Glimmer Gossip (1). Ein Geheimnis und ein perfektes Desaster - Emma Flint - E-Book

Glimmer Gossip (1). Ein Geheimnis und ein perfektes Desaster E-Book

Emma Flint

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Beschreibung

Jede Menge Peinlichkeiten, Freundinnen-Spaß und Internatsgeheimnisse in Serie! Immer wenn du denkst, es kommt nicht schlimmer, frag mal Lexi Glimmer! Lexi Glimmer startet auf dem Eliteinternat Sandsgarden durch. Zumindest ist das der Plan. Dafür hat sie sogar die Redaktion der langweiligen Schulzeitung übernommen. Doch es läuft mal wieder nichts wie geplant: Ausgerechnet Angeber Jack ist ihr Redaktionskollege und dann wird sie auch noch verdächtigt, Gossip-Nachrichten am Schwarzen Brett aufgehängt zu haben. Um ihre Unschuld zu beweisen, muss sie den wahren Täter finden. Gar nicht so einfach. Jack nervt, Lexis Freundin Holly stolpert von einem Schlamassel ins nächste und ein geheimnisvoller Anrufer gibt Lexi merkwürdige Rätsel auf. Schon steckt sie bis über beide Ohren in Schwierigkeiten. Ihr Leben braucht wirklich eine Spoilerwarnung: Enthält jede Menge Chaos! Die erfolgreiche Autorin Emma Flint geht in Serie! Wenn Du spannende und lustige Internats- und Freundschaftsgeschichten lesen willst, bist Du bei "Glimmer Gossip" genau richtig! Erhalte exklusive Einblicke in Lexi Glimmers Tagebuch, in Geheimprotokolle und Erfahrungsberichte … Für alle ab 10 Jahren, die Geheimnisse, Enthüllungen und Intrigen lieben. Perfekt als Geschenk für beste Freund*innen und wunderschön mit Glitzer auf dem Cover

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 371

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Emma Flint,

geboren 1975, arbeitete schon als Hausbotin, als

Bademeisterin, als Basketballtrainerin, als Regaleinräumerin

im Supermarkt und als Fernseh- und Radioreporterin, bevor

sie anfing, Bücher zu schreiben. Wobei ihr Letzteres eindeutig

am meisten Spaß macht. Flint lebt mit ihrer Familie in Köln.

Weitere Bücher von Emma Flint im Arena Verlag:

Jungs verstehen das nicht!

Mein Leben voller Feenstaub und Konfetti

Ich glaub, es glitzert!

Für mein Leben seh ich kunterbunt

Knalltütenwunder

Mein Leben ist ganz großes Kino

1. Auflage 2023

© 2023 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Cover und Innenvignetten: Eva Schöffmann-Davidov

Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann

Lektorat: Deborah Schirrmann

E-Book ISBN 978-3-401-81060-7

Besuche uns auf:

www.arena-verlag.de

@arena_verlag

@arena_verlag_kids

Achtung! Wichtige Vorbemerkung!

Weil Ihr vermutlich die schlimmsten Anschuldigungen über mich gehört habt und an meinen guten Absichten und vielleicht sogar an meinem Charakter zweifelt, sehe ich mich gezwungen, meine Sicht auf die Geschehnisse darzulegen.

Ich werde detailliert berichten, was in diesem Schuljahr passiert ist. Dazu werde ich Euch Einblick in mein Tagebuch gewähren. Ungeschönt und unzensiert und in all seiner peinlichen Pracht. Aber dann wisst Ihr wenigstens, dass ich die Wahrheit sage und nichts als die Wahrheit. Damit Ihr mir endlich glaubt, dass ich das nicht war: Ich habe keine Gerüchte verbreitet. Auch wenn die schrecklichen Aushänge am Schwarzen Brett plötzlich von allen »Glimmer Gossip« genannt worden sind – ich hatte NICHTS damit zu tun!

Gut, für das Durcheinander später bin ich ein bisschen mitverantwortlich. Aber ich musste doch rausfinden, wer die Gerüchte wirklich verbreitet hat! Dass bei der Suche nach dem Täter alles schiefgeht, war keine Absicht. Im Gegenteil. Dieses Schuljahr sollte ganz im Zeichen des Erfolgs stehen. Tja. Leider mal wieder falsch gedacht.

Wirklich – manchmal denke ich, mein Leben müsste mit einer Spoilerwarnung versehen werden: Achtung, enthält jede Menge Chaos!

Eure Lexi Glimmer

Samstag, 26. August

Lexi Glimmer stieg aus dem Auto, schob die runde Metallbrille, die ihr das gewisse Etwas verlieh, ein Stück höher die Nase hinauf und musterte einen Moment das Schloss, das ihr Zuhause werden würde. Ein glorreiches Jahr lag vor ihr. Über den Sommer war sie nicht nur 15 geworden, auch ihre Haare hatten endlich die richtige Länge erreicht, um sich einen Haarknoten im Sleek-Bun-Style zu machen, in den sie griffbereit einen Bleistift stecken konnte für den Fall, dass sie sich schnell Notizen machen musste. Streberschick, voll im Trend. Außerdem hatte sie all ihre Schwächen und bescheuerten Eigenschaften abgelegt, die sie bisher auf dem Weg zu Ruhm und Erfolg ausgebremst hatten, und war ein neuer Mensch geworden.

