannte mittlerweile seine Treffpunkte und überraschte ihn dort oder ich holte ihn früh morgens aus dem Bett, was ihm gar nicht gefiel, komplett ausflippte und mich wüst beschimpfte. Was für ein toller Job. Ich erinnere mich noch gut an eine kleine Bergtour auf die Vorderalm. Er war nicht begeistert von der Idee, letztendlich blieb ihm nicht viel anderes übrig als mitzugehen. Natürlich gab es auf der Alm eine Brotzeit und zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, etwas Zugang zu ihm zu finden. Er war von den Kälbern und Katzen auf der Alm ganz begeistert und fragte mich höflich, was er denn bestellen dürfe. Es schien als ob er sich befreite von seinem Zwang, immer cool und kontrolliert sein zu müssen. Er ließ sich von der beschaulichen Umgebung einfangen, er hatte nichts zu befürchten und niemand kannte ihn hier. Außer uns waren nur wenige Wanderer unterwegs, so wie ich es erwartet und erhofft hatte. Er wirkte befreit und vermutlich sogar glücklich. Und zum ersten Mal löste sich sein versteinertes Gesicht und zeigte Züge eines zufriedenen Kinderlächelns. Genau das wollte ich erreichen. Ich klopfte mir innerlich auf die Schulter und spürte eine große Zufriedenheit. Es war so schön, Christian für diese Momente so frei, glücklich und vor allem so „normal“ zu erleben. Seine Welt im Tal sah ganz anders aus. Gespräche über seine Straftaten – er hatte schon einige angesammelt – waren kaum oder gar nicht möglich. Er gefiel sich in seiner Rolle im Drogenmilieu und sah auch dort seine Zukunft. Markenklamotten, fette Autos, Geld und viele Mädchen, so sollte seine Zukunft aussehen. Er besuchte die 9. Klasse der Mittelschule, sein Leistungsstand konnte kaum überprüft werden, da er bei Proben entweder nicht anwesend war oder einfach nur ein leeres Blatt zurückgab. Mittlerweile bin ich selbst an einer Grundschule tätig und weiß, wie schwer es ist, Schülerinnen und Schüler zu motivieren, die in der Schule nur den Auftrag sehen, morgens aufstehen zu müssen und die Freizeit zu unterbrechen. Niemand konnte ihn von der Wichtigkeit eines Schulabschlusses überzeugen, er hat dies sicher hunderte Male von allen Seiten gehört. Christians Ziel war kein Schulabschluss, sondern zu überleben. Die Lehrer hatten kaum noch Einfluss auf ihn, er respektierte diese nicht und im Grunde waren alle froh, wenn er nicht da war. Christians Weg schien unausweichlich im Gefängnis zu enden.
Dafür sprach auch sein hohes Aggressionspotential, das ihm bereits einige Anzeigen wegen Körperverletzung einbrachte. Regeln waren für ihn dazu da, gebrochen zu werden. Akzeptieren konnte er nur die Vorgaben und Rollenverteilungen in seiner Peer-Gruppe, in die ich kaum Einsicht erhielt. Christian fühlte sich wohl in der Umgebung von meist älteren „Freunden“, die tief im Drogengeschäft verwurzelt waren. Diese gaben ihm ein Gefühl von Dazugehörigkeit, Macht, Einfluss und vielleicht auch ein bisschen Geborgenheit. Ich kann es ihm kaum verdenken.
Und trotzdem wurde dieses System zu meinem Gegenspieler. Zu einem extrem starken Gegenspieler. Ich wollte ihn davon überzeugen, dass es auch noch andere Möglichkeiten für ihn gibt, bessere, aufrichtigere, Wege, die nicht zwingend im Gefängnis landen. Ich entwickelte eine Motivation, die getrieben war von der Vorstellung, Christian von „meiner“ Seite des Lebens so zu überzeugen, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als mir zu glauben und einen anderen Weg für sein Leben einzuschlagen.
Dabei übersah ich viele andere Gegenspieler, die ich erst später kennenlernte.
