Professor Zamorra 1274 - Michael Mühlehner - E-Book

Professor Zamorra 1274 E-Book

Michael Mühlehner

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Beschreibung

Das Wesen, das draußen in der Dunkelheit zehn Schritte von der Kate entfernt wartete, lachte leise.
Tränen traten Almara in die Augen, als er sich der unirdischen Schönheit des Anderen bewusst wurde.
Das edle, alabasterweiße Gesicht wie aus Marmor geschnitten, der nackte, geschlechtslose Körper perfekt modelliert, groß und stattlich, stand es im Mondlicht und wartete auf Almara.
Selbst die rot glühenden, pupillenlosen Augen und die messerscharfen Zähne im Mund konnten die Vollkommenheit des Antlitzes nicht schmälern ...


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Inhalt

Cover

Höllenzwang

Vorschau

Impressum

Höllenzwang

von Michael Mühlehner

Er musste so nah wie möglich an den Todesengel herankommen.

Zamorra trat das Gaspedal durch, und der Wagen beschleunigte, jagte auf das Zentrum des Hofes zu.

»Oh, oh«, machte Nicole auf der Beifahrerseite.

Asrael wirbelte herum. Einer seiner Flügel bewegte sich sanft wie ein Lufthauch, und ein Schatten strich durch den herandämmernden Morgen, traf die Front des Wagens und schleuderte ihn aus der Richtung. Metall kreischte und verformte sich ...

Im Libanon

Ein Geräusch weckte Joseph Almara aus seinem unruhigen Schlaf. Noch halb benommen von seinem Albtraum wälzte er sich auf die Füße.

Es war kalt in der Kate, er hatte kein Feuer gemacht, der Steinofen enthielt nur Asche von der letzten Nacht. Durch das grob gezimmerte Fenster leuchteten die Sterne, ein fahler Mond stand über den schroffen Gipfeln des Libanon.

Dunkelheit füllte das Zimmer der Kate mit düsteren Vorahnungen.

Blinzelnd lauschte Almara, ob sich das Geräusch wiederholen würde. Er hörte sein Herz schlagen, das Pochen des Pulses in den Ohren ... da!

Jetzt vernahm er es ganz deutlich. Wie der Schlag schwerer Flügel! Etwas strich um die armselige Hütte. Lauernd und wartend. Worauf – dass er wach wurde? Almara spürte kalten Schweiß am Rücken. Er schloss die Augen und gab sich einen Moment der irrsinnigen Hoffnung hin, er würde sich das alles nur einbilden.

Aber das Flügelschlagen blieb, und jetzt zerrte ein leichter Wind an den Dachschindeln und ließ den Vorhang wehen, der statt einer Tür den Eingang bedeckte.

»Joseph!«

Auch das war keine Einbildung. Die Stimme rief Almara, und obwohl sich alles in ihm sträubte, stand er auf und ging auf wackeligen Füßen zum Eingang.

Er wusste, was ihn draußen erwartete. Tausendmal hatte er davon geträumt, in allen Variationen eines schrecklichen Albtraumes.

Als er den Vorhang zurückschlug, wurde seine Furcht zur Gewissheit.

»Du ...? Wie ist das möglich ...?«

Das Wesen, das draußen in der Dunkelheit zehn Schritte von der Kate entfernt wartete, lachte leise.

Tränen traten Almara in die Augen, als er sich der unirdischen Schönheit des Geschöpfes bewusst wurde.

Das edle, alabasterweiße Gesicht wie aus Marmor geschnitten, der nackte, geschlechtslose Körper perfekt modelliert, groß und stattlich, stand es im Mondlicht und wartete auf Almara.

Selbst die rot glühenden, pupillenlosen Augen und die messerscharfen Zähne im Mund konnten die Vollkommenheit des Antlitzes nicht widerlegen. Genauso wenig wie der Schlachthausgestank, den das Wesen mit sich brachte und der sich nun wie ein Leichentuch über den Felsabsatz legte.

