Glauben mit Vision - - Christian Hennecke - E-Book

Glauben mit Vision - E-Book

Christian Hennecke

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Beschreibung

»Eigene Möglichkeiten erkennen und in ihnen aktiv werden ...« (Christian Hennecke)

Warum glauben? Viele Menschen wenden sich von der Kirche ab, weil sie dort keinen Zugang (mehr) finden zu einem erfahrbaren, gelebten Glauben. Dennoch sind eben diese Menschen auf der Suche nach Orientierung und einer spirituellen Heimat.
Christian Hennecke schildert hier sieben Visionen einer Kirche der Zukunft: als spirituellen Ort jenseits aller konfessionellen Grenzen, getragen von Menschen, die sich einbringen wollen.

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Christian Hennecke

Glauben mit Vision

Sieben kraftvolle Impulse

für dein Leben

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2018 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

ISBN 978-3-641-22311-3V001

www.gtvh.de

INHALT

Vorwort

I. GLAUBENSURSPRÜNGE

Entdeckungen: eine Kurzgeschichte meines Glaubens

Meine Faszination für Dietrich Bonhoeffer

Die Auferstehung Roms

Eine prophetische Vision

II. SIEBEN IMPULSE

1 Den Ur-Sprung leben

Wichtige Unterscheidungen

Glauben ist mehr als eine Suche

Jesus und der Glauben

Mitspringen

2 360 Grad hören

In die Wirklichkeit hineinhören

Jesus lebt vom Hören

Lernen zu hören

Zusammen hören

Double Listening

Gehorsam

3 Das neue Sehen

»Seht, ich schaffe Neues«

Sehen lernen

Die Schule des Franziskus

Together we look

Unheil sehen

4 Leidenschaft

Von der Begeisterung

Der Geist des Herrn

Entdeckungsgeschichten

Einer Berufung folgen

Die Gaben ins Spiel bringen

Sich hineinreißen lassen

5 Liebe spüren

Die Vision der Liebe

Liebe allein genügt

Nicht Religion, sondern Leben

Ubi caritas ...

Neighbourhood

6 Den Tanz feiern

Der Tanz

Communio

Ist das Kirche?

»Fresh Expressions«

Tanzen – die Kunst des Miteinanders

Zeichen und Werkzeug

Feiern, Danken und Preisen

7 Werden, Wandern und Verwandlung

Der Geist weht

Christ werden

Im Glauben wachsen

Das Ziel des Weges

… mit leichtem Gepäck

Wachsen ist keine Leistung

III. KIRCHE DER ZUKUNFT

Kirche lebt nicht von Struktur

Die Kirche nach Kyrill

Segensorte

Erzählgemeinschaft

Ursprungsbewegung

Jenseits der Konfessionen

Die Neugeburt der Tradition

Ur-springen

Freiheit und Verbundenheit

Das neue Hinhören

»Mitschwimmen …«

Mut zur Gründung

Den Ursprung feiern

Kirche steht Kopf

Wachstum aus erneuerbaren Energien

VORWORT

Zukunft! Hoffnung! Kirche! Große Worte. Alle mit Ausrufezeichen. Das war der Ausgangspunkt dieses Buches, oder sollte ich besser sagen: eines Weges? Denn es war so unverfänglich unverbindlich, sich doch mal wieder mit meiner Lektorin beim Gütersloher Verlagshaus zu treffen, mit dem Leiter des Verlags und einer weiteren Kollegin. Und wir beginnen zu sprechen, über die Kirche natürlich – und über meine Unlust und meinen Ärger darüber, dass wir uns als Kirchen oft so mangel­orientiert in die Depression drehen. Nein, mein Blick ist ja ein anderer: Die Zukunft liegt nicht vor uns, sie hat gerade mit uns begonnen. Und natürlich braucht es einen anderen Blick, der nicht nur das Sterben, sondern auch die Auferstehung der Kirche und des Christentums sieht – heute, wie zu allen Zeiten.