Ein Mensch, der sich offensichtlich angewöhnt hat, in der dritten Person von sich zu sprechen. Geht gar nicht, Lexi Glimmer, geht gar nicht! Bevor du dir also schon wieder neue Macken zulegst, fang lieber noch einmal von vorne an!

Samstag, 26. August

Die Sommerferien sind vorüber. Ich sitze auf den Stufen vor Schloss Sandsgarden. Tante Kirsten hat mich hergebracht, weil meine Eltern schon früher zurückgeflogen sind nach Islamabad, wo sie in der Botschaft arbeiten. Da ich nach unserem Aufenthalt in Dschibuti meinen diplomatischen Dienst gekündigt hatte, wohne ich seit zwei Jahren im Internat Sandsgarden. Und jetzt ziehe ich endlich ins Schloss!

Zehnte Klasse! Goodbye, Wohnbereich der Kleinen in den ehemaligen Scheunen! Keine Dachschrägen und Bettkojen mehr. Nein, jetzt gehören Holly und ich zu den Großen und werden dementsprechend großartig untergebracht!

Passend dazu bin ich auch endlich bereit, dem Schulmotto »Aus Tradition erfolgreich« zu folgen. Und nicht weiter an unserem eigenen Freundinnenmotto »Aus Tradition chaotisch« zu arbeiten. Keine Desaster mehr wie im letzten Schuljahr! Das Schloss wird zur absolut blamagenfreien Zone. Wir werden vernünftige und zielstrebige Eliteschülerinnen an einer Eliteschule sein.

Ich hoffe nur, dass Holly diese Wandlung auch spüren wird. Jetzt, wo sie nicht mehr mit Simon zusammen ist, ist sie hoffentlich wieder im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte.

Ich freue mich sehr auf das neue Schuljahr. Das Schloss ist so schön! Die weißen Mauern mit den spitzen Ziergiebeln und den runden Türmen, die ihre Schieferdächer in den blauen Himmel recken. Es ist 1948 zu einer Schule umgewandelt worden. Ein Stahlbaron hatte es Ende des 19. Jahrhunderts nach dem architektonischen Vorbild eines Castles der englischen Königsfamilie erbauen lassen. Er wollte sich wie ein Lord fühlen, weswegen er auch diesen schicken Namen ausgesucht hat: Sandsgarden. Und jetzt würde es mein Zuhause werden. Gestatten, Lexi Glimmer, Schlossbewohnerin.

Ein denkwürdiges Ereignis! Das insgesamt dritte, seit ich auf dem Internat bin.

Das erste passierte, als ich kurz nach meiner Ankunft aus Dschibuti unter Kulturschock stehend über den Pausenhof geschlichen war und Holly mir im Vorbeigehen eine Ladung Wassermelonenkerne auf meine weiße Bluse gespuckt und mich dann auch noch angemotzt hatte: »Was schleichst du auch so rum wie ein Dieb auf der Suche nach Schokobananentorte?« (Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.)

Das zweite war, als ich Queen kennenlernte. Im Park. Wohin ich mich nach einer Standpauke von Herrn Nouri verkrümeln wollte, um mich ein bisschen in Selbstmitleid zu suhlen. Da hörte ich auf einmal ziemlich laut »Another one bites the dust« aus einem Lautsprecher von Milan, dem Sohn des Gärtners. (Der Beginn einer weiteren wunderbaren Freundschaft. Nicht mit Milan, sondern mit Queen.)

Und jetzt also das Schloss! Ich bin soooo gespannt, wie unser Apartment aussieht. Tante Kirsten ist schon wieder davongebraust, weil sie zu einer Ausstellungseröffnung fahren muss, über die sie für ihre Zeitung berichtet.

Ich gehe auch unter die Reporterinnen! Dieses Jahr habe ich mich – nicht ganz freiwillig, zugegebenermaßen – dazu bereit erklärt, bei der Schulzeitung Der Sandmann zu arbeiten. Deswegen werde ich ab jetzt auch über mein Internatsleben genauestens Protokoll führen. (Tante Kirsten meinte, am besten lernt man Schreiben durch Schreiben.) Fühle mich schon ganz journalistisch, wie ich hier auf der Treppe sitze und meine Notizen mache, bevor ich gleich den Augenblick des Einzugs ins Schloss in aller Würde zelebriere.

Immer noch Samstag, 26. August

Okay, das mit dem »in aller Würde zelebrieren« übe ich noch mal. Aber meinen kleinen Ausrutscher hat zum Glück keiner mitbekommen. Und eine Blamage, die niemand mitbekommt, gilt nicht. (Dieser seltsame Junge, der live dabei war, zählt nicht, weil er kein Schüler hier ist.)

Ich muss sagen, es war eine brillante Idee, einen Tag früher aus den Ferien zurückzukommen als die anderen. (Gut, auch das nicht ganz freiwillig. Ich hab nämlich nachher einen Termin in der Redaktion mit Ruby und Ramona Nasemann, die mir erklären, wie das beim Sandmann läuft.)

