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Gehen Sie mit Deutschlands wohl bekanntester Feuerwehrfrau Marie Trappen und der Freiwilligen Feuerwehr Gemeinsam durchs Feuer! Wenn Marie Trappen zum Einsatz gerufen wird, lässt sie alles stehen und liegen und macht sich auf den Weg zur Wache. Von dort geht es raus ins Ungewisse. Mal hat jemand im Altersheim das Essen auf dem Herd vergessen. Mal läuft durch einen Wasserrohrbruch der Keller voll. Mal brennt es an drei Orten in der Stadt gleichzeitig. Und immer wieder kommt es zu Verkehrsunfällen, bei denen es um Leben und Tod geht und die den Helfenden nie mehr aus dem Kopf gehen. In ihrer Autobiografie erzählt Marie Trappen von ihren ersten Gehversuchen als Feuerwehrfrau, von den zahlreichen Ausbildungen, die sie durchlaufen musste, und von ihren spektakulärsten Einsätzen aus über dreizehn Jahren Ehrenamt bei der Freiwilligen Feuerwehr. Die Geschichten in diesem Buch verdeutlichen, wie sehr der gesellschaftliche Zusammenhalt sogar auf dem Dorf vom Engagement Einzelner abhängt. Ein unterhaltsames und empowerndes Feuerwehr-Buch für alle von Jung bis Alt
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Seitenzahl: 233
Veröffentlichungsjahr: 2025
Marie Trappen
mit Leo G. Linder
Mein Leben bei der Freiwilligen Feuerwehr
Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.
Wenn Marie Trappen zum Einsatz gerufen wird, lässt sie alles stehen und liegen und macht sich auf den Weg zur Wache. Von dort geht es raus ins Ungewisse. Mal hat jemand im Altersheim das Essen auf dem Herd vergessen. Mal läuft durch einen Wasserrohrbruch der Keller voll. Mal brennt es an drei Orten in der Stadt gleichzeitig.In ihrem Buch erzählt Marie Trappen von ihren ersten Gehversuchen bei der Feuerwehr, von den zahlreichen Ausbildungen, die sie durchlaufen musste, und von ihren spektakulärsten Einsätzen.
Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de
Alarm
Wilde Zeiten
Wut
Vom Regen in die Traufe
Erste Liebe, erstes Kind
Feuer im Dorf
Ein Feuerwehrfest
Kleine Triumphe
Rico
Feuerwehrschnellkurs Teil 1
Feuerwehrschnellkurs Teil 2
Feuerwehrschnellkurs Teil 3
Über sich hinauswachsen
Kameradschaft
Social Media
New York
Alltägliches und Außeralltägliches
San Francisco
Fehlalarm
Suizid
Einstieg ins Filmgeschäft
Meine Interviews
Brandstifter
Die Industrie-brandanlage
Die Firefighter Combat Challenge
In der Ukraine
Mein Traum vom Reisen
FAQs
Danksagung
oder: Wohin mit dem Einkaufswagen?
Sobald der Melder geht, lässt du alles stehen und liegen – und er kann jederzeit losgehen. Du kochst gerade? Der Topf mit den Spaghetti steht auf dem Herd? Unwichtig. Ein schrilles Piepen zerreißt die Stille der Küche, und jetzt gibt’s nur eins: die Spaghetti Spaghetti sein lassen und den Herd abstellen, eine Jacke überwerfen und rausrennen. Du räumst im Lager deiner Firma gerade Ware ein? Interessiert nicht. Die Kartons können warten. Beim Fiepen des Melders hast du im Lager nichts mehr verloren, dein Arbeitsplatz ist jetzt woanders, und du läufst los, schwingst dich aufs Fahrrad oder setzt dich ans Steuer, trittst in die Pedale oder gibst Gas. Denn der Melder übermittelt den Alarm, und von derselben Sekunde an bist du im Einsatz. Dieses kleine Gerät hast du Tag und Nacht dabei, folglich bist du Tag und Nacht auf dem Sprung, mit anderen Worten: Der Melder bestimmt dein Leben – wenn du bei der Feuerwehr bist.