Denn sonst wäre es ein ungläubiger Blick, sage ich. Und hier wandelte sich das Gespräch. Wäre es nicht wichtig, über den Glauben und seine Zukunft zu schreiben? Wie werden wir glauben? Was heißt überhaupt Glauben in Zukunft? Erst dann, hinterher, wäre zu fragen, welche Vision einer Kirche der Zukunft sich ergibt. Und auf einmal wuchs der Energiepegel im Gespräch. Wir begannen, lebendig rumzudenken, neue Perspektiven anzureißen. Ein schöner Moment. Ein Geistmoment.

Und dann fuhr ich nach Hause zurück und dachte: Worauf hast du dich eingelassen – was wird das werden? Über den Glauben habe ich gar nicht so viel nachgedacht, geschweige denn geschrieben. Aber dann wurde mir klar: Auch das Schreiben eines Buches über den Glauben braucht Glauben, Vertrauen, Leidenschaft, Begeisterung – und dies alles kann ich nicht machen. Denn Inspiration ist immer ein Geschenk, die Kraft zum Schreiben auch.

Aber je mehr der Zeitpunkt des Schreibens nahekam, desto spannender wurde es, desto mehr wurde mein Glauben herausgefordert. Ich fing an, mit einer kleinen Idee. Und ich durfte die Erfahrung eines leidenschaftlichen Wachsens machen – und ich merkte, wie die Energie beim Schreiben zunahm. Ja, es machte mir Freude, Glauben neu für mich zu buchstabieren, von den Zukunftserfahrungen her, die in mir sind und mich immer mehr umgeben.

Und am Ende sollte ein Traum stehen. Ein Traum von Kirche. Ja, und dann habe ich zusammengeträumt, was ich mit anderen schon an vielen Stellen zusammenträumen konnte. Kirche heute, Kirche in dieser Zeit. Ich träume eine erneuerte Kirche – eine katholische Kirche, deren Weite anzieht; eine evangelische Kirche, in der das Evangelium neue Blüten auf postmodern kultiviertem Boden treibt; eine orthodoxe Kirche, in der die Tiefe der gewachsenen Tradition heute ein Feuer entfacht; eine freie Kirche – weil anders Kirche nicht zu denken ist. Doch für all das gilt: Diese Zukunft hat schon begonnen und ist im Heute verwurzelt.

Deswegen ist es mit diesem Buch auch so wie mit anderen Versuchen. Ich habe versucht, etwas ins Wort zu bringen, was mich bewegt und was ich vorher schon erlebt habe mit vielen anderen Schwestern und Brüdern. Ich habe so viel gelernt von den Schwestern und Brüdern der vielen Gemeinden, Aufbruchsbewegungen und Kirchen, mit denen ich in den letzten Jahren unterwegs sein durfte und auch künftig sein darf. Und ich bin so dankbar für die Christinnen und Christen der nächsten Generation, der leidenschaftlich Wandernden und Suchenden in allen Kirchen und außerhalb der fest gefügten Bekenntnisse. Danke euch allen – ihr seid die eigentlichen Autoren! Denn in eurem Fragen und Suchen, Gestalten und Kämpfen entwickelt die Geisteskraft Gottes den neuen Weg der Kirche in unserer Zeit.

Ich freue mich, dass ich einen Teil dieser Zukunft jetzt schon erleben darf! Es ist mehr als verheißungsvoll, heute zu glauben und heute Christ zu werden – bei allem, was zurzeit zerbricht. Aber auch das gehört zur Logik eines Glaubens, der Tod und Auferstehung zur Mitte hat.

Danke allen im Gütersloher Verlagshaus, die mich in dieses Abenteuer hineingestupst haben, und vor allem meiner Lektorin Christel Gehrmann.

Dr. Christian Hennecke

Hildesheim, im Herbst 2017

I.