Nachdem ich also eben meinen Tagebucheintrag beendet hatte, hängte ich mir die große Sporttasche um, schnappte meinen Koffer und den Karton mit den Büchern und stieg die breite Treppe hoch zu der großen, mit Blumenschnitzereien verzierten Eichentür. Dann stellte ich fest, dass ich keine Hand frei hatte, um die Tür zu öffnen. Hintern voran, aber mit erhobenem Kopf betrat ich mein neues Leben.

Den Eingangsbereich des Schlosses fand ich heute noch mal spektakulärer, weil er ja jetzt zu meinem Zuhause gehört. Der grau-weiß gesprenkelte Marmorboden, die geschwungenen Treppen und der gigantische Kristallkronleuchter an der Decke. So elegant und mondän! Wenn das Schwarze Brett und die Schilder zu den Lehrerbüros und der Bibliothek nicht da wären, könnte man sich glatt vorstellen, man ginge auf einen königlichen Ball.

Ich fühlte mich jedenfalls wie Gräfin von und zu Piekfein, die sich mit traumwandlerischer Sicherheit in den höchsten Kreisen bewegt (eine moderne, emanzipierte Gräfin natürlich, die ihr Gepäck selbst schleppt und sich nicht anmerken lässt, dass ihr der Gurt der Tasche in die Schulter schneidet und ihr fast der Arm abfällt, weil der Bücherkarton in bedrohliche Schieflage geraten ist).

Auf der Treppe war dann Schluss mit piekfein. Keuchend wuchtete ich meinen Kram nach oben, bis ich auf dem zweiten Absatz wegen einem Krampf den Karton fallen lassen musste, der bei der Gelegenheit aufriss.

Die Schmuckbände von Jane Austen, die Gedichtsammlung von Emily Dickinson und eine zerlesene Ausgabe von »Krieg und Frieden« ergossen sich auf die Marmorstufen.

Würde ich gerne in mein Tagebuch schreiben. Weil das zu der neuen fabelhaften Lexi und diesem Internat passen würde, in dem Bildungsprotzerei eine Schülerpflicht ist. Leider hab ich aber noch nicht alle meine bescheuerten Eigenschaften abgelegt, die mir in Sachen Ruhm und Erfolg im Weg stehen. Wie zum Beispiel meine Schwäche für schmalzige Liebesromane. (Die ich aber im Grunde gezwungenbin zu pflegen. So gruselsensibel, wie ich bin, bekomme ich nämlich sofort Albträume von allem, was auch nur ein bisschen spannend ist. Wenn ich eine Sache wirklich super kann, dann mir selbst Angst einzujagen.)

Jedenfalls waren die Stufen auf einmal übersät mit Titeln wie Einen Kuss lang verliebt, Wildblumensommer mit Happy End und Liebe niemals einen Star. Ich war sehr erleichtert, dass die meisten anderen Schüler heute noch nicht da waren. Ein schrecklicher Gedanke, so einen Auftritt am großen Einzugstag hinzulegen, wo jeder mitbekommen würde, was für Schmachtfetzen ich lese. Ultrapeinlich!

Gerade sammelte ich In deinen Armen liegt die Welt ein, auf dessen Cover ein muskulöser Mann in Latzhose abgebildet ist, als ich Schritte von oben hörte. Genauer gesagt Schuhabsätze, deren Klackern von den hohen Wänden widerhallte. O bitte, das durfte nicht die Schulleiterin sein, die ständig durch die Flure streift wie ein Schreckgespenst um Mitternacht auf der Suche nach Kundschaft! Wenn Dr. Marga Lubitz einen dann bei irgendwas erwischt, was nicht ganz so elitär ist, gibt es im besten Fall missbilligende Blicke und im schlimmsten Fall einen Vortrag über die Tradition der Disziplin von Sandsgarden. Geisterstunde auch am helllichten Tag.

Dazu muss ich sagen, dass ich mich seit dem ersten Tag davor fürchte, als Schwindlerin überführt zu werden, die gar nicht auf diese Eliteschule gehört. Ich wurde nämlich nur hier aufgenommen, weil meine Mutter auch schon auf Sandsgarden gewesen ist. Sie hat bei meiner Anmeldung sozusagen die Ehemaligenkarte gezogen. Mit meinen Leistungen und Begabungen hatte meine Aufnahme hier nichts zu tun. Weshalb ich nur darauf warte, wegen überdurchschnittlicher Durchschnittlichkeit überführt zu werden.

Und gerade jetzt, wo ich die neue Lexi präsentieren wollte, plagte ich mich mit einer Ladung Schundromane rum, die über die Schlosstreppe verteilt waren. In Windeseile stopfte ich alles zurück in den Karton. Aber weil er an der Seite eingerissen war, rutschten die Bücher wieder raus.

Die Schritte kamen näher. Ich musste auf alle Fälle verhindern, dass Dr. Marga Lubitz mich, die neue leitende Redakteurin des Sandmanns, für eine totale literarische Niete hielt. Im letzten Moment grapschte ich nach Forever dein und warf mich auf den Bücherhaufen.

Da lag ich also, hingegossen auf die Marmortreppe des Schlosses, als lebendes Schutzschild für meine belletristische Geschmacksentgleisung.

Die Schritte stoppten. Ich wagte nicht aufzusehen, sondern tat so, als müsste ich dringend was in meinem Handy checken. Um meinem Manöver die nötige Ernsthaftigkeit zu geben, tippte ich schnell in die Suchmaschine Bin ich verrückt geworden? ein.