Ich bin bei der Feuerwehr, ich kenne das. Geht der Melder, legt sich in meinem Kopf ein Schalter um, und dann bin ich nur noch die Feuerwehrfrau Marie Trappen, niemand sonst, voll auf den bevorstehenden Einsatz konzentriert, denn jetzt muss es schnell gehen. Ich nehme mir gerade noch die Zeit, den Backofen abzustellen oder die Kerzen im Wohnzimmer auszublasen, dann brettere ich los zur Feuerwache. Ich will als eine der Ersten ankommen, denn je früher ich eintreffe, desto größer ist meine Chance, an vorderster Front mitzumischen. Ich bin ja auf hundertachtzig. Ich will ins Geschehen eingreifen, ich bin auf jeden Fall bereit, etwas zu riskieren, und dazu kommt: Womöglich geht es um Leben und Tod! Womöglich zählte jede Sekunde! Also stürme ich ins Gerätehaus, ziehe mich in Windeseile um und renne zum Einsatzfahrzeug.
Diese überstürzten Aufbrüche … Manche kennen das von mir, auch wenn sie mich sonst nicht kennen. In dem Supermarkt zum Beispiel, wo ich regelmäßig einkaufe. Der Melder ertönt, der Einkaufswagen bleibt halb voll einfach irgendwo stehen, und eine offenbar Gestörte rennt raus und fährt davon – das ist dann keine Ladendiebin, das ist die Frau Trappen von der Feuerwehr, die kommt demnächst wieder – und falls nicht, werden die Joghurtbecher und Wasserflaschen im Wagen halt Stunden später vom Personal in die Regale zurückgestellt. Die ersten Male haben sie natürlich dumm geguckt, auch die Kunden; mittlerweile aber wird mein Einkaufswagen bloß auf die Seite geschoben, weil alle wissen: Die setzt ihren Einkauf irgendwann fort. Wobei ich nach einem Einsatz selten als Erstes den Supermarkt ansteuere. Ich habe mich ja verausgabt, ich bin verschwitzt, ich bin verschmutzt, ich muss zunächst mal duschen.
Natürlich gibt es Situationen, in denen Aufspringen und Loslaufen absolut keine Option ist. Beim Zahnarzt zum Beispiel. Wenn da der Melder geht, hat mein Zahn Vorrang. Ganz zu schweigen von meinen Kindern. Die haben sogar dann Vorrang, wenn ich mitten im Einsatz bin, wie damals, als die Sache mit meiner Tochter Emma passierte.
Es war ein Flächenbrand in einem Waldstück. Die Einsatzkräfte waren aufgeteilt worden, mir hatte man einen speziellen Abschnitt zugewiesen, jetzt war ich mit einem Schlauch zwischen Sträuchern und kleineren Bäumen am Rand eines Felds zugange und löschte. Da bekam ich über Funk mit, jemand habe bei der Feuerwehr angerufen und die Nachricht durchgegeben, Emma habe sich verletzt und sei ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Ich funkte sofort zurück, dass ich ausgewechselt werden wollte. Kurz darauf traf schon die Ablösung ein, doch nicht genug damit, ein anderer Kollege fuhr mich im Feuerwehrauto direkt zum Krankenhaus, so, wie ich war, in Einsatzkleidung und schön verdreckt. Mein Aussehen war mir aber egal. Ich marschierte gleich durch, fand Emmas Zimmer, riss die Tür auf – und da lag sie und weinte. Was war passiert? Sie hatte mit ihrer Freundin am Bach gespielt und war in eine Glasscherbe getreten. Im nächsten Moment tauchte die Ärztin in Emmas Zimmer auf und nahm ihr den Notverband ab, und jetzt sah ich die Bescherung: ein tiefer Schnitt im Fußballen, der immer noch blutete.
Der blutige Fuß, die weinende Emma – plötzlich war mir nicht wohl, mir wurde schwindelig; um nicht die Besinnung zu verlieren, musste ich mich auf dem Boden ausstrecken und die Beine hochlegen. Als ich erfuhr, dass ihre Wunde genäht werden sollte, kam ich zu mir, rappelte mich auf, zog meine Feuerwehrstiefel aus und legte mich in meiner verschmutzten Montur zu Emma ins Bett, damit das Kind nicht schrie und ich nicht erneut zu Boden ging. Irgendwie peinlich, aber bestimmt auch komisch: Da kommt eine gestandene Feuerwehrfrau in voller Montur direkt vom Einsatz ins Krankenhaus und fällt beinahe in Ohnmacht, bloß weil sie Blut sieht … Aber ich war eben nicht mehr im Einsatz. Im Einsatz ist mein Gehirn das der Feuerwehrfrau Marie Trappen, und die ist ein Profi, die kann den Anblick von Blut durchaus ertragen. Jetzt aber hatte ich mich in die Privatperson und Mutter zurückverwandelt, die ich im Alltag bin, und die reagiert anders. Die konnte noch nie Blut sehen, schon gar nicht bei ihren Kindern.