Andalusien
Tage 1 und 2
Die Zeit der Vorbereitungen ist vorbei, es geht mit dem Flugzeug von München nach Sevilla. Es war Christians erster Flug, eine Nervosität war ihm trotzdem kaum anzumerken. Unser Transfer begann bereits um 03:00 Uhr morgens, Rainer holte uns pünktlich ab, Gepäck hatten wir ohnehin nicht viel. Wir verabschieden uns, Rainer wünscht uns noch alles Gute und dann gab es nur noch Christian und mich – und das für sieben Wochen. Ich überlies Christian den Fensterplatz und sofort beobachtete er das rege Treiben auf dem Flugfeld. Als uns die Stewardess kurz nach dem Abflug fragte, was wir denn zu trinken wollen, fragte er mich etwas überrascht: „was gibt’s denn?“ Eine berechtigte Frage, wenn man nicht wusste, dass es auch Tomatensaft gab. Die günstigste Flugverbindung nach Sevilla war über Mallorca. So hatten wir zum einen schöne Aussichten auf die Insel und zum anderen gleich noch einen zweiten Start. Der Transfer in Sevilla vom Flughafen in die Innenstadt mit dem Bus funktionierte einwandfrei und auch die gebuchte Pension Santa Maria de la Blanca finden wir sehr schnell. Ich bat bereits einige Tage vor dem Abflug einen Freund, der des Spanischen mächtig ist, uns ein Zimmer zu reservieren. Erst nach einigem hin und her findet die ältere Dame an der Rezeption die Reservierung, die nicht auf meinen Nachnamen, sondern auf „Richie“ gebucht war. Wir beziehen die einfache Pension, die vielen Pilgern als Ausgangspunkt der „Via da la Plata“ dient. Und ich beginne damit, Tagebuch zu schreiben. Meine Einträge unterteile ich täglich in den Ablauf, also Entfernung, Wetter, Herberge, etc., sowie in meine Beobachtungen von Christian. Dieses Tagebuch ist die Grundlage für diese Ausführungen und ich werde immer wieder daraus zitieren. Um uns an uns, das Land und das Klima zu gewöhnen, bleiben wir zwei Nächte in Sevilla. Das Wetter ist ausgesprochen schön, es hat frühlingshafte 22 Grad – bei uns in Oberbayern lag zu dieser Zeit – es war Anfang März - noch viel Schnee. Wir verbringen die Zeit damit, uns die vielen Sehenswürdigkeiten der Stadt anzusehen, genießen beide das schöne Wetter und sind erstaunt von den vielen Orangenbäumen überall in der Stadt. Wir schlendern durch die Fußgängerzone, als Christian beim Schaufenster eines Schuhgeschäftes stehen bleibt. Er zeigt mir ein Paar weiße Turnschuhe, die ihm gefallen. Meine Antwort: „Wer solche Schuhe trägt, verkauft die Drogen nicht mehr gramm-weise.“ Wir wollen auch noch die Stierkampfarena „Real Maestranza de Caballería de Sevilla“ besuchen. Ich frage nach dem Eintritt und versuche dem Señor zu erklären, in welcher Mission wir unterwegs sind, um unseren Etat nicht zu sehr zu strapazieren. Gar nicht so einfach mit meinem kaum vorhanden Spanisch. Wir hatten uns vor der Reise auf ein Tagesbudget verständigt, worüber ich eine Art Kassenbuch schreiben musste. Der nette Mann am Schalter schaut sich Christian an und fragt, ob er ein Handicap habe. Ich zögere mit meiner Antwort und nach einem längeren Blickkontakt mit dem Señor bekommen wir einen ermäßigten Eintritt und sparen 8 €. Der Besuch hat sich auch sehr gelohnt. Die Arena, in der mehrere Tausend Zuschauer Platz finden, ist ein beeindruckendes Bauwerk in Gelb mit vielen verzierten Säulen. Für uns ist es aber auch schwer vorstellbar, dass hier immer noch Stierkämpfe stattfinden.
