Gespenster-Krimi 116 - Michael Mühlehner - E-Book

Gespenster-Krimi 116 E-Book

Michael Mühlehner

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Beschreibung

Aus den Aufzeichnungen des Jesuitenpaters Santiago, 1640

Ich trete diese Reise an in der Gewissheit, nicht zurückzukehren. Bevor wir von Cádiz in See stachen, vertraute ich Gott meine Seele an. Seitdem liegen viele Tage des Gebets, des Zweifels und der Kontemplation hinter mir. Wir müssen fest in dem Glauben sein, Brüder!
Auf Höhe Gibraltars füllte ein bräsiger Wind die Segel, gerade als ob die Elemente wollten, dass wir eine schnelle Reise machen. Vielleicht ist es uns bestimmt - doch wer steht hinter der Bestimmung? Gott oder der Teufel?
Oh fluchwürdige Neue Welt - welche Schrecken und Gefahren wir doch meistern mussten!
Wir glaubten das Böse vor über einhundert Jahren besiegt zu haben, doch nun müssen wir feststellen, wie sehr wir uns täuschten. Schlimme Nachrichten haben das Hohe Officium erreicht. Gottlosigkeit und Heidentum erheben erneut ihre Köpfe, einer teuflischen Hydra gleich. Die Wilden beten noch immer die Alten Götter an, tief in den Dschungeln lodern die Zeremonialfeuer, und auf den blutnassen Opfersteinen sterben Christen unter entsetzlichen Qualen. Die Finsternis ist zurück, und es liegt an uns, der Heiligen Inquisition, Licht in die Dunkelheit zu bringen, das Böse in den Flammen der Heiligen Feuer zu verbrennen.
Möge Gott mit uns sein!


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Inhalt

Cover

Der Kult

Vorschau

Impressum

Der Kult

von Michael Mühlehner

Aus den Aufzeichnungen des Jesuitenpaters Santiago, 1640

Ich trete diese Reise an in der Gewissheit, nicht zurückzukehren. Bevor wir von Cádiz in See stachen, vertraute ich Gott meine Seele an. Seitdem liegen viele Tage des Gebets, des Zweifels und der Kontemplation hinter mir. Wir müssen fest in dem Glauben sein, Brüder!

Auf Höhe Gibraltars füllte ein bräsiger Wind die Segel, gerade als ob die Elemente wollten, dass wir eine schnelle Reise machen. Vielleicht ist es uns bestimmt – doch wer steht hinter der Bestimmung? Gott oder der Teufel?

Oh fluchwürdige Neue Welt – welche Schrecken und Gefahren wir doch meistern mussten!

Wir glaubten das Böse vor über einhundert Jahren besiegt zu haben, doch nun müssen wir feststellen, wie sehr wir uns täuschten. Schlimme Nachrichten haben das Hohe Officium erreicht. Gottlosigkeit und Heidentum erheben erneut ihre Köpfe, einer teuflischen Hydra gleich. Die Wilden beten noch immer die Alten Götter an, tief in den Dschungeln lodern die Zeremonialfeuer, und auf den blutnassen Opfersteinen sterben Christen unter entsetzlichen Qualen. Die Finsternis ist zurück, und es liegt an uns, der Heiligen Inquisition, Licht in die Dunkelheit zu bringen, das Böse in den Flammen der Heiligen Feuer zu verbrennen.

Möge Gott mit uns sein!

Regenwald von Kolumbien, Gegenwart

Um Mitternacht erreichte der Sturm seinen Höhepunkt. Nach einer Serie von zuckenden Blitzen und krachenden Donnerschlägen hielt die Natur für einen Moment wie betäubt inne, dann zerriss blaues Himmelsfeuer den tosenden Regenvorhang, verdampften die Wassertropfen im knisternden Schein des flammenden Lichtbogens, ehe die Erde bebte und die Pyramide im Zentrum des Felskessels von den Energien des Blitzes getroffen wurde.