Dabei wartete ich natürlich auf die Standpauke. Aber sie kam nicht. Das war ungewöhnlich, weil Dr. Marga Lubitz niemals zögerte, wenn es um eine Ansprache über Sitten und Moral von Sandsgarden geht.

Ich wagte einen Seitenblick. Da standen unglaublich hohe Plateaustiefel mit Nietenschnallen in Schwarz. Sie hatten eine bestimmt fünfzehn Zentimeter dicke Sohle aus Gummi. Weswegen sie eigentlich gar nicht hätten klackern können. Als ich genauer hinschaute, bemerkte ich daneben einen Spazierstock mit silberner Spitze. Die hatte also das Geräusch von klackernden Absätzen erzeugt!

Okay, dachte ich. Kombiniere, kombiniere! Das war eindeutig nicht Dr. Marga Lubitz. Diese Schuhe gehörten vermutlich auch niemandem aus der Lehrerschaft. Oder irgendjemandem von der Geschmackspolizei. Also brauchte ich mich auch nicht schämen. Nicht mal für meine verräterische Buchsammlung. Ich tat so, als ob ich meine kleine Verschnaufpause beendet hätte, steckte mein Handy weg und richtete mich auf.

Vor mir stand ein dünner Junge in knallrotem Hemd und schwarzen Skinnyjeans. Seine Haare waren ebenfalls schwarz und standen wie elektrisch aufgeladen von seinem Kopf ab, als ob er sie den ganzen Tag an einem Luftballon gerieben hätte. Er erinnerte mich an einen Beefeater, die königlichen Wachen in London mit den Bärenfellmützen und den rot-schwarzen Uniformen. Ein erstaunlich schräger Anblick in unseren feinen Schlosshallen. Die ausgeflippteste Person von allen Schülern war sonst die Erdkundelehrerin Frau Odekerken mit ihren farbenprächtigen Outfits.

Der Beefeater starrte mich aus kajalumrandeten Augen an. Ich starrte zurück. Plötzlich bohrte er seinen Spazierstock in meinen Bücherhaufen und rührte einmal drin rum. Was das Werk Küss mich jetzt oder nie nach oben spülte. Für einen Moment musterte er prüfend das Cover, auf dem eine katzenäugige Frau über die nackte Schulter eines Mannes späht. »Ich wäre für jetzt«, sagte der Beefeater mit erstaunlich heller Stimme und grinste mich hämisch an. Er hatte Glitzersteine auf den Schneidezähnen kleben.

Die Kunst der Diplomatie zu beherrschen, hilft in allen Lebenslagen, pflegt mein Vater zu sagen. Weswegen er sie mir seit Jahren beibringen will. Er hat mir sogar ein Büchlein mit seinen wichtigsten Tipps geschenkt. Da steht zum Beispiel drin:

Wenn dich jemand provoziert, bleib ruhig, lass den Angriff an dir abprallen und biete einen Ausweg an. Wenn es auf einen Schlagabtausch hinausläuft, ist es oft zu spät für eine friedliche Lösung.

Genau daran dachte ich in diesem Moment und klappte meinen Mund auf. »Du bist ja wohl total verrückt geworden!«

Die hohe Kunst der Diplomatie gehört leider auch (noch) nicht zu meinen Stärken.

»Dann halt nicht.« Der Beefeater gab mit seinem Stock dem Buch einen Stoß, sodass es ein paar Stufen runtergeschleudert wurde.

»Hey!«, rief ich. »Was soll das denn?«

Er lachte ein glockenhelles Lachen und schritt auf seinen schwindelerregenden Plateausohlen die Treppe runter, wobei er dem Buch noch einen Kick verpasste. Es fiel bis ganz nach unten und verknickte bei der unsanften Landung am Einband, weswegen die katzenäugige Frau jetzt einen Riss im Gesicht hat. Frechheit!

Am liebsten hätte ich diesem Beefeater sofort eine Lektion in Sachen »richtiger Umgang mit Büchern und Mitmenschen« erteilt, aber irgendwo schlug eine Tür zu und ich beeilte mich, meine verhängnisvolle Ladung heiß geliebter Schundbücher in Sicherheit zu bringen.

Immer noch Samstag, 26. August

Unser Apartment ist noch mal viel schöner, als es auf den Bildern im Internet aussah! Bisher kannte ich ja nur die Zimmer in den ehemaligen Scheunen. Wir haben zwei Schlafzimmer für jeweils zwei Leute, ein Badezimmer und einen Gemeinschaftsraum mit Esstisch und Küchenzeile samt Kühlschrank. Durch die großen Sprossenfenster flutet Sonnenlicht herein und lässt die weißen Wände sauber und hell strahlen.

Ich hab für Holly und mich das linke Zimmer genommen, durch dessen Fenster man in den weitläufigen Park bis hin zur Tribüne des Hockeyfelds schauen kann. Es gibt zwei große Schreibtische und breite Regale, die bald mit Schulbüchern und anderer Streberlektüre gefüllt werden. Hier wird Lexi Glimmer die nächsten Jahre verbringen, fleißig, zielgerichtet, erfolgreich. Sie kommt sich plötzlich unglaublich erwachsen vor. Jetzt muss sich Lexi Glimmer nur noch ein Bett aussuchen und der Einzug ist perfekt.