GLAUBENSURSPRÜNGE

Irgendwann fängt Glauben an. Jeder Glauben. Und jeder Glauben hat eine Geschichte, einen Moment, in dem wir uns bewusst werden, dass Gott in unserem Leben ist, dass er sich schon lange wohnlich eingerichtet hat – und dass wir langsam in Worte fassen können, was da eigentlich geschieht, oder besser: geschehen ist. Denn der Anfang des Glaubens ist – so schreibt es einmal der Prophet Jeremia – so eng mit dem Beginn des eigenen Lebens verknüpft, dass die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen geradezu grundlegend ist: »Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt ...« (Jer 1,5)

Der Anfang des Glaubens ist jene ursprüngliche Beziehung mit Gott, aus der dann vielleicht eine Geschichte wird. Ja, denn es ist ein Geschenk, wenn ich entdecken darf, was mich gründet, belebt, antreibt und weiter führt. Notabene: Auch wenn ich es nicht entdecke, ist es ja so ...

Entdeckungen: eine Kurzgeschichte meines Glaubens

Mein Glauben war geprägt. Von meinen Eltern, die ihn mir vorgelebt haben. Wie selbstverständlich bin ich hineingewachsen. Ich habe beten gelernt, ich habe jeden Sonntag Gottesdienst mitgefeiert. Vielleicht habe ich nicht so viel verstanden, aber vielleicht auch viel mehr, als ich denken konnte: dass nämlich das Geheimnis, für das ich keinen Namen hatte und das ich doch immer wieder nah spürte, hier für mich eine Form fand, erste Worte, erste Rituale, in denen ich mich bewegen und beheimaten konnte.

Mich haben später, als Erwachsenen, immer wieder Kinder beeindruckt, die eine so große Glaubenstiefe hatten, dass ihre Eltern nur erschrocken davorstanden und sich wunderten, von wem eigentlich ihre Kinder um Gott wussten. Vielleicht ist dieser Kinderglaube wirklich so unmittelbar, so echt, so »göttlich« und selbstverständlich geerdet, dass es ein Leben braucht, um ihn wieder zu finden.

Dann aber häutete sich mein Glauben. Ich war kein Kind mehr, und ich suchte neu. Gab es dieses Geheimnis überhaupt? Kinderglauben ging nicht mehr. An dieser Stelle angekommen, suchte ich. Zum ersten Mal in meinem Leben. Und ich fragte ernsthaft und nachdenklich: Wenn ich zu diesem Gott bete, wird er mich dann hören? Wer ist dieser Gott überhaupt? Und die Kirche, meine katholische Pfarrei – wieso finde ich hier nicht das Leben, das im Evangelium doch verkündet wird? Und wie würde das eigentlich »praktisch« gehen, den Glauben zu leben? So viele Fragen, so wenig Antworten.

Und unverhoffte Spuren konnte ich entdecken: Da war eine Neugier in mir, das Evangelium zu verstehen. Ich hörte die Texte jeden Sonntag (ja, ich ging mit meinen Eltern mit zur Kirche), aber die Auslegung überzeugte mich selten. Meine Eltern übrigens auch nicht, und deswegen haben wir dann schon bald in unserer Stadt eine andere Gottesdienstgemeinde gesucht. Und hier fanden sich dann Nuggets des Glaubens, kleine Körner, die wir mit nach Hause nahmen, die wir diskutierten.

Und in dieser Zeit hatte ich eine erste neue und persönliche Erfahrung mit diesem Geheimnis, das ich Gott nenne. In Bonn, im Bonner Münster. Da waren wir als zehnte Klasse unterwegs, und ich besichtigte nichtsahnend diese Kirche, die heute in der Fußgängerzone nahe dem Bahnhof steht. Ich ging hinein und war »gefangen«. Eine ganz neue Erfahrung für mich. Natürlich besichtigte ich die (gar nicht so außerordentlich schöne) Kirche, aber die Atmosphäre war auf einmal wie magisch aufgeladen. Ich spürte, ahnte, fühlte »jemanden«, »etwas«, was mich umgab und umhüllte, mich meinte, mich liebhatte. Ich fühlte mich wohl, geborgen, getragen, wie noch nie in meinem Leben – und wollte diesen magischen Ort nicht verlassen. Ich nahm eine »Schönheit« wahr, die mich hielt.