Aus dem breiten, muskulösen Rücken ragten schwarze, engelsgleiche Flügel, die jetzt eine unruhige Bewegung machten, als Almara zu lange zögerte.

»Komm zu mir, Joseph!«

Almara trat ins Freie, die Kühle der Nacht trocknete den Schweiß auf der Stirn, doch die Angst blieb und wurde mit jedem Schritt stärker. Der Gestank, der ihm ins Gesicht schlug, war entsetzlich.

Mit bebenden Gliedern blieb er vor dem Riesen stehen, der ihn um zwei Köpfe überragte und dessen Augen in wilder Glut loderten.

Die Flügel zuckten wie kaum beherrschbare Klauen.

»Wie – wie ist das möglich?«, flüsterte Almara, doch er erhielt keine Antwort. Stattdessen packte ihn der Geflügelte mit einer Hand und schleuderte ihn empor in die Luft.

Almara schrie, brüllte, als er zehn, zwanzig Meter in den Himmel geschleudert wurde, bis die Beschleunigung sich der Schwerkraft beugen musste. Rasend schnell ging es abwärts. Almaras Schrei endete beim Aufschlag auf dem harten Boden.

Mit zerschmetterten Gliedern lag er auf dem kühlen Fels, Staub wirbelte in dünnen Schwaden um ihn herum. Merkwürdigerweise lebte er noch, Blut füllte seinen Mund, Tränen benetzten die Augen.

Ein monströser Schatten schob sich über den Eremiten, und rot funkelnde Augen musterten ihn erbarmungslos.

»Ich kann es schlagen hören«, flüsterte eine raue Stimme. »Wie pochender Trommelschlag. Dein Herz singt das Lied der Angst!«

Ein wilder Hieb mit der rechten Klauenhand zerfetzte und zerriss Fleisch und Muskeln, wühlte in Almaras Brustkorb, bis es das kostbare Kleinod fand.

In einem Regen von Blut riss der Dämon dem Eremiten das Herz aus der Brust. Almaras vor Grauen verzerrte Züge erstarrten, während der Geflügelte das pulsierende Herz in seiner Hand betrachtete und es dann mit einem sanften Kuss berührte.

Im nächsten Moment brauste dämonisches Gelächter über das kleine Plateau, und kräftiger Flügelschlag trug eine unheimliche Gestalt vor der runden Scheibe des Mondes durch die Nacht.

Paris, in den Katakomben des Louvre

In der Finsternis war das leise Greinen nicht zu überhören. Es schien aus allen Richtungen zu kommen, aus der Tiefe des hallengroßen Lagerraums. Reflektiert von den tragenden Säulen, den unverputzten Wänden, den Regalen, den gestapelten Kisten und Containern. Verzerrt durch das labyrinthische Netzwerk von Kreuzgängen und Magazinen. Die lichtlose Dunkelheit tat ein Übriges dazu. Nicht einmal die Notbeleuchtung spendete genug Helligkeit, um mehr als nur schemenhafte Konturen zu erahnen.

Zamorra zögerte noch, die kleine Stablampe zu benutzen, die ihm Chefinspektor Omar Petit oben an der Treppe in die Hand gedrückt hatte.

Petit war hager und noch einen Kopf größer als Zamorra. Ein weißer Dreitagebart zierte das kantige Gesicht mit den dicken Tränensäcken, die von ungesundem Lebenswandel zeugten, und den beinahe melancholisch wirkenden rehbraunen Augen. Auch heute war er tadellos gekleidet, trug einen Anzug und eine perfekt sitzende Krawatte.

»Und Sie sind sicher, dass Sie das alleine durchziehen wollen?«

Der Parapsychologe hatte bekräftigend genickt. »Das ist besser für alle. Ich kann dort unten nicht für Ihre Sicherheit garantieren. Oder für die Ihrer Männer.«

»Das müssen Sie auch nicht. Wir haben die Aufgabe, für den Schutz der Bevölkerung zu sorgen.«

»Keine Grundsatzdiskussionen, Chefinspektor. Ihre Truppe ist nicht ausgerüstet, um diese Auseinandersetzung zu bestehen. Sorgen Sie dafür, dass niemand hier nach unten kommt, postieren Sie Wachen an den Zugängen und haltet euch ansonsten zurück.« Zamorra wollte nicht noch mehr Zeit verlieren. Er warf einen letzten Blick den Flur zurück, ein Durcheinander an zertrümmerten Einrichtungsgegenständen, die Bilder und Gobelins zerfetzt, in den Mauern klafften tiefe Risse. Geradeso, als ob riesige Klauen darüber gestrichen wären. Was immer für eine Kreatur den Weg benutzt hatte, musste gewaltig sein. Und es hatte ein Ziel.

Die Lagerräume des Museums. Oder vielmehr jagte es den Mann, der sich dort versteckte. Enoch Klaerbaum, ein Siebzigjähriger, der für geringes Entgelt in der Inventurabteilung des Museums arbeitete. Den ein schwarzer, konturloser Schatten verfolgte. Ein Phantom, das ein Blutbad unter Klaerbaums Kollegen anrichtete. So viel wusste Zamorra.

»Hier, dann nehmen Sie wenigstens das mit, Zamorra.« Omar Petit reichte ihm seine Dienstwaffe und eine Stablampe. Der Meister des Übersinnlichen nahm nur die Lampe. »Die Pistole brauche ich nicht. Ich habe meinen Blaster dabei.«

Jetzt stand Zamorra in der Dunkelheit, verdrängte das Gespräch mit dem Chefinspektor der Pariser Mordkommission aus seinen Gedanken. Lauschte, atmete flach, konzentrierte sich auf die Umgebung und die Finsternis. Eine Schwärze, in der etwas lauerte. Das aus dem Unsichtbaren den Professor aufmerksam musterte, ihn studierte und einschätzte, wie es ihn am einfachsten zerreißen konnte.

Zamorra drehte sich einmal im Kreis. Mit verengten Augen versuchte er etwas zu erkennen. Aber da gab es nicht einmal die Annahme von Umrissen. Diese Finsternis war nicht natürlich. Merlins Stern, das silberne Amulett das offen vor seiner Brust hing, strahlte Wärme ab, dabei vibrierte es leicht. Es hätte des Hinweises nicht bedurft, um die Nähe dämonischer Kräfte anzuzeigen.

Langsam setzte der Meister des Übersinnlichen einen Fuß vor den anderen. Er versuchte dem Greinen zu folgen. Damit rechnend, jederzeit von etwas Monströsem angegriffen zu werden.

Ein widernatürlicher Geruch stieg dem Professor in die Nase. Der Gestank von Blut, Innereien und geöffneten Körpern. Als würde er sich durch die gekachelten Räumlichkeiten eines Schlachthauses bewegen. Die Gänsehaut in Zamorras Nacken zog sich immer mehr zusammen, je tiefer er vordrang.

Irgendwo raschelte etwas. Es hörte sich an, als würden sich Flügel leicht bewegen. Wieder verhielt der Professor im Schritt. Er stand im Mittel zweier sich kreuzender Gänge. Regale aus Metall ragten um ihn auf. Gefüllt mit Kisten, Schachteln und Boxen. Direkt über ihm brannte ein Notlicht, dessen Schein kaum ausreichte, um tiefer als einen halben Meter in die sich kreuzenden Gänge vorzudringen.

»Geh weg!«, hörte Zamorra eine schwache, tränennasse Stimme aus der Finsternis dringen. Er versuchte die Richtung zu lokalisieren, da wurde er angegriffen.

Einen kurzen Moment glaubte er so etwas wie einen Schemen wahrzunehmen, mehr eine Ahnung von einem riesigen Flügel. Im nächsten Moment kippten die Hochregale mit infernalischem Lärm auf ihn herab.

Zamorra reagierte gedankenschnell. Mit einem gestreckten Hechtsprung warf er sich in den rechten Gang, rollte geschickt über die Schultern ab, nutzte den Schwung, um auf die Beine zu kommen, und rannte so schnell es die trügerische Dunkelheit zuließ. Hinter ihm lärmte und schepperte es, krachte Metall auf den Boden, wallte Staub auf und blockierten Kisten und Gegenstände die Kreuzung.

Nach zehn Metern blieb Zamorra stehen, schaltete die Stablampe ein und leuchtete den Weg zurück.

Die Staubwolke legte sich nur widerwillig, Zamorra fühlte ein Kratzen in der Kehle. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Er hatte mit einem Angriff gerechnet, nur deshalb konnte er so schnell reagieren.

In der Luft hing ein seltsames Wispern und Raunen. Automatisch glitt Zamorras Hand über das erhitzte Metall der Silberscheibe. Ein kurzer Gedankenbefehl würde genügen, um das Amulett zu aktivieren. Aber um es gegen seinen Feind einzusetzen, musste er ihm erst einmal gegenüberstehen. Und die dämonische Präsenz verbarg sich vor ihm.

»Enoch Klaerbaum!«, rief Zamorra in die Dunkelheit hinein. »Wo sind Sie? Ich bin hier, um Ihnen zu helfen!«

Zwei Sekunden später hörte Zamorra den Schrei. Irgendwo vor ihm gellte er aus dem Labyrinth.

»Nein – nicht! Geh weg! Hilfe – Hilfe ... arrrggghhh!«

Ein furchtbares Brüllen ließ die Luft vibrieren. Zamorra rannte los, das Amulett vor seiner Brust begann zu glühen wie eine Sonne. Es verdrängte die unnatürliche Finsternis, brachte das Raunen und Wispern zum Schweigen und schob wie eine magische Bugwelle helles Licht vor sich her. Es strahlte direkt aus dem mittig angebrachten Drudenfuß der Silberscheibe. Darum herum waren die Symbole des Tierkreises eingearbeitet, die von einem Ring geheimnisvoller, nicht gänzlich entschlüsselter Hieroglyphen umsäumt wurden. Jedes der rätselhaften Symbole hatte eine oder mehrere Bedeutungen. Sie waren fest in das Metall des Amuletts eingebracht, doch ließen sie sich auf zauberische Weise drücken oder verschieben. Dadurch konnte Zamorra verschiedene Aktivitäten der Zauberscheibe in Gang setzen. Eine weitere Möglichkeit, sich des Amuletts zu bedienen, bestand darin, es gedanklich zu steuern.

Keine zwanzig Sekunden später erreichte Zamorra einen kleinen Platz an der Wand. Vor dem zerschmetterten Tisch lag der blutige Körper eines alten Mannes. Boden, Wände und die Einrichtung waren von feuchten Spritzern bedeckt. In der Betondecke klaffte ein gewaltiges Loch. Der Glanz der Sterne am Nachtfirmament leuchtete herab. Ein riesiger, geflügelter Schatten schob sich davor und war eine Sekunde später verschwunden.

Eilig trat Zamorra näher. Neben dem zerschmetterten Leib lag ein aufgeschlagenes Buch mit zerrissenen Seiten. Kleine Papierfetzen klebten um den Mund des Toten. Zamorra versuchte den klagenden Blick der aufgerissenen Augen zu ignorieren. Der Lichtstrahl der Stablampe zeigte Schauriges.

Das Buch war ein gedruckter Talmud, und Enoch Klaerbaum hatte die Seiten herausgerissen, um sie zu verschlucken. Vielleicht in der Annahme, dass sie ihn vor der dämonischen Entität schützen mochte, die ihn so erbarmungslos verfolgte. Genützt hatte es ihm nichts.

Sein unmenschlicher Feind stellte das Opfer und tötete es, nicht ohne ihm vorher das Herz aus der Brust zu reißen.

Fünfundvierzig Minuten später befand sich Professor Zamorra unterwegs mit Omar Petit durch die Straßen von Paris. Der Dienstwagen des Chefinspektors der Mordkommission jagte mit blinkendem Blaulicht und Polizeisirenen durch die engen Gassen Montmatre.

In der Rue Permon bewohnte Enoch Klaerbaum ein Zwei-Zimmer-Appartement in einem Mietshaus. Es war ein heruntergekommenes Gebäude, Graffiti-Schmierereien verunzierten die Außenfassade. Klaerbaums Zimmer lagen im Hochparterre und verdienten das Wort Appartement kaum.

Klein und schmal, eine Küchenzeile in einer Nische, Bad und Klo auf der anderen Seite des Flurs.

Das Wohnzimmer bestand aus einem Sofa, einem Schrank, der eine ganze Seite einnahm und einem Fernseher. Der Tisch war winzig, der Sessel abgenutzt. In einer Glasvitrine entdeckte Zamorra Gegenstände der jüdischen Religion. Darunter eine Thora-Rolle und einen Davidsstern aus feinziseliertem Silber. Ihm war auch nicht das kleine Holzkästchen über der Wohnungstür entgangen. Eine sogenannte Mesusa, eine kleine Holzkapsel, die Texte aus dem Gebetsbuch enthielt.

Die Wohnung war winzig, aber sauber. Sie wirkte, als hätte ihr Besitzer sie nur für das Tagesgeschäft verlassen und würde bald zurückkommen.

Aber dem war nicht so. Klaerbaum wurde das Opfer eines dämonischen Verbrechens. Um den Grund dafür herauszufinden, waren sie nun hier.

»Hatte Enoch Klaerbaum Angehörige? Verwandte?«, fragte Zamorra so gelassen wie möglich. Das Bild des Toten wollte nicht aus seinem Kopf. Ein alter Mann, von einem gespenstischen Phantom getötet. Das stofflich genug war, um den Körper zu zerschmettern, das Herz aus der Brust zu reißen und durch eine halbmeterdicke Betondecke ins Freie zu brechen

Aufgetaucht war die teuflische Erscheinung im Pausenraum des Inventurpersonals. Neben Klaerbaum hielten sich noch vier weitere Personen auf, die alle einen kleinen Imbiss zu sich nahmen. Nur eine überlebte, weil sie nah genug am Eingang stand. Marie Latense, eine Reinigungskraft. Von ihr stammte auch die Schilderung, was vorgefallen war.

»Es wurde plötzlich dunkel und kalt, als würde sich etwas vor das Licht schieben. Der ganze Raum trübte sich ein. Und dann war da dieser Schatten.«

Eine phantomhafte Erscheinung, die aus dem Nichts materialisierte, der Eindruck riesiger gefiederter Schwingen, die lautlos durch die Luft strichen.

»Da war dieses überirdisch schöne Gesicht«, erzählte Marie Latense, und eine stumme Sehnsucht sprach aus ihren Worten. »Selbst die Augen, die wie rot glühende Sonnen funkelten, verströmten diesen majestätischen Glanz. Angelus. Angelus.«

Ein Engel, der den Tod brachte. Marie Latense hatte Glück, sie konnte fliehen. Ihre Kollegen wurden von Krallen zerfetzt. Enoch Klaerbaum schaffte es, bis in die Kellerräume zu flüchten. Zamorra konnte seinen Tod nicht verhindern.

Verbittert presste der Parapsychologe die Lippen zusammen und wartete auf Petits Antwort.

»Keine uns bekannten Angehörige. Klaerbaum kam vor drei Jahren aus Amerika nach Frankreich. Er führte ein unauffälliges Leben, besserte seine Rente mit dem Job im Louvre auf. Mehr ist über ihn nicht bekannt.«

»Er scheint sich sehr mit der jüdischen Religion beschäftigt zu haben.« Nachdenklich betrachtete Zamorra die Gegenstände in der Glasvitrine. »War er möglicherweise Rabbi?«

Petit blätterte mürrisch seinen Notizblock durch. In seinem linken Mundwinkel hing eine nicht angezündete Gitanes. »Davon ist nichts bekannt. Zamorra, machen Sie sich keine Vorwürfe. Manchmal verliert man einfach. Es war sowieso purer Zufall, dass Sie gerade in Paris waren, als ich Sie am Handy erreichte.«

Zamorra sagte nichts dazu, aber wer den Professor kannte, der wusste, wie sehr es in ihm nagte. Bei der Herfahrt hatte er mit Nicole telefoniert, die im Château Montagne weilte. Sie hatte sofort angeboten, nach Paris zu fliegen, aber der Parapsychologe lehnte das ab. Vorerst würde er mit Omar Petit nach allen greifbaren Informationen forschen. Sie hatten es mit einem mächtigen, aber unbekannten Gegner zu tun, und es musste einen Grund geben, warum Enoch Klaerbaum als Opfer auserkoren wurde.

Im Schlafzimmer wartete eine Überraschung auf sie.

»Parbleu!«, entfuhr es Omar Petit überrascht. Er wollte gerade einen Fuß in das Schlafzimmer setzen, als Zamorra ihn rasch zurückhielt. Der Meister des Übersinnlichen hatte blitzschnell die Situation erfasst und reagiert.

»Warten Sie«, forderte der Parapsychologe und Dämonenjäger. Mit Kennerblick musterte er den Schlafraum, der eher an eine geweihte Kammer erinnerte. Wände, Decke und Boden, selbst der gedrechselte Bettrahmen waren mit Pergamentstücken und Fetzen beklebt. Durch die verhangenen Fenster fiel kein Licht.

»Was ist das?« fragte der Chefinspektor mit verdrießlicher Miene und schob die kalte Gitanes von einem Mundwinkel in den anderen.

Zamorra wusste noch keine genaue Antwort darauf. Hunderte, tausende von Pergamentblättern in Form von Hexagrammen, manche nicht größer als ein Daumennagel, andere hatten Plakatgröße. Fein säuberlich zugeschnitten oder aus einem Pergamentbogen geduldig abgerissen. An den Kanten akribisch aneinandergefügt. Eine unglaubliche Sisyphusarbeit.

An der Decke hing über dem Bett die Darstellung des Baums des Lebens. Jedes Hexagramm enthielt in seiner Mitte einen hebräischen Buchstaben oder ein kabbalistisches Zeichen. Für den Betrachter ergab sich so das stimmige Bild eines zusammengesetzten Puzzles. Das Werk eines wirren Geistes.

Und doch steckte Methode dahinter. Zamorras Augen verengten sich, als er etwas entziffern konnte. Die hebräische Schrift war ihm nicht unbekannt, er wusste auch, dass jüdisches Pergament aus der Haut eines koscheren Tieres stammte und die schwarze Tinte aus dem Extrakt von Gallapfelsaft und Gummi hergestellt wurde.

Wenn diese Voraussetzungen auch hier zutrafen, kam dem Werk eine große zeremoniell-magische Bedeutung zu.

Er entzifferte ein schräg nach unten stehendes Wort aus mehreren unterschiedlich großen Hexagrammen.

»Adonai«, flüsterte er begreifend. Und dort entdeckte er ein weiteres verdecktes Wort. Wenn er sich darauf konzentrierte, ergaben die hebräischen Buchstaben die Namen des jüdischen Gottes.

»Ein Tetragrammaton«, sagte Professor Zamorra anerkennend. »In diesen Hexagrammen sind die Rufnamen Gottes verborgen.«

Petit sah den Professor verständnislos an. »Geht das auch etwas genauer? Für mich sieht das alles nach dem Werk eines Verrückten aus. Schwere Paranoia.«

Zamorra schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, hier wurde mit Bedacht und Überlegung gearbeitet. Klaerbaum hat sich eine Art magische Schutzkammer eingerichtet.«

Mit skeptischem Blick betrachtete der Chef der Mordkommission die beschrifteten Pergamente. »Ein kabbalistischer Panik-Room?«