Der krachende Lärm des Einschlags hallte von den Felswänden wider, ein heulender Sturmwind drückte die Bäume und Sträucher mit solcher Kraft hernieder, dass die Wipfel beinahe den bebenden Boden berührten. Das Wasser des Regens war kalt wie Eis.

Von seinem zugigen Versteck im Felsdurchgang des Kessels beobachtete Fernandez das wütende Toben der Elemente.

Er fror erbärmlich, der Sturm peitschte den Regen beinahe waagerecht durch den Spalt im Fels. Es zog und heulte, der Poncho flatterte wie ein losgelöstes Banner um seinen Körper.

Selten hatte Fernandez so einen Sturm gesehen, geschweige denn war Teil davon gewesen. Und alles nur, weil der Comandante ihn zum Wachdienst bei der Stufenpyramide eingeteilt hatte. Als ob das Ding ihnen davon laufen könnte!

Fluchend starrte er zu dem Bauwerk hinüber, das gleich einer kauernden Kröte im Zentrum des Felskessels aufragte. Umgeben von Urwald und lotrechten Felswänden. Im zuckenden Licht der Blitze schimmerte es giftgrün, bedeckt von Ranken, Moosen und Flechten. Etwas Unheimliches haftete dem Bauwerk an. Fernandez konnte die Arbeiter beinahe verstehen, dass sie nur widerwillig ihren Aufgaben nachkamen. Wo es ging, mieden sie die Pyramide. Und wenn sie dann doch daran arbeiteten, meldeten sie sich spätestens nach einem Tag krank.

Arbeitsscheues Gesindel, dachte Fernandez. Er hatte für die Eingeborenen nichts übrig. Sie waren seiner Meinung nach nur für niedere Arbeiten zu gebrauchen.

Seine Stimmung wurde noch schlechter, als er daran dachte, dass die Indios jetzt in ihren Hütten lagen und schliefen, während er Wache schieben musste.

Ein weiterer Fluch drang über seine Lippen. Er blickte wieder zu dem Bauwerk hinüber, blaues Elmsfeuer lief über die Flanken der Stufenpyramide. Oben, auf dem Flachdach, wo ein quadratisches Tempelhaus stand, hing eine Qualmwolke. Sie schimmerte türkisfarben.

Als die Rauchwolke vom Sturmwind weggeblasen wurde, war Fernandez' Neugierde geweckt. Es hatte den Anschein, als wäre das Tempelhaus auf dem Dach beschädigt. Trotz des Unwetters rannte er über die gerodete Fläche.

Er wusste um die Geschichten, die sich die Einheimischen über die Pyramide erzählten, und er hatte auch den Comandante darüber sprechen gehört. Angeblich verbarg sich ein gewaltiger Goldschatz im Inneren des Bauwerks, das über keinerlei Zugänge verfügte. Zumindest hatten die Gringos von Wissenschaftlern noch keinen Eingang gefunden.

Die Moos- und Grasschichten, die den Stein der Pyramide bedeckten, fühlten sich feucht und schleimig an. Unter seinen Fingern spürte er bearbeiteten Stein, voll von Fresken und

Ornamenten. Einen Teil hatten die Wissenschaftler schon freigelegt.

Hastig kletterte Fernandez die rutschige Stufentreppe in der Mitte des Bauwerks hoch. Völlig durchnässt stand er oben auf der Plattform. Die Luft roch nach Ozon und feuchtem Staub.

Er hatte recht gehabt! Der Blitz hatte das Gebäude beschädigt. Als er um das hintere Eck des Tempelhauses bog, sah er die Verwüstung. Ein Loch klaffte im Gemäuer! Im Schein des nächsten Blitzes glaubte er es golden leuchten zu sehen.

Mit großen Augen trat er näher an die halb zerstörte Rückwand. Schwärze gähnte vor ihm, doch nur einen Atemzug lang. Wieder zuckten und prasselten Blitze, ihr grelles Feuer offenbarte Fernandez die Erfüllung seiner kühnsten Träume. Mit einem breiten Lächeln betrat er das Tempelhaus.

