Lust auf Morgen! - Christian Hennecke - E-Book

Lust auf Morgen! E-Book

Christian Hennecke

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Beschreibung

Wir leben in einer turbulenten Welt und in einer turbulenten Kirche – voller Umbrüche und Ambivalenzen. Es ist ein Klimawandel, ein „Weiter so“ geht nicht mehr. Aber das hat Folgen für das Christsein: Es geht darum, die inneren Bilder zu verlassen, die alten Muster zu verlernen. Und darin liegt die eigentliche Radikalität: Es geht darum, wichtige Traditionen unserer Kirche neu zu denken und Konsequenzen für eine Zukunftspraxis des Evangeliums zu ziehen. Das Buch will einladen, sich auf neue Bilder einzulassen und damit der ratlosen Bildlosigkeit ein Gegengewicht entgegenzuhalten. Es wagt auch, einige Schritte vorzudenken. Vor allem aber will es ein Zeichen der Dankbarkeit sein für den Weg, den Gott mit uns Menschen geht.

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Christian Hennecke

LUST AUF MORGEN!

Christsein und Kirche in die Zukunft denken

© 2020 der deutschen Ausgabe: Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster

www.aschendorff-buchverlag.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen.

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-402-24653-5 (print)

ISBN 978-3-402-20210-4 (epub)

Und es entsprang ein Quell

Und ein Rinnsal lief

Auf den jungen Mann zu

Der übrigens Ezechiel hieß und später

Prophet genannt wurde

Weil er sich so aufgeregt hatte

Über den toten Tempelkram

Und das Rinnsal lief auf ihn zu

Und wurde ein Bach

Und dann kam ein Tempelmann

Und hatte eine goldene Messlatte

In der Hand

Und maß 1000 Ellen

Das Bächlein entlang

Und sagte zu Ezechiel

Geh hier mal durch das Bächlein

Und Ezechiel ging hindurch

Und das Wasser ging ihm

Bis zu den Knöcheln

Und der Bach wurde breiter

Und lief weiter ins Land hinein

Und Ezechiel war sprachlos

Und der Tempelmann

Maß weiter mit seiner Meßlatte

1000 Ellen und sagte zu Ezechiel

geh hier hindurch

und Ezechiel ging hindurch

und das Wasser reichte ihm

bis zu den Knien

und dann nochmal 1000 Ellen

wurden abgemessen

und Ezechiel ging wieder hindurch

und das Wasser reichte ihm

bis zu dem Hüften und

da kam der Tempelmann

und maß weiter 1000 Ellen den Fluss entlang

und Ezechiel versuchte nochmal

durch das Wasser des flüssig gewordenen

Tempels zu gehen aber

Er konnte nicht mehr hindurchgehen

Er fand keinen Grund und Boden mehr

Er musste schwimmen

Und das Wasser des Tempels

War glasklar

So schönes Wasser

Hatte er lange nicht mehr gesehen

Das Wasser trug ihn

Und Ezechiel freute sich

Und Ezechiel schaute zum alten Tempel

Und da war kaum noch was

Davon übriggeblieben

Er war fast ganz flüssig geworden

Und er sah

Wie dieser flüssig gewordene Tempel

Eine Freude wurde für das ganze Land

Wie er die Menschen wieder berührte

Wie die Menschen wie Bäume Wurzeln schlugen an den Ufern

Dieser neuen Strömung

Im Land

Es war jetzt der Tempel

Zum Strom geworden

Zu einem glasklaren

Durchsichtigen schönen

Alles Land erfrischenden Strom

Der die Menschen endlich wieder

Zu erfreuen anfing

(Ezechiel 47, 1–12 nach Lothar Zenetti)

INHALT

LUST AUF MORGEN!

I.SIGNALE DES GEISTES

1.Radikale Partizipation – mehr als eine gemeinsame Trinkerfahrung

2.Mechthild Reinhards Tetraeder – Auf dem Weg zu einer Mystik des 21. Jahrhunderts?

3.Evolutionäre Organisationen: ein Beispiel aus Holland

4.Über Resonanz! Eine Erfahrung mit Hartmut Rosa

5.Der liebevolle Blick

6.Führung neu denken: zwischen Stefan Merath und Frederic Laloux

ZWISCHENSPIEL – DIE DYNAMIK DES UNTERSCHEIDENS

II.KIRCHLICHE SIGNALE IN DER ZEITENWENDE

1.Zwischen Refo und Zeitfenster: Kirche gründet sich

2.Segensorte

3.Gemeindelos?

4.Den Grund neu prägen – Einblicke in anglikanische Ausbildungswelten

5.Eine indigene Kirche entfalten – Lateinamerikanische Herausforderungen

III.DEN UMBRUCH DEUTEN

1.Are they church? – Nachdenken mit Michael Moynagh

2.Mission shaped church: Sendung als Ur-Sprung

3.Synodal! – Franziskanische Anmutungen

4.Theologie bricht auf: nach der Paradigmendämmerung weiterdenken

5.Mission neu verstehen – Die theologische Perspektive von Christoph Theobald

IV.ZUKUNFT ZU DENKEN WAGEN – EINE VORSICHTIG MUTIGE RELECTURE GROSSER TRADITIONEN

1.Sakramental? Mystisch? – Versuche zu einem neuen Kirchenverständnis

2.Hierarchie und Struktur: nichts als Verantwortung für den Ursprung

3.Himmel – Herrgott – Sakrament: vom Geschenk des Himmels immer neu ergriffen werden

4.Weg mit den Verschwurbelungen – Kirchliche Berufung neu verstehen

5.Ordination neu denken

6.Priesterweihe einfach neu sehen lernen – Ein erster Zugang

7.Episkopé und Sendung neu gestalten – Ein Zugang zu einem diözesanen Presbyterium

8.Notwendende Räume des Erlebens und Verstehens freilegen

9.Das Werden der Christen: vom Ende einer Illusion

10.Für ein gutes Leben – Ein neues Bild der „Pfarrei“

Nachspiel

Anmerkungen

LUST AUF MORGEN!

Ich habe keine Lust mehr auf den resignierten und immer ängstlichen Blick. Ich habe keine Lust mehr auf die finanztheologisch korrekten Ansagen des Untergangs und der nicht abgedeckten Risiken. Ich habe keine Lust mehr auf Bestandswahrung bis zum Ende. Ich habe keine Lust mehr auf halbherzige Strategien der Zukunftssicherung – und auch keine Lust mehr auf kirchliche Institutionen, die wie Banken funktionieren. Klar, in dieser Perspektive kann man denken. Aber ich habe Lust auf morgen.

Ich habe Lust auf morgen, weil ich das Morgen seit Jahren schon sehe. Allerdings: ich sehe es in rätselhaften Umrissen. Es ist nämlich keine Fortschreibung des Vergangenen. Und hier liegt das Problem. Nehmen wir einmal an, Brandschutz und Datenschutz, Sicherung der Renten, Anzahl der Hauptberuflichen, Menge an Eucharistiefeiern, Einfluss in der Gesellschaft, Menge an kirchlichen Gruppen, Fülle an Immobilien, institutionelle Präsenz und anderes seien nicht die Indikatoren der Zukunft unserer Kirche(n), sondern Indikator der Zukunft wäre einfach und allein die Leidenschaft des Geistes Gottes, der Menschen zum Glauben erweckt, und dies mit Leidenschaft. Der zu neuen Risiken und Wagnissen ruft und Glauben findet in Menschen und der sie in Gemeinschaft zusammenführt – dann würde ich sagen, dass es um die Zukunft sehr gut bestellt ist. Es ist eine Zukunft, die Lust macht.

Allerdings: es geht uns so wie Kindern, die ein kleines Samenkorn in die Erde gelegt haben und nun staunend davorstehen, vor dem Wunder des Halms. Denn der hat nun wirklich gar keine Ähnlichkeit mehr mit dem kleinen Korn. Schon Paulus hat das so gesehen und das Bild benutzt, um deutlich zu machen, dass die Auferstehungswirklichkeit nicht einfach eine Zukunftsverlängerung unserer Vorstellungen vom Leben ist. Nein, die Kirche steht nicht wieder auf wie Lazarus, es geht um die Gemeinschaft des Auferstandenen.

Und es geht uns so wie Eltern, die in guter Hoffnung auf die Geburt ihres Kindes warten. Warten müssen. Und zugleich schon die ersten Bewegungen des neuen Lebens spüren – und erahnen, dass dies ihr Leben verändern wird. Wir erspüren die Revolution, die dieses neue Leben bringen wird, sind ungeduldig und ahnungsvoll zugleich und wollen alles für einen gutes Willkommen, den neuen Anfang tun.

Osteraugen

Zu dieser Lust auf Morgen gehören Osteraugen: sie entdecken inmitten des Sterbens mancher wohlvertrauter Formen schon den Aufbruch, sie erahnen in den Bewegungen des Geistes schon die Neugeburt der Kirche des 21. Jahrhunderts, inmitten der ambivalenten Weltläufe, die ihrerseits auf eine neue Form der Zivilisation zielen. Osteraugen haben Lust auf die Zukunft, vertrauen auf das Entgegenkommen des Geistes. Sie üben ein neues Sehen ein, das – wie Papst Franziskus programmatisch formuliert – die Ähren inmitten des Unkrauts bestaunt, und den Wein schon im Wasser schmeckt. Und Gott entdeckt. Mitten in dieser Welt.

Zu dieser Lust gehören für mich aber nicht zuerst Appelle und Thesenmanifeste. Zu sehr geht es dann immer noch darum, dass die Kirche endlich verstehen soll (wer auch immer damit gemeint ist), wie missionarisch, modern, liberal, katholikal oder postmodern sie sein müsste. Und ja, darin steckt auch Wahrheit, Leidenschaft und Lust auf Aufbruch. Aber das reicht nicht. Es wirkt verzweifelt, so, als könnten oder sollten wir selbst es tun und wüssten dann auch, wie die Kirche dann auszusehen habe. Das ist aber nicht der Fall. Wir würden Gottes Geist unterschätzen, wir würden unterschätzen, an wie vielen Orten er unerwartet wirkt und das Neue hervorbringt. Und häufig bemerkt man gar nicht, was da neu konfiguriert wird, welches neue Betriebssystem gerade geladen wird.

Und deswegen hatte und habe ich Lust, dieses Buch zu schreiben. Zum einen ermutigen mich die vielen Begegnungen in Pfarreien und Einrichtungen, mit Menschen innerhalb und außerhalb kirchlicher Settings: mein Eindruck ist, dass das Neue schon da ist – wie ein ungehobener Schatz. Viele können es fast nicht glauben – und manchmal scheint es so, dass der Glaubenssinn des Gottesvolkes merkwürdig gebremst ist: Darf man so denken, ist das noch katholisch? Lust auf morgen macht es, wenn wir anfangen, frei zu denken, loszulegen, unseren Intuitionen zu glauben. Dort, wo das geschieht, ist ein tiefgreifender Verwandlungsprozess im Gange und es wird spannend: wie wird die Kirche sich wohl zeigen? In welchem Gewand? In welcher Gestalt?

Aber vor allem: Wer sich dem großen Wehen des Geistes aussetzt, der das Antlitz der Erde erneuert, der erkennt in vielen Feldern eine ungeheure Kreativität, Geschichten des Umbruchs auch hier, Scheitern und Lust auf morgen, und das inmitten der apokalyptischen Weltkrisen, Abbrüche und Ambivalenzen jeder Epoche. Die wollen wir uns zuerst anschauen – denn sie geben uns zu lernen, in demütiger Lernbereitschaft und im Lesen der Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums. Etwas von unserer Zukunft wird hier antizipiert, gibt zu denken … Aus dem großen Wehen des Geistes werden die großen Wehen einer Neugeburt erfahrbar. Und sie sind schmerzlich. Die Geburt dauert, und kostet alle Kraft. Und das gelingt nur denjenigen, die Lust auf Morgen haben. „Die ganze Schöpfung liegt in Geburtswehen“, so hat schon Paulus steil formuliert.

Gesichter der Zukunft

Aber das Neue, das Kleine, das Neugeborene … Die Lust auf morgen kommt mir, wenn ich es betrachten darf. Und dann wird mir – wie vielen – deutlich, dass das Neue auch Züge des Alten trägt und doch ganz anders ist. Ich habe Lust, mir dieses Gesicht der Zukunft anzuschauen, Verbindungen herzustellen, Neues und Altes wahrzunehmen. Dabei entdecke ich die eigene Tradition neu, meine katholische, unsere große christliche Tradition. Sie wird freigelegt in diesen Gesichtszügen und so kann Neues gedacht, gesagt und gewagt werden. Ich stelle fest, dass sich in dem neuen Gesicht etwas von der Freiheit der Gotteskinder und damit der Kirche zeigt, auf deren Offenbarung ja die ganze Schöpfung wartet. Wir auch, denn erst schrittweise wird uns selbst offenbar, was uns da geschenkt ist.

Wie formulierte Bonhoeffer an sein Taufkind, nachdem er seiner Kirche vorgeworfen hatte, selbstbezogen um sich selbst zu kreisen und sich retten zu wollen?

„Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neugeboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Bis du groß bist, wird sich die Gestalt der Kirche sehr verändert haben. Die Umschmelzung ist noch nicht zu Ende, und jeder Versuch, ihr vorzeitig zu neuer organisatorischer Machtentfaltung zu verhelfen, wird nur eine Verzögerung ihrer Umkehr und Läuterung sein. Es ist nicht unsere Sache, den Tag vorauszusagen – aber der Tag wird kommen – an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert. Es wird eine neue Sprache sein, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu … die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündet.“ (WE, DB 8, 436)

Ja, genau so ist es. Darauf habe ich Lust. Ich möchte – wenn auch manchmal stotternd – durchbuchstabieren, was ich von dieser Neugeburt schon sehe, die Gesichtszüge, die großen Kontinuitäten inmitten des undenkbar Neuen, immer wieder neu Geschenkten: der Kirche, wie sie ins Leben kommt: der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche. Nicht langweilig, sondern spannend, nicht traditionsverhaftet, sondern innovationsbewusst und gerade so Auslegerin des Ursprungs und Überbringerin der frohen Botschaft in das Heute.

Pains and gains: eine Gewinn- und Verlustrechnung

Lust auf morgen habe ich – aber ich bin nicht naiv. Es gibt eine Schlussrechnung, auch wenn sie wie immer nur eine Zwischenrechnung zwischen den Zeiten ist. Natürlich gibt es tiefen Schmerz, es gibt Verluste zu beklagen, Wertvolles stirbt und wird zum Humus des Neuen. Und die Trauergemeinde ist nicht klein. Und die Versuche der Auferweckung und des Zurück in gewohnte Häfen, die gibt es auch. Darüber tröstet auch das Wissen nicht, dass alles so kommen muss, immer wieder kommen muss, weil wir in ständiger Erneuerung sind, als Menschen, als Christen und als Kirchen – und weil diese Erneuerung Maß nimmt am Kreuz, am Sterben und Tod des Auferstandenen. Hier gilt es, Trauernde zu trösten, Widerstand zu ertragen, Verweigerung zu begleiten. So ist das, wenn etwas stirbt.

Aber gleichzeitig gewinnen wir das Heute, das Christsein in der Welt von heute, das Kirchesein in fluiden und unsicheren Zeiten.

In all dem wird deutlich, dass diese Erneuerung, diese Zukunft der Kirche, nicht unser Projekt ist und deswegen auch nicht von uns gesteuert, nicht von uns „gemacht“ werden kann. Was für ein Glück. Denn das Neue, das können wir nicht, das kann nur sein Geist. Uns bleibt es überlassen, uns auf diesen Geist einzulassen.

Insofern möchte dieses Buch auch ein Beitrag zur anstehenden Unterscheidung der Geister, zu einer gesamtkirchlichen oder ortskirchlichen synodalen Vergewisserung über das sein, was der Geist seiner Gemeinde heute sagt. Darauf habe ich Lust. Das ist meine große Lust auf morgen, die ich gerne mit vielen teile, mit denen ich auf dem Weg sein darf und von denen ich so viel lerne.

Danken möchte ich allen, die am Werden dieses Buches mitgewirkt haben, im Lesen von Vorversionen und beim Korrigieren. Besonders danke ich Gabriele Viecens, die mit Geduld und Kompetenz diesen Text kritisch und sympathisch gegengelesen hat.

Hildesheim, im September 2019

Christian Hennecke

I.SIGNALE DES GEISTES

1.Radikale Partizipation – mehr als eine gemeinsame Trinkerfahrung

Es geht um mehr als eine Cola. Das wird sofort klar. Ich begegne Uwe Lübbermann bei einem der großartigen Strategiekongresse in Bensberg, die von „futur2“ regelmäßig veranstaltet werden. Es geht um mehr als ein Getränk, es geht um Zukunft, die gesellschaftlich wie kirchlich ausbuchstabiert werden muss – aber im „gewohnten Gefüge“ gesellschaftlichen wie kirchlichen Lebens nicht verankert ist.

Es geht also um Prophetie, ein „Hervorsagen“ (Maria Herrmann) einer Wirklichkeit, die schon da ist, die aber einen Menschen, eine Gruppe braucht, in der diese Wirklichkeit wirklich werden kann. Im Entdecken prophetischer Unternehmungen steckt eine Verheißung: es wird hier nämlich ein neues Gesamtgefüge, eine neue Gesamtarchitektur sichtbar, die sich als gesellschaftlicher Trend andeutet – von der wir aber nicht wissen, wann und ob sie sich durchsetzen wird. Die Zukunft wird hier anwesend, in der Gegenwart und in Verhältnissen, die ihr eigentlich entgegenstehen. Es ereignen sich Innovationen, Aufbrüche, die ein Licht werfen auf eine mögliche Zukunft unserer Gesellschaft, aber eben auch der Kirche.

Denn hier liegt ja die eigentliche Leidenschaftlichkeit meines Interesses. Nicht diese Geschichte allein ist spannend, die hier erzählt wird, sondern sie verweist auf den innersten Kern des Christseins, meines Christseins – sie erschließt mehr und mehr eine unendlich tief reichende Grunderfahrung, die letztlich in Gott gründet – und die der Ur-Sprung meines christlichen Weges ist1.

Mir scheint dies nicht zufällig, sondern programmatisch und wesentlich: es geht um ein neues Paradigma des Lebens, des Menschseins und des Christseins, das sich immer mehr durchsetzen will. Diese „Architektur“ der Wirklichkeit, die sich in konkreten Erfahrungen erschließt, durchzieht wie ein Wasserzeichen die Erfahrungen des Aufbruchs, aber sie hat auch Konsequenzen für die notwendenden Entwicklungen der Kirche – für ein Neudenken des Glaubens, um das es ja in diesem Buch zentral gehen soll. Und deshalb muss erzählt werden, geht es um Geschichten, die um den Glutkern, ja um die mystische Mitte dieses neuen Aufbruchs kreisen.

Eine simple Unternehmensgeschichte?

Und deswegen Premium Cola. Zunächst und vor allem ist es eine Unternehmergeschichte. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der in der Badewanne sitzt und seine Lieblingscola trinkt. Und überrascht feststellt, dass das Rezept seiner Cola verändert wurde. Und das ärgert ihn. Nachdem er erfolglos bei der Unternehmensleitung interveniert hat, macht sich Uwe Lübbermann selbst auf den Weg:

„Ich mutierte vom Cola-Konsumenten zum Cola-Produzenten. Eines Tages stellte ich fest, dass meine Lieblingscola anders schmeckte und ich nicht mehr wach wurde davon. Ich fand heraus, dass die neuen Besitzer der Marke Afri Cola heimlich das Rezept geändert und den Koffeingehalt deutlich reduziert hatten. Die Kunden sollten das einfach so hinnehmen – und im Hinnehmen war ich noch nie besonders gut. Ich suchte den Dialog mit den Herstellern, lancierte eine Internetseite, damit enttäuschte Kunden gemeinsam Druck auf die Firma machen konnten. Nach zwei Jahren war mir klar, dass die Manager nicht von ihrem hohen Ross herunterkommen würden, da sie die Kunden offensichtlich nicht als gleichberechtigte Partner betrachteten.“2

Und dann kaufte Lübbermann das Rezept und begann selbst, erst einmal 1000 Flaschen nach diesem Rezept herzustellen. Aber bald wurde mehr daraus. Lübbermann erzählt – und das kann man bei YouTube vielfach anschauen – von einer spannenden Gründungsgeschichte. Und die hat mich in den Bann gezogen. Denn ganz ernsthaft hat er von einem anderen Grundverständnis seines Unternehmens gesprochen, von dem ich noch nie gehört hatte.

Von der geteilten Gleichwürdigkeit

Ein Unternehmen zu verstehen als ein Netzwerk aller Beteiligten – das erscheint auf den ersten Blick normal, und doch: Lübbermanns Idee reicht weiter. Alle, Kundschaft, Lieferant*innen, Fahrer*innen und Transportunternehmen, nicht nur die direkte Produktionsstätte – gehören gleichermaßen dazu. Und das bedeutet:

„Das Unternehmen beinhaltet für mich nicht nur jene Leute, die direkt angestellt sind, sondern alle 1680 involvierten Partner, also auch die Rohstoffproduzenten, die Zulieferer, die Zwischenhändler, die Spediteure und Gastronomiepartner, die Etikettendrucker, Buchhalter, Informatiker. Ich habe in 14 Jahren keinen einzigen Vertrag ausgestellt, um die Zusammenarbeit zu regeln, und dennoch oder gerade deshalb hatten wir keinen einzigen Rechtsstreit. Das hängt damit zusammen, dass wir nicht hierarchisch, sondern nach dem Prinzip der Konsentdemokratie funktionieren. Alle Partner und interessierten Kunden werden über Veränderungen informiert und können sich einbringen.“3

Ich staune, wir staunen. Das soll funktionieren? Wie kann das funktionieren?

„Zu Beginn ist es aufwendig, aber dann zahlt es sich rasch aus. Entscheidungen haben bei uns klassischerweise eine Vorlaufzeit von ein bis drei Wochen. Ich kenne viele hierarchisch organisierte Unternehmen, in denen es Monate bis Jahre dauert, bis ein Entscheid gefällt wird. Und oft kommt dann ein neuer Manager und krempelt alles wieder um. Wir geben die Themen in eine breite Diskussion, an der sich jeder beteiligen kann, der schon einmal eine Flasche Premium-Cola getrunken hat, und sich mit seinem Namen im Online-Board registriert. Nach ein bis zwei Wochen macht jemand einen Beschluss-Vorschlag – oft bin das ich in meiner Rolle als zentraler Moderator. Da haben nochmals alle ein Veto-Recht, wobei Schweigen als Zustimmung gedeutet wird. Von den 1680 Partnern bringen sich gut 150 regelmäßig ein, pro Thema sind es 10 bis 15. Alle anderen wissen, dass sie diese Möglichkeit haben und nicht einfach über ihre Köpfe hinweg etwas entschieden wird.“4

Und das war am Anfang auch so. Lübbermann erzählt, wie lange es am Anfang gedauert hat; er erläutert das Konsentprinzip, das nicht auf einer Einstimmigkeit, aber darauf basiert, dass die Grundidee im Fokus bleibt und nur durch ein Veto eine Weiterentwicklung verhindert werden kann. Das aber, so Lübbermann, kommt eher selten vor. Viele Fragen werden auf diese Weise diskutiert – mit allen, die sich daran beteiligen können, weil es sie (auch als Konsumierende) betrifft.

Das alles ist mehr als erstaunlich. Und es rückt vieles ins Licht. Zuerst und vor allem wurde schon zu Beginn klar, dass es um mehr als Cola geht – es geht um einen Systemwandel. Und genau diese Perspektive macht den Unterschied von Anfang an:

„Bald stand nicht mehr das Produkt im Vordergrund, sondern die Idee einer anderen Form von Zusammenarbeit. Und damit die Frage: Welches Menschenbild leitet uns eigentlich bei unseren Entscheidungen? Für mich ist die Gleichwertigkeit von Menschen der zentrale Treiber.“5

Das zeigt sich in allem: vom gleichen Lohn für alle Mitarbeitenden bis zur Mitentscheidung aller Beteiligten, aber gleichzeitig steckt noch mehr dahinter.

Mehr als ein Menschenbild

Lübbermann nimmt für sich in Anspruch, die hierarchische Struktur überwunden zu haben. Aber in allen Interviews und TEDs wird deutlich, dass er selbst schon eine besondere Rolle hat. In der Tat nicht nur er: es gibt ein Zwölferteam (!), das mit ihm zusammen die zentrale Moderatorenrolle übernimmt. Er – und die Zwölf – sind also vor allem für zwei Dinge verantwortlich: zum einen geht es darum, der Ursprungsidee treu zu bleiben, die ja eben nicht nur in der Produktion eines Getränkes besteht, sondern in der Eröffnung eines Paradigmas, das wir gleich noch etwas tiefer analysieren wollen. Und zum anderen geht es um die diesem Paradigma angemessenen Prozesse, die ja ein anderes Grundverständnis des Menschseins beschreiben.

Denn es geht in der Tat um mehr als Gleichwertigkeit und Gleichwürdigkeit. Lübbermann antwortet in einem Interview auf die Frage nach seinen fünf Grundideen beeindruckend deutlich: es geht ihm um Gleichwürdigkeit, die einen Raum für alle Menschen eröffnet, in dem Unternehmen die eigene Rolle zu finden. Es ist ein Raum der Solidarität, der Rückhalt gewährt, und Menschen aufgrund dieser Wertschätzung ermöglicht, aus dieser Wertschätzung heraus sich entsprechend zu verhalten: denn die Menschen sind grundsätzlich gut, wie Lübbermann unterstreicht.6

Daran wird deutlich, dass diese Gleichwürdigkeit nicht auf dem Hintergrund einer Individualisierungsthese gründet: sie wurzelt sich vielmehr ein in einer „Community“, einer Verbundenheit, die vorgängig den Raum für die Gleichwürdigkeit eröffnet und für die Dynamik einer gemeinsamen Ausrichtung. Nicht nur das Ziel der Getränkeproduktion, sondern auch die Art und Weise der Beziehungsverhältnisse gehören konstitutiv dazu.

„Systemwechsel kannst du trinken …“

So lässt sich das auf einem Werbeplakat lesen. Und als Zutaten werden genannt: „Betriebssystem: im Konsens seit 2001, erhöhter Kollektivgehalt … pro 1000 ml: Überzeugung 100% – Vertrauen 200%, davon Aufrichtigkeit 300% – enthält Systemkritik.“7

Dieser Systemwechsel ist spannend, denn er gründet nicht nur auf einem Menschenbild, sondern auch auf eine Einsicht in die Beziehungsverhältnisse der Menschen in einer Organisation. Es geht um mehr als Organisation, sondern um einen nach außen offenen Organismus lebendiger Beziehungen, die hier in Grundhaltungen beschrieben werden. Und eigentlich geht es hier nicht um eine nachträgliche Zusammenführung eines Teams, sondern darum, eine vorgängige Wirklichkeit zu entdecken und ins Leben zu bringen …

Eine radikale „Theologie“ …

Mich hat Uwe Lübbermann sehr beeindruckt und vor allem hat mich sein Tun, Handeln und Denken theologisch inspiriert. Oder besser: sein Handeln und die darin liegenden Voraussetzungen vergegenwärtigen theologische Grundoptionen, werfen ein Licht auf die christliche Grunderfahrung und machen sie – quasi von außen – in einer neuen Weise erfahrbar.

Jenseits gewohnter Denkwege, jenseits formelhafter und traditionsüberformter Sprache wird hier die Wurzel und der Kern des Christseins gehoben und ins Leben gebracht.

Wenn die Mitte der christlichen Botschaft die Erfahrung einer Liebe ist, die Menschen verbindet in einem Raum der Freiheit und Verbundenheit, wenn der Kern der Botschaft jene Liebe ist, die jeden Menschen in einer freigebenden Zusammengehörigkeit zum Stehen kommen lässt, die ihn freisetzt und seine Potentiale realisiert, dann gehört die Rede von einem neuen „Betriebssystem“ zum Geheimnis der Wirklichkeit, die wir im Glauben bekennen: es geht letztlich um die Grundvision der „Wohnung Gottes unter den Menschen“, die ja die eschatologische Grundperspektive, das letztgültige Woraufhin christlicher Existenz ist. Aber dies zu sagen, heißt eben nicht, es in die nicht erreichbare Zukunft zu verlegen, sondern achtsam zu werden für die Grundwirklichkeit des Seins. Im Ursprung liegt hier eine geschenkte und zugrundegelegte Beziehungswirklichkeit, die nicht nachträglich hinzukommt, sondern entdeckt wird. Die paulinische Rede vom Leib Christi wird hier sprechend und praktisch, die Rede von einer beziehungsreichen Einheit, die vorgängig ist, und die in den konkreten Vollzügen aktualisiert wird.

So ist Uwe Lübbermann eine charismatische und prophetische Gründergestalt, die aus der Kraft des Geistes heraus die Wirklichkeit hervorsagt, die die geistvoll geprägte Welt angemessen gestaltet. Genau so beschreibt er ja auch den Ur-Sprung seines Handelns, der ja aus einer Unzufriedenheit wächst. Wie jede Gründungsgestalt wollte er nicht gründen, sondern es war eine Herausforderung, die ihn zum Handeln führte, ein Unternehmer werden ließ, der letztlich eine Community bildete, die ihre „mission“ – eine neue Cola – mit einem neuen „Betriebssystem“ gestaltete, das exzellent funktioniert, weil es der Wirklichkeit erlöster Beziehungen entspricht.

… mit radikaler Partizipation

Ausgangspunkt meines Staunens war die Radikalität, mit der Lübbermann Partizipation gestaltet. Ich konnte es kaum glauben, dass jemand einen so weiten Raum eröffnet, in dem wirklich alle Betroffenen – von Kundschaft bis zu Lieferant*in – im Gestaltungsprozess eines Unternehmens radikal gleichwürdig beteiligt sind. Ich staunte, dass es möglich ist, dass es funktioniert und wirksam ist.

Ich erinnerte mich an das altkirchliche Diktum im Kontext der Synodalität: „Was alle betrifft, muss von allen mitentschieden werden“ („Quod omnes tangit, ab omnibus approbari debet“) und war verwundert, dass dies so entschieden verwirklicht werden kann.

Hier gilt es zu lernen. Als Kirche, als Gemeinschaft der Christgläubigen. Ein Spiegel wird vorgehalten, der mehr zeigt als nur ein Procedere zur gemeinsamen Abstimmung! Radikale Partizipation verweist – wie ja auch die konziliare Rede von der „partizipatio actuosa“ im Kontext der Liturgie als einem Spiegelbild kirchlicher Vollzüge – auf eine Gründung im Ursprung der Wirklichkeit, in dem Gleichwürdigkeit, Freiheit und Verbundenheit einen Glauben in die radikale Güte der Schöpfung begründen und entfalten.

Warum, so habe ich mich gefragt, gelingt das „kirchlich“ so wenig wirksam? Was müßte geschehen, damit wir innerkirchlich und darüber hinaus Abstimmungsprozesse in dieser Radikalität gestalten? Welches gemeinsame Bewußtsein von Sendung und „mission“ braucht es? Genau hier liegen die Herausforderungen.

2.Mechthild Reinhards Tetraeder – Auf dem Weg zu einer Mystik des 21. Jahrhunderts?

So einfach zu erklären war dies nicht. Mechthild Reinhard hielt an Stelle des erkrankten Hauptreferenten beim Strategiekongress von Futur2 in Bensberg 2017 einen Vortrag über ihre Grundgedanken, der sehr viele in den Bann zog. Warum genau, war sicher unterschiedlich – ich war hingerissen, weil jemand im Blick auf ihr Unternehmen, seine Gründung, eine Grundperspektive eröffnete, die ich meinte zu kennen. Aber genauer.

Mechthild Reinhard ist eine systemisch geschulte Therapeutin. Sie hat – zusammen mit anderen – in den vergangenen Jahren die SysTelios Klinik aufgebaut.8 Darüber erzählte sie. Vor allem darüber, wie sie diese Klinik gestaltet und prägt und was dem zu Grunde liegt. Dafür ist sie, aus Ostdeutschland stammend, einen längeren Weg gegangen. Die klassischen Wege der Medizin, und die klassischen Wege der Organisation der Medizin und Therapie, hatten sie nicht überzeugt. Und so begann sie einen neuen Weg.

Denn, so Reinhard, wir müssen Wege verlassen, die scheinbar alternativlos sind und Kliniken einfach nur als Organisation verstehen. Nein, denn sie sind Organismen, aus lebendigen Menschen gebaut, die nicht hierarchisch um einen „Chef“ kreisen, sondern eine gemeinsame Mitte haben in dem „Wofür“ ihres Tuns, das sich natürlich immer wieder spezifiziert in die vielen Sachbereiche. Menschen, die – so Mechthild Reinhard – sich um solche „Feuer“ versammeln, werden ihr Bestes geben, um ihre Sendung zu erfüllen. Sie sind sich selbst organisierende Communities im Kontext einer gemeinsamen Aufgabe. Selbständig und kompetent, selbstorganisiert und kreativ. Ein atmendes Gefüge, eine leidenschaftliche Wirklichkeit – und in allem steht ein ermöglichendes Vertrauen in alle, die teilnehmen an diesem Weg. Und er funktioniert. Und es ist beeindruckend.

Eine Ursprungserfahrung gibt zu denken …

Immer dann, wenn Mechthild Reinhard von ihrem Ansatz erzählt, kommt sie auf eine therapeutische Grunderfahrung zu sprechen, die sie nachhaltig geprägt hat. Sie erzählt dann von einer Begegnung mit einem neunjährigen Jungen, bei dem schon alle Therapieversuche gescheitert waren. In ihren Begegnungen wurde Schritt für Schritt deutlicher, dass nur das radikale Sich-Einlassen auf ihn, auf seine Welt und das gleichwürdige Forschen nach einem Weg die Möglichkeit für die nächsten Schritte eröffnete. Reinhard erzählt immer wieder, wie sie selbst – mit all ihrem systemischen Wissen – erlebte, dass sie im radikalen Sich-Einlassen auf ihn neue Wege entdecken konnten. Im gemeinsamen und offenen Fragen, im wechselseitigen Vertrauen entstand nun ein neuer Weg, der Heilung ermöglichte. Er bestand aus Fragen, die Reinhard stellte, und es kam zu „Kopplungen“, zu großem Vertrauen – und es entstand ein Raum wechselseitiger Präsenz, wechselseitigen Verstehens, der den Klienten dazu führte, an sich selbst zu glauben, selbst kreativ zu werden, und Kräfte in sich wahrzunehmen, die er vorher nicht bewusst wusste und die die Therapeutin auch nicht wusste. So entstand ein Weg, ein Raum, in dem für die ganze Familie – das ganze Familiensystem – ein Heilungsweg möglich wurde.

Der Heilungsweg gründete sich darin, dass auf einmal der Patient es wollte, nicht musste! Das „Wofür“ gründete sich nicht außen, sondern selbstbestimmt und innen – im Blick auf die Liebe, die er zu seiner Mutter hatte.

Nachdenken über die Grunderfahrung

Hier öffnete sich ein Horizont, den Reinhard dann im Folgenden nicht mehr loslassen sollte. Sie selbst sagt: ohne diese Erfahrung würde es die SysTelios-Klinik nicht geben.9

Sie erahnte darin eine Grundarchitektur, eine Grundgestalt, die nicht nur für Therapien galt, sondern eben für jeden Menschen, für jede Organisation, für jeden Entwicklungsweg.

Wie jede tiefe Grunderfahrung gibt sie zu denken, und verlangt den Dialog mit Denkenden. Es sind dabei besonders zwei Denker, die dann für Reinhard bedeutsam geworden sind10: Auf der einen Seite steht hier Martin Buber, dessen dialogisches Denken hier wesentlich wird – und zum anderen der Architekt Richard Buckminster Fuller, dessen räumliches Denken für Reinhard leitend wurde.

Es ist spannend, diesen nachdenklichen Weg Reinhards mitzugehen. Denn so wird eine therapeutische Perspektive ansichtig, die den Intuitionen verblüffend gleicht, die wir bei Uwe Lübbermann und seinem Cola-Projekt entdecken konnten. Reinhard interpretiert Buber im Blick auf das dialogische Prinzip zwischen Ich und Du. Sie schreibt:

„Verstehen ist hier kein technischer, verdinglichter Vorgang – kein Akt, der aus der Haltung der naturhaften Abgehobenheit (Ich-Es) erwächst und der monologisch in dem einen oder anderen Akteur stattfindet, sondern im Zwischen, im Dialograum selbst.“11

Und genau um diesen Dialograum geht es. Reinhard traut sich auf diesem Hintergrund, Buber einen „Beziehungs-Denker“, „Dialog-Sprachen-Künstler“, „Zwischenraum-Benenner“, „Glaubens-Erforscher“ zu nennen. Denn Buber umschreibt genau jenen Erfahrungsraum, der sich eben nicht nur in Ich-Du-Beziehungsmustern fassen lässt, der nicht nur die Kontexte miteinbezieht, sondern eben auch ihre jeweilige wechselseitige Dynamik erfasst. Genau das macht dann das Leben „räumlich“.

Und hier bezieht sie sich auf Richard Buckminster-Fuller, der den kleinsten Raum als Tetraeder beschrieben hat. In kreativer Aufnahme dieses Gedankens formuliert sie diesen wechselseitigen Beziehungsraum so:

„Der vierte Eckpunkt würde sich – in meinen Worten formuliert – dadurch bilden, wenn wir die Metaperspektive der Wechselwirkung zwischen dem Beobachter, dem zu Beobachtenden sowie des Kontextes ständig mit einbezögen. Erst dann würde das System räumlich. Und – ich füge hinzu – kann es sich in Bezug auf das gewünschte Ziel (selbst) organisieren. Diese sich selbst organisierende Kernkraft werde ich als Mensch nur dann spüren und aus ihr leben, wenn ich mich diesem Wirkprozess im wahrsten Sinnen des Wortes hingebe.“12

Eine Mystik des 21. Jahrhunderts

In dieser Perspektive denkt Mechthild Reinhard weiter: aus ihrer Grunderfahrung (s.o.) entsteht zum einen die Erkenntnis, dass es in jedem Menschen – wie immer er/sie auch verletzt und versehrt ist – etwas Unteilbares und Heiles gibt, eine Quelle, aus der die Person schöpfen kann, wenn es gelingt, in den Raum wechselseitiger Beziehung einzutreten und gemeinsam Ausschau zu halten nach einem Ziel. Dann entsteht eine Verbindung, eine „Kopplung“. Insofern echte Beziehungen darin gründen, den je Anderen eine innere Quelle der Fülle und eine Würde zuzuschreiben, damit Vertrauen für einen Weg für die Zukunft möglich wird.

Und so stößt – nicht ganz verwunderlich – Mechthild Reinhard auch auf die christliche Spiritualität, insofern dort Gott eben nicht ein gewöhnlicher Erfahrungsgegenstand ist, sondern ein Du, ein Raum, in dem wir uns geborgen und reich beschenkt fühlen.13

Beziehung, die gelingt, die Würde und Mitgefühl mit dem Anderen lebt, spielt sich also in einem solchen Raum ab:

„Deuten wir die Welt und uns in ihr aus der expliziten Metapher der Fülle, werden das Denken in komplexen Zusammenhängen, Koevolution, Sicherheit aus/in Kooperation, Vertrauen, Freude und Lust am stets neuen ,Aufbruch ins Ungeahnte‘ – am Leben eben – handlungsleitend sein können.“14

Eine inkarnatorische Mystik …

Diese Gedanken, die man bei Reinhard nachhören und nachlesen kann, sind ihre Versuche, jener unglaublich dichten Grunderfahrung nachzugehen. Sie gilt – so habe ich schon angedeutet – aber eben nicht nur für die therapeutische Begleitung von Menschen, sondern wird das Muster zur Gestaltung der Prozesse ihrer Klinik, ja und auch ihrer Vorträge.

Zum einen waren wir Zuhörende beim Strategiekongress fasziniert von der Beschreibung der Prozesse in der SysTelios Klinik. Immer geht es ihr – und den weiteren Verantwortlichen – darum, eine Struktur zu entwickeln, in der jede und jeder zum einen sein eigenes Universum ist und bleibt, in der ganzen Fülle seiner Möglichkeiten, zugleich aber jeder und jede, von den Ärzt*innen bis zu den Köch*innen, in einer gemeinsamen und konsensuellen Wirklichkeit zu stehen kommt und sich so gemeinsam fragen lässt, mit welchem „Wofür“ man unterwegs ist. „Für welche Welt willst du eigentlich einen Beitrag leisten? Wie wäre sie – so, dass du gut atmen kannst, Lust zum Aufstehen verspürst und Vertrauen ins Leben erlebst? Wie würde in ihr gehandelt? Welches zwischenmenschliche Erstehen des Verstehens würde da gelebt?“ – so etwa die Leitfragen eines jeden Bereichs bei SysTelios. Es geht darum, sich um eine Idee je neu und jeden Tag zu gründen und ihr zu dienen – einer Idee, die anzieht und die alle Kräfte freisetzt.

Es geht ihr um eine „bewusste vertrauensvolle Hingabe an die sich selbst organisierenden Prozesskräfte …, um als räumliche Wesen eine menschenwürdige Kernkraftnutzung praktizieren zu können. Deren Energie würde nicht aus der Spaltung freigesetzt, sondern aus der Erkenntnis und Praxis einer thermodynamisch wirksamen »Vertrauenswende« der Hingabe an den Prozess des Geschehens selbst …15

Dieses Feuer, diese Energie, hat Reinhard immer wieder betont. Das Spannende war nun, dass sich dieses Feuer auch in ihrem Vortrag ereignete, und jene „Kopplung“, von der sie in ihrer Ursprungserfahrung berichtete, im Vortrag selbst stattfand. Wir alle befanden uns also in jenem Raum der energiereichen Sinnhaftigkeit, von dem sie uns erzählte.

Konsequenzen

Genau aus diesen Gründen weist das Unternehmertun von Mechthild Reinhard in die Zukunft eines Paradigmenwechsels ein. Dieser Wandel ist bemerkenswert: immer geht es um „Räume“, in denen sich ein Miteinander, eine Wechselseitigkeit der Beziehungen ereignet. Diese Beziehungen aber sind ihrerseits gegründet in einer unhintergehbaren Einzelheit jeder Person, die in sich eine Quelle der Selbstwirksamkeit behält. Der geschenkte „mystische“ Raum ermöglicht das Wirklichwerden einer Dynamik des Miteinanders, die eben gerade nicht die Freiheit des Einzelnen reduziert, sondern eher orientiert auf das „Wofür“ des Lebens.

Natürlich erhellt diese Perspektive zutiefst einen christlichen Grundansatz, der vielleicht nur so sichtbar und auf Dauer wirksam werden kann. Er hat vielfache Konsequenzen, die in diesem Buch skizzenhaft angeleuchtet werden sollen.

3.Evolutionäre Organisationen: ein Beispiel aus Holland

Eine der spannendsten Einblicke in Veränderungsprozesse von Organisationen hat in den letzten Jahren Frederic Laloux16 gegeben. Er beschreibt Prozesse auf dem Weg hin zu evolutionären Organisationen. Was mich dabei sehr stark beeindruckt hat, sind die Perspektiven für ein anderes Weltbild, die sich hier eröffnen – und dies vor allem durch die faszinierenden Berichte über Unternehmungen, die sich so ganz anders organisieren als bisher bekannt. Grundlegend dabei sind einige Einsichten und Verstehenshorizonte, die dabei zeigen: Organisationen – so Laloux – verstehen sich hier mehr als sich entwickelnde Organismen mit einem evolutionären selbstorganisierenden Drang zur Weiterentwicklung.

Was bedeutet das? Laloux beschreibt drei wichtige Durchbrüche:

–„Selbstführung: Evolutionäre Organisationen funktionieren vollständig ohne Hierarchien (und auch ohne Konsens)…“;

–„Ganzheit: Evolutionäre Organisationen haben eine Reihe von Praktiken entwickelt, die dabei unterstützen, unsere innere Ganzheit wiederzuerlangen und unser vollständiges Selbst in die Arbeit einzubringen.“

–Evolutionärer Sinn: Evolutionäre Organisationen können wir so verstehen, dass sie aus sich selbst heraus lebendig sind und eine Richtung entwickeln.“17

Buurtzorg

Die Herausforderungen niederländischer Krankenpflege gleichen denen in anderen Ländern. Herabwürdigende Arbeitsbedingungen, hoher Verwaltungsaufwand, die große Zahl von unterschiedlichsten Patient*innen und der Verlust menschlicher Verbindungen führen dazu, dass die ursprüngliche „Berufung“ zum Dienst am Bedürftigen ausgehöhlt wird. „Das System hatte die Patienten als Menschen vernachlässigt.“18

Ende 2006 gründete deswegen Jos de Blok sein eigenes Unternehmen. Er war schon Krankenpfleger gewesen und hatte im Karriereaufstieg leitende Managementfunktionen übernommen. Er gründete ein eigenes Unternehmen, Buurtzorg – „Nachbarschaftspflege“ –, das in sieben Jahren von 10 auf 7000 Pflegekräfte wuchs.