Ich war gemeint. Aber offensichtlich nur ich. Meine Klassenkameraden gingen auch durch die Kirche, und für sie war es einfach nur eine Kirche wie so manche andere, die man ein wenig gelangweilt besichtigt. Nur mich ließ sie nicht los. Und ich musste unbedingt mitnehmen, was ich hier erlebt hatte. Aber wie? Ich kaufte am Schriftenstand ein Meditationsheft, Symbol und Zeichen meiner Erfahrung. Ja, irgendetwas Berührbares, etwas Fassbares wollte ich mitnehmen, wenn ich nun doch diesen Raum verlassen musste, der für mich so viel mehr war als eine simple (gotische?) Kirche.

Ich habe diese Erfahrung für die nächsten drei Jahre vergessen. Und doch, wenn ich mich heute erinnere, war sie nicht folgenlos. In den kommenden Schuljahren veränderte sich in meinem Leben viel. Ich wurde vom Einzelgänger zum Engagierten in der Schulpolitik, ich entfaltete einige Gaben, von denen ich nie gedacht hatte, dass sie in mir schlummerten. Es wandelte sich etwas. Die Suche blieb. Denn diese Erfahrung konnte ich nicht speichern – auch wenn sie mich untergründig bewegte und ... vielleicht auch führte? Ich engagierte mich auch in der Kirche, denn ich wollte mehr wissen über den Glauben, über Gott und die Kirche. Ich kam mir so unwissend vor – und ich war es ja auch. Wir haben Messen vorbereitet, Diskussionskreise eröffnet, viel geredet und gehandelt – aber all das füllte meine Sehnsucht nicht aus. War sie denn größer geworden? Worin genau bestand sie? Und wie könnte ich sie jemals ins Wort bringen? Eins war klar: Was ich fand, reichte mir nicht aus. Nichts reichte wirklich aus ...

Denke ich über diese Zeit nach, über diese ersten Erfahrungen, die wie Diamanten inmitten von viel Alltäglichkeit bis heute in meinem Leben aufblitzen, dann ist es doch so, dass man sich seinen Glauben gar nicht selbst machen kann. Ich konnte suchen, ich konnte mich ausstrecken, ich konnte mich engagieren, aber das Geheimnis Gottes ist eben nicht handhabbar, ist nicht »erreichbar«. Aber umgekehrt gilt: Es erreicht mich, wann und wo es will. Vollkommen überraschend, gerne auch anonym. Und ich muss es nicht benennen können – und klar ist auch: Erst dann wird es zu einer Geschichte, wenn ich nicht nur die Schönheit und den unbeschreiblichen Glanz erfahre und mich umhüllen lasse, sondern wenn es gelingt, einen Namen zu nennen, der diese Erfahrung zu einem Weg macht.

Man denke an den Propheten Samuel. Ein kleiner Junge soll jüdischer Priester werden in einer dunklen Zeit. Der Autor der Geschichte beschreibt die Krise deutlich: Gott schweigt in dieser Zeit, die Priester sind alt und schwach und blind, die »Lampe Gottes« war aber noch nicht erloschen (vgl. 1. Samuel 3,1-3). Vorher hatte der Autor von einer skandalösen und krisengeschüttelten religiösen Situation berichtet. Religiöser Missbrauch und Heuchelei waren Praxis. Und mitten im wehrlosesten aller Momente, mitten im Schlaf, besucht und ruft Gott den jungen Samuel, der zunächst nichts versteht. Doch – dass jemand ihn ruft, das merkt er, aber mit Gott bringt er das nicht zusammen. Rufen kann nur, wer da ist – und in diesem ganzen Tempel ist des Nachts nur sein Mentor. Also läuft er zu ihm, weckt ihn. Mehrfach. Und mehrfach ist der alte Priester ärgerlich über diese nächtliche Ruhestörung, bis er dann erahnt, was auch ihm abhandengekommen war: dass nämlich Gott gegenwärtig sein kann, überraschend nah, überraschend persönlich. Und da hilft er Samuel, gibt ihm Hinweise und Worte, wie er mit dem Geheimnis Gottes umgehen kann: Er möge antworten, er möge hinhören, er möge seine Bereitschaft erklären: »Rede Herr, denn dein Diener hört ...«