Argh! Nein! Ich frage mich wirklich, was mit mir los ist! Scheinbar gewöhne ich mir tatsächlich an, über mich in der dritten Person zu schreiben. Als ob ich nicht schon genug andere Macken hätte. Zum Beispiel diese verflixte Entscheidungshemmung!

Wirklich, ich weiß nicht, was so schwierig daran sein soll, sich ein Bett auszusuchen! Es ist ja nicht so, dass hier 149 Betten zur Auswahl stehen würden. Es sind zwei! Das linke und das rechte. Vom linken an der Wand hat man das ganze Zimmer im Blick. Vom rechten kann man in die Bäume vor dem Fenster schauen. Das linke hat ein praktisches Bord als Ablage, das rechte einen schicken Nachttisch.

Es ist wie verhext! Kaum entscheide ich mich für eines, kommt mir das andere plötzlich verlockender vor. Schade, dass Holly nicht schon hier ist. Sie würde sich einfach auf ein Bett werfen und damit wäre die Sache erledigt. Sowieso freue ich mich natürlich auf meine Freundinnen. Holly und Ophelia. Das vierte Mädchen in unserem Apartment heißt Juna, stand auf der Info für die Zimmereinteilung. Mehr wissen wir noch nicht. Sie ist neu. Neue Mitschülerinnen find ich immer spannend!

So, anstatt meine Zeit mit Grübeleien über Betten zu verschwenden und mich wegen meiner Entscheidungshemmung selbst zu dissen, starte ich lieber gleich damit, »aus Tradition erfolgreich« zu werden.

Der geniale Plan für die »Mission Musterschülerin«

1.Ich werde den Lernstoff mithilfe von detaillierten Listen abarbeiten, wie mir mein Klassenlehrer Herr Burkhardt geraten hat, weil er der Meinung ist, dass ich mich zu leicht ablenken lasse. (Und ich hätte ihm auch bestimmt recht gegeben, wenn ich nicht gerade eine interessante Ansammlung langer schwarzer Haare vor seinem rechten Ohr entdeckt hätte. Ein kleines Büschel, das aus seinem glatten Ohransatz spross und überhaupt nicht zu dem Dunkelblond seiner normalen Haare passte. Woher kommt so was? Ein Rätsel der Anatomie! Und gehören Haare eigentlich auch zur Anatomie des Körpers oder werden sie unter einem anderen Begriff gefasst?) … Okay. Zurück zu meiner Liste:

2.Ich werde so pauken, dass die Lehrer nicht mehr seufzen, wenn sie mir Klassenarbeiten zurückgeben. Vor allem Dr. Marga Lubitz, die auch meine Deutschlehrerin ist, soll keinen Anlass mehr haben, sich bei den Quartalsbesprechungen über meine träge Beteiligung zu beschweren.

3.Ich werde nicht mehr die Äh-Lexi sein, wie Herr Nouri mich nennt, weil ich angeblich jeden Satz mit Äh anfange und oft auch mitten in meinen Vorträgen von Äh-Attacken heimgesucht werde. (Weswegen ich mich bisher auch nur zu »Ählite« gezählt hab. Haha.)

4.Das Äh wird sowieso komplett aus meinem Wortschatz verbannt. Hm. Ist »Äh« eigentlich ein richtiges Wort und damit überhaupt

für den Wortschatz

qualifiziert? …

Aha!

Ist es nicht! Laut Duden ist das Äh ein

Partikel,

der dazu dient, eine Sprechpause zu überbrücken. Interessant. Bisher kannte ich Partikel nur im Zusammenhang mit Staub. Allein weil ich das jetzt weiß, fühle ich mich schon viel gebildeter. Deswegen also hier noch mal korrekt: Ich werde das Äh aus meiner persönlichen Sammlung von Partikeln zur Überbrückung von Sprechpausen streichen und sowieso die Liste meiner Stammellaute (äh, ähm, oh, huäh, woah, aha, ach) drastisch reduzieren.

5.Auf meinem Weg zu Ruhm und Erfolg werde ich natürlich Holly mitnehmen, damit sie die Katastrophe vom Sommernachtsball schnell vergisst. #langegeschichte

6.Ich werde selbst auch versuchen, die Katastrophe vom Sommernachtsball zu vergessen. Die ich ja hatte verhindern wollen. Was leider nicht geklappt hat. (Im Gegenteil.)

7.Ich werde eine tolle Redakteurin für den Sandmann. Auch wenn das der langweiligste Job des ganzen Internats ist. Deswegen heißt unsere Schulzeitung auch Sandmann. Weil sie der große Bruder vom Sandmännchen ist und ebenso einschläfernde Wirkung hat.

Bisher jedenfalls.

8.Denn ich glaube, der unterirdische Unterhaltungswert vom Sandmann lag vermutlich nur an den bisherigen Chefredakteurinnen Ruby und Ramona Nasemann, die nicht gerade spaßkanonenverdächtig sind. Was man auch daran sieht, dass sie den Termin für die Übergabe sogar noch in die Ferien gelegt haben.

9.Wenn ich im Amt bin, werde ich jede Menge spaßige Themen im Sandmann unterbringen. Mit meinem Engagement werde ich die Schüler für die Zeitung begeistern und auch die Lehrer beeindrucken. Vielleicht komme ich damit sogar für die Dewitz-Plakette infrage, die am Ende jedes Schuljahrs für herausragende Leistungen vergeben wird.