Wir sind beide recht entspannt und kümmern uns um erste Routinen. Dazu gehört die Einteilung der Finanzen. Ich versuche, unser täglich zur Verfügung stehendes Geld gut einzuteilen und beginne damit, ein „Kassenbuch“ anzulegen, in dem ich ab sofort alle Ausgaben genau notiere. Das Frühstück ist meist recht günstig und eher überschaubar. Für mich ist das kein Problem, da lediglich ein Kaffee am Morgen sehr wichtig für mich ist. Ein Café con leche kostet nur etwa einen Euro, somit sind auch zwei im Budget. Christian entscheidet sich meist für einen Kakao, dazu gibt es ein tostado, also getoastetes Weißbrot mit Olivenöl und wahlweise einem Tomatenaufstrich oder einer paté, vergleichbar mit einer Leberwurst bei uns. Für das Mittagessen besuchen wir einen Supermarkt und testen uns durch das Angebot an regionalen Käsespezialitäten, Schinken und Salami. Dazu gibt es viel frisches Obst und Gemüse.
Am Abend gehen wir dann in ein Restaurant. In Sevilla ist das Angebot riesig, vor allem an den belebten Plazas stehen viele Einheimische an Stehtischen im Freien und Essen Tapas und trinken meist ein Glas Wein oder Bier dazu. Das emsige Treiben, der südländische Flair und die Ausgelassenheit der Menschen, die in großen Gruppen zusammenstehen und laut durcheinanderreden und lachen, ist sehr verlockend. Es erinnert mich sehr an die Plätze in den Innenstädten von Südamerika, wo ich schon einige Länder besucht habe. In Buenos Aires beispielsweise habe ich es geliebt, mich dort einfach dazuzugesellen und auch etwas zu bestellen. Schnell kam man ins Gespräch, oft blieb es auch nicht bei einem Glas Wein, das ist aber eine andere Geschichte. Irgendwie erscheint es hier nicht ganz richtig, immerhin sind wir weder Einheimische noch „richtige“ Touristen und so entscheiden wir uns lieber für ein Restaurant. Ich frage Christian, ob er sich wohl fühle. Er scheint meine Frage gar nicht richtig gehört zu haben. Er beobachtet mit weit geöffneten und aufmerksamen Augen die anderen Gäste, als ob er alles unter Kontrolle haben möchte. Wie eine Raubkatze beim Fixieren ihrer Beute schaut er sich im Gastraum um. Was fasziniert ihn so sehr? Ist es die fremde Sprache? Fürchtet er einen Kontrollverlust? Ist es nur Interesse? Seine Antworten auf meine Fragen sind sehr kurz und meist ohne essenziellen Inhalt. Ich habe das Gefühl, er lässt einerseits alles über sich ergehen. Die ungewohnte Situation in einem fremden Land mit seinem Betreuer unterwegs zu sein. In einer großen Stadt mit Orangenbäumen mitten im Zentrum. An einem Ort zu sein, an dem er sich nicht auskennt. Andererseits checkt er seine Umgebung genau ab. Vor allem konzentriert er sich dabei auf mich. Auch wenn wir in den letzten Tagen viel Zeit zusammen verbracht haben, stand diese immer unter dem Vorzeichen der bevorstehenden Reise, die jetzt begonnen hat. Damit ändert sich für Christian vieles. Hinter seiner coolen Fassade versteckt sich wohl doch ein gewisses Unbehagen und eine Unsicherheit. Und es gibt nur eine „Versicherung“ für ihn – nämlich mich. Diese Tatsache, gepaart mit seiner Unfähigkeit, Dinge, Situationen und Emotionen zu benennen, führt zu seltsamen Gegebenheiten, die mich sehr befremden. Selbst in unserem kleinen Pensionszimmer ist es so, als habe er Angst davor, dass ich ihn nicht sehen würde. Er fängt an, mich zu zwicken und auf mich zu springen. Ehrlich gesagt habe ich damit nicht gerechnet und ich bin völlig überfordert. Ich überlege, was dies bedeuten könne, komme aber gar nicht dazu, schon sitzt er wieder neben mir. Aus der Betreuung in Deutschland kenne ich Christian ganz anders, sehr unnahbar und distanziert. Dies passte für mich sehr gut zu seiner knappen Kommunikation und einem Verhalten, das mehr auf eine emotionale Verwahrlosung hindeutete. Ich erkläre ihm, dass ich jeden Tag eine „Auszeit“ von ihm brauche, vor allem, wenn er so aufgedreht ist. Ich begründe dies auch mit dem Schreiben des Tagebuches. Ich erkläre Christian, wofür ich dieses brauche und bitte ihn, dies auch nicht zu lesen, wenn er die Gelegenheit dazu hätte. Natürlich wusste er, wo ich das Tagebuch in meinem Rucksack aufbewahre und vermutlich wird er der Versuchung auch erlegen sein, doch einmal nachzusehen, was der „Nikolaus“ so in das goldene Buch geschrieben hat. Trotz seiner ständigen Präsenz versuche ich, sein verändertes Verhalten zu begreifen, wenn ich es schon nicht erklären kann.