Also, ein paar Dinge gehen vor – die eigenen Zähne, die eigenen Kinder zum Beispiel. Sonst aber lasse ich mich von meinem Melder jederzeit aus meinem Alltagsleben herausreißen. Schon deshalb, weil’s bei der Freiwilligen Feuerwehr auf jeden Einzelnen ankommt. Man weiß ja nie, wer sich bei Alarm auf der Wache sehen lässt und wie viele es sind. Es gibt keinen Dienstplan, Mitmachen ist bei der Freiwilligen Feuerwehr eben freiwillig, und da heißt es: abwarten, ob genug Leute zusammenkommen. Nicht selten sind’s zu wenig, dann fahren die Ersten schon mal vor, und ein zweiter Alarm wird rausgeschickt – der rüttelt vielleicht den einen oder anderen noch wach, der holt diesen oder jenen vielleicht noch aus seiner Badewanne. Oft wird halt wirklich jeder gebraucht, deshalb lasse ich den Einkaufswagen schon beim ersten Alarm stehen.
Es wird also immer wieder mal richtig stressig. Eben noch Mutter oder Geschäftsfrau, im nächsten Augenblick Feuerwehrfrau, das ist ein verrücktes Hin und Her, das sind praktisch zwei Leben in einem. Warum tue ich mir das an? Eben deshalb. Ich kann gar nicht genug Leben haben, und Feuerwehr, das ist Adrenalin von der ersten Minute bis zur letzten. Ich brauche das. Ich blühe auf, wenn’s gefährlich wird. Wir gehen ja dahin, wo andere weglaufen, und jeder Einsatz verspricht Erfahrungen, die ich sonst nie machen würde. Dazu kommt meine Begeisterung für Technik und das Erlebnis der Kameradschaft. Aber ich will nicht zu viel vorwegnehmen; das ganze Buch ist ja eine Antwort auf diese Frage. Tatsache ist: Feuerwehr fasziniert mich, und diese Faszination habe ich schon als Kind gespürt. Schon mein allererstes Erlebnis mit Feuerwehrmännern in einem brennenden Haus hat mich regelrecht aufgewühlt und tiefe Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen. Ich will meine Geschichte deshalb von Anfang an erzählen.
oder: Wie man einem Fünfjährigen sein Spielzeug klaut
Ich war kein ganz gewöhnliches Kind. Mein Freiheitsdrang war so unbändig wie mein Bewegungsdrang; ich war kaum zu bremsen und leistete mir haarsträubende Sachen. Meine Eltern müssen geglaubt haben, in mir sei ein Teufelchen versteckt. Dabei gehörte ich immer zu den Kleinsten, und süß war ich auch – was eine arge Belastung ist, wenn man weder klein noch süß sein will. Es war ein täglicher Kampf, den Erwachsenen zu beweisen, dass sie sich, was mich anging, verschätzten. Also machte ich so viel Quatsch wie möglich – Quatsch aus ihrer Sicht. Mir ging es um etwas anderes, ich wollte ihnen zeigen, was die kleine, süße Marie so alles draufhat.
Seltsamerweise sind selbst meine riskantesten Unternehmungen glimpflich verlaufen, bis auf ein Mal. Ich war fünf. Wir lebten auf dem Dorf, einem sehr kleinen Dorf, und mein bester Freund wohnte gleich nebenan. Ein Zaun trennte unser Grundstück von dem seiner Eltern. Mal kletterte er drüber, mal kletterte ich drüber, und dann zogen wir beide los, Quatsch machen.
Da gab es zum Beispiel die Kirchhofmauer, vielleicht zwei Meter hoch, und an diesem Tag beschloss ich raufzuklettern. Es war ein sehr windiger Tag, die Böen kamen mit ziemlicher Wucht, aber die Mauer war rissig, es gab lockere Steine, es gab Spalte und Löcher, ideal zum Reingreifen und Festkrallen, für eine Kletterkönigin wie mich gar kein Problem, und ich schaffte es, mich hochzuziehen. Oben angekommen, wollte ich mich gerade aufrichten, da fegte mich ein Windstoß von der Mauer, ich stürzte ab und schlug mit dem Kopf aufs Straßenpflaster.