10.Ich werde den Tiffanys keine Gelegenheit mehr geben, sich über Holly oder mich lustig zu machen. Denn das GEHT GAR NICHT! Wenn sich einer über uns lustig macht, dann nur wir selbst. Bei allen anderen gibt es STRESS! (Zumindest für uns, weil darüber regen wir uns richtig auf!)

11.Um die besten Voraussetzungen für ein erfolgreiches Schuljahr zu schaffen, werde ich ein kleines Willkommensfest für das Apartment 212 vorbereiten, um unsere Aufnahme in den Kreis der Großen feierlich zu begehen. Dann hat es sich wenigstens gelohnt, dass ich schon früher herkommen musste.

Und jetzt gehe ich in die Redaktion. Bin schon sehr gespannt, was mich dort erwartet.

Immer noch Samstag, 26. August

Ich könnte glatt wieder anfangen, in der dritten Person von mir zu schreiben: Lexi Glimmer wurde klar, dass sie einen Riesenfehler gemacht hatte, als sie sich vorschnell für diesen Job gemeldet hatte.

Oder: Lexi Glimmer fühlte sich wie ein Hornochse, als sie überlegte, wie schrecklich das neue Schuljahr werden würde, in dem sie sehr viel Zeit in eine völlig unnütze Sache stecken musste.

Oder auch einfach: Immer wenn du denkst, es kommt nicht schlimmer, frag mal Lexi Glimmer. (Lexi’s Law.)

Sitze noch in der Redaktion. Ruby und Ramona Nasemann sind schon wieder weg, nachdem sie mich mit allerhand schrecklichen Informationen geschockt haben. Du liebes bisschen! Wie hatte ich mich nur auf die Schulzeitung einlassen können?! Ja, ich weiß, wegen Holly. Und einer bescheuerten Hausaufgabe. Und einer Verkettung idiotischer Entscheidungen unglücklicher Zufälle.

Es fing mit der nächtlichen Exkursion zum Trudenholmer Teleskop im Juni an. Der Sternenhimmel wirkte sehr romantisch, jedenfalls auf Holly und Simon. Holly hatte Simon schon vorher monatelang angeschmachtet und auf einmal hielten sie Händchen und waren ein Paar. Holly schwebte im siebten Himmel, wobei man kein Fernrohr brauchte, um sie dort herumkaspern sehen zu können. Simon war ihr Fixstern geworden, um den sich alles drehte.

Holly vernachlässigte ihr Hockeytraining, ihre Freundinnen (mich eingeschlossen) und ihre Hausaufgaben. Zwei Hausaufgaben hatte Holly schon verpasst, wofür es auf Sandsgarden die Gelbe Karte gibt. Für die dritte hatte sie von Dr. Marga Lubitz eine letzte Frist bekommen: Sie sollte ein Gedicht über Vergänglichkeit schreiben. (Was ein Beispiel dafür ist, dass auch Lehrer/Schulleiterinnen auf idiotische Ideen kommen.) Diese Frist musste Holly unbedingt einhalten, denn bei drei versäumten Hausaufgaben gibt’s die Rote Karte: Die Eltern werden alarmiert und man bekommt eine Strafe aufgebrummt. Zum Beispiel Ausgehverbot am Wochenende. Holly dachte aber an nichts anderes als Simon. Besonders, weil er auf einmal nicht mehr so viel Zeit für sie hatte. Holly überlegte, ob das an ihr liegen würde, weil sie vielleicht zu »zurückhaltend« gewesen wäre.

»Wie zurückhaltend?«, hatte ich verwirrt gefragt. Wenn Holly Simon gegenüber eines nicht war, dann zurückhaltend. Sie klebte ständig an ihm und wenn sie nicht bei ihm war, schickte sie ihm Herz-Emojis im Sekundentakt.

»Du weißt schon.« Sie rollte kryptisch die Augen.

»Nee, ich weiß gar nichts«, antwortete ich.

Sie schaute mich bedeutungsvoll an. »Er wollte mehr als knutschen.«

»Ach so!«, sagte ich, als ob ich genau wüsste, was sie damit meinte. Aber ich konnte es mir ungefähr denken. »Wenn du nicht mehr willst als knutschen, dann muss er das akzeptieren. Sonst ist er sowieso der Falsche.« (Immerhin so viel verstand ich vom Verliebtsein.)

»Ich weiß, was ich tue!« Holly zwirbelte aufgeregt eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern. »Ich werde ihm beweisen, wie sehr ich ihn liebe.« Am Morgen des Abgabetermins hatte sie das Gedicht fertig (gute Nachricht) und gab es mir zu lesen (schlechte Nachricht).

»Vergänglichkeit«

von Holly Quadflieg

Vergänglichkeit ist eine Last,

wenn du keinen Liebsten hast.

Simon, Darling, süßes Ding,

wenn ich dich sehe,

Nase, Ohren und dein Kinn,

hat das Leben endlich Sinn.

Wenn du den Hockeyschläger schwingst,

mein Herz in höchsten Tönen singt.

Ich bleib für immer an deiner Seite,

niemals suche ich das Weite.