Der Sturm wütete die ganze Nacht, und als am Morgen die schweren Winde nach Osten abzogen, bot sich ein Bild der Zerstörung.

Eine breite Schneise entwurzelter Bäume und zerfetzten Urwaldes spannte sich von den senkrechten Felswänden des Hochplateaus bis zu den Ausläufern der östlichen Kordillere. Alles, was sich darin befunden hatte, war vernichtet. Zerschmettert von den Titanenfäusten des Sturmwindes, vom prasselnden Hagelschlag, vom flammenden Blitzfeuer und vom bebenden Rumpeln der Erde.

Eine riesige Sense aus Wind und entfesselter Elemente hatte die Bäume niedergemäht, der rumorenden Erde den Boden aufgerissen und peitschender Regen neue, tiefe Gräben und Furchen gegraben. Der Fluten des Rio Magdalena traten über die Ufer und überschwemmten das weite Umland, verwandelten es in eine sumpfbraune Moorlandschaft.

Es wurde von einem Taifun gesprochen, von einem Hurrikan der oberen Kategorie. Wie immer man das Unwetter auch klassifizieren wollte, es hatte das Samon-Tal hart getroffen.

Weiterhin fiel Regen, dampfte der Boden und klebte die schwülfeuchte Luft auf der Haut. Wasser gurgelte in tief ausgewaschenen Gräben durch das Camp der archäologischen Expedition und Böen brachten die Zeltplanen zum Knattern. Es knallte dabei, als würde irgendwo in der Nähe mit einer Elefantenbüchse geschossen werden.

Maeve Kilburn wischte sich das nasse Haar aus dem hübschen Gesicht und ließ nochmals ihren Blick über das Lager gleiten.

Nicht ein Zelt war unbeschädigt geblieben, von den provisorischen Behausungen der Träger ganz zu schweigen. Der Pferch mit den Lasttieren nur noch Trümmer, die Esel und Alpakas ausgebüxt.

Schlimmer noch hatte es das Laborzelt mit der ganzen Technik-Ausrüstung erwischt. Es war in alle Winde zerstreut. Ty Jackson, der Computerspezialist, stampfte mit verweinten Augen durch den Schlamm und Dreck und wühlte mit den bloßen Händen im Morast, um noch Teile seiner Ausrüstung zu finden.

Maeve hatte ihm drei Arbeiter zur Seite gestellt, sie wusste, wie wichtig die elektronischen Geräte waren. Ein weiteres Zelt hatte als Magazin für die entdeckten Funde gedient. Die Arbeit von eineinhalb Wochen war binnen weniger Stunden zunichte gemacht. Gott sei Dank gab es keine Toten, der materielle Verlust war ohnehin enorm. Allerdings wurde ein Mann vermisst, der Wache beim Tempel gehalten hatte. Sentera, der ortskundige Führer und Verantwortliche für die Sicherheit, hatte bereits einen Suchtrupp zusammengestellt. Maeve wusste nicht einmal den Namen des Vermissten.

Schon seltsam, dachte sie. Sie kannte die meisten Leute von Zino Tamperons Arbeitsgruppe, doch die Wachleute von Diego Sentera waren ihr fremd. Vermutlich, weil sie sich mit dem Kolumbianer nicht verstand.

Die Mahlan-Group hatte den Jäger und erfahrenen Dschungelführer angeworben. Dabei wusste jeder, dass Sentera auch für die Drogenkartelle arbeitete. Das schien aber niemanden zu stören. Die Mahlan-Group zeichnete gleichfalls dafür verantwortlich, dass kein Mediziner an der Expedition teilnahm. Ihr Geldgeber hatte eigene Vorstellungen, was die Ausrüstung einer Grabungsexpedition betraf.

Ein Umstand, den Maeve Kilburn sehr bedauerte. In den letzten Tagen hatten sich die Indios immer wieder über Übelkeit und Unwohlsein beschwert. Zino Tamperon, der Vorarbeiter, verfügte zwar über einige medizinische Kenntnisse, die ausreichten, um Schürfwunden und Insektenbisse zu behandeln. Doch der Krankheit, unter der seine Männer litten, stand er machtlos gegenüber. Die Hausmittelchen versagten hier völlig.

Maeve Kilburn, die zwei Doktortitel über südamerikanische Mesakulturen und lateinamerikanische Kultstätten ihr Eigen nannte, fungierte als Expeditionsleiterin und Archäologin. Promoviert hatte sie an der Miscatonic-Universität, ehe sie an das Misram-Institut wechselte.

Der Rest ihres wissenschaftlichen Teams bestand aus zwei Experten, erfahrenen Südamerika-Forschern, sowie dem Computerspezialisten Ty Jackson, einem Tüftler, der aus einem Stück Draht und einer Zitrone ein kleines Atomkraftwerk basteln konnte. Momentan allerdings war er mit den Nerven runter. Seine gesamte Ausrüstung im Wert von einhunderttausend Dollar hatte sich in einer einzigen Nacht in Luft aufgelöst.

Überhaupt hatte die Mahlan-Group bei dieser Expedition auf Technik gesetzt. Vermutlich wollte man schnell zu einem Ergebnis kommen, was anfangs ja auch funktionierte.

Nach nicht einmal zwei Wochen Aufenthalt im Regenwald, fanden sie die Stufenpyramide. In einem alten Text aus dem frühen sechzehnten Jahrhundert, wurde sie erwähnt, die Überarbeitung der handschriftlichen Aufzeichnungen diente für die Expedition wie ein Kompass.

Mit Hilfe moderner Funkpeilung und dem Einsatz eines ultramodernen Sonargerätes konnte Jackson den Standort bestimmen. Die letzten paar Tage hatten sie damit zugebracht, das Bauwerk in schweißtreibender Arbeit aus den Klauen des Dschungels freizulegen.

Als Maeve Kilburn südwärts blickte, sah sie nur das Grün des Dschungels, und dahinter erhoben sich die zerklüfteten Felswände des Samon-Tales. Eine enge Kluft spaltete den Fels an einer Stelle und gab den Weg in einen schmalen Kessel frei.

In dieser mit üppiger Vegetation ausgestatteten Seitenschlucht ragte aus der Mitte ein Tempel auf, erbaut von einem unbekannten Volk, das nach ersten Hinweisen weder den Inka noch den Maya zuzuordnen war. Die Steinquader waren uralt und grob bearbeitet, die Wurzeln von Bäumen und Sträuchern hatten dafür gesorgt, dass die Stufenpyramide sehr mitgenommen wirkte. Sie hatten das Alter noch nicht bestimmen können, die eingravierten Reliefs und Fresken, bestehend aus menschenartigen Köpfen und tierhaften Körpern, wurden von den Wissenschaftlern katalogisiert, allerdings noch nicht klassifiziert.

Ein kalter Schauer lief über den Rücken der rothaarigen Wissenschaftlerin. Die fünfstufige Steinpyramide hatte etwas an sich, das niemand genau definieren konnte. Im grauen Licht erschienen die Ecken und Kanten seltsam schief, die Winkel irgendwie falsch. Selbst die Farben wirkten unscharf. Untypisch war auch das Fehlen von Fenstern und Nischen. Der zyklopische Stein fügte sich fugenlos aneinander, ein gewaltiger Turm ohne sichtbaren Eingang, auf dessen abgeflachter Spitze ein Tempelhaus thronte.

Jedes Mal, wenn Doktor Kilburn bei der Stufenpyramide arbeitete, fühlte sie sich beobachtet. Ein Gefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte.

In Gedanken rief sie sich zur Ordnung. Sie konnte sich solche negativen Gefühle nicht leisten. Das Misram-Institut hatte sie zu dieser privaten Grabung abgestellt, weil Eric Mahlan, der Großindustrielle und leidenschaftliche Altertumsforscher, sie dafür anforderte. Mahlan zahlte an das Institut nicht nur ein horrendes Gehalt, sondern auch eine großzügige Spende.

Maeve wischte eine widerspenstige, rote Haarsträhne aus ihrer Stirn. Die unbekannte Stufenpyramide beherrschte ihr Denken. Eigentlich hatten sie heute nach einen Eingang suchen wollen, doch zuerst musste das Chaos im Camp behoben werden. Die Pyramide konnte ihnen nicht weglaufen, dafür allerdings die Zeit.

Die Grabungskonzession belief sich auf sechs Wochen. Eine beinahe unmöglich einzuhaltende Frist, wenn man bedachte, dass das Objekt der Grabung erst einmal gefunden werden musste. In ihrem Fall hatten sie Glück gehabt.

Sie drehte sich um und ging die wenigen Meter zum Verpflegungszelt. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee stieg ihr in die Nase.

Maeve Kilburn blieb nicht viel Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln. Sie hatte noch keinen Schluck aus dem Metallbecher genommen, als Diego Sentera das Zelt betrat. Er war ein groß gewachsener Mann mit funkelnden, unruhigen Augen. Das unrasierte Gesicht war dunkel gebräunt, auf dem Kopf saß ein speckiger, jetzt nasser Hut. Der Kolumbianer trug die Kleidung eines Jägers, feste Stiefel, Khaki-Hosen und ein verschwitztes Hemd, darüber eine ärmellose Weste mit vielen Außentaschen. Patronen steckten in Stoffösen auf Brusthöhe. Um die Leibesmitte hatte er einen Waffengurt mit Messer und Pistolenhalfter gegürtet. Trotz des Nieselregens trug er keine Regenjacke.

»Das sollten Sie sich ansehen, Senhorita Doktore«, sagte er in seiner polternden Art.

Seine Augen saugten sich förmlich an ihrem hochgewachsenen Körper fest. Seinem Gesicht war abzulesen, was er dachte. Für Diego Sentera existierten Frauen nur zur Befriedigung seiner Gelüste.

Maeve ließ langsam den Becher sinken. Ihre zwei Kollegen traten mit erwartungsvoller Haltung neben sie.

»Haben Sie Ihren verschwundenen Mann gefunden?« fragte Maeve Kilburn den kolumbianischen Führer.

»Noch nicht, aber Ihr Tempel ist beschädigt. Sieht aus, als habe der Blitz eingeschlagen!«

Sie brauchten keine fünfzehn Minuten für die siebenhundert Meter zur Stufenpyramide. Fünfundzwanzig Meter hoch, aufgeteilt in fünf quadratische Podeste, erbaut aus Sandkalkstein und dunklem Basalt. Verziert mit gemeißeltem Reliefschmuck, beherrschte sie das umgebende Gelände. Noch vor wenigen Tagen hatte der Urwald seine grüne Decke über die Pyramide gebreitet.

Der Boden um den Tempel war auf einer Breite von zehn Metern gerodet, mehrere Fußpfade führten über markierte Grabungsfelder vom Zugang des Felskessels zum Bauwerk. Nur mit Mühe hatte sie die einheimischen Arbeiter dazu bewegen können, den Kessel zu betreten und mit den wichtigen Rodungsmaßnahmen zu beginnen.

Für die Indios war die Pyramide mehr als nur das Überbleibsel einer alten, halbvergessenen Kultur. Viele von ihnen hingen noch immer dem Glauben an bluttriefende Götter an, und der Standort des Monuments in dem vulkanverseuchten Landstrich traf die Indios tief in ihrer abergläubischen Seele.

Maeve rannte mit schnellen Schritten den Hauptweg zum Pyramidentempel. Über den schlotartigen Wänden des Kessels nistete ein grauer, tief hängender Regenhimmel. Der Fels wirkte fast schwarz, die archaische Pyramide schien alle Helligkeit aufzusaugen, als läge ein finsterer Schleier darüber.

Unter den verschiedenen Grüntönen von Moosen und Flechten zeichneten sich einst rotbemalte Steinstufen ab. Früher war das Monument bunt bemalt gewesen, bis auf die schwarzen Seitenwände aus Basalt. An den vier Ecken des Tempels kroch jeweils eine Steinschlange nach oben, zum Tempelhaus hinauf.

Jadesplitter klebten noch auf den zerfallenen Stuckskulpturen. Das Synonym Quetzalcoatls, der Gefiederten Schlange. Eine Gottheit, die einst die Tolteken anbeteten, bevor die Azteken sie in ihre Religion integrierten.

Erbaut für die Ewigkeit, strahlte das Monument eine rohe, archaische Kraft aus. Wie es schien, hatten nicht einmal die leichten Erdstöße dem Bauwerk Schaden zufügen können.

Der Boden war matschig, teilweise mit Erdspalten übersät. Entwurzelte Bäume blockierten immer wieder den Weg. Am Fuß der Felswände des Kessels hatte sich Geröll gesammelt, herausgebrochen von der Kraft des Erdbebens und des sintflutartigen Regens der letzten Gewitternacht.

»Dort oben«, sagte der kolumbianische Führer und deutete auf das schmale Tempelhaus auf der Spitze. »Auf der anderen Seite!«

Maeves Herz schlug ihr hoch bis zum Hals. Der Tempel beschädigt, wie konnte das nur sein?

Närrin, schalt sie sich in Gedanken. Heute Nacht hat die Erde gebebt!

Vielleicht wurde durch diesen Umstand eines ihrer Probleme gelöst, nämlich einen Zugang ins Innere des Tempels zu finden. Und dann würde die eigentliche Arbeit erst beginnen. Das Alter musste bestimmt und abgeglichen werden, die Räume erkundet, katalogisiert und das Inventar aufgenommen werden. Und erst dann würde sie eine Meldung via Satellitentelefon an die Mahlan-Group schicken und bestätigen, den richtigen Ort für die anstehende Suche gefunden zu haben.

Eric Mahlan, der Finanzier der Unternehmung, hatte deutlich gemacht, um was es ihm ging. Er suchte nach einem verschwundenen Kodizes, von dem selbst Maeve Kilburn nur sehr wenig gehört hatte. Wenig mehr als Andeutungen und Gerüchte, kaum Handfestes, noch weniger plausibles. Ein Buch, das Obscura Mundi genannt wurde, ein Werk, das von den Dunklen Welten berichtete. Eine Art Heilige Bibel für Esoteriker und Okkultisten, keine Lektüre für pragmatische Wissenschaftler und empirische Forscher.

Der Tempel war nach Westen ausgerichtet, dem Sonnenuntergang entgegen. Was bestimmte Fragen aufwarf, denn die meisten religiösen Bauwerke der präkolumbianischen Ära wiesen nach Osten, als Anbetung für Inti, dem Sonnengott. Als Maeve die andere Seite erreichte, sah die Archäologin sofort die Beschädigung am oberen Tempelhaus. Die halbe hintere Wand war eingestürzt.

Der Himmel öffnete nochmals seine Schleusen, und aus dem Nieselregen wurde ein Sturzbach. Die Expeditionsleiterin ignorierte es und machte sich an den Aufstieg. Oben angekommen, wischte sie sich das Wasser aus den Augen und blickte ihre beiden Kollegen Thomas Reardon und Borgo Rastillas auffordernd an.

»Wenigstens haben wir jetzt einen Zugang«, sagte Rastillas.

»Dann sehen wir ihn uns etwas genauer an«, erwiderte Maeve entschlossen.