In dieser kleinen Episode wird mir einiges deutlich über das Werden meiner eigenen Gotteserfahrung: Sie ist immer sehr persönlich, du wirst beim Namen gerufen, du weißt, dass es dich betrifft, dass du gemeint bist. Aber sie ist auch verwechselbar mit den übrigen Erfahrungen dieser Welt: Wenn etwas dich anspricht – wieso sollte es Gott sein? Wenn du etwas überwältigend schön findest und gebannt bist vom Glanz des Moments – was hat das zwingend mit Gott zu tun? Wenn du dich angerührt weißt – was sagt dir, dass hier Gott dich anrührt? Es bleibt ein Geheimnis, und ich kann mir gut vorstellen, dass Menschen diesem Geheimnis andere oder gar keinen Namen geben, und auch nicht auf die Idee kommen, auf diese Momente persönlich eine Antwort zu geben. Dazu braucht auch Samuel einen älteren, erfahrenen Mentor, wie schwach der in der Geschichte auch ist. Aber: Er kennt diese Erfahrung und kann als Erfahrener einen Hinweis geben – und zwar so, dass ich selbst antworten kann, wenn ich denn wirklich will ...

Zurück in meine Entdeckungsgeschichte. Ist diese erste Erfahrung so überraschend persönlich und zugleich überraschend unerwartet, so war die zweite so überwältigend, dass daraus alles andere wurde, was in meiner Lebens- und Erfahrungsgeschichte des Glaubens wichtig ist. Spannend ist für mich immer wieder, dass ich das »Ganze« eigentlich schon am Anfang erlebt habe, das Ganze in einer kleinen Erfahrung – aber dieser Anfang hat mich ganz neu geprägt und entfaltet sich durch die Zeit, und mit diesen Entfaltungen lebe ich bis heute, lerne damit umzugehen und versuche bis heute, sie zu verstehen.

Dabei ist doch eigentlich alles ganz einfach. Ganz einfach wunderbar. Durch einen Zufall lande ich bei einem Jugendwochenende des Bistums. Schon vorher hatte ich mich an Wochenenden mit einer Gruppe von jungen Leuten des Bistums zur politischen Bildung getroffen. Jetzt hatte mich der Referent eingeladen, ein Wochenende später noch einmal zu kommen. Da seien viele Jugendliche zu einem religiösen Treffen zusammen, und es sollte eine Videoreportage als Schlussreflexion gedreht werden. Ob ich wohl Lust hätte? Hatte ich, mich interessierte damals schon die Videotechnik – und ich wollte Journalist werden. Also fuhr ich dort hin. Und ich erlebte eine ungeheure Überraschung. Denn ich kam als Fremder an diesen Ort und erlebte etwas völlig Neues: In der Gemeinschaft dieser 150 jungen Leute war eine Atmosphäre, die anders war als alles, was ich bisher kannte. Obwohl ich niemanden kannte, fühlte ich mich zuhause. Und ja, ich war auch wieder umhüllt von besonderer Wärme. Es war eine Offenheit und ein Beziehungsreichtum spürbar, der mich anzog.»Dort muss ich wieder hin«, berichtete ich meinen Eltern mit glänzenden Augen. Und so war es auch. Jeden Monat bin ich neu zum Wohldenberg gefahren, und immer wieder war da diese Atmosphäre, diese besondere Dichte in den Beziehungen zwischen Menschen, die sich doch gar nicht gut kannten, diese ungeheure Offenheit und zugleich Geborgenheit – obwohl ich ja anfangs niemanden kannte. Das war so »schön«, dass es mich nicht mehr loslassen konnte.