Wir zwei zusammen bis in alle Ewigkeit

– ich bin bereit.

Jetzt gibt es nur eins, was wir tun müssen:

uns küssen, küssen, küssen.

Ich musste schlucken. Selbst für mich als Fan schmalziger Liebesromane war das ein kleines bisschen … übertrieben. »Holly! Das willst du nicht ernsthaft abgeben?!«

»Wieso nicht?«, fragte sie und nuckelte an ihrem Zitronenwasser. Seit sie mit Simon zusammen war, bestand sie darauf, dass man nichts essen musste, wenn man verliebt war. Ich vermute, dass ein Zusammenhang bestand zwischen ihrem unterzuckerten Gehirn und dem kitschigen Schwachsinn, den sie da aufs Papier gebracht hatte.

»Ich hab verschiedene Versmaße«, argumentierte Holly, »sprachliche Bilder und …«

»Aber das ist doch megapeinlich!«, platzte es aus mir raus. »Stell dir vor, das liest Dr. Marga Lubitz und …«

»Ich liebe Simon!«, unterbrach Holly mich und schwenkte ihre offene Trinkflasche, wobei sie ein bisschen von ihrem fettverbrennungsankurbelnden Wasser verschüttete. »Und er liebt mich. Das kann ruhig jeder wissen. Sogar unsere Lehrerin.« Sie zog ihre Stupsnase kraus und lächelte mich träumerisch an. »Wir sind ja nicht an der Nonnenschule hier.«

Kurz darauf mussten wir zum Unterricht. Ich sah das Unglück kommen. Wenn Holly nicht mal ahnte, welche Blamagenbombe sie da fabriziert hatte, konnte das schlimm ausgehen. Und da sie nicht auf meinen besten Beste-Freundinnen-Rat hörte, musste ich eben verhindern, dass unsere Schulleiterin das Gedicht in die Finger bekam.

Wir hatten Glück. Am Anfang der Stunde besuchten Ramona und Ruby Nasemann unsere Klasse, um Werbung für die Schulzeitung zu machen. Die beiden hatten den Sandmann zwei Jahre geleitet und suchten nun Nachfolger, weil sie sich angeblich auf das Abitur im übernächsten Jahr vorbereiten wollten. Vermutlich sind sie einfach megagründlich. Jedenfalls sehen sie so aus.

Die Nasemann-Zwillinge kleiden sich stets identisch in blassblaue Pullunder über mattweißen Blusen, dazu aschfarbene Faltenröcke. Als ob sie nicht wüssten, dass es bei uns keine Schuluniformen gibt. Twinfluencer für Eintönigkeit.

Da standen die beiden in ihren Spaßbremsenoutfits vor uns und flöteten schwärmerisch, was es für eine sehr schöne Aufgabe wäre, an dieser traditionsreichen Zeitung mitzuarbeiten. Ihre milchblonden Zopfkränze schimmerten wie Heiligenscheine. Sie redeten weiter davon, dass es auch nicht viel Arbeit wäre.

Nach dem Vortrag meldete sich niemand für den Job. Eine herbe Enttäuschung für Dr. Marga Lubitz, wie sie mehrfach betonte. Natürlich hatte ich gehofft, dass unsere Schulleiterin über diese Ablenkung vergessen würde, Holly nach der ausstehenden Hausaufgabe zu fragen. Nach Unterrichtsende drängte ich Holly strategisch aus dem Mittelgang nach rechts ab, damit wir weit entfernt vom Lehrerschreibtisch zur Tür gehen konnten. Wir hatten es fast zum Ausgang geschafft, da warf sich Dr. Marga Lubitz in unseren Weg. »Holly. Sie müssen …«

Und da fiel mir nichts anderes ein, als zu rufen: »Ich mache es!«

Die Schulleiterin schaute erstaunt zu mir.

»Den Sandmann-Job. Das klang wirklich so … äh … interessant eben und ich würde gerne mein Engagement in den Dienst der Schule stellen und … äh … die Tradition …« Ich faselte eine Weile vor mich hin, während Holly Simon hinterherwankte.

Die Schulleiterin legte die Hände vor der Brust zusammen, als wollte sie beten. »Wunderbar, Lexi, das ist ganz im Geiste von Sandsgarden, Verantwortung zu übernehmen!« Vor lauter Begeisterung hielt sie mir einen Vortrag über mein »Potenzial, das bisher noch gar nicht richtig zum Vorschein gekommen« wäre, und »was für eine Chance« ich jetzt hätte und so weiter.

Als sie mir den Anmeldebogen hinhielt, unterschrieb ich einfach. Bisher stand da nur ein anderer Name drauf. Ein unleserlicher Name. Vermutlich ein Trick, der vorgaukeln sollte, andere hätte ebenfalls Interesse an dem Job. Aber das war mir egal, ich war einfach nur froh, dass mein Manöver geglückt war. Holly war unbehelligt aus der Klasse verschwunden. Mission erfüllt, beste Freundin gerettet! (Für eine kurze Zeit. Leider wäre es am Ende doch das kleinere Übel gewesen, wenn Hollys Gedicht Dr. Marga Lubitz in die Hände gefallen wäre. Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich mir diesen Quatsch hier gespart!)

Kein Wunder, dass niemand Bock auf den Job beim Sandmann hat. Schon die Redaktion sieht so öde aus wie ein Heimatkundemuseum. Alles ist so altmodisch! Mich würde nicht wundern, wenn man irgendwelche Fossilien hier finden könnte. Versteinerte Stempelkissen oder Füllfederhalter aus der Bronzezeit.

Die Redaktion ist im Erdgeschoss vom ehemaligen Forsthaus, einem der vielen Gebäude auf dem Internatsgelände, das jetzt für Schulzwecke umgebaut worden ist. Sie hat einen extra Eingang vom Hof aus.

Der Raum ist etwa halb so groß wie ein Klassenzimmer. Auf der linken Seite Fenster, an den anderen Wänden massive Aktenschränke aus dunklem Holz, in denen man vermutlich einen Angriff aus Laserkanonen überstehen könnte. In der Mitte eine Insel aus zwei riesigen Schreibtischen. Es gibt zwar Computer, aber auf dem vorderen Schreibtisch steht noch eine Schreibmaschine. Eine richtig antike Schreibmaschine! Aber das ist noch nicht alles, was hier aussieht wie aus dem Pleistozän. Hier gibt es tatsächlich auch noch ein uraltes Telefon aus dieser Epoche. (Geschichtliche Angaben ohne Gewähr.)

Immer noch Samstag, 26. August

So, hab gerade mal eine kleine Pause vom Tagebuchschreiben gemacht, um dieses schwarze Steinzeittelefon auszuprobieren. Es steht zwischen dem Computermonitor und einer historischen Lampe und sieht putzig aus. Der Hörer ruht oben auf einer Halterung. Eine runde Wählscheibe mit den Ziffern 0 bis 9 ist vorne drauf. Ich habe so was schon mal in einem alten Film gesehen, aber benutzt habe ich so ein Telefon noch nie.

Probehalber hob ich den Hörer hoch. Er war erstaunlich schwer. Ich hielt ihn mir ans Ohr. Nichts tat sich. Kein Piepen oder Tuten ertönte. Ich drehte ein paarmal die Wählscheibe, aber außer dem Rattern hörte ich nichts. Es war offensichtlich nur Deko. Fast ein bisschen schade. Irgendwie cool retro, das Teil. Was man vom Rest hier wirklich nicht sagen kann. Hier ist sonst gar nix cool. Das Titelblatt der ersten Sandmann-Ausgabe von 1949 sieht fast so aus wie das der aktuellen!

Was mich aber am meisten geschockt hat, war, dass Ramona und Ruby mir erklärt haben, dass das auch so bleiben muss. Denn dieser Job hat mit Journalismus nichts zu tun!!!

»Darf man sich nicht selbst Themen ausdenken?«, habe ich sie eben gefragt.

Ruby betrachtete mich mit ihren blassen Augen von oben herab. »Nein.« Sie reichte mir einen USB-Stick. »Hier sind die meisten Artikel für die erste Ausgabe schon drauf. Die Lehrer haben einen Rückblick auf das letzte Jahr und einen Ausblick auf ihre Fächer in diesem Schuljahr geschrieben.«

Ich schluckte. »Aber wir wissen doch, was wir durchgenommen haben. Das ist nicht so spannend für uns.«

»Macht nichts.« Ramona verschränkte die Arme vor der Brust. »Schüler sind gar nicht die Zielgruppe. Die Zeitung ist hauptsächlich für Ehemalige und Förderer der Schule.«

»Aber man könnte es doch für alle interessant machen«, fing ich an, doch Ruby unterbrach mich: »Der Sandmann in a nutshell? Schreib nichts, was die Lehrer überraschen oder die Schule in schlechtem Licht dastehen lassen könnte.«

Echt. Ich finde Leute ja so bescheuert, die den Ausdruck »in a nutshell« benutzen und mich dabei ansehen, als ob ich nichts kapiere. Was ich natürlich tue. (Nachdem ich den Begriff schnell nachgeschlagen habe.)

»Journalisten sollen doch die Wahrheit schreiben!«, widersprach ich.

»Tstststsss«, machte Ramona tadelnd. »Du bist keine Journalistin. Sondern Hofberichterstatterin.«

»Aber ich bin doch Redakteurin und Redakteurinnen gestalten die Zeitung …

»Lexi«, unterbrach mich Ramona und beugte sich vor, um dem Gesagten noch mehr Nachdruck zu verleihen. »Das hier hat nichts mit einer Redaktion zu tun. Den Job könnte ein Affe bewerkstelligen.«

»Ein Affe mit Basiscomputerkenntnissen«, korrigierte Ruby. Die beiden glotzten mich erbarmungslos an und ich wurde ein bisschen rot.

»Wo sind eigentlich die anderen?«, fragte ich kläglich.

»Welche anderen?«, fragte Ruby.

»Da stand doch noch mindestens ein anderer Name auf der Liste.«

»Keine Ahnung, ob das ein Name war. Wir konnten den jedenfalls nicht entziffern.« Ramona zuckte die Achseln. »Offensichtlich gibt es keinen anderen Interessenten. Sonst wäre er oder sie ja hier.«

Aber Ruby meinte, das wäre nicht schlimm. Wenn noch einer auftauchen würde, könnte ich es ihm ja erklären. Aber auch alleine wäre das bisschen Layout locker zu schaffