Gespräche mit Hitler - Hermann Rauschning - E-Book

Gespräche mit Hitler E-Book

Hermann Rauschning

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Beschreibung

(...) Rauschning war viel zu sehr praktischer Politiker, als daß es ihm mit dem Buch auf simple Hitler-Philologie angekommen wäre; tatsächlich wollte er damit wirken, aufrütteln. In diesem Sinne ist auch Schieders Charakterisierung des Buches zu verstehen, die Hänel in seinem zitierten Resüsmee verballhornt hat: daß das Buch "in erster Linie eine Kampfschrift und keine Programmschrift" war; so hat immer noch sein an gleicher Stelle geäußertes Urteil Bestand, daß die 'Gespräche mit Hitler' "ein Dokument von unbezweifelbarem Quellenwert insofern (sind), als die Deutungen enthalten, die aus unmittelbarer Einsicht erwachsen sind." Es bleibt zu hoffen, daß diese Ausgabe ihren Teil dazu beitragen kann, eine neuerliche Beschäftigung mit Rauschning und seinen 'Gesprächen mit Hitler' anzuregen. Denn das Schicksal, vergessen oder als 'Fälschung' abgetan zu werden, hat das Buch sicherlich nicht verdient. (Marcus Pyka, aus Zur Einführung) " Dieser Weltumsturz, das ist das Ziel des jetzt begonnenen Krieges. Es ist Hitlers Überzeugung, daß es nur dieses einen siegreichen Krieges bedarf, um die Erde nach seinem Willen neu zu ordnen. Ein phantastischer Gedanke. Aber die falsche Schöpferkraft der Hysterie vermag vielleicht eines: die Welt in Trümmer zu schlagen.§ (Hermann Rauschning)

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Hermann Rauschning

 

Gespräche mit Hitler

 

 

Mit einer Einführungvon Marcus Pyka

 

Mit dem Schlusskapitel»Hitler privat«

 

 

 

 

Nachdruck der ungekürzten Erstfassung, Europa Verlag AG Zürich 1940

 

 

 

 

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

 

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

 

© dieser Ausgabe Europa Verlag AG Zürich, 2005 Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch) und Verbreitung, der elektronischen Speicherung auf Datenträgern oder in Datenbanken, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

 

www.europa-verlag.ch

 

Umschlaggestaltung: Bayerl & Ost

E-Book Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

ISBN 3-85665-515-8

Markus Pyka: Zur Einführung

Marcus PykaZur Einführung

 

Habent sua fata libelli. Doch nicht viele Werke aus der Zeit des Nationalsozialismus haben eine so bewegte Rezeptionsgeschichte erfahren wie Hermann Rauschnings Gespräche mit Hitler. Anfangs galt dieses zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erstmals veröffentlichte Buch als eine höchst wertvolle Quelle, da sich hier schon in einem frühen Zeugnis die menschenverachtenden Pläne und Vorstellungen Adolf Hitlers und seines Regimes offenbarten. Die Fachwissenschaft der ersten Nachkriegsjahrzehnte äußerte dann zwar Zweifel an der Authentizität des Wortlauts, nicht jedoch am Inhalt als solchem. Erst in den 1980er Jahren wurden massive Vorwürfe gegen das Werk sowie gegen dessen Verfasser vorgebracht. In diesem Licht erschienen die Gespräche mit Hitler nun als dreiste »Geschichtsfälschung«, sie wurden als »dümmlich« verschrien, die einzigen Gründe für ihre Entstehung seien Geltungssucht und Geldgier gewesen, kurz: Rauschning sei nichts anderes als ein »Hochstapler«.[1] Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hat sich diese Deutung durchgesetzt, jüngere Veröffentlichungen zu Hitler greifen nicht mehr auf Rauschning zurück. Und auch bei der Frage, inwieweit und ob überhaupt der Emigrant Rauschning dem Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zuzurechnen sei, spielt jene Deutung eine entscheidende Rolle — die Antwort lautet in den meisten Fällen kategorisch »nein«, was sich daran zeigt, daß der Autor der Gespräche mit Hitler schlicht nicht beachtet wird.[2] Gleichwohl gibt es einige, bislang zu wenig oder gar nicht berücksichtigte Quellen und Fragestellungen, die das Bild von Hermann Rauschning zu differenzieren vermögen. Zudem bieten neuere Forschungen, die insbesondere seine Beziehungen zu Polen und seine Tätigkeit in der Emigration stärker berücksichtigen, wichtige neue Einsichten. Da jedoch immer noch keine umfassende Biographie Rauschnings vorliegt, soll im Rahmen dieser Einführung ein Überblick über Leben und Werk Rauschnings auf der Grundlage dieser neueren Forschungsergebnisse gegeben werden. In einem weiteren Schritt wird dann die Geschichte des Werkes skizziert und schließlich seine Rezeption beleuchtet werden. Denn daß sich eine neuerliche Beschäftigung mit dem Mann, der 1939/40 so eindrücklich Hitler dargestellt hat, nicht bloß aus antiquarischem Interesse lohnt, möchte die Neuausgabe dieses in der deutschen Ausgabe lange vergriffenen Buches zeigen.

 

Hermann Rauschnings Zusammenkünfte mit Hitler zwischen 1932 und 1934 waren unter formalen Gesichtspunkten betrachtet >internationale< Begegnungen: zunächst Treffen von Parteiführern aus unterschiedlichen Staaten; dann — nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und der Wahl Rauschnings zum Danziger Senatspräsidenten im Mai desselben Jahres — sogar Staatsbesuche. Gleichzeitig aber waren es auch parteiinterne Treffen, waren doch beide Männer Nationalsozialisten — mit Hitler als dem unbestrittenen Kopf der Partei. Der >Staatsgast< Rauschning war auf dieser Ebene nichts anderes als ein Untergebener und Befehlsempfänger. Den Hintergrund für diese vielschichtige Situation stellten die besonderen Konstellationen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg dar.[3] Danzig, das seit Jahrhunderten immer wieder wechselnde Oberhoheiten erlebt hatte, war im Friedensvertrag von Versailles 1919 aus dem deutschen Staatsverband herausgelöst worden. Man erklärte es zur Freien Stadt und internationalisierte es damit gleichsam: Politisch war der Stadtstaat zwar weitgehend eigenständig, gehörte aber zum polnischen Wirtschafts- und Zollgebiet. Als eine Art Oberaufsicht fungierte der Völkerbund, vertreten durch einen Hochkommissar. Dieser Kompromiß hatte freilich eine Situation geschaffen, mit der keiner der beiden Nachbarstaaten zufrieden sein konnte. Danzig war ein Krisenherd und folglich im aufgeheizten Klima der 1920er Jahre Dauerthema. Die deutsche Zielsetzung war dabei identisch mit derjenigen der überwältigenden Mehrheit der Danziger: Revision der Versailler Bestimmungen und Rückeingliederung der Stadt ins Deutsche Reich. Dieser Grundkonsens erstreckte sich ursprünglich auf alle Parteien des — mit dem reichsdeutschen weitgehend deckungsgleichen —politischen Spektrums innerhalb der Freien Stadt. Mit der Weltwirtschaftskrise und dem deutsch-polnischen Handelskrieg Ende der 1920er Jahre erkannten die meisten Danziger Parteien jedoch, daß eine einfache revisionistische Haltung inzwischen an den Realitäten vorbeiging, und orientierten sich um. Die NSDAP hingegen wurde unter der Führung ihres Gauleiters Albert Forster mehr und mehr zur radikalen Vertreterin des Bestrebens nach >Anschluß< und konnte überdies die immer stärker verarmten mittelständischen und agrarischen Wählerschichten gewinnen. Bei den Wahlen im Mai 1933, knapp vier Monate nach der >Machtergreifung< Hitlers im Reich, errang die NSDAP (mit Hilfe gewalttätiger Ausschreitungen) die absolute Mehrheit im Danziger Volksrat und konnte erstmals den Senatspräsidenten stellen: ihren Agrarexperten Hermann Rauschning.

 

Der somit zum Regierungschef Gewordene lebte erst seit sieben Jahren auf Danziger Gebiet. Geboren war Rauschning 1887 im seinerzeit westpreußischen Thorn (dem polnischen Toruri).[4] Er entstammte einer alten preußischen Gutsbesitzerfamilie, deren militärische Tradition weit zurückreichte: Ein Urgroßvater kämpfte etwa als Rittmeister in den Befreiungskriegen gegen Napoleon, sein Großvater mütterlicherseits war 1908 einer der wenigen Offiziere, die bei der brutalen Vernichtung der Herero in Südwestafrika gefallen waren. Im Ersten Weltkrieg erreichte dessen Enkel, selbst Sohn eines Berufsoffiziers, den Offiziersrang, bevor er schwer verwundet wurde. Nachdem der Krieg verloren war, wurde nicht nur Danzig abgetrennt, es fielen laut Versailler Vertrag außerdem die Provinzen Westpreußen und Posen an den wiedererrichteten polnischen Staat. Bald kam es in diesen Gebieten zu Spannungen zwischen Polen und Deutschen. Rauschning arbeitete zu dieser Zeit als Leiter der Deutschen Bücherei in Posen und engagierte sich in verschiedenen Organisationen zur Pflege und Förderung der deutschsprachigen Kultur in den nun polnischen Provinzen. Im Zuge der sich zuspitzenden Spannungen in der Region verließ er Polen und ließ sich im Danziger Warnau an der Nogat als Landwirt nieder.[5] Er machte mit seinem rhetorischen Talent und seinen intellektuellen Fähigkeiten rasch Karriere im dortigen Bauernverband und nach seinem Parteieintritt 1932 ebenso in der NSDAP: Binnen kurzem stieg er zum 55-Standartenführer und stellvertretenden Gauleiter auf. Gleichwohl stach Rauschning von den übrigen nationalsozialistischen Funktionären dieser frühen Zeit deutlich ab. Dies sollte noch wenige Jahre später etwa dem Schweizer Carl Jacob Burckhardt auffallen, der als letzter Hochkommissar den Völkerbund in Danzig vertrat. Rauschning sei, so Burckhardt, »nicht nur ein sehr überlegener Kopf, sondern ein Mann von hoher Bildung, und wenn man mit einem seiner Mitarbeiter spricht, befindet man sich in einem Klima, das von demjenigen, in dem man hier zu atmen gewohnt ist, sich sehr verschieden zeigt.«[6]

In der Tat hatte Rauschning für einen Danziger NS-Funktionär dieser Zeit einen eher ungewöhnlichen Hintergrund. Zwar war er als Junge auf die preußische Kadettenschule gegangen, konnte jedoch aufgrund eines Herzfehlers keine militärische Laufbahn einschlagen. Statt dessen studierte er ab 1906 Germanistik, Geschichte und Musikwissenschaft, zunächst in München, später in Berlin. Promoviert wurde er 1911 mit einer Arbeit über die Danziger Musikgeschichte.[7]

Doch unterschied sich Rauschning nicht allein hinsichtlich seiner schöngeistigen Interessen von seinen Kollegen in der Führung der Danziger NSDAP, sondern auch in einigen zentralen Aspekten seiner Politik. Denn während etwa Gauleiter Forster in erster Linie Nationalsozialist und somit ganz und gar auf Hitler fixiert war[8], hatte der stellvertretende Gauleiter Rauschning durchaus seinen eigenen Kopf. Dies zeigte sich etwa bei Fragen der Wirtschaftspolitik, was der Auslöser seines Sturzes werden sollte. Daneben betrachtete Rauschning einen Ausgleich mit Polen als ein politisches Ziel von eigenem Wert, und auch mit der nationalsozialistischen Rassenideologie konnte er wohl nur bedingt etwas anfangen. Rauschning legte in dieser Beziehung eine mitunter groteske Verkennung der Realitäten an den Tag, etwa als er im Vorfeld der Volkstagswahlen feststellte, daß die Danziger NSDAP »nicht judenfeindlich« sei.[9] Theodor Loevy, der als Redakteur des Danziger Echos enger mit dem Senatspräsidenten zusammengearbeitet hatte, charakterisierte ihn nach dem Krieg denn auch als »ausgesprochen >falsche[n] Nazi<« — zwar sei seine persönliche Agenda damals >national< und >sozial< gewesen, doch ungeachtet solcher weltanschaulicher Nähe zum Nationalsozialismus trennte ihn die politische Praxis mehr und mehr von seinen Parteigenossen. Unglücklicherweise aber, so spottete nach dem Krieg der Journalist, sei Rauschning »— als gelernter Landwirt und praktizierender Musiktheoretiker — ein zwar eigenwilliger, aber auch reichlich konfuser politischer Dilettant« gewesen.[10] Das Scheitern von Rauschnings Plänen war vorprogrammiert. Im Herbst 1934 entbrannte zwischen Rauschning und Forster ein offener Konflikt um die Vorherrschaft in Danzig und innerhalb der Danziger NSDAP, den der Senatspräsident verlor. Doch schied er nicht geräuschlos aus dem Amt, sondern provozierte einen Eklat, bei dem seine eigene Fraktion im Volkstag einen Mißtrauensantrag gegen ihn stellte, wodurch der Konflikt öffentlich wurde: Am 22. November desselben Jahres mußte er zurücktreten, wurde kurz darauf aus der Partei ausgeschlossen und verlor 1938 schließlich auch die Danziger Staatsbürgerschaft.

Wenngleich er Danzig nicht direkt nach seinem Rücktritt verließ, begann doch schon bald für ihn das Wanderleben des Exilierten. Zunächst fand er in seiner mittlerweile polnischen Geburtsstadt Toruri/ Thorn freundliche Aufnahme.[11] Hier entstand neben einer Reihe von Zeitungsbeiträgen mit seinem Hauptwerk Die Revolution des Nihilismus eine der ersten systematischen und tiefschürfenden Analysen des Nationalsozialismus überhaupt.[12] Bald reiste Rauschning immer wieder nach Österreich, in die Schweiz und nach Westeuropa, um dort Kontakte zu den sich formierenden Emigrantenkreisen zu knüpfen. Als nach dem >Anschluß< Österreichs und der Besetzung Prags der Weg von Polen in den Westen für einen Emigranten immer mühsamer wurde, entschloß sich Rauschning, nach Paris und später nach London überzusiedeln.

 

Mit dem sich immer deutlicher abzeichnenden Konfliktkurs der deutschen Außenpolitik gegenüber Polen, stieg auch die Nachfrage nach Rauschning als kompetentem Kommentator. Während der Sommermonate 1939 arbeitete er in Paris an den Gesprächen mit Hitler. Sie erschienen nach Ausbruch des Krieges, im Dezember des Jahres zuerst in Paris auf französisch: vorab im Paris Soir, dann in Buchform. Diese Ausgabe war ebenso rasch vergriffen wie die im folgenden Januar 1940 erschienene deutschsprachige Ausgabe. Neben seiner Aktualität begünstigte der Stil des Buches seinen Sensationserfolg: Rauschning hatte die Form wörtlicher Rede Hitlers im Wechsel mit paraphrasierenden und kommentierenden Beschreibungen gewählt. Das wirkte nicht bloß sehr anschaulich und pointiert, aus der Feder eines Insiders stammend, sondern evozierte überdies den Eindruck von Authentizität. Da Rauschning die holzige und überladene Rhetorik des deutschen Führers dramatisch kondensierte und mitunter gar sentenzenhaft zusammenfaßte, war das Werk ungleich lesbarer als alles, was bis dahin von Hitler selbst bekannt geworden war.[13]

 

Den Regierungen Großbritanniens und Frankreichs war das Buch hochwillkommen für die eigene Propaganda; das französische Informationsministerium finanzierte sogar eine Kurzausgabe. Zahlreiche Übersetzungen folgten binnen weniger Monate, unter anderem ins Englische, Schwedische, Hebräische und Spanische sowie 1944 auch ins Italienische. 1940 war überdies eine amerikanische Bearbeitung der Textvorlage erschienen.[14]

Dem deutschen Regime war diese immense Wirkung nicht entgangen. Propagandaminister Joseph Goebbels geiferte, Rauschning sei der »gemeinste Propagandist auf der Gegenseite«, ja der geschaßte Danziger Vize-Gauleiter erschien ihm nun sogar als »raffiniertester und gefährlichster Propagandagegner«, der in seinem Buch »sehr geschickt Wahrheit und Dichtung« miteinander verbunden habe.[15] Und während Berlin zunehmend Druck auf die Schweizer Behörden ausübte, die Gespräche mit Hitler zu verbieten, und in besetzten oder befreundeten Staaten auf Konfiskationen der Buchausgaben drängte, sammelte das Propagandaministerium Material, um die Glaubwürdigkeit von Rauschnings Darstellungen zu erschüttern –eine entsprechende Publikation unterblieb jedoch.16[16] Die diplomatischen Bemühungen hatten hingegen Erfolg: Bereits die erste deutschsprachige Ausgabe 1940 war in vorauseilendem Gehorsam nur in abgeschwächter Form und ohne das abschließende Kapitel (»Hitler privat«) in Druck gegangen. Schließlich konnte dem steten Drängen aus Berlin und den Befürchtungen der Schweizer Regierung auch mit weiteren Kürzungsvorschlägen des Verlages nicht mehr begegnet werden: Eine noch für dasselbe Jahr geplante dritte Auflage wurde verboten.[17]

In der Nachkriegszeit wurde der Quellenwert der Gespräche mit Hitler weiterhin sehr hoch eingeschätzt, gelegentlich wurden sie in der Geschichtswissenschaft sogar mit Hitlers Mein Kampf auf eine Stufe gestellt.[18] Zu dem Renommee von Rauschnings Werk trug nicht zuletzt jene Passage bei, der zufolge sich Hermann Göring seiner Verantwortung für den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 gebrüstet und dröhnend seiner ausschließlichen Ergebenheit gegenüber Hitler Ausdruck verliehen hatte: »Ich habe kein Gewissen. Mein Gewissen heißt Adolf Hitler.«[19]

Die nationalsozialistische Gerichtsbarkeit hatte seinerzeit den jungen Holländer Marinus van der Lubbe als Täter verurteilt und hingerichtet, nicht ohne ihn als ausführende Hand einer >bolschewistischen Verschwörung< hinzustellen. Der Brand bot der NSDAP einen willkommenen Vorwand, vor den entscheidenden Reichstagswahlen im März des Jahres die Grundrechte außer Kraft zu setzen und vor allem die kommunistische Opposition auszuschalten. Nicht zuletzt aufgrund dieser so überaus auffälligen >Koinzidenz< hielt sich hartnäckig das Gerücht, der Brand sei ein durch Göring inszeniertes Fanal gewesen, um der NSDAP schon vor den Wahlen eine unanfechtbare Machtposition zu sichern. Rauschnings Ausführungen boten hierfür den bestmöglichen Beweis; dementsprechend wurde sein Buch von der sowjetischen Anklage in den Nürnberger Prozessen ins Spiel gebracht. Und es waren ebendiese Ausführungen, die Fritz Tobias auf den Plan riefen. Der hannoversche Oberregierungsrat Tobias, der nach eigener Angabe von den Nationalsozialisten als Sozialdemokrat verfolgt worden war, hatte nämlich auf breiter Quellenbasis »Legende und Wirklichkeit« des Reichstagsbrandes dargestellt und sich dabei auf die Fahnen geschrieben, die Alleintäterschaft van der Lubbes nachzuweisen. Die von Rauschning zitierte Aussage Görings war dementsprechend geeignet, Tobias' Täterthese zu widerlegen, oder aber sie mußte erfunden sein. Da Tobias letzteres annahm, erschien ihm in der Folge die »Wahrheit« des ganzen Werkes zweifelhaft. Tobias' Urteil über die Urheberschaft des Reichstagsbrandes fand in dem bedeutenden Zeithistoriker Hans Mommsen einen maßgeblichen Unterstützet Jene These der Alleintäterschaft kam schließlich Mommsens grundlegender »funktionalistischer« Interpretation des nationalsozialistischen Staates als polykratischem, gleichsam chaotischem Kompetenzenwirrwarr mit Hitler als einem bloß »schwachen Diktator« an der Spitze sehr entgegen. In der Zwischenzeit ist zwar diese Gesamtdeutung Mommsens in differenzierteren Bewertungen aufgegangen, dennoch vermag sich die These von der alleinigen Täterschaft van der Lubbes ungeachtet gewichtiger Einwände als Stand der Forschung behaupten.[20]

 

Als noch wirkungsmächtiger haben sich Tobias' generelle Zweifel hinsichtlich des Wahrheitsgehalts von Rauschnings Darstellung erwiesen. Durch diese weitete Tobias die Kritik aus, die bislang im wesentlichen an der Authentizität der vermeintlichen Hitler-Zitate geübt worden war; gleichwohl ging es hierbei immer nur um den konkreten Wortlaut, nicht um den Inhalt. Mit den seit dem Zweiten Weltkrieg allmählich auftauchenden weiteren Quellen zu Hitlers Weltanschauung konnte sich die Fachwissenschaft von Rauschnings quellenkritisch heiklem Text lösen. Größeres Befremden erregte lediglich der Abdruck des 1940 weggelassenen Kapitels »Hitler privat« in der Studie zum Quellenwert der Gespräche mit Hitler von Theodor Schieder, des Doyens der deutschen Geschichtswissenschaft dieser Jahre. Rauschnings wenig ehrfurchtgebietende Darstellung eines dem Wahn mitunter nahen und als Persönlichkeit farblosen Hitlers erschien in ihrer konzentrierten Form als »Zumutung«.[21] Schieder selbst hatte sich bemüht, zu einer differenzierten Bewertung der Schrift zu gelangen, auf die gegen Ende nochmals zurückzukommen sein wird.

Die subtile Studie des Kölner Historikers rief nun wiederum die Gegner der Rauschningschen Gespräche mit Hitler auf den Plan. Angeregt und gefördert durch Fritz Tobias trat wenige Jahre nach Erscheinen von Schieders Studie Wolfgang Hänel zu einem dezidierten Fälschungsnachweis des Buches an.[22] In seiner Arbeit zeigte der Schweizer Geschichtslehrer zahlreiche Zitate und Ähnlichkeiten auf, die der Text etwa mit Mein Kampf, Rauschnings Revolution des Nihilismus und anderen Quellen gemein hatte. Als entscheidender Trumpf diente Hänel der Kontakt zu dem Presseagenten und Rauschnings erstem Verleger Imre Revesz (der sich dann im amerikanischen Exil Emerey Reves nannte). 1981, also 42 Jahre nach der Entstehung von Rauschnings Buch, war es zu zwei Telefonaten und zu einem längeren Interview von Hänel mit Reves gekommen, deren Tonbandprotokolle der Forscher als Hauptquelle für seine Entstehungsgeschichte der Gespräche mit Hitler nutzte. Reves hatte behauptet, das Buch sei im wesentlichen seine Idee gewesen, auf die hin der ehemalige Danziger Senatspräsident binnen kürzester Zeit einen Text kompiliert habe, der wiederum von verschiedenen anderen Personen überarbeitet und in Form gebracht worden sei. Dafür habe Rauschning »mehr Geld, als irgendein Autor jemals für ein Buch in Frankreich bekommen«.[23] Hänels Umgang mit Reves' Aussagen entsprach allerdings in keiner Weise wissenschaftlichen Maßstäben der Quellenkritik — auch nicht jenen, die er selbst an Rauschnings Gespräche mit Hitler anlegte. Er konfrontierte nicht einmal den erst 1982 in Portland/Oregon verstorbenen Rauschning selbst mit seinen neuen Ergebnissen.

Ein Artikel in der Zeit rückte Hänels allerdings an ziemlich obskurer Stelle erschienene Schrift in das Licht einer breiten Öffentlichkeit. Obwohl besonders die methodischen Vorbehalte umgehend geäußert wurden, blieb das Werk nicht ohne Wirkung. Vor allem sein Resümee, daß es sich bei den Gesprächen mit Hitler um »nichts weiter als eine Propaganda->Kampfschrift<« handele, sowie seine Strategie, nicht bloß den Quellenwert des Textes, sondern auch den Autor moralisch zu diskreditieren, setzte sich durch.[24] Allerdings erfolgte die Rezeption dieser Einschätzung von Rauschnings Buch nicht direkt.

Ende der 1980er Jahre erschien in einem Sammelband zu Fälschungen wiederum von Fritz Tobias ein eher gehässig als wissenschaftlich zu nennender Text zu den Gesprächen mit Hitler. Hierin stützte er sich ganz offenkundig auf Hänels Arbeit, ohne jedoch dessen Vorarbeiten überhaupt nur zu erwähnen. Ohne eine genauere Diskussion und in nochmaliger Vergröberung der Behauptungen Hänels, stellte Tobias fest: »Alle, aber auch alle dieser angeblichen Gespräche mit Hitler waren frei erfunden; ihr Inhalt war nachträglich zusammengestümpert worden. Mit einem Wort: Die Gespräche waren samt und sonders Fälschungen!«[25] Auch der Politikwissenschaftler Eckhard Jesse schloß sich dieser letztlich auf Tobias' Reichstagsbrand Interpretation basierenden Haltung zu Rauschnings Bestseller an, wenngleich in sachlicherem Ton. Die in beiden Beiträgen vertretene Wertung wurde zur opinio communis.[26]

 

Das vielleicht größte Problem bei dieser bislang unglücklich verlaufenen Debatte dürfte wohl die Fixierung auf die »Authentizität« der Hitler-Zitate sein — völlig zu Recht hat Schieder in seiner Rauschning-Studie von der gewaltigen »Faszination des Unmittelbaren, Authentischen« in der Geschichte gesprochen: Allein, mit einem simplen >echt< oder >gefälscht< kommt man hier nicht weit. Denn wenngleich Rauschning selbst in der Einleitung zur deutschen Ausgabe geschrieben hatte: »Diese Gespräche mit Hitler sind authentisch« und sich sogar auf entsprechende Notizen berufen konnte, so schrieb er doch auch kurz darauf: »Vieles kann als nahezu wörtliche Wiedergabe gelten.«[27] >Authentisch< meint also nur sehr eingeschränkt >wörtliche Wiedergabe<; ohne einen Tonbandmitschnitt war eine solche bei dem abschweifenden und endlos monologisierenden Redestil Hitlers ohnehin schier unmöglich.[28] Die Problematik relativiert sich umgehend, sobald man den Text als Erinnerungs- oder Memoirentext liest, ein Ansatz, dessen Wert durch neuere Archivfunde und subtilere Fragestellungen bestätigt wird. In der älteren Forschung war es im wesentlichen Schieder gewesen, der die Frage nach dem Genre der Gespräche mit Hitler bei seiner Untersuchung reflektierte.[29] Auch in einer solchen Lesart bieten die Gespräche eine höchst bemerkenswerte und luzide zeitgenössische Analyse von Hitlers Persönlichkeit und Weltanschauung. Dem konnte sich anscheinend Hitler selbst nicht ganz entziehen, soll er doch über die Gespräche mit Hitler gesagt haben, daß »vieles darin sowohl richtig wie auch falsch zugleich [sei]. Es sei nämlich wohl von ihm gesagt, wirke aber aus dem Zusammenhang gerissen völlig anders.«[30] Rauschning war viel zu sehr praktischer Politiker, als daß es ihm mit dem Buch auf simple Hitler-Philologie angekommen wäre; tatsächlich wollte er damit wirken, aufrütteln. In diesem Sinne ist auch Schieders Charakterisierung des Buches zu verstehen, die Hänel in seinem zitierten Resümee verballhornt hat: daß das Buch »in erster Linie eine Kampfschrift und keine

Programmschrift« war; so hat immer noch sein an gleicher Stelle geäußertes Urteil Bestand, daß die Gespräche mit Hitler »ein Dokument von unbezweifelbarem Quellenwert insofern [sind], als sie Deutungen enthalten, die aus unmittelbarer Einsicht erwachsen sind.«[31]

Es bleibt zu hoffen, daß diese Ausgabe ihren Teil dazu beitragen kann, eine neuerliche Beschäftigung mit Rauschning und seinen Gesprächen mit Hitler anzuregen. Denn das Schicksal, vergessen oder als >Fälschung< abgetan zu werden, hat das Buch sicherlich nicht verdient.

[1] Wolfgang Hänel, Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler«. Eine Geschichtsfälschung. Überarbeitete Fassung des ungekürzten Vortrages auf der Tagung der Zeitgeschichtlichen Forschungsstelle Ingolstadt am 14. Mai 1983, Ingolstadt 1984; Fritz Tobias, »Auch Fälschungen haben lange Beine. Des Senatspräsidenten Rauschnings »Gespräche mit Hitler«, in: Karl Corino (Hrsg.), Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik [1988], 2. Aufl. Frankfurt/Main 1996, S. 91-105, Zitat S. 97; ähnlich, wenn auch im Ton gemäßigter, ist Eckhard Jesse, »Hermann Rauschning — Der fragwürdige Kronzeuge«, in: Ronald Smelser/Enrico Syring/Rainer Zitelmann (Hrsg.), Die Braune Elite IL 21 weitere biographische Skizzen, Darmstadt 1993, S. 193-205; Stephan Porombka, Felix Krulls Erben. Die Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 92-96.[2] Vgl. die Forschungsüberblicke in Pia Nordblom/Jürgen Hensel, »Einleitung«, in: dies. (Hrsg.), Hermann Rauschning. Materialien und Beiträge zu einer politischen Biographie, Warschau 2002, S. 7-48, hier S. 7-17; Theodor Schieder, Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler« als Geschichtsquelle, Opladen 1972, S. 29-35, sowie Gerhard Schreiber, Hitler. Interpretationen 1923-1984, Darmstadt 1984, S. 144-148.[3] Vgl. Berndt-Jürgen Wendt, »Danzig — Ein Bauer auf dem Schachbrett nationalsozialistischer Außenpolitik«, in: Manfred Funke (Hrsg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf 1977, S. 774-794.[4] Allgemein zu Rauschning vgl. Hans Wolfram von Hentig, s. v. »Hermann Rauschning«, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. XXI, Berlin 2003, S. 212f., sowie die Beiträge in dem ausgezeichneten Sammelband von Pia Nordblom/Jürgen Hensel, Hermann Rauschning. Materialien und Beiträge zu einer politischen Biographie, a. a. O., der auch die allzu lange vernachlässigten polnischen Arbeiten zu Rauschning zugänglich macht.[5] Vgl. Dariusz Matelski, »Hermann Rauschning in Posen 1920-1926«, in: Pia Nordblom/Jürgen Hensel, Hermann Rauschning. Materialien und Beiträge zu einer politischen Biographie, a. a. O., S. 61-69.[6] Brief vom 16.7.1937 von Carl Jacob Burckhardt an F. Walters in Genf; zitiert nach Carl J. Burckhardt, Meine Danziger Mission, München 1960, S. 112.[7] Hermann Rauschring, Musikgeschichte Danzig. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde, Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin (Tag der Promotion: 30. März 1911). In demselben Jahr veröffentlichte Rauschning lediglich das vierte Kapitel über »Die Anfänge des öffentlichen Konzertwesens«, das gesamte Buch erschien erst 1931 in überarbeiteter Fassung unter dem Titel Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig. — Vgl. hierzu Karla Neschke, »Der Musikwissenschaftler Hermann Rauschning«, in: Pia Nordblom/Jürgen Hensel, Hermann Rauschning. Materialien und Beiträge zu einer politischen Biographie, a. a. O., S. 49-60.[8] Anschaulich und mit Abscheu charakterisiert von Carl Jacob Burckhardt, Meine Danziger Mission, a. a. O., S. 34-37 und 75-78.[9] Vgl. Grzegorz Berendt, »Die Judenfrage in der Freien Stadt Danzig und die Rolle Hermann Rauschnings 1933-1934«, in: Pia Nordblom/Jürgen Hensel, Hermann Rauschning. Materialien und Beiträge zu einer politischen Biographie, a. a. O., S. 71-89, Zitat S. 75.[10] Theodor Loevy, »Zum Thema: Widerstand der Danziger Juden«, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 34 (1969), S. 190ff., Zitate S. 191.[11]

Als er 1936 endgültig aus Danzig fliehen mußte, verdankte er seine Flucht bemerkenswerterweise dem polnischen Generalkommissariat, mit dessen Hilfe er unerkannt über die Grenze nach Polen fliehen konnte, wo er jenen Schutz erhielt, wie er einem ehemaligen Staatsoberhaupt protokollarisch zustand und für einen so hochkarätigen Flüchtling aus dem nationalsozialistischen Machtbereich wohl auch notwendig gewesen sein dürfte. Hierzu und zum Folgenden vgl. Jürgen Hensel, »Rauschnings politisches Itinerar vom Juli 1935 bis zum Mai 1940.

Versuch einer Rekonstruktion«, in: ders./Pia Nordblom, Hermann Rauschning. Materialien und Beiträge zu einer politischen Biographie, a. a. O., S. 123-150, hier S. 138f., S. 127ff. sowie passim.

[12] Die immer noch gründlichste Studie zu Rauschnings Hauptwerk ist Wolfram Ender, Konservative und rechtsliberale Deuter des Nationalsozialismus, 1930-1945. Eine historisch-politische Kritik, Diss., Freiburg 1984, S. 81-137 mit S. 311-336.[13] Zum Stil der Gespräche vgl. auch Pia Nordblom, »Wider die These von der bewussten Fälschung. Bemerkungen zu den >Gesprächen mit Hitler<«, in: Pia Nordblom/Jürgen Hensel, Hermann Rauschning. Materialien und Beiträge zu einer politischen Biographie, a. a. O., S. 151-174, hier S. 153 (zudem in Fußnote 8) sowie S. 154 mit einer Reihe von zeitgenössischen Reaktionen. Eher skeptisch reagierten Teile der deutschen Emigranten, aus deren Reihen Rauschning kritisiert wurde; der Sozialdemokrat Friedrich Stampf er etwa hieß ihn einen »Sensation-Schriftsteller niederer Art [...], [der] Wahrheit und Dichtung stark durcheinandermischt«; zit. nach ebd., S. 154.[14]

Vgl. den Überblick bei Schieder mit dem Hinweis, daß Rauschning Vorbehalte gegen die amerikanische Ausgabe gehabt habe; Theodor Schieder, Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler« als Geschichtsquelle, a. a. O., S. 29-35,

S. 9, Fußnote 2.

[15] Tagebucheinträge vom 13.2., 18.2. und 14.3.1940, in: Elke Fröhlich (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I: Aufzeichnungen 1923-1941, Bd. 7: Juli 1939—März 1940 (bearb. von Elke Fröhlich), München 1998, S. 307, 314 und 348. — Über den Quellenwert der Goebbelschen Tagebücher insbesondere in dieser Edition ist zuletzt eine eigene Kontroverse entbrannt. An dieser Stelle kann nur kurz auf die besondere quellenkritische Problematik und die unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten von >Authentizität< gerade in der zeitgeschichtlichen Forschung hingewiesen werden.[16] Vgl. Theodor Schieder, Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler« als Geschichtsquelle, a. a. O., S. 16ff.[17] Zu diesem Vorgang eingehend vgl. Peter Stahlberger, Der Zürcher Verleger Emil Oprecht und die deutsche politische Emigration 1933-1945, Zürich 1970, S. 282-286. — Das Kapitel »Hitler privat« erschien auf deutsch erstmals 1972 in einer regulären Ausgabe als Anhang zu Schieders Studie Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler« als Geschichtsquelle, a. a. O., S. 80-86, und dann in der Neuausgabe der Gespräche mit Hitler von 1973, S. 272-279.[18] Zusammen mit dem >Zweiten Buch< Hitlers von dessen Herausgeber, Gerhard L. Weinberg; vgl. Pia Nordblom, »Wider die These von der bewussten Fälschung. Bemerkungen zu den Gesprächen mit Hitler«, a. a. O., S. 155.[19] Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler [1940], S. 76f., Zitat S. 77. — Zu diesem Zitat vgl. den Leserbrief Rauschnings an den Spiegel in Heft 52 vom 23.12.1959, S. 47, sowie die Rezension einer Neuausgabe der Gespräche mit Hitler und der Schiederschen Studie von Eberhard Kessel, in: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 492-496, hier v. a. S. 496.[20] Zu den Auseinandersetzungen zwischen >Intentionalisten< und >Funktionalisten< vgl. zusammenfassend Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich, 6. neubearbeitete Aufl. München 2003, S. 221-233, sowie Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, 3. Aufl. Reinbek 2002, S. 112147. — Zum Reichstagsbrand vgl. Fritz Tobias, Der Reichstagsbrand. Legende und Wirklichkeit, Rastatt/Baden 1962, hier zu Rauschning v. a. S. 239-244; die sich daran anknüpfende Diskussion ist (vorsichtig Tobias zustimmend) dargestellt bei Ulrich von Hehl, »Die Kontroverse um den Reichstagsbrand«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 38 (1988), S. 259-280; vgl. aus jüngster Zeit beispielsweise Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. IV: 1914-1949, München 2003, S. 604. Einige der zentralen, von Tobias nicht geklärten Fragen sind bereits von Joachim C. Fest gestellt worden; vgl. Hitler. Eine Biographie, 6. Aufl. Frankfurt/Main, Berlin 1996, S. 545 mit S. 1099, Anm. 19. Mit neuem Quellenmaterial ist Tobias' und Mommsens Deutung neuerdings herausgefordert worden durch Jürgen Schmädeke/Alexander Bahar/Wilfried Kugel, »Der Reichstagsbrand in neuem Licht«, in: Historische Zeitschrift 269 (1999), S. 603-651 (bemerkenswerterweise spielt Rauschning hier keinerlei Rolle mehr).[21] Werner Maser, [Rezension von] »Hermann Rauschning: Gespräche mit Hitler (1973) und Theodor Schieder: Hermann Rauschnings >Gespräche mit Hitler< als Geschichtsquelle. Opladen 1972«, in: Das Historisch-politische Buch 21 (1973), S. 182f., Zitat S. 183.[22] Vgl. die Danksagung in Wolfgang Hänel, Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler«. Eine Geschichtsfälschung, a. a. O., S. 3.[23] Es habe sich um 125.000 französische Francs gehandelt; zit. nach Wolfgang Hänel, Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler«. Eine Geschichtsfälschung, a. a. O., S. 6.[24] Pia Nordblom hat anhand teils neuen Archivmaterials überzeugend gezeigt, daß sich Hänels Kronzeuge Reves in vielen seiner Details geirrt hat. Darüber hinaus bietet ihr Aufsatz eine kluge Kritik an Hänels Methodik. Vgl. Pia Nordblom, »Wider die These von der bewussten Fälschung. Bemerkungen zu den Gesprächen mit Hitler«, a. a. O., hier bes. S. 156-170 und 174; hier passim auch Belege für die Wirkung. — Als zwei wichtige zeitgenössische Äußerungen zu Hänels Text vgl. Marion Gräfin Dönhoff, »Renegat oder Patriot? Zur Kontroverse um den ehemaligen Danziger Senatspräsidenten Hermann Rauschning«, in: Die Zeit vom 16.8.1985; Martin Broszat, »Enthüllung? Die Rauschning-Kontroverse«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.9.1985, wieder abgedruckt in: Martin Broszat, Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte, hrsg. von Hermann Graml und Klaus-Dietmar Henke, München 1987, S. 249-250.[25] Fritz Tobias, »Auch Fälschungen haben lange Beine. Des Senatspräsidenten Rauschnings >Gespräche mit Hitler<«, a. a. O., S. 92.[26] Vgl. etwa Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, 4. Aufl. München 2001, S. 872, sowie die Ausführungen von Pia Nordblom/Jürgen Hensel, »Einleitung«, a. a. O., S. 15. — Die Verbindung der Komplexe >Rauschning< und >Reichstagsbrand< wird nicht nur durch die besondere Vehemenz unterstützt, mit der Hänel ausgerechnet dieses Kapitel von Rauschning bekämpft, sondern auch durch den Beitrag Jesses zu dem zitierten Fälschungsband, der sich in sehr affirmativer Weise mit Tobias' Rolle in der einschlägigen Forschungsdebatte auseinandersetzt; vgl. Wolfgang Hänel, Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler«. Eine Geschichtsfälschung, a. a. O., S. 39-42, und Eckhard Jesse, »Der Reichstagsbrand und seine >Aufklären. Ein Fälschungsskandal geht zu Ende«, in: Karl Corino (Hrsg.), Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, a. a. O., S. 106-127.[27] Beide Zitate Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler [1940], S. 6.[28]

Dies bestätigen die Äußerungen Percy Ernst Schramms, der sich an einen eigenen entsprechenden (gescheiterten) Versuch erinnerte; vgl. seine Erläuterungen

zur Sache in: Henry Picker, Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier. 1941-1942, Stuttgart 1965, S. 17 mit Fußnote 1.

[29] Vgl. Theodor Schieder, Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler« als Geschichtsquelle, a. a. O., S. 21-25. Ansätze zu einem solchen Verständnis hatte es bereits in den 1950er Jahren bei einzelnen Wissenschaftlern gegeben; vgl. etwa Joseph Boesch, »Neuere Literatur zum Nationalsozialismus«, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 5 (1955), S. 206-214, hier S. 209. — Zu den erwähnten Archivfunden vgl. Jürgen Hensel, »Rauschnings politisches Itinerar vom Juli 1935 bis zum Mai 1940. Versuch einer Rekonstruktion«, a. a. O., S. 143f. und 147.[30] So eine Mitteilung von Friedrich Christian Prinz zu Schaumburg-Lippe. Zit. nach Hans-Günther Hockens, Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/1937. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf, Mainz 1971, S. 136.[31] Beide Zitate Theodor Schieder, Hermann Rauschnings »Gespräche mit Hitler« als Geschichtsquelle, a. a. O., S. 62.

Vorwort

Vorwort

 

Wenn Hitler siegt — — ich glaube niemand macht sich auch nur im entferntesten eine Vorstellung von der weltrevolutionären Umwälzung, die dann eintreten wird. Nicht bloß in Europa, in der ganzen Welt werden alle inneren und äußeren Ordnungen umstürzen. Es wird geschehen, was nie zuvor in der Geschichte des menschlichen Geschlechtes geschehen ist: ein universaler Zusammensturz aller Ordnung !

Dieser Weltumsturz, das ist das Ziel des jetzt begonnenen Krieges. Es ist Hitlers Überzeugung, daß es nur dieses einen siegreichen Krieges bedarf, um die Erde nach seinem Willen neu zu ordnen. Ein phantastischer Gedanke. Aber die falsche Schöpferkraft der Hysterie vermag vielleicht eines : die Welt in Trümmer zu schlagen.

Was Hitler eigentlich will, und der Nationalsozialismus vollbringen soll, steht nicht in »Mein Kampf«. Dieses Buch ist für die Masse. Aber der Nationalsozialismus hat auch eine Geheimlehre. In den besonderen Kreisen einer engeren Elite wird sie gelehrt und weiterentwickelt. In der SS., in der HJ., in den politisch leitenden Kreisen : in allen Kaderorganisationen gibt es eine Schicht allgemeiner Mitglieder und eine Gruppe Eingeweihter.

Nur in diesen engeren Kreisen ist bekannt, was Hitler will und was der Nationalsozialismus ist. Nur im engeren Kreise hat Hitler seine politischen und sozialen Ziele freier geäußert. In solchem engeren Kreise habe ich sie selbst aus seinem eigenen Munde gehört.

Diese Gespräche noch vor einem halben Jahr veröffentlicht, würden damals dem Berichterstatter den Vorwurf gehässiger Erfindung und Verleumdung eingetragen haben. Schon Andeutungen, die das Wesentliche ungesagt ließen, erregten Verwunderung und Mißtrauen. Ich mußte mir als Verfasser der »Revolution des Nihilismus« wiederholt vorhalten lassen, daß das von mir Behauptete doch dem klaren Befund der nationalsozialistischen Ziele in »Mein Kampf« widerspräche. Etwa in dem Punkte eines Bündnisses zwischen dem Nationalsozialismus und Sowjetrußland. Daß über die eigentlichen Ziele Hitlers klare Mitteilungen bestanden, wurde solange nicht ernst genommen, als man im Nationalsozialismus nur eine deutsche nationalistische Bewegung sah, die einige der schwersten Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages beseitigen wollte. Erst heute ist die Welt bereit, in Hitler und seiner Bewegung das zu sehen, was sie wirklich sind : die apokalyptischen Reiter eines Weltunterganges.

Diese Gespräche mit Hitler sind authentisch. Sie fanden im letzten Jahr vor der Machtergreifung und in den ersten beiden Jahren (193334) der nationalsozialistischen Herrschaft statt. Der Berichterstatter hat sich meist unmittelbar unter dem Eindruck des Gehörten Notizen gemacht. Vieles kann als nahezu wörtliche Wiedergabe gelten. Hier spricht sich Hitler im Kreise seiner Vertrauten hemmungslos über seine eigentlichen, vor der Masse geheim gehaltenen Ideen aus. Und der hier spricht, ist gewiß nicht im üblichen Sinne »normal«. Aber so fremdartig jene Ideen erscheinen, alle tragen doch einen gewissen Klang, den wir auch sonst in diesen Zeiten gehört haben als die dämonische Stimme der Zerstörung.

Hier führt ein Mensch ein ganzes Zeitalter ad absurdum. Hier wird uns ein Spiegel vorgehalten, in dem wir uns, verzerrt zwar, doch

mit einem Teil unseres Wesens wiedererkennen müssen. Und zwar nicht bloß der Deutsche. Hitler ist nicht bloß der Ausdruck des Pangermanismus, sondern eines ganzen mit Verblendung geschlagenen Zeitalters. Hier nimmt ein beschränkter, ein in seinen Instinkten tief sklavischer Mensch buchstäblich, als eine Art Don Quichote, was andere bisher nur als geistige Versuchung erlebt haben.

Darum — wenn Hitler siegt — ändern sich nicht bloß Staatsgrenzen. Dann hört alles auf, was bisher als Sinn und Wert des Menschentunis galt. Und darum geht dieser Krieg Hitlers auch jedermann an. Es ist kein europäischer Krieg um politische Probleme. Es ist der Ausbruch des »Tieres aus dem Abgrund«. Und wir sind alle Verbündete, welchen Nationen wir angehören mögen, auch wir Deutsche, und erst recht wir Deutsche, — in diesem einen Ziel, den Abgrund zu schließen.

1. Kapitel: Der kommende Krieg

I.Der kommende Krieg

 

»Der kommende Krieg wird völlig anders aussehen als der letzte Weltkrieg. Infanterieangriffe und Masseneinsätze interessieren nicht mehr. Dieses jahrelange frontale Abringen in erstarrten Formen wird nicht mehr wiederkommen. Dafür garantiere ich. Es war eine Entartung des Krieges.« Hitler blickte mit seinen starr gewordenen Augen aus der kleinen Glasveranda seines Berghauses auf die Bergwand drüben. »Wir werden die Überlegenheit der freien Operation wiedergewinnen.«

»Glauben Sie, Herr Hitler, daß Deutschland geheime Erfindungen vorbereitet hat, die jeden Widerstand brechen können, denen auch die französische Maginotlinie nicht standhält?« Der Danziger Gauleiter Albert Forster winkte mir zu, jetzt habe er Hitler bei seinem Lieblingsthema.

»Alle Armeen haben geheime Erfindungen parat. Ich bin skeptisch über ihren Wert,« erwiderte Hitler. — »Aber die Durchschlagskraft unserer neuen S-Munition. Ist es wahr, daß der elektrische Krieg ganz neue Möglichkeiten für einen Angriff schafft?« warf Forster ein. »Und die neuen Giftgase und der Bakterienkrieg. Wird man die Bakterien als Waffe im kommenden Krieg verwenden?«

»Ein Volk, dem sein Recht vorenthalten wird, kann jede Waffe verwenden, auch den Bakterienkrieg.« Hitlers Stimme wurde lauter. »Ich habe keine Skrupel und ich werde die Waffe haben, die ich brauche. Die neuen Giftgase sind grauenhaft. Aber es gibt keinen Unterschied zwischen dem langsamen Sterben im Drahtverhau und den Todesqualen des Gasvergifteten oder des Bakterienverseuchten.

In Zukunft steht ein ganzes Volk gegen das andere, nicht mehr eine Armee nur gegen feindliche Armeen. Wir werden die physische Gesundheit unseres Feindes schwächen, wie wir seine moralische Widerstandskraft brechen. Ich kann mir wohl denken, daß die Bakterienwaffe eine Zukunft hat. Noch sind wir nicht so weit, aber es werden Versuche angestellt. Sie verlaufen günstig, wie ich höre. Aber die Anwendung dieser Waffe ist beschränkt. Ihre Bedeutung liegt in der Zermürbung des Gegners vor dem Krieg. Unsere eigentlichen Kriege werden sich überhaupt vor den militärischen Handlungen abspielen. Ich kann mir denken, daß wir ein feindliches England damit niederhalten. Oder Amerika.«

»Glauben Sie, mein Führer, daß Nordamerika sich noch einmal in die europäischen Dinge einmischen wird,« warf der dritte von uns, der junge Führer der damaligen Danziger SA. ein. — »Jedenfalls werden wir verhindern, daß es das noch einmal versucht. Es gibt neue Waffen, die dafür wirksam sind. Amerika befindet sich dauernd am Rande einer Revolution. Es wird mir ein leichtes sein, in den Vereinigten Staaten Revolten und Unruhen hervorzurufen, so daß die Herren genug mit ihren eigenen Angelegenheiten zu tun haben werden. Wir benötigen sie nicht in Europa.« »Sie sagten, man wird den Feind schon vor dem Kriege mit Bakterien verseuchen. Wie kann dies geschehen, mitten im Frieden,« fragte Forster. »Durch Agenten, durch harmlose Reisende, das ist immer noch das sicherste Mittel, das einzig wirksame zur Zeit,« fährt Hitler fort. »Übrigens müssen Sie sich vorstellen, daß es mehrere Wochen, wenn nicht noch länger dauert, ehe sichtbare Erfolge in Epidemien auftreten. Vielleicht wird man Bakterien auch im Gipfelpunkt des Krieges einsetzen, dann nämlich, wenn die Widerstandskraft des Gegners zu kippen beginnt.«

Unser Gespräch verbreitete sich über einige Details des künftigen Gas- und Bakterienkrieges. Wir saßen in der etwas engen Veranda von Haus Wachenfeld auf dem Obersalzberg. Hitlers wundervoller Wolfshund lag zu seinen Füßen. Die Berge leuchteten über einen freundlichen Wiesenabhang jenseits des Tales herüber. Es war ein zauberhafter Augustmorgen von jener herben, an den Herbst mahnenden Klarheit, die in den bayrischen Bergen immer wieder erfrischt. Hitler summte Motive aus Wagner'schen Opern. Er schien mir zerstreut, sprunghaft. Eben mitteilsam, versank er unmittelbar darnach in ein trockenes Schweigen. Übrigens war es die Zeit, als sich der Nationalsozialismus seiner schwersten Krise näherte. Die Partei war in eine fast verzweifelte Lage geraten. Aber aus jedem Wort Hitlers klang die feste Überzeugung, bald an der Macht zu sein und das deutsche Volk einem neuen Schicksal entgegenführen zu können. Wir sprachen von dem Ausgang des Krieges, der tragischen Wendung aller deutschen Siege.

»Wir werden nicht kapitulieren, niemals,« stieß Hitler hervor. »Wir können untergehen, vielleicht. Aber wir werden eine Welt mitnehmen. Muspilli, Weltenbrand.« Er summte ein charakteristisches Motiv aus der »Götterdämmerung«. Unser junger Freund von der SA. unterbrach das Schweigen; es sei das überlegene Waffenmaterial unserer Gegner gewesen, das schließlich die unglückliche Entscheidung des Kriegsendes herbeigeführt habe. »Es liegt nicht an den Waffen, es liegt immer an den Menschen,« verwies ihn Hitler. »Aber doch entscheiden neue Erfindungen und überlegene Waffen über das Schicksal ganzer Nationen und Gesellsrh2ftsklassen. Ist es nicht das, wohin Sie hinauswollten, mein Führer, als Sie eben sagten, daß der kommende Krieg ganz anders verlaufen würde wie der letzte? Die neuen Waffen, die technischen Erfindungen werden die ganze Kriegsführung ändern. Sie werfen die ganze Strategie über den Haufen. Heute hat Deutschland die Überlegenheit der Waffen und technischen Erfindungen.« »Nein, die Strategie ändert sich nicht. Wenigstens nicht durch technische Erfindungen. Das ist falsch.« Hitler wurde lebhaft. »Was hat sich seit der Schlacht bei Cannä geändert? Was hat die Erfindung der Pulverwaffen im Mittelalter an den Gesetzen der Strategie geändert? Ich denke skeptisch über den Wert technischer Erfindungen. Es hat keine technische Neuerung gegeben, die die Gesetze der Kriegführung auf die Dauer zu revolutionieren imstande war. Jeder technischen Erfindung folgt eine andere auf dem Fuße, die ihre Wirkung wieder aufhebt. Gewiß schreitet die Waffentechnik vorwärts, und sie wird noch viele Neuerungen schaffen, bis sie das absolute Höchstmaß der Zerstörung erreicht haben wird. Aber alles dies kann nur eine vorübergehende Überlegenheit sicherstellen.«

Heß, damals Hitlers Privatsekretär, der sich am Anfang des Gespräches zurückgezogen hatte, trat hinzu. »Den Herren scheint nicht klar zu sein, wie Deutschland angesichts des beschränkten Werts technischer Neuerungen für die Kriegsführung künftig dem Schicksal entgehen könnte, wieder in einen jahrelangen Stellungskrieg hineinzugeraten,« vermittelte Heß.

»Wer sagt, daß ich einen Krieg anfangen werde wie die Narren von 1914? Geht nicht unsere ganze Bemühung darauf hinaus, gerade das zu verhindern? Die meisten Menschen haben keine Phantasie.« Hitlers Gesicht verzog sich zu einer verächtlichen Grimasse. »Sie können sich das Kommende nur in den Bildern ihrer eigenen, kleinen Erfahrung vorstellen. Sie sehen nicht das Neue, das Überraschende. Auch die Generäle sind steril. Sie verfangen sich in ihrem eigenen Fachwissen. Der schöpferische Genius steht immer außerhalb des Kreises der Fachmänner. Ich habe die Gabe, die Probleme auf ihren einfachen Kern zurückzuführen. Man hat aus dem Krieg eine Geheimwissenschaft gemacht. Man hat ein feierliches Wesen darum veranstaltet. Krieg ist das Natürlichste, Alltäglichste. Krieg ist immer, Krieg ist überall. Es gibt keinen Beginn, es gibt keinen Friedensschluß. Krieg ist Leben. Krieg ist jedes Ringen. Krieg ist Urzustand. Gehen wir zurück auf die primitiven Handlungen, meinetwegen der Wilden. Was ist Krieg anderes als List, Betrug, Täuschung, als Überfall und Überraschung? Totgeschlagen haben sich die Leute erst, wenn sie nicht anders weiterkonnten. Kaufleute, Räuber, Krieger, das war früher eins. Es gibt eine erweiterte Strategie, es gibt einen Krieg mit geistigen Mitteln. Worauf kommt es im Kriege an, Forster? Daß der Gegner kapituliert. Wenn er das tut, habe ich Aussicht, ihn ganz zu vernichten. Warum soll ich ihn auf militärische Weise demoralisieren, wenn ich es auf andere Weise billiger und besser kann?«

Und nun entwickelte Hitler die Grundlinien seines Krieges, den er seitdem vielfach erprobt hat. Damals war es eine ungewöhnliche und wenig einleuchtende Lehre. Man sah, er hatte sich mit diesen Dingen lange und eingehend beschäftigt. Er fühlte sich als ein neuer großer Stratege, als ein künftiger Kriegsherr in einem neuen und bisher unerhörten Sinn.

»Wenn ich Krieg führe, Forster, dann werde ich eines Tages mitten im Frieden etwa Truppen in Paris auftreten lassen. Sie werden französische Uniformen anhaben. Sie werden am hellen Tage durch die Straßen marschieren. Niemand wird sie anhalten. Alles ist bis aufs kleinste vorbereitet. Sie marschieren zum Generalstabsgebäude. Sie besetzen die Ministerien, das Parlament. Binnen wenigen Minuten ist Frankreich, ist Polen, ist Österreich, ist die Tschechoslowakei seiner führenden Männer beraubt Eine Armee ohne Generalstab. Alle politischen Führer sind erledigt. Die Verwirrung wird beispiellos. Aber ich stehe längst auch mit Männern in Verbindung, die eine neue Regierung bilden. Eine Regierung, wie sie mir paßt. Wir finden solche Männer, in jedem Lande finden wir sie. Wir brauchen sie nicht zu kaufen. Sie kommen von selbst. Ehrgeiz und Verblendung, Parteihader und Dünkel treiben sie. Wir haben einen Friedensschluß, ehe wir den Krieg haben. Ich garantiere Ihnen, meine Herren, daß das Unmögliche immer glückt Das Unwahrscheinlichste ist das Sicherste. Wir werden Freiwillige genug haben, Männer wie unsere SA., verschwiegen und opferbereit. Wir werden sie mitten im Frieden über die Grenze bringen Allmählich, kein Mensch wird in ihnen etwas anderes sehen als friedliche Reisende. Heute glauben Sie das nicht, meine Herren. Aber ich werde es durchführen, Zug um Zug. Vielleicht werden wir auf den Flugplätzen landen. Wir werden soweit sein, nicht bloß Mannschaften, sondern auch schon Waffen durch die Luft zu transportieren. Uns hemmt keine Maginotlinie. Unsere Strategie ist, Forster, den Feind von innen zu vernichten, ihn durch sich selbst besiegen zu lassen.«

»Was sagen Sie,« flüsterte Forster, »vor ein paar Wochen hat er den Generälen in Ostpreußen einen neuen Plan vorgelegt, wie man Ostpreußen gegen einen polnischen Angriff verteidigen müsse. Sie haben den Plan angenommen Hitler ist ein Genie, er ist überall Fachmann.« Linsmayer, unser SA.-Führer, bat Hitler, sich mit uns photographieren zu lassen. Wir standen auf und traten vor das Haus an den steilen Abhang. Heß photographierte, Hitler in der Mitte. Wir gingen ein paar Schritte auf dem damals noch schmalen Weg, der knapp hinter dem Haus in den nahen Wald führte. Ich blickte nach dem gegenüberliegenden Gasthof »Zum Türken«. Sommergäste standen dort und sahen mit Ferngläsern herüber. Heß wies auf den grünen Abhang, der weiterhin in eine sanfte Kuppe ausmündete. Man müßte hier einen Landeplatz für Flugzeuge herrichten, uni die lästige Autofahrt hinunter ins Tal zu vermeiden. Heß hatte übrigens gerade an einem Flugwettbewerb mit Erfolg teilgenommen. Forster sprach ihn darauf an. »Lassen Sie das künftig,« sagte Hitler. »Sie haben das nicht nötig. Ich brauche Sie, Heß.«

Hitler nahm das Gespräch wieder auf. »In der Luftwaffe werden wir selbstverständlich führend werden. Sie bietet viele Möglichkeiten. Wir werden allen überlegen sein. Es gibt nur einen ernstlichen Gegner für uns auf diesem Gebiet : die Engländer. Nie werden Slaven einen Luftkampf zu führen verstehen. Es ist eine männliche Waffe, es ist eine germanische Art des Kampfes. Ich werde die größte Luftflotte der Welt bauen lassen. Wir werden die verwegensten Piloten haben. Selbstverständlich werden wir auch eine große Armee haben.«

»Werden Sie die allgemeine Wehrpflicht einführen?« fragte Linsmayer. »Nicht nur sie, sondern eine allgemeine Dienstpflicht, gegen die die Hilfsdienstpflicht Hindenburgs ein unvollkommenes Stückwerk sein wird. Wir brauchen Armeen; nicht bloß hochqualifizierte Spezialformationen, sondern auch Massenarmeen. Aber wir werden sie nicht einsetzen wie 1914. Was die artilleristische Vorbereitung für den frontalen Angriff der Infanterie im Grabenkampf bedeutet hat, das wird in Zukunft die psychologische Zermürbung des Gegners durch revolutionäre Propaganda zu tun haben, ehe die Armeen überhaupt in Funktion treten. Das gegnerische Volk muß demoralisiert und kapitulationsbereit sein, es muß moralisch in die Passivität getrieben sein, ehe man an eine militärische Aktion denken darf. Die moralische Niederkämpfung des Gegners, wie erreichen wir sie vor dem Kriege? Das ist die Frage, die mich interessiert. Wer den Krieg an der Front erlebt hat, wird nicht neue Blutopfer wollen, wenn sie vermieden werden können. Alles ist gut, was das kostbare deutsche Blut sparen hilft. Wir werden nicht vor der Anzettelung von Revolutionen zurückschrecken. Denken Sie an Sir Roger Casemont und die Iren im Weltkrieg. Wir haben überall mitten im Lande des Gegners Freunde, die uns helfen, wir werden sie uns zu verschaffen wissen. Gefühlsverwirrung, Widerstreit der Gefühle, Unentschlossenheit, Panik; das sind unsere Waffen. Sie kennen doch,« wandte sich Hitler an mich, »die Revolutionsgeschichte. Es ist immer dasselbe; die herrschenden Klassen kapitulieren. Warum? Defaitismus; sie haben keinen Willen mehr. Die Lehren der Revolution, das ist das Geheimnis der neuen Strategie. Ich habe von den Bolschewiken gelernt. Ich scheue mich nicht, es zu sagen. Man lernt immer am meisten von seinen Feinden. Kennen Sie die Lehre vom Staatsstreich? Beschäftigen Sie sich damit. Dann werden Sie wissen, was wir zu tun haben.«

Wir hörten zu und niemand ahnte, wie nahe wir alle der Verwirklichung dieser Ideen standen. Ich dachte an die Experimente der deutschen Obersten Heeresleitung im Weltkrieg mit den bolschewistischen Führern. Was dort improvisiert schien, um den Feind durch eine innere Revolution kampfunfähig zu machen, war hier in ein System gebracht, war zur allgemeinen Regel geformt.

»Ich werde nie einen Krieg beginnen, ohne die Gewißheit, daß ein demoralisierter Gegner einem einzelnen gigantischen Stoß auf Anhieb erliegt.« Hitler bekam starre Augen und begann zu schreien. »Wenn der Feind innerlich demoralisiert ist, wenn er vor der Revolution steht, wenn soziale Unruhen drohen, dann ist die Zeit da. Ein einziger Schlag muß ihn vernichten. Luftangriffe, unerhört in ihrer Massierung, Handstreiche, Terror, Sabotageakte, Attentate von innen, die Ermordung der führenden Männer, überwältigende Angriffe auf alle schwachen Punkte der feindlichen Verteidigung, schlagartig, zur gleichen Sekunde, ohne Rücksicht auf Reserven, auf Verluste : das ist der künftige Krieg. Ein gigantischer, alles zermalmender Schlag. Ich denke nicht an das Hinterher, nur an dies Eine.

Ich spiele nicht Krieg. Ich lasse mich nicht durch „Feldherren“ kommandieren. Den Krieg führe ich. Den geeigneten Zeitpunkt zum Angriff bestimme ich. Es gibt nur einen günstigsten. Ich werde auf ihn warten. Mit eiserner Entschlossenheit. Und ich werde ihn nicht verpassen. Ich werde meine ganze Energie darauf verwenden, ihn herbeizuzwingen. Das ist meine Aufgabe. Erzwinge ich das, dann habe ich das Recht, die Jugend in den Tod zu schicken. Dann habe ich so viele Leben erspart, als zu ersparen waren. Meine Herren, wir wollen nicht Helden spielen, sondern den Gegner vernichten. Generäle wollen, trotz ihren Lehren vom Kriege, sich wie die Ritter aufführen. Sie glauben, Kriege wie die mittelalterlichen Turniere führen zu müssen. Ich brauche keine Ritter, ich brauche Revolutionen. Ich habe die Lehren der Revolution zur Basis meiner Politik gemacht.«

Hitler hielt einen Augenblick inne. »Ich werde vor nichts zurückschrecken. Kein sogenanntes Völkerrecht, keine Abmachung wird mich davon abhalten, einen Vorteil zu benutzen, der sich mir bietet Der nächste Krieg wird unerhört blutig und grausam sein. Aber der grausamste Krieg, der keinen Unterschied zwischen Militär und Zivil macht, wird zugleich der mildeste sein, weil er der kürzeste sein wird. Und zusammen mit dem vollen Einsatz unserer Waffen werden wir den Gegner durch einen geistigen Krieg zermürben. Wir werden so sicher eine Revolution in Frankreich haben, wie wir sie diesmal in Deutschland nicht haben werden. Darauf verlassen Sie sich. Ich werde den Franzosen als ihr Befreier kommen. Wir werden dem kleinen Mann des Mittelstandes als die Bringer einer gerechten sozialen Ordnung und eines ewigen Friedens kommen. Diese Leute wollen ja alle nicht mehr Krieg und Größe. Aber ich will den Krieg. Mir wird jedes Mittel recht sein. Und meine Parole ist nicht: »den Feind nur nicht reizen«, sondern ihn mit den äußersten Mitteln vernichten. Den Krieg führe ich!«

2. Kapitel: Ein Abend und Morgen auf dem Obersalzberg

II.Ein Abend und Morgen auf dem Obersalzberg

 

Wir waren von Danzig heraufgekommen : Forster, Linsmayer und ich. Es war knapp vor Mitternacht, als unser Zug in Berchtesgaden einlief. Hitler hatte uns sein Auto heruntergeschickt. Man fuhr gut zwanzig Minuten steil herauf, bis wir nach Obersalzberg kamen. Hitler wollte uns noch in der Nacht empfangen. Es war übrigens eine halsbrecherische Fahrt.

Hitler kam uns entgegen. Er hatte Besuch ; Damen. Ein kleines, sympathisch bescheidenes Haus. Man saß in einem mittelgroßen, im Stil einer bayrischen Bauernstube hergerichteten Raum, der durch die ganze Breite des Hauses ging. Um den großen Ofen lief eine einfache Bank. Aus einem verhängten Vogelbauer piepten aufgeschreckte Singvögel. Heß begrüßte uns. Wir wurden vorgestellt. Hitler bot uns — in seinem abstinenten Hause — einen Kirschlikör an. Es war übrigens kalt oben. Harte Bergluft nach der Hitze der sommerlichen Bahnfahrt.