Was war das? Was hatte ich erlebt? Was hatte mich so ergriffen? Ich wusste nur, dass ich da immer wieder hin wollte. Doch einige Monate später erlebte ich diese besondere Erfahrung an einem ganz anderen Ort. Jemand hatte mich zu einem Treffen von Jugendlichen in Hannover eingeladen. Und wieder waren mir alle fremd, und ich stellte mir vor, wie ich als Einzelgänger dort einen ganzen Tag vor mich hin »einzelgängern« würde. Nichts schrecklicher als das. Eigentlich wollte ich nicht. Ein kleines Drama drohte im Vorfeld: Denn meine Mutter drängte mich ein wenig: »Es wird bestimmt gut!«. Mit gemischten Gefühlen ließ ich mich darauf ein. Also fuhr ich mit einer kleinen Gruppe im VW-Bus von Göttingen nach Hannover. Kein Wort wurde gewechselt, wir kannten uns nicht. Die Atmosphäre war ein wenig schwer. Glänzende Aussichten, dachte ich schicksalsergeben.

Doch der Tag verlief ganz anders. Aber das merkte ich erst, als er zu Ende war. Ich war ganz überrascht, denn ich, der total Schüchterne, hatte den ganzen Tag mit Menschen gesprochen, die ich nicht kannte. Und ich hatte mich unglaublich wohlgefühlt. Die Atmosphäre hatte es ermöglicht, mit jedem und jeder über Gott und die Welt zu sprechen. Ich fühlte mich wohl, ergriffen, und war begeistert. Und ich wusste: Das hatte ich immer gesucht. Ich hatte keine Gemeinschaft gesucht, aber ich hatte Verbundenheit gefunden, Offenheit, Ehrlichkeit, Freiheit – Lust auf mehr und Freude. Und dann war da noch etwas. Da war irgendwie Gott. Im Hintergrund, im Dazwischen, im Miteinander – da war dieser Gott auf einmal deutlich spürbar da. Er war die Atmosphäre, die Mitte dazwischen, der Zwischenraum, nicht der Lückenbüßer, sondern der Lückenfüller. Er war die Konnektivität, das Verbindende und Einende inmitten von Menschen, die sich vorher gar nicht gekannt hatten. Das war mir vorher nie bewusst gewesen. Und doch: Es war das, wonach ich gesucht hatte. Auf einmal öffnete sich etwas mehr von dem Geheimnis Gottes selbst. Es brauchte keinen Gott, der sich willkürlich zeigte und vielleicht dem einen oder anderen seine gnädige Liebe offenbar machte – es gab keinen Gott mehr für mich, der auch strafen konnte, wenn er mich bei etwas erwischte. Nein, dieser Gott mit seiner Liebe zeigte sich mitten unter den Menschen.

Ich war begeistert. Das war und ist mein visionärer Schlüsselpunkt, mein prägendes Grunderlebnis, der Ausgangspunkt meiner Theologie, meines Lebensweges – eigentlich alles. Das wusste ich damals aber nicht. Und ich konnte es auch nicht in Worte fassen. Aber alles hatte sich verändert, wie mir auf dem Heimweg klar wurde. Nur was genau das bedeutete, und wie ich darauf eine Antwort geben konnte (was ich ja auch wollte), das wusste ich auch nicht. Es ging mir wie Samuel ... Also fragte ich den Fahrer des Bullis: »Wie macht ihr das, geht das auch in Göttingen?« – »Wir leben das Evangelium«, sagte er, »du kannst kommen.« ... – Noch nie vorher hatte ich eine solche Wortverbindung gehört, »das Evangelium leben«, aber es war ja egal: Wenn am Ende diese Erfahrung steht ... dann wollte ich mich auch darauf einlassen.

Und wirklich: Das ist meine Vision des Glaubens, das ist mein Glauben mit Vision. In dieser Geschichte ist im Kern alles enthalten, was mich bis heute weiterbewegt hat, und was ich weiterdenken musste. Das Erstaunliche daran ist, dass diese Erfahrung mit dem zusammenklingt, was in der Bibel als großes Zielbild beschrieben wird: »Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen. Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, Gott wird bei ihnen sein ...« (Offenbarung 21,3)

Meine Faszination für Dietrich Bonhoeffer

Irgendwann, eigentlich relativ spät, stieß ich in meinem Theologie-Studium auf Dietrich Bonhoeffer. Natürlich hatte ich sein Lied schon oft gesungen: »Von guten Mächten wunderbar geborgen ...« Ich hatte gestaunt über seinen Glauben, der sich Ende 1944, den sicheren Tod vor Augen, in diesem Lied widerspiegelt. Aber ich kannte ihn und sein Denken noch nicht.

Doch dann stieß ich auf die Briefe aus der Haft, die in »Widerstand und Ergebung« gesammelt sind, und auf die Glaubensperspektive, die sich hier bot. Und ich war vollends gebannt. Hier zeigte sich eine erregende Glaubenstheologie, neue Gedanken, die mich sofort einstimmen und zustimmen ließen. Hier formulierte einer brillant, was ich nie so hätte sagen können – es fehlten mir die Worte, aber die Gedanken, die dahinterlagen, die konnte ich nachvollziehen, die waren irgendwie schon in mir.

Bonhoeffer erahnte eine neue Epoche, eine neue Zeit, in der auch der Glauben (und damit der ganze Rest des Christentums, der Kirche und alles in ihr) neu justiert und beschrieben werden müsse. Das ist mehr als spannend, denn immerhin liegen zwischen seinen Intuitionen und unserer heutigen Situation fast 70 Jahre – und doch: Mir schien am Ende meines Studiums wie auch heute, 25 Jahre später, dass diese Intuitionen genau jenen Wandel im Glaubensverständnis ansprechen, in dem wir heute auch stehen.

Bonhoeffer beschreibt schon im ersten der anregenden theologischen Briefe, dass eine neue Zeit im Kommen ist, in der der Glauben nicht mehr »religiös« ausgedrückt werden kann. Damit meint Bonhoeffer nicht die Substanz des Glaubens – das ist die Begegnung mit Jesus Christus – wohl aber das »Gewand«, die »Gestalt«, die »Form« des Glaubens. Die ist, so denkt er, »nichtreligiös« zu fassen. An der Wortwahl merkt man schon, dass vor Bonhoeffer ein Weg liegt. Es ist leichter zu fassen, wie das Christentum sich nicht mehr fassen lässt – als das Neue zu beschreiben, was kommt. So sind es vor allem Fragen, die ihn bewegen. Und das genau fasziniert: der Mut des ausbrechenden Denkens, der Mut, sich auf die neue Welt einzulassen, von ihr zu lernen und so sprachfähig für Menschen zu werden, die im Begriff sind, alles traditionelle Christsein hinter sich zu lassen, nicht mehr nur von den Resten einer wie auch immer gearteten Christlichkeit zu leben – und dennoch als Fremdgewordene suchen nach der Begegnung mit dem Geheimnis. Bonhoeffer fragt: »Wenn die Religion nur ein Gewand des Christentums ist ... – was ist dann ein religionsloses Christentum … Was bedeutet eine Kirche, eine Gemeinde, eine Liturgie, ein christliches Leben in einer religionslosen Welt? Wie sprechen wir von Gott – ohne Religion … Wie sprechen wir (oder vielleicht kann man eben nicht einmal mehr davon ›sprechen‹ wie bisher) ›weltlich‹ von ›Gott‹, wie sind wir ›religionslos-weltlich‹ Christen, wie sind wir ek-klesia, Herausgerufene, ohne uns Religiöse als Bevorzugte zu verstehen, sondern vielmehr als ganz zur Welt Gehörige«. (Brief vom 29.4.1944, in Widerstand und Ergebung, DBW 8, 404f.)

Religiös vom Glauben sprechen: Was Bonhoeffer nervös macht und irritiert, ist ein Denken in zwei Welten, einer religiösen-kirchlichen Welt mit ihrer Sprache – und dem weltlichen Leben. Glauben ist aber eben nicht eine Sonderwelt oder Hinterwelt, er ist keine nachträgliche Deutung der Wirklichkeit, sondern eben ganz anders: Christus ist mitten in dieser Welt, er ist die Mitte, nicht etwas Zusätzliches. Und damit aber wird der Glauben richtig weltlich und zu glauben ein Weg, in dieser Welt zu leben.