Gottes Design entdecken - was der Geist den Gemeinden sagt - Christian Hennecke - E-Book

Gottes Design entdecken - was der Geist den Gemeinden sagt E-Book

Christian Hennecke

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Beschreibung

Dieses Buch möchte grundsätzlich über die Gabenorientierung im Kontext einer zukunftsfähigen Kirchenentwicklung nachdenken. Denn Gabenorientierung steht für einen Ansatz partizipativer Kirchenentwicklung und verändert auch und gerade das Rollengefüge und den Dienst der Priester und Hauptberuflichen. Und vor allem: Sie fördert das Werden und Wachsen des Volkes Gottes. Aus dem Inhalt: - Einführung - der Hype der Gabenorientierung im deutschsprachigen (kirchlichen) Raum - Charisma - Gabe: eine theologische Begriffsklärung - Steuerbarkeit versus Unsteuerbarkeit - Risiken der Neuausrichtung - Mitarbeitergewinnung oder Ekklesiogenesis? - Wie wächst Kirche aus der Entdeckung der Gaben? - Die Frage nach der Rolle der Leitung in einer gabenorientierten Pastoral - Aus der Praxis: ein Gabenseminar

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Christian Hennecke · Gabriele Viecens

Gottes Design entdecken

Wie der Geist weht,

wo er will

Das Potential der Gabenorientierung

Christian Hennecke · Gabriele Viecens

Gottes Design entdecken

Wie der Geist weht, wo er will

Das Potential der Gabenorientierung

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2017

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: Peter Hellmund (Foto: shutterstock)

Satz: Hain-Team (www.hain-team.de)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

ISBN

978-3-429-04347-6

978-3-429-04915-7 (PDF)

978-3-429-06335-1 (ePub)

Inhalt

Einleitung: Gabenorientierung ist „en vogue“! – Zur aktuellen Situation

I. Entdeckungen und Herausforderungen

1. Gabenorientierung schillert – Zu den Ambivalenzen einer Neuentdeckung und ihrer Agenda

2. Gabenorientierung ist Spitze … eines Eisbergs

3. Gabenorientiert von Anfang an – Der genetische Code des Christseins und der Kirche

4. Gabenorientierung provoziert – Die überraschende Kirchenentwicklung

5. Gabenorientierung zwischen Explosion und Implosion – Notwendige Unterscheidungen

6. Gabenorientierung ist nicht steuerbar … oder doch? – Leitungsdienste umdenken und umpraktizieren

7. Gabenorientierung zwischen Rufen und Berufenwerden – Von der Entmythologisierung einer heiligen Kuh

II. Weitungen

1. Gabenorientierung und der Blick auf die Zeichen der Zeit

2. Prozesse und Werkzeuge als Impulsgeber im Kulturwandel

3. Gottes Design entdecken – ein Praxismodul

Anhang

Schreiben von Papst Franziskus an den Präsidenten der päpstlichen Kommission für Lateinamerika, Kardinal Marc Ouellet

Exodus 18, 13–26

Danksagung

Einleitung: Gabenorientierung ist „en vogue“! – Zur aktuellen Situation

Wenn man in die deutsche Kirchenlandschaft schaut – sei sie katholisch, evangelisch oder freikirchlich –, so scheint Gabenorientierung heute tatsächlich „en vogue“ zu sein. Eine „Welle“, die kräftig auch in die Fortbildungsprogramme der meisten deutschen Bistümer hineinspült und dort Spuren hinterlässt: „Auf jeden Fall ein Charismenseminar“, das scheint eine Option zu sein, die ganz schnell in den Blick rückt, wenn „Kirche“ heute versucht, engagierte und fähige Christen zur Mitarbeit zu bewegen. Oder, wie eine evangelische Kollegin von einem Anruf erzählt: „Sie haben doch da so ein Gabenseminar zur Optimierung der Mitarbeitergewinnung.“