Die ersten Nächte sind für mich recht kurz. Christian ist am ersten Tag trotz des frühen Aufstehens noch lange fit und wach. Als er dann endlich einschläft, schnarcht er auch noch. Daran werde ich mich erst gewöhnen müssen.
Christian wirkt am zweiten Tag überhaupt nicht nervös oder angespannt, vielmehr scheint er die Zeit zu genießen. Wir lassen uns erneut durch Sevilla treiben, schauen uns weitere Sehenswürdigkeiten an und besprechen noch unsere erste Etappe mit einer gewissen Anspannung und Nervosität meinerseits. Meine „Auszeiten“ beschränken sich auf einen kurzen Besuch im Supermarkt, den Christian alleine machte. Die zehn Minuten reichen, um den kurzen Eintrag ins Tagebuch zu erledigen. Und somit stehe ich nach den ersten beiden Tagen zwischen der Hoffnung, dass wir eine gute und erfolgreiche Zeit miteinander verbringen und der Befürchtung, dass es sehr anstrengend werden könne. Immerhin konnten wir die Schönheiten von Sevilla ausgiebig bewundern und das schöne Wetter genießen.
Tag 3
Unser Abenteuer beginnt an der Kathedrale in Sevilla – dem offiziellen Start der „Via de la Plata“ nach Santiago de Compostela. Der Weg führt über die Punte de Isabella II langsam hinaus aus der Stadt, vorbei an den hässlichen Industriegebieten ins Umland der Hauptstadt von Andalusien. Wir atmen noch einmal die Großstadtluft ein und zumindest ich bin schon etwas wehmütig, da mir Sevilla sowohl architektonisch, als auch wegen des südländischen Flairs mit den vielen Bars und Weinstuben sehr gut gefallen hat. Die Rucksäcke sind mit Reiseproviant gefüllt, dazu reichlich Wasser, die Jakobsmuschel hängt als Zeichen der Pilgerreise deutlich sichtbar an unserem Rücken, was sollte uns jetzt noch passieren? Unser erster Zielort heißt Guillena, den wir nach ereignisreichen 22,5 km erst recht spät erreichen. Der Knackpunkt der Etappe ist ein kerzengerader Feldweg über 7,5 Kilometer, der nicht zu enden wollen scheint. Wegen der leichten Steigung können wir sehr weit nach vorne sehen, was sehr ungünstig für uns ist. Links von uns sehen wir die Bundesstraße N-630, wo die Autos nach kurzer Zeit wieder aus unserem Blickfeld verschwinden. Wir hatten noch keinerlei Erfahrung, wussten nicht, wie es sich anfühlt, gut 22 Kilometer zu gehen. Wir hatten keinen Plan, was die Tempoeinteilung oder die Rhythmisierung der Pausen anbelangt. Wir gingen einfach los und ich freute mich auf unser Abenteuer. Zu Beginn startet Christian voller Elan, es macht ihm Spaß, die Markierungen in Form der berühmten gelben Pfeile zu suchen. Zwei Stunden geht alles gut, die Sonne scheint gnadenlos auf den schattenlosen Weg, dann ist da diese Plastikflasche. Christian hatte seine Wasserflasche ausgetrunken und warf sie einfach in den Graben.
„Kannst du bitte die Flasche wieder aufheben und mitnehmen?“
„Nein“
„Oh doch, das ist Umweltverschmutzung!“
„Mir scheiß egal! Da liegen auch schon andere Flaschen“
„Die sollten auch nicht da liegen! Jedenfalls nimmst du deine Flasche mit!“
„Nein!“
„Dann warten wir so lange, bis du sie aufgehoben hast!“
„OK, mir scheiß egal!“
So haben wir eine halbe Stunde mitten im Nirgendwo verbracht. Auch wenn die Versuchung groß war, ich habe nicht nachgegeben und mich meinem Impuls, nicht ewig wegen einer Flasche dort bleiben zu wollen, entgegengesetzt. Letztendlich hat er die Flasche mitgenommen, ließ mich diesen kleinen Erfolg aber teuer bezahlen. Das Tempo wird merklich langsamer, die Pausen dafür länger und öfter. Immer wieder bleibt Christian stehen, es wird später und später. Einmal hatte er Durst, dann Hunger, dann konnte er nicht mehr, dann war es ihm zu heiß, dann taten ihm die Beine weh. Viel später als gedacht kommen wir an unserem Zielort an. Laut unserer Reiseführer lag die Herberge in einer Sportanlage. Den Schlüssel müsse man bei der örtlichen Polizei abholen. Auch hier müssen wir noch eine Stunde warten. Trotz der Schlichtheit der Herberge – es standen einige Etagenbetten in einer alten Umkleidekabine – sind wir froh, angekommen zu sein. Und bereits nach dieser ersten Etappe wurde mir bewusst, wie lange die bevorstehenden knapp 1.000 km noch werden könnten. Es folgen noch Duschen, Wäsche waschen, Rucksack auspacken – auch ein Beginn einer immer wiederkehrenden Routine.
Beim Abendessen klagt Christian über Kopfschmerzen, die Beine tuen ihm weh, er ist sich sicher, er werde krank. Und so war es dann auch!
Tag 4
Beim Aufwachen gegen 08:00 Uhr steht fest, dass Christian wirklich krank ist. Er hat Fieber und Kopfschmerzen, es ist schnell klar, dass wir heute nicht weiterlaufen können. Um herauszufinden, wie hoch seine Temperatur wirklich ist, brauche ich ein Fieberthermometer, und das am Sonntag in einem kleinen Ort in Andalusien, in dem wirklich niemand Englisch zu sprechen scheint. Auf dem Marktplatz treffe ich auf einige Senioren, die mir sichtlich gerne helfen wollen. „Ah, Farmacia, si, si.“ Die Ausstattung mit Apotheken ist in Spanien auch in kleinen Orten tatsächlich ausgezeichnet und nach einigem Hin und Her waren sich die Señores einig, welche Apotheke den sonntäglichen Notdienst übernimmt. Die Hoffnung, dass zumindest die Apothekerin des Englischen mächtig ist, erfüllt sich leider nicht. Somit muss mein kleines Wörterbuch herhalten und nach ein paar Minuten habe ich ein Fieberthermometer und Tabletten für oder gegen was auch immer. Vermutlich war die Klimaumstellung der Auslöser für seinen Zustand, dazu hatten wir auch noch keinen Sonnenschutz. Wer konnte Anfang März auch schon mit so einer Hitze rechnen? Christian nimmt brav seine Medikamente und schläft ansonsten die meiste Zeit. Ich verbringe die Zwischenzeit mit dem Besuch von mehreren Fußballspielen, die auf dem großen Gelände stattfinden. Immerhin bin ich ja auch Fußballtrainer. Dabei habe ich auch Zeit zum Nachdenken und werde mir bewusst, dass ich an solche Zwischenfälle nicht gedacht habe. Für mich war klar, wir gehen jeden Tag eine Etappe ohne Ruhetage, vielleicht einmal einen in einer Stadt zur Erholung. Immerhin hatte ich die sieben Wochen aus meiner Sicht richtig kalkuliert. Ich spüre auch zum ersten Mal meine hohe Verantwortung. Es ist nicht nur meine Aufgabe, sondern auch meine Pflicht, mich um Christian zu kümmern und einzuschätzen, wann er wieder fit genug ist, um weiterzugehen.
Im weiteren Verlauf des Tages bessert sich sein Zustand, wir gehen Essen und alles sieht danach aus, dass wir morgen die nächste Etappe in Angriff nehmen können.
Tag 5
Die Nacht war kurz, die Herberge fast voll und überdurchschnittlich viele Schnarcher haben meinen Schlaf verkürzt. Christian geht es wieder schlechter, er hat immer noch erhöhte Temperatur, es macht keinen Sinn, heute zu wandern. Guillena ist mit seinen gut 7.500 Einwohnern ein typischer Vorort im Speckgürtel einer Großstadt und gibt dementsprechende nicht viel her, also gehe ich am Vormittag eine Runde Laufen, was mir angesichts der noch fast 1.000 km, die noch vor uns liegen, etwas seltsam erscheint. Wir sind wieder alleine in der Herberge, somit kann sich Christian in aller Ruhe gesundschlafen. Ich schaue regelmäßig nach ihm, rede ihm gut zu und hoffe sehr, dass wir morgen weiter wandern können. Und dann passiert doch noch etwas. Am Nachmittag sitze ich mit Christian vor der Herberge und wir unterhalten uns über Drogen – warum auch nicht? Es ergab sich einfach so. Schnell wird deutlich, dass Christian sowohl beim Konsum als auch beim Dealen viel mehr Erfahrungen hat, als es gut für ihn ist. Er erzählt nur wenig, trotzdem habe ich den Eindruck, dass ihn dieses „Geschäftsmodell“ sehr fasziniert. Er fragt mich natürlich nach meinen Erfahrungen und ich erzähle sie ihm auch. Außer einigen „kläglichen“ Versuchen mit Kiffen gibt es von meiner Seite nicht viel zu berichten. Ich möchte ihm zeigen, dass Offenheit ein wichtiges Gut ist. Damit konnte ich ihn leider nicht überzeugen. Es sind genau diese Jugendlichen wie Christian, die mich bei der Frage nach der Legalisierung von Cannabis stutzig machen. Gerade in der körperlichen und geistigen Entwicklung hat diese vermeintlich „leichte“ Droge massive Auswirkungen und führt nachweislich zu Folgeschäden oder dient als Einstiegsdroge. Ich habe diese Diskussion sehr oft geführt, mit delinquenten Jugendlichen und mit vielen Schülerinnen und Schülern aus Mittelschule und Gymnasium. Dabei ist meiner Ansicht nach die Gefahr, genau diese Auswirkungen in der Pubertät von Jugendlichen zu verharmlosen. Immerhin habe ich jetzt und hier einige neue Informationen von Christian bekommen und vielleicht ist es ja der Beginn, sich im Laufe der Zeit noch mehr damit zu beschäftigen. Zeit war ja noch da.
Christian war immer noch etwas kränklich was ihn aber nicht davon abhielt, mir wahnsinnig auf die Nerven zu gehen. So geht es aus den Aufzeichnungen aus dem Tagebuch hervor. Vor allem seine Kommunikation, die vornehmlich aus folgenden Brocken bestand: „Na und?“, „Mir scheiß egal!“ und „Keine Ahnung!“, machte mich - lassen Sie es mich so formulieren – etwas ungehalten. Am Abend teilte ich ihm mit, dass wir am nächsten Tag auf jeden Fall weiterlaufen würden, auch wenn er noch nicht ganz fit sei. Ich wollte einfach weg aus Guillena!
Tag 6
Endlich ist es so weit, wir starten unsere 2. Etappe nach Castilblanco de los Arroyos über 18 km. Es ist eine gute Etappe zum Wiedereinstieg, bei der speziell die zweite Hälfte durch ein Naturschutzgebiet mit wunderschöner Landschaft und vielen Tieren sehr reizvoll ist. Speziell im Frühling ist dieses Gebiet sehr attraktiv, die satten Wiesen werden von Rindern und Pferden gegrast. Außerdem gibt es hier viele seltene Vogelarten, für die wir leider keinen Blick haben.
Christian ist wieder fit, sichtlich gut erholt und bestens gelaunt. Und er bringt mich erneut zum Staunen. Es scheint wie die Geburtsstunde einer zweiten Person, die im Körper von Christian schlummert. Diese zweite Person hat mit dem selbstbewussten Drogenkurier nun aber auch gar nichts zu tun! Nur das Aussehen bleibt gleich. Beim Anblick der Tiere – wir sehen viele Schafe, Pferde und die berühmten andalusischen Schweine, verfällt er urplötzlich in eine Kleinkindsprache eines Drei- bis Vierjährigen. Zunächst denke ich, er will mich auf den Arm nehmen. Im Laufe der Zeit merke ich, dass dies nicht der Fall ist. „Schau mal, wie süß die kleinen Schafe!“ Er nimmt mich an der Hand und führt mich zur gegenüberliegenden Weide. „Und die kleinen Pferde, schau mal wie süß!“. Ja, ich bin sehr erstaunt über diese Entwicklung, beobachte seine Gestik und Mimik und überlege, ob man so gut schauspielern kann. Was hat das zu bedeuten? Was ist der Auslöser für dieses Verhalten? Ist es gut für mich, eine zweite Persönlichkeit dabei zu haben? Irgendwie ist es schon angenehmer, sich mit einem Kind die Tiere anzusehen als dieses ewige Macho-Gehabe. Trotzdem kann ich es kaum glauben, was mit Christian passiert ist. Es ist nicht nur seine Sprache, auch sein Verhalten ist wie das eines Kleinkindes. Es kam aus dem Nichts und erinnert mich noch am Ehesten an gemeinsame Tierparkbesuche mit meinen Nichten. „Immer mehr erscheint seine kindliche Ader, es ist ihm auch nicht mehr unangenehm, sich als „Kind“ in der Öffentlichkeit (Herberge) zu präsentieren. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass er es absolut genießt, meine volle Aufmerksamkeit zu haben!“, steht dazu im Tagebuch.
Ich nehme es erst einmal so hin, wir genießen den sternenklaren Abend auf der Dachterrasse unserer ersten richtig schönen Herberge und versuchen uns auf die morgige Etappe über 30 km vorzubereiten. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass uns dies maximal so mittelmäßig gelungen ist.
Tag 7
Die Etappe von Castilblanco de los Arroyos bis nach Almadén de la Plata bringt uns körperlich und psychisch an unsere Grenzen. Es fliegen Rucksäcke, Schlafsäcke, Klamotten, wir bereiten uns auf eine Übernachtung in der freien Wildbahn vor, packen doch wieder alles zusammen - immerhin gibt es freilaufende Wildschweine in der Gegend - und landen nach fast 12 Stunden doch in der Herberge. Was für ein unglaublicher Tag.
„Ich kann heute sicherlich nicht alles aufschreiben, was passiert ist, ich hatte bisher sicherlich am meisten zu kämpfen, um Christian ans Ziel zu bringen!“ So begann mein Tagebucheintrag, den ich gegen 23:00 Uhr noch geschrieben habe. Aber der Reihe nach: Wie üblich war ich vor Christian wach geworden, die Nacht im Schlafsaal war nicht allzu lang. Wie üblich nahm ich ganz leise meine Zahnbürste und wollte gerade das Zimmer verlassen. „Wo gehst du hin?“
„Ich gehe schon mal Zähne putzen, du kannst ruhig noch liegen bleiben!“