Mit einer ordentlichen Platzwunde am Kopf lief ich nach Hause. Blut rann mir übers Gesicht, ich wischte es mit dem Ärmel ab und muss ziemlich fürchterlich ausgesehen haben, aber meine Mutter dürfte nicht allzu überrascht gewesen sein. Sie brachte mich ins Krankenhaus, und ich erinnere mich noch an die weißen Stäbe meines Gitterbetts und an die Schmerzen, als die Wunde genäht wurde. Aber dies war der einzige gravierende Unfall in meinem Leben. Nie habe ich mir einen Knochen gebrochen, und auch später, bei der Feuerwehr, bin ich heil aus jedem Einsatz zurückgekommen, keine Verbrennungen, nichts. Ich war ein Glückspilz. Ich bin ein Glückspilz. Ich habe allerdings auch nie zu denen gehört, die über jeden Stein stolpern.
Mein Motto lautete damals schon: Ich schaffe das. Ich schaffe alles. Wenn nicht mit Kraft, Geschicklichkeit und Mut, dann mit List. Unsere Ferien verbrachten wir regelmäßig an der französischen Atlantikküste zwischen Biarritz und Bordeaux. Meine Eltern fühlten sich von dieser Küste magisch angezogen, weil man dort herrlich zelten konnte, und da wir im Saarland lebten, dauerte die Anreise nicht ewig. Einmal – ich mag vier oder fünf gewesen sein – war am Strand ein kleiner Junge, der beneidenswert gut mit Spielzeug ausgestattet war; den ganzen Tag hantierte er allein für sich mit seinen Eimern und seiner Schaufel, seinem Rechen und seinen Förmchen und Spielzeugautos. Ich hätte gern mitgespielt, aber er ließ mich nicht; jedes Mal, wenn ich eins von seinen Förmchen zu fassen kriegte, nahm er’s mir wieder ab. Da half nur Austricksen. Das nächste Mal klaute ich ihm gleich zwei Teile, auf die ich eigentlich verzichten konnte, er holte sie sich wie üblich wütend zurück, aber im gleichen Moment schnappte ich mir das Teil, auf das ich es in Wirklichkeit abgesehen hatte, und jetzt war er machtlos. Er hätte eine dritte Hand gebraucht, denn loslassen wollte er seine zwei soeben geretteten Teile auch nicht, und nun stand er da und schrie, während ich mit meiner Beute abzog.
An dem Teufelchen war wohl was dran.
Jedenfalls musste ich bei jeder Gelegenheit meinen Kopf durchsetzen und machte, was ich wollte. Wenn wir im Kindergarten still stehen sollten, war ich die Letzte, die still stand. Wenn wir uns die Hände waschen sollten, war ich die Einzige, die sie nicht wusch. Selten habe ich gemacht, was ein anderer von mir wollte. Warum sollte ich mir vor dem Essen die Hände waschen, wenn ich nach dem Essen gleich wieder im Sand Burgen bauen würde? Leuchtete mir nicht ein. Vertrug sich nicht mit meiner Logik. Dann zog meine Familie mit mir um, vom Saarland nach Baden-Württemberg, nach Kirchzarten östlich von Freiburg – auch nicht viel größer als das Dorf, aus dem ich kam, aber noch besser.
Nämlich genau das richtige Betätigungsfeld für eine sechsjährige Kämpferin. Es gab da Wälder, es gab einen Bach, und der Bach war meine Inspirationsquelle. Er schlängelte sich um große Steine, er schäumte um regelrechte Felsbrocken, am Ufer standen hohe Bäume, und wenn ich mich recht entsinne, hingen von ihren Ästen Lianen. Hier war ich für die nächsten Jahre in meiner Freizeit meistens zu finden.
Selten war ich dann allein. In unserer Siedlung gab es viele Kinder, und nachmittags traf man sich, in der Regel am Bach, den wir im Sommer umbauten – entweder weil wir einen Teich zum Baden brauchten oder weil wir auf die Idee gekommen waren, ihn umzuleiten; für beide Aktionen reichten uns Hände und Schäufelchen. Oder wir bauten Hütten, wir zimmerten uns ein Baumhaus. Nie hatte mir jemand gezeigt, wie man dabei vorgeht – ich verließ mich einfach auf dieselbe strenge Logik, die mich schon dazu gebracht hatte, Händewaschen vor dem Essen absurd zu finden. Irgendwas fiel mir jedenfalls immer ein. Kombinieren, tüfteln, ausprobieren, selbst herausfinden – andere waren da nicht so fix wie ich, weshalb ich immer einen Haufen Kinder um mich hatte, der sich von mir mitreißen ließ. Ganz ohne großartiges Spielzeug amüsierten wir uns prächtig, verwandelten Stöcke in Schwerter, schnitzten und verzierten Wanderstäbe, bastelten uns Fantasietiere aus Kastanien – Taschenmesser gehörten zur Grundausstattung – oder drangen in alte Scheunen ein. Lost Places nennen sich solche Orte heute, aber für uns waren es einfach alte Scheunen, an denen wir ein paar Seitenbretter raushebelten, um einzudringen und alles zu durchwühlen. Damit konnten wir uns stundenlang aufhalten – jede Schublade aufziehen, jedes Brett umdrehen in der Hoffnung, einen Schatz zu finden oder ein dunkles Geheimnis aufzudecken. Megaspannend.