Charismenseminar – Gabenseminar – Gabenorientierung: wir treffen auf Begrifflichkeiten, die unterschiedlich sind. Manchmal ist das, gerade auch für die Teilnehmer an Seminaren, verwirrend. Der Unterschied in den Begrifflichkeiten deutet aber auch auf Unterschiedlichkeiten im Gabenverständnis hin. Es gibt kleine, aber feine Nuancierungen zum Gabenbegriff in den theologischen Hauptfächern, abhängig auch davon, welche Konfession gerade zu Wort kommt.1

Deshalb setzen wir hier vorab eine kurze begriffliche Klärung zu unserem Sprachgebrauch im Blick auf Seminare und Workshops. Während wir, katholisch, oft von „Charismenseminaren“ sprechen, ist bei unseren evangelischen und freikirchlichen Geschwistern eher von „Gabenseminaren“ die Rede. Aber jenseits aller Nuancierungen im Gabenverständnis ist doch Fakt, dass – gleich unter welchem Namen – solche Seminare immer aus mehreren Teilen bestehen, von denen die Charismen in einer paulinischen Kriteriologie nur ein Teil sind, nicht aber der einzige. Im Folgenden werden wir also, besonders im Blick auf praktische Module, von Gabenseminaren und Gabenorientierung sprechen. Aber last, but not least, ist doch auch interessant, dass sich das griechische Wort „Charisma“ in weitaus weniger biblischen Belegstellen finden lässt, als die Rede von den Gaben.2

Und eine zweite Klärung ist wichtig: ein Seminar – Charismen oder Gaben – zur „Optimierung der Mitarbeitergewinnung“ verweist auf den Rahmen, in dem das Thema Gabenorientierung oft noch diskutiert und auch praktiziert wird, und zwar meistens entlang der beiden gleichen Linien: Es geht um „Kirche“ – und zwar in einer sehr binnenkirchlichen Sicht. Aber dahinter verbergen sich auch, auch wenn das nicht immer so offen kommuniziert wird, sehr oft noch die Sorge und die Vorstellung, dass es eben Menschen braucht – die „Ehrenamtlichen“ –, die die Aufgaben erfüllen sollen, die nun einmal erledigt werden müssen, ganz besonders in Zeiten, in denen die Zahl der Hauptamtlichen immer kleiner wird.

Aber ist das wirklich alles? Wenn wir ernst nähmen, was sich jenseits aller noch so angestrengten und anstrengenden Versuche der „engagierten Mitarbeitergewinnung“ vollzieht und an vielen Orten schon längst vollzogen hat, käme uns ein radikaler Perspektivwechsel – und eben auch eine neue Zielrichtung – in den Blick: weg von den vermeintlich zwingend vorgegebenen Aufgaben, die „noch“ erfüllt werden „müssen“, hin zu den Menschen, die durch ihr Engagement der Kirche an ihrem Ort Gestalt und Gesicht geben. Also weg von einer aufgabenorientierten, hin zu einer gabenorientierten Pastoral und so hin zu einer Kirche, deren Antlitz die Getauften sind. Und so wird dann in der Tat verständlich, dass Gabenorientierung ein wesentlicher Baustein von Kirchenentwicklung ist.

An dieser Stelle wollen wir noch einmal einen Blick in die Eingangsgeschichte dieser „Bewegung“ werfen, auf deren Welle eine Vielzahl von Gaben- oder Charismenseminaren schwimmt. Denn auf dieser Welle schwimmt auch eine riskante Engführung, die da heißt : Gabenfindung und -orientierung gleich Gabenseminar.

Am Anfang dieses „Siegeszuges“ von Gabenseminaren im deutschsprachigen Raum stand am häufigsten der Kurs einer freikirchlichen Gemeinde aus Chicago. Die „Willow Creek Community Church“ hatte ein Seminar entwickelt, das auch im katholischen Kontext oft durchgeführt wurde (und wird!) – das D I E N S T-Seminar: Dienen im Einklang von Neigungen, Stärken und Talenten.3 Das klang und klingt stimmig und interessant, wenn man darüber nachdenkt, wie Menschen in einem gemeindlichen Kontext ihre Talente und Fähigkeiten zum Einsatz bringen können. Und so wurden an vielen Orten Kurse ausgeschrieben, die sich in erster Linie an die Ehrenamtlichen richteten und ihnen einen Raum öffnen sollten, genau diesen Talenten auf die Spur zu kommen.

Aber die Rede von der riskanten Engführung lässt sich hier belegen. Denn das, was zunächst von vielen begeistert aufgenommen wurde, warf immer öfter auch Fragen auf – und zwar meist vor einem sehr konkreten Hintergrund! Die Erfahrung nicht weniger Ehrenamtlicher war oft ziemlich desillusionierend: wenn die neu entdeckten oder bestärkten Gaben zum Einsatz gebracht werden sollten und wollten, blieb dann doch oft alles irgendwie beim Alten, weil es letztlich ja darum zu gehen schien – und sehr oft auch ging! –, Menschen zu finden, die helfen, die anstehenden Aufgaben zu erledigen. Auch wenn das natürlich nicht so direkt gesagt wurde, die schmerzvollen Erfahrungen sprachen und sprechen weiterhin für sich. Denn wenn Menschen energiegeladen und „einsatzbereit“ von einem solchen Seminar zurückkamen und -kommen und es dann keinen Ort gibt, ihre (neu) entdeckte Gabe ins Spiel zu bringen oder sie ins Spiel bringen zu dürfen, sind Enttäuschung und Frustration vorprogrammiert.

Hier zeigen sich erste Spuren, denen wir in diesem Buch weiter nachgehen wollen: die Frage nach dem konkreten Kontext und nach unserem Verständnis von Partizipation. In der Willow-Creek-Gemeinde, in der das D I E N S T-Seminar entstanden ist, war und ist das ganz klar: es geht darum, in einer konkret existierenden Gemeinde Menschen zu ermöglichen, dass sie ihre Gaben genau dort einbringen können. Konkret also um einen Dienst an und in einer fest definierten Gemeinde.

Sehr anschaulich zeigt dies eine kleine Geschichte, die der Gründer und Pfarrer der Gemeinde, Bill Hybels, oft erzählt hat: es kamen zu ihm zwei Männer, die zur Gemeinde gehörten und sich dort gern konkreter einbringen wollten. Sie wussten aber nicht wie, denn „wir können nichts, was man in der Kirche braucht!“ (nebenbei, was genau ist eigentlich gemeint, wenn hier von „Kirche“ die Rede ist? – eine weitere Frage, der wir in diesem Buch auf die Spur kommen wollen). Bill Hybels fragte sie dann, was sie denn könnten, und die Antwort war ganz klar und sehr praktisch: „Wir können Autos reparieren!“ Entstanden ist daraus das „car ministry“: zwei bis drei Mal in der Woche stellen diese beiden Männer Zeit zur Verfügung, in der sie Autos reparieren; Autos von Menschen, die das Geld für eine Reparatur in einer „offiziellen“ Autowerkstatt nicht hätten. Wer die USA kennt, weiß, was das bedeutet. In einem Land, in dem das öffentliche Transportwesen sehr beschränkt ist und fast alles im Individualverkehr abläuft, ist das in der Tat ein großer Dienst an den Bedürftigen – der sich im Kontext einer konkreten Gemeinde vollzieht.

Als wir angefangen haben, mit dem D I E N S T-Seminar zu arbeiten, scheint uns aber genau dieser wesentliche kontextuelle Aspekt entgangen zu sein. Deutlich wurde zwar sehr schnell, dass dieses Seminar nicht immer „passt“, z. B. bei den Gabenfragebögen, die ganz klar an den amerikanischen freikirchlichen Kontext der Willow-Creek-Gemeinde angepasst sind. Aber dies haben wir zunächst eher als einzelnen „Stolperstein“ gesehen, etwa in Formulierungen, die in unserer anderen kirchlichen Kultur nicht aus sich heraus verständlich sind (wie z. B. „den ‚Zehnten‘ geben“). Die tiefer liegende, sehr grundsätzliche Frage nach der Relevanz des Kontexts, in dem sich hier Gabenfindung ereignet, rückte erst sehr langsam in unseren Blick. Nach wie vor scheint es oft eher darauf hinauszulaufen, dass überall dort, wo über Gabenorientierung nachgedacht wird und erste Schritte gegangen werden, am Anfang eben ein Gabenseminar steht. Und ein wesentlicher Aspekt – nämlich der Kontext – erst nach einem solchen Seminar bedacht wird. Aber wenn Gabenorientierung tatsächlich ein Baustein von Kirchenentwicklung sein soll, dann reicht eben kein „schön, dass wir’s mal gemacht haben!“.

Aus dem US-amerikanischen Raum findet neben D I E N S T-Seminaren auch die katholische Variante „Called and Gifted“, die aus dem „Catherine of Siena-Institut“ in Chicago kommt, Verbreitung. 1993 in Amerika entwickelt, wird mit dieser Seminarreihe als „process of spiritual discernment“ (Prozess einer geistlichen Unterscheidung) auch in Europa, besonders in England, gearbeitet.4 Aber es zeigt sich auch hier, vor allem in den Gabenfragebögen, dass eben nichts so einfach übertragbar wäre, geschweige denn zu kopieren.

Und so wurden auch im deutschsprachigen Raum Gabenseminare entwickelt, von denen wir hier, neben einer Reihe anderer, das Gabenseminar „Ich bin dabei“ von Silke und Andreas Obenauer5 erwähnen wollen. Entstanden im evangelischen Kontext der Landeskirche Baden, wird auch im katholischen Raum viel mit diesem Gabenseminar gearbeitet. Das hat Gründe: „Ich bin dabei“ spricht von und erläutert Gaben in einer Sprache, die wenig „Übersetzung“ für Menschen braucht, die nicht aus einem kirchlichen oder theologischen „inner circle“ kommen. Und bei der Arbeit mit den Gabenfragebögen zeigt sich sehr schnell, dass die Teilnehmer gut damit umgehen können und nicht ständig an einem fremden Kontext hängenbleiben.

Aber auch hier: im Untertitel schreiben Obenauer/Obenauer von gabenorientierter Gemeindearbeit. Der Rahmen ist also klar gesetzt und klar begrenzt. Was aber jenseits dieses (binnenkirchlichen) Raumes sein könnte – und ja auch ist –, dem wollen wir in diesem Buch weiter auf die Spur kommen.

Eine weitere interessante Frage stellte sich uns immer wieder neu: zu welcher Entdeckungsreise laden wir denn eigentlich ein, wenn wir von Gabenorientierung sprechen – und entsprechende Workshops durchführen? Geht es nicht, jenseits aller Seminare, vielmehr darum, die Menschen – eben alle Menschen – an einem konkreten Ort mit ihren Gaben wahrzunehmen und sie zu ermutigen ihrer eigenen Sendung zu folgen?6 Diese Klärung ist wichtig, weil sie letztlich den Kern unseres kirchlichen Selbstverständnisses berührt. Wenn es also in der Tat nicht darum geht, Menschen zu finden, die die anstehenden Aufgaben irgendwie noch erfüllen können, wenn Kirche, wie Klaus Hemmerle7 sagt, die Gemeinschaft vieler unterschiedlicher Charismen ist, wie können dann die Charismen als „göttliche Berufung und Begabung“ entdeckt und ins Spiel gebracht werden – „als göttliche Berufung und Begabung zum Engagement!“8.

Genau hier stellt sich dann nämlich die Frage nach dem größeren Ganzen: Wie eng denken wir „Kirche“, „Leib Christi“ in der Perspektive von Gottes Reich – und wie weit könnten oder sollten wir denken? Dies ist ein weiterer Faden, den es in diesem Buch aufzunehmen gilt.

Dieses Ringen um Klärung hat auch die Workshops und Seminare verändert – und verändert sie immer wieder neu, gerade auch im Blick auf Zielrichtungen und Zielgruppen. Denn wenn es darum geht herauszufinden, wie die Menschen an einem konkreten Ort ihre Gaben miteinander entdecken und ins Spiel bringen können, dann stellt sich uns ganz klar die Frage, ob Gabenseminare das leisten können. Oder ob nicht, wie eingangs erwähnt, Gabenseminare sinnvollerweise eher ein dritter oder vierter Schritt im gesamten Feld der Gabenorientierung sind.

Wir taten einen weiteren Blick über den Tellerrand: Be-Gabung und Be-Rufung sind auch anderenorts ein wichtiges Thema, aber eben anders als oft bei uns und schon gar nicht im Zusammenhang mit Gabenseminaren. Wir schauten in das Erzbistum Poitiers. Dort hat sich eine Kultur des Rufens entwickelt und die ist hier zentral für Leben der communantes locales. „Örtliche Gemeinde“, so haben wir das übersetzt, aber die Wirklichkeit, die sich hinter diesem Begriff verbirgt, umfasst eben nicht nur das, was wir „kirchlich“ hören, wenn wir Gemeinde sagen, sondern alle Menschen, die an diesem Ort leben. Menschen, die miteinander in Beziehung stehen, rufen sich gegenseitig in einen Dienst an der Gemeinschaft. Ihnen wird zugesprochen und sie sprechen sich gegenseitig zu : du kannst das, wir sehen das in dir und wir trauen dir das zu! Es geht also auch hier um einen konkreten Ort, aber hier kommt das alltägliche gemeinsame Leben ins Spiel, das Sich-Wahrnehmen und In-Beziehung-miteinander-Sein.

Und wie ist das bei uns? Gerade die Erfahrung von Poitiers hat diese Fragen in uns noch einmal verstärkt. Ein Gabenseminar quasi flächendeckend und für „alle“? Oder gilt nicht vielmehr auch für uns, dass wir ein Gespür dafür haben, welche Gaben Gott in uns hineingelegt hat – und auch in die Menschen, mit denen wir leben? Und trauen wir uns zu, dies – in aller gebotenen Form – anderen zuzusprechen? Und trauen wir Gott zu, dass alle Gaben, die am konkreten Ort gebraucht werden, auch geschenkt sind?

Das wäre in der Tat ein radikaler Paradigmenwechsel. Ein Paradigmenwechsel, der Vertrauen, Zutrauen, Wahrnehmen und Beziehung-Aufbauen als wesentliche Merkmale hat.

„Unsere erste Aufgabe in der Annäherung an eine andere Person, eine andere Kultur, eine andere Religion ist es, unsere Schuhe auszuziehen, denn der Ort, dem wir uns nähern, ist heilig. Sonst könnten wir uns dabei ertappen, wie wir auf dem Traum eines Anderen herumtreten. Noch ernster ist: wir könnten vergessen, dass Gott schon dort war vor unserer Ankunft“ (Marc Alexander C. Warren). Diesen Satz hörten wir zum ersten Mal auf den Philippinen, auf der Insel Mindoro. Und der, der ihn uns sagte, war Pater Ewald Dinter, ein deutscher Missionar, der dort seit 26 Jahren mit den Ureinwohnern der Insel, den Mangyanen, in den Bergen lebt. Wahrzunehmen und wertzuschätzen, was schon da ist, was Gott schon getan und geschenkt hat, dies hat sich uns seit der Begegnung mit Pater Dinter noch einmal ganz neu eingeprägt. Und wenn wir von Kirchesein und -werden auf der Grundlage der Gaben sprechen, dann hieße das eben gerade nicht, dass wir etwas „machen“, sondern vielmehr, dass uns bewusst ist, dass es um einen Prozess geht, der ein „Zuerst“ und ein „Danach“ hat. Zuerst geht es darum zu entdecken, welche Spuren Gott schon gelegt hat in den Gaben der Menschen, die an einem konkreten Ort leben. Und danach, wie aus diesen Gaben sich Kirche in der Perspektive des Reiches Gottes bildet und wächst. Und vielleicht stehen wir ja in der Tat gerade erst am Anfang einer weitaus größeren Herausforderung, nämlich unser Bild von Kirche zu weiten, zu schärfen, weiter zu denken. Auch diese Perspektive gilt es, weiter zu entfalten.

Und ein letzter Aspekt: die Herausforderung für die Leitenden. Wenn man den Entwicklungsweg von Gabenseminaren im deutschsprachigen Raum anschaut, so zeigt sich, dass – neben Angeboten für die sogenannten Ehrenamtlichen – ein zweiter Strang immer stärker wird: (verpflichtende) Fortbildungen zu diesem Thema für Hauptamtliche – Priester und hauptberufliche Mitarbeiter – in den deutschen Diözesen.

Das ist herausfordernd, denn hier geht es darum, in neue Rollen hineinzuwachsen. Die Aufgabe und Art von Leitung verändern sich. Und sehr oft erlebt man dann Unruhe, manchmal sogar Angst, denn es taucht immer wieder – und sehr nachvollziehbar – die Frage auf: „was ist dann noch ‚meins‘?“ Unsicherheit ist allerorten spürbar bei der Frage nach der Rolle von Leitung. Ich erinnere mich an eine Diözesankonferenz von GemeindereferentInnen, in der eine Gemeindereferentin die Furcht äußerte, dass die Erstkommunion „anders“ sein würde, wenn sie sie nicht mehr vorbereite. Und „anders“ hieß hier: weniger professionell, weniger kompetent. Ihr antwortete eine Kollegin, die von einer Firmvorbereitung erzählte, die sie – fast ganz – in die Hand von gefirmten Jugendlichen gegeben hatte, denn „zu dieser Altersgruppe habe ich ja wirklich keinen direkten Draht mehr!“. Sie schloss mit dem Satz: „Eigentlich hätte ich gar nicht dabei sein müssen, denn die haben das richtig gut gemacht!“ Und in der Tat, wie schwer fällt es uns doch oft, gerade im Kontext von Leitung, diese andere Art zu akzeptieren, die ja durchaus kein „weniger“ und schon gar kein „schlechter“ sein muss, sondern eben „anders“ ist. Was also braucht es, damit die leitenden Amtsträger an einem konkreten Ort sich als Diener an dieser Wirklichkeit, als Ermöglicher und Koordinatoren verstehen können?

Schon Klaus Hemmerle hatte diese Frage gestellt: „Welches sind grundsätzlich und konkret die gemäßen Bahnen der Kommunikation, in welchen die eigene Sendung und Aufgabe des Amtes, aber auch die eigene Sendung und Aufgabe der anderen Charismen fürs Ganze fruchtbar und wirksam werden können?“9

Und so tun sich hier zwei weitere Fragehorizonte für unser Buch auf: die Frage nach der Rolle des Amtes und der Leitung und – noch einmal – die Frage nach dem „Ganzen“, nach dem Ganzen der Kirche!

Die Durchführung von Bewusstwerdungsmodulen zur Gabenorientierung, und gerade auch die Weiterentwicklung von Bewusstwerdungsmodulen in der Fortbildung für Hauptamtliche, hat uns vielfältige Einblicke ermöglicht : wie stark es einerseits Menschen motiviert, ihre Gaben zu entdecken und das Entdeckte auch einbringen zu können; andererseits aber auch, wie herausfordernd in diesem Zusammenhang Rollenveränderungen sind. Und es zeigt sich auch deutlich, dass unsere Vorstellungen von den „Einsatzorten“ der Gaben noch sehr gehalten sind von einem eher binnenkirchlichen Blick auf die Kirche und weniger auf Prozesse, die das „Ganze“ in den Blick nehmen. Diesen Versuch wollen wir mit diesem Buch wagen, wohlwissend, dass wir uns in Prozesse begeben, die eine vielleicht revolutionäre Umkehr im Denken brauchen, die Partizipation möglichst vieler und vor allem das Vertrauen und Zutrauen und das Bewusstsein, dass wir Entdeckende und Tür-Öffner sein sollten in einer Wirklichkeit, in der Gott in seinem Volk immer schon wirkt

Und klar ist: dies alles braucht einen langen Atem!