Es stimmt, oft war ich der Chef. Ich bestimmte: »Du bist der Räuber, und du bist der Gendarm«, und da gab es anschließend keine Diskussion. Ich verstand schon ziemlich gut, mich durchzusetzen. Für meine Lieblingsbeschäftigung allerdings war ich nicht auf Mitstreiter angewiesen, diese Nummer absolvierte ich ganz allein, denn meine Lieblingsbeschäftigung war Klettern.
Ich schaffte es auf den höchsten Baum, ich sprang sogar von Tanne zu Tanne. In einer Ecke unseres Spielplatzes im Dorf standen nämlich mehrere Tannen, jede an die zehn Meter hoch, und die reizten mich. An der einen kletterte ich bis ganz nach oben, wechselte dann mit einem Sprung zur nächsten, umklammerte deren Spitze, umarmte sie sozusagen, rutschte an ihr wieder runter und kam nur leicht lädiert am Boden an. Die Äste störten mich nicht, die waren biegsam, nur – ich war die Einzige, die diese Übung toll fand. Bei den Kindern, die es mir nachzumachen versuchten, kam sie nicht gut an, und noch weniger gut bei Eltern.
Mit meinen eigenen Eltern hatte ich im Grunde aber Glück. Ich war nun mal nicht der Safety-first-Typ, meine Mutter ließ mich trotzdem alles machen, und ich war ständig auf eigene Faust unterwegs, niemand beaufsichtigte mich, niemand schränkte meine Bewegungsfreiheit ein. Das war nur möglich, weil meine Eltern überhaupt nicht ängstlich waren. Hatte sich ihre Furchtlosigkeit auf mich übertragen? Es sah so aus. Ich hatte jedenfalls keine Angst vor gar nichts. Leichtsinn lag mir allerdings fern. Nie bin ich drei Meter tief in einen Heuhaufen gesprungen, ohne vorher nachzusehen, ob sich eine Heugabel drin versteckte. War das nicht der Fall, bin ich gesprungen.
Man muss aber auch sagen: Furchtlosigkeit fällt leichter, wenn man weiß, dass man’s kann, weil man fit und sportlich ist. Zwar gehört in jedem Fall Mut dazu, alles auszuprobieren, sich mit Begeisterung ins nächste Abenteuer zu stürzen, und manchmal kostet es auch Überwindung, aber der Lohn der Furchtlosigkeit ist Selbstsicherheit. Das Wort »gefährlich« sagte mir jedenfalls nichts. Es hatte für mich keinen Sinn, und nicht einmal angesichts der Regenrinne an unserem Haus habe ich mir auch nur eine Sekunde lang überlegt, ob ein Sturz aus mehreren Metern Höhe vielleicht übel ausgehen könnte. Dran hochklettern musste ich jedenfalls, so viel stand fest.
Es war nämlich so: In mancherlei Hinsicht waren meine Eltern eben doch streng. Fernsehen? War meinen drei Geschwistern verboten, durfte auch ich als die Älteste nicht, und wenn meine Eltern das Haus verließen, wurde das Zimmer mit unserem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher vorsichtshalber abgeschlossen. Wie kam man trotzdem rein? Von außen über die Regenrinne.
Dummerweise befand sich das Fernsehzimmer im dritten Stock. Egal. Ich in den Garten rausgelaufen – aha, die Balkontür steht offen –, mich am Regenrinnenrohr hochgehangelt und über die Balkonbrüstung geschwungen, dann rein ins Zimmer und den Fernseher eingeschaltet. Waren meine Eltern bei ihrer Rückkehr unten zu hören, habe ich denselben Weg zurück genommen, und damit kommen wir zum zweiten Teil meiner kindlichen Philosophie. Wenn der erste Teil lautete: Ich schaffe das, dann hieß der zweite: Eine Lösung gibt es immer. Also war ich grundsätzlich überzeugt, irgendwie an mein Ziel zu gelangen, und folglich habe ich immer versucht, einen Weg zu finden – hatte ich die Lösung, gab’s kein Halten mehr. Wobei viel Unsinn herauskam, aber auch Sinnvolles. Zumindest Nützliches.
Meine Freundin Miriam wohnte uns gegenüber, allerdings in einigem Abstand, denn ihr Haus stand an der Parallelstraße, das heißt: Dazwischen lagen Gärten und ebendiese Straße. Internet war noch nicht erfunden, Telefonieren ging ins Geld, wir wollten aber trotzdem miteinander kommunizieren, sooft uns danach war, und da verfiel ich auf die Idee mit der Seilbahn. Also spannten wir zwischen ihrem Fenster und meinem ein langes Seil und hängten ein Körbchen dran, und von nun an gingen die Briefe zwischen uns hin und her, bis ein Lkw das Seil beim Durchfahren mitriss und unsere Seilbahn zerstörte. Woraufhin ich ein Schnurtelefon mit Dosen an beiden Enden bastelte, und jetzt konnten wir zum Nulltarif telefonieren.
So gesehen eine herrliche Zeit, die Jahre in Kirchzarten. Nichts aber hat mich damals stärker beeindruckt als das, was sich eines Nachts in einem Nachbarhaus abspielte.
War ich acht Jahre alt? Oder neun? Egal, ich wurde jedenfalls vom Tatütata eines Martinshorns geweckt. Im nächsten Moment fiel flackerndes Blaulicht in mein Zimmer, und als ich ans Fenster trat, sah ich dichte Rauchwolken aus einem Fenster gegenüber quellen. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Ich öffnete das Fenster, um besser sehen zu können. Auf der Straße unten waren Feuerwehrleute zugange, die Schläuche legten. Sie trugen Atemmasken, und alles spielte sich so nah ab, dass ich sogar ihre schnorchelnden Atemgeräusche hören konnte und den Funkverkehr mitbekam. Dann gingen sie rein, durch die Rauchschwaden hindurch sah ich sie im Haus herumlaufen, nach einer Weile ließ der Qualm nach, und schließlich sah ich eine verkohlte Matratze durchs Fenster fliegen.
Wie gebannt hatte ich die ganze Zeit zugeschaut. Anderntags hieß es, ein Junge dort im Haus gegenüber, der in der ganzen Straße als Faxenmacher bekannt war, habe eine brennende Kerze unter sein Bett gestellt, wohl um sie vor seiner Mutter zu verstecken, woraufhin die Matratze in Flammen aufgegangen sei. Wie dem auch gewesen sein mag, ich war fasziniert. Da gab es tatsächlich Menschen, die in ein brennendes Haus reingehen! Die sich freiwillig in Gefahr begeben und es mit Feuer, Gluthitze und Rauch aufnehmen! Die trauen sich was, dachte ich. Die können auch was. Und mit ihrer Furchtlosigkeit retten sie Menschenleben! Was sie wohl dabei fühlen, wenn sie solche krassen Dinge machen? Ich war jedenfalls tief beeindruckt. Das war ja kein Film gewesen. Ich war Zeuge eines echten Brands geworden, und in der Folgezeit beschäftigte mich dieses Erlebnis immer weiter. Es brachte mich sogar dazu, gleich am nächsten Tag zur Kirchzartener Feuerwache zu laufen und von außen einen ersten, vorsichtigen Blick hineinzuwerfen. Meine Neugier war geweckt.
Seither hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen, obwohl es für viele Jahre kaum noch Berührungspunkte mit der Feuerwehr gab. Immerhin habe ich nur ein Jahr später selbst an einer Löschaktion mitgewirkt, und das kam so:
Auf dem Absatz zwischen dem ersten und dem zweiten Stock unseres Hauses gab es eine Nische in der Wand. In dieser Nische befand sich ein kleiner Tisch, und in der Adventszeit war dort immer ein Adventsgärtchen aufgebaut, ein Moosbett mit brennenden Teelichtern und den Figuren von Maria und Joseph, die um die Krippe mit dem Jesuskind herumstanden; daneben eine Vase mit Tannenzweigen, von denen Goldsterne hingen.
Eines Vormittags komme ich die Treppe hinunter und sehe: Das Adventsgärtchen hat Feuer gefangen, und noch während ich hingucke, stehen auch schon die Tannenzweige in Flammen. Ich schreie nach meiner Mutter. Sie kommt, überlegt kurz, rennt in die Küche, nimmt den Topf mit der Reissuppe vom Herd und schüttet den Inhalt über dem Adventsgärtchen aus. Jetzt ist das Moos gelöscht, aber die Tannenzweige brennen weiter, da habe ich eine Idee: »Wir brauchen eine Decke!« Noch einmal läuft meine Mutter los und kommt mit einer Decke zurück, und jetzt gelingt es uns, das Feuer zu ersticken.
Hatte ich damit meine Eignung für die Feuerwehr bewiesen? Auf jeden Fall hatte ich bei dieser Gelegenheit meine erste Feuerwehrlektion gelernt: Reissuppe ist gut, aber Brände lassen sich auch auf andere Art löschen.
oder: Kriemhild und Brunhilde waren genau das Richtige für mich
Und jetzt kommt die Schattenseite dieser Jahre. Ich hatte nämlich zwei schauerliche und leider übermächtige Feinde: erstens meine Lehrer und zweitens die Erwachsenenlogik. Der erste Feind war real und leibhaftig, der zweite abstrakt und unsichtbar, aber lebensbedrohlich waren beide, und ich zitterte vor Angst, vor Wut, vor Hilflosigkeit. Fangen wir mit der Schule an.
Ich will ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen; nach dreißig Jahren ist mein Zorn verraucht. Also: Eigentlich hätte ich mir keine schönere Schule vorstellen können. Ich durfte eine Waldorfschule besuchen; meine Eltern hofften, dass ich mich dort weniger langweilen würde als im Standardunterricht an staatlichen Schulen. Damit hatten sie gewiss recht. Aber das Desaster fing schon mit der Klassenstärke an – achtundvierzig Kinder! Ich war völlig überfordert, komplett unfähig, mich zu konzentrieren. Wenn ich mal geistig anwesend war, dann in den spannenden Sonderfächern, von denen es einige gab.
Eins dieser Fächer hieß: deutsche Märchen und Sagen – oder keltische –, klar, unternehmungslustige Gestalten wie Kriemhild oder Brunhilde waren genau das Richtige für mich. Dann Gartenbau – Apfelbäume veredeln machte auch Spaß. Für Sternenkunde hatte ich etwas übrig, weil ich den nächtlichen Himmel lesen können wollte, und im Fach Schmieden seinen eigenen Löffel anfertigen, das lag mir auch. Wir hatten sogar Ackerbau! Wir haben gepflügt und gesät und erlebt, wie das Getreide wuchs, wir haben geerntet und gedroschen und das Korn zur Mühle gebracht – und das verbliebene Stroh dann mit Lehm gemischt und das Gartenhaus damit verputzt. Auf diese Weise wurde Schule für mich zum Abenteuer. Obendrein hatten wir in diesen Sonderfächern so tolle Lehrer, dass ich alles begierig aufsog, was es zu lernen gab.
In solchen Fächern hing der Unterrichtsstoff mit dem Leben zusammen, deshalb leuchteten sie mir ein, und sobald mir etwas einleuchtete, war ich konzentriert, ja sogar mit Freude bei der Sache. Und manchmal ging mir in diesen Stunden ein Licht auf, das mir das Gehirn für alle Zeiten erleuchtete. Ich will dazu eine kleine Geschichte aus dem Werkunterricht erzählen.
Ich bekam einen Holzklotz mit der Aufgabe, irgendein Tier daraus zu schnitzen. Gut, ich fing an, erst mit dem Meißel, dann mit dem Schnitzmesser, aber zunächst ohne klare Vorstellung im Kopf. Dann plötzlich kam mir die Idee: ein Elefant. Es sollte ein Elefant rauskommen. Also den Rüssel herausgearbeitet, den Kopf, die Hinterbeine – und da passiert’s: Ich schlage versehentlich ein Stück vom Fuß weg!
Für mich geht die Welt unter. Was immer die Leute über meine Dummheit und Unfähigkeit sagen, es stimmt, hier haben wir die Bestätigung. Da wird nie ein Elefant draus werden. Der Fuß ist weg, wieder mal habe ich alles vermasselt. Aber dann komme ich zu mir. Schaue mir das Ding an, wende es hin und her, überlege – und denke: Ist doch klar! Mein Elefant hebt ein Hinterbein! Und so habe ich’s gemacht. Am Ende hatte ich etwas Außergewöhnliches erschaffen – andere Elefanten standen auf vier Beinen, meiner stand auf dreien, und in dieser Haltung sah er doch entschieden cooler aus.
Eine großartige Erfahrung! Du hast den Holzklotz, du hast die Idee, dann geht etwas schief und du verzweifelst, aber plötzlich kommt dir der rettende Einfall, und das Ergebnis ist absolut überzeugend! Ein Fehler ist also kein Grund, in Panik zu verfallen und die Flinte ins Korn zu werfen – fast immer gibt es eine Lösung, du musst sie nur finden. Den Elefanten habe ich heute noch und kann mir von Zeit zu Zeit sagen: Den hast du übrigens selbst gemacht …
Ja, alles prima. Wenn bloß Deutsch, Mathe, Latein und Artverwandtes nicht gewesen wären! Was sollte ich damit anfangen? Das war reine Theorie. Die übliche Beurteilung am Ende des Schuljahrs lautete »Marie schaute träumend aus dem Fenster« oder erschöpfte sich in der knappen Feststellung »Marie war nicht anwesend«. Was stimmte. In den ersten drei Schuljahren war ich so oft krank, dass ich häufiger zu Hause war als in der Schule. Mein Kopf war solchen Strapazen nicht gewachsen, mein Körper daher auch nicht.
Es ist nämlich so, dass auch auf einer Waldorfschule nicht nur Heilige unterrichten. Mit anderen Worten: Außerhalb der Schule fürchtete ich nichts und niemanden, aber vor manchen Lehrern hatte ich buchstäblich panische Angst. Wobei der Ärger schon morgens mit dem Schulweg losging.
Wir wohnten in Kirchzarten, aber zur Schule ging ich in Freiburg. Ab meinem sechsten Lebensjahr musste ich also unter der Woche täglich mit dem Rad zum Bahnhof fahren, dort den Zug nach Freiburg nehmen, dann zur Bushaltestelle laufen und mit dem Bus bis vors Schulgebäude fahren. Über eine Stunde war ich unterwegs, morgens wie mittags, vorausgesetzt … Vorausgesetzt, ich hatte nichts vergessen. Was selten vorkam. Mal machte ich mich morgens ohne Schulranzen auf den Weg, mal ließ ich meine Geige im Bus liegen, meist war ich deshalb schon vor der ersten Schulstunde fix und fertig, und dann zitterte ich den ganzen Vormittag vor meinen Lehrern. Nicht vor allen, aber vor vielen.
Denn Lehrer führen ein Kind wie mich gerne vor. Man muss sich vorstellen: Still sitzen war mir unmöglich. Genauso unfähig war ich, Interesse für Themen oder Fächer aufzubringen, die mir gestohlen bleiben konnten. Auf jede Art von Zwang aber reagierte ich allergisch. Nur blieb mir keine Wahl. Es ist sonnenklar, dass du versagen wirst, weil du von der Materie überhaupt keine Ahnung hast, trotzdem ruft dich der Lehrer nach vorn und erwartet einen Vortrag von dir – es war diese Situation, die mir schlaflose Nächte und in der Klasse fortwährend Bauchschmerzen bereitete. Ich wusste, dass ich gedemütigt werden sollte, kassierte auch tatsächlich Demütigungen am laufenden Band und war dagegen machtlos. Natürlich hatte ich obendrein die Hausaufgaben nicht gemacht, weil ich gleich nach der Schule zum Bach gelaufen war.
Also, Schule war der Horror. Und jetzt zur Erwachsenenlogik, mit der ich vor allem bei uns zu Hause Bekanntschaft machte.
Wieder will ich nicht ungerecht sein. Meine Mutter unterstützte mich bei fast allen meinen Projekten, und da kam ja allerhand zusammen – mal war ich für dies Feuer und Flamme, mal für jenes. Zwischen meinem zehnten und meinem zwölften Lebensjahr war ich zum Beispiel bei den Pfadfindern. Da befand man sich als Mädchen in einem Haufen Jungs, allerdings gehörten auch zwei weitere Mädchen meiner Gruppe an, und im Nachhinein würde ich sagen: Bei den Pfadfindern traf man immer noch mehr Frauen an als hinterher bei der Feuerwehr. Im Übrigen waren die Pfadfinder das genaue Gegenteil der Feuerwehr – hier lernte man, Feuer zu machen, dort, Feuer zu löschen. Natürlich hatten die Pfadfinder viel mehr zu bieten, und alles war nach meinem Geschmack: Spuren lesen, seine Nahrung in der Natur finden, Pfeil und Bogen basteln, kurz: ohne Erwachsene zurechtkommen. Für mich war’s wie ein Studium der Lebens- und Überlebenskunst – das, was ich vorher auf eigene Faust und aus eigenem Antrieb gemacht hatte, bekam ich jetzt noch mal richtig, nämlich fachmännisch beigebracht.