1 Vgl. hierzu die ausführliche Ausarbeitung in der Dissertation Manfred Baumert, Charismen entdecken, University of South Africa, Pretoria 2009, 17–44.

2 Ebd., 25.

3 Vgl. Bill Hybels/Bruce Bugbee/Don Cousins, D I E N S T – Entdecke dein Potenzial, Aßlar 2011.

4 Vgl. www.siena.org

5 Vgl. Silke und Andreas Obenauer, Ich bin dabei, Wetzlar 2011.

6 Vgl. Christian Hennecke/Birgit Stollhoff, Seht ich schaffe Neues, schon sprosst es auf – Lokale Kirchenentwicklung gestalten, Würzburg, 2014.

7 Vgl. Klaus Hemmerle, Zur Entwicklung der nachkonziliaren Räte in der Bundesrepublik, Theologische Reflexionen und Erfahrungen, Berichte und Dokumente. Herausgegeben vom Generalsekretariat des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Heft 10, 1970 (23).

8 Ebd.

9 Klaus Hemmerle, Zur Entwicklung der nachkonziliaren Räte in der Bundesrepublik, a. a. O. 23.

I. Entdeckungen und Herausforderungen

1. Gabenorientierung schillert – Zu den Ambivalenzen einer Neuentdeckung und ihrer Agenda

Was fasziniert, schillert oft in den buntesten Farben, ist verheißungsvoll. Und wie schon beschrieben gilt das auch für Charismenorientierung oder Gabenorientierung. Es weckt pastorale Fantasie, und in Zeiten, in denen ein gewachsenes System endgültig ins Wanken gerät, greift man schnell nach neuen Methoden und Rezepten. Was im besten Fall gelingen kann, ist dann eine Verlängerung der Sterbeprozesse. Das ist nur zu verständlich. Zu fragen ist aber: wer will das?

Und es ist ja klar: die Kirche befindet sich in einem epochalen Sterbeprozess, und das ist für die meisten eine Katastrophe. Denn für sie – Gemeinden, die sich engagieren, und Priester und Bischöfe, die sich sorgen – wird immer mehr deutlich, dass dieser Prozess irreversibel ist. Lange genug hat man sich bemüht, die Sterbeprozesse zu ignorieren und zu bekämpfen. Nun ergibt man sich mit wenig Hoffnung. Die Kirche wird kleiner, es gibt keine patentierten Nachfolger für das System einer Gemeindekirche. Und was erst ein europäisches Problem zu sein schien – und darin vor allem ein katholisches nördlich der Alpen –, das spüren inzwischen auch evangelische Landeskirchen. Und natürlich stemmt man sich dagegen, versucht von anderen zu lernen, findet immer wieder neue Rezepte. Und es lässt sich nicht sagen, dass man nicht alles versucht hätte. Und selbst dann, wenn Bischöfe und andere von hoffnungsvollen Aufbrüchen sprechen, hat man oft den Eindruck, sie würden es selbst nicht wirklich glauben, bestenfalls hervorsagen wollen.

Dabei wird häufig eines nicht gesehen. Dieser Sterbeprozess, der nun schon seit mehr als zwei Generationen voranschreitet, führt zwar zum Ende einer bestimmten Konfiguration der Kirche. Er betrifft dabei nicht nur Äußerlichkeiten, sondern das gesamte Grundgefüge einer vornehmlich hochinstitutionalisierten und hochprofessionalisierten (und dennoch nicht immer sehr professionellen) Kirche. Dieser Prozess führt aber zugleich auch in eine tiefgreifende Verwandlung und somit zu einer Erneuerung.

Noch besser: diese Erneuerung ist schon im Gang, seit einiger Zeit. Doch sie fällt zu wenig auf. Es scheint, als ob unsere Augen nicht sehen könnten, was schon ist. Und auch die, die von ermutigenden Aufbrüchen sprechen, tun dies häufig mit der Hoffnung auf eine neuerliche Fortführung einer nur zu gewohnten Form kirchlichen Lebens. Wenn man aber einmal unbefangen hinschaut, dann zeichnen sich Umrisse einer Erneuerung ab, die deutlich machen, dass nun auf einmal Horizonte aufreißen und ein Szenario evangelischer Freiheit sich öffnet. Eine solche Perspektive befreit aus einer unfruchtbaren Kampfdialektik gegen Formen, die einfach zu eng geworden sind und den Zeiten nicht entsprechen.

Es geht um eine Reformation10, die an Radikalität nichts zu wünschen übrig lässt. Und vor ihr kommt man leicht ins Fürchten: Geht dabei nicht unsere ganze Tradition vor die Hunde? So fürchten Traditionalisten, so fürchten aber auch jene, die nicht gänzlich vom Geist einer sehr spezifischen und damit relativen Vergangenheit (der nicht identisch ist mit dem Heiligen Geist) durchdrungen sind.11 Nein, unsere Tradition ist vielmehr neu zu durchdenken, ist vielmehr neu zu sehen, gerade auch in ihren sensibelsten Bereichen.

Und genau dahinein, in diese brodelnde Situation der Unsicherheit, fällt die Rede von der Gabenorientierung. Und während die einen sie noch als Pflaster oder neueste Beatmungsmaschine einsetzen und damit eine Antwort auf die Frage suchen, wie heute, in der Postmoderne, Ehrenamtliche zu gewinnen, zu rekrutieren oder zu werben sind, damit gewachsene und neuere Erfahrungen, Sozialformen und Projekte der Kirche weiter funktionieren können, könnte man umgekehrt anhand der Gabenorientierung auch die Reformation illustrieren, in der wir stehen. Das hat aber eine Konsequenz : es reicht dann nicht, Gaben- und Charismenorientierung irgendwie einzubauen in das Bild einer Kirche, das weithin von ihrer versorgenden Institutionalität geprägt ist – man muss dieses Bild verlassen. Und das wollen wir hier tun, in der gebotenen Kürze.12

Vielleicht wird dann deutlich, dass dabei ein faszinierendes neues Bild entsteht. Eine Kirche, die nicht mehr so sehr im Mittelpunkt steht, angstvoll um sich selbst bemüht und voller Furcht, den eigenen Ursprung zu verlieren. Das – in der Tat – wäre der Weg, sich wirklich zu verlieren. Und dann ringt man um das Amtsverständnis, um die Sakramente, um das Lehramt, um die Rolle der Laien, um die Sozialformen der Gemeinden und gerät von Unklarheit zu Unklarheit. Genau das ist zu beobachten. Und was ist, wenn man Vertrauen investiert und der Tradition und ihrer katholischen Weite mehr zutraut, als doch nur die eigene Statik zu zementieren?

Die Dynamik des Evangeliums, die in jeder Zeit immer wieder neu das Ganze des Glaubens in neues Licht rückt, führt dann auch zu einer neuen Entdeckung der eigenen Tradition. Und das kann man im Kontext der Gabenorientierung bestens illustrieren.

Kirchenentwicklung: wie Gabenorientierung über die Kirche hinauswächst

Die Ambivalenzen der Gabenorientierung lassen sich leicht illustrieren, wenn man sie zusammenbringt mit den Entwicklungsdimensionen des Kircheseins, wie sie karikierend und treffend weltkirchlich ins Gespräch gebracht werden und so einen Bewusstseinsbildungsprozess ermöglichen.13

Versorgungskirche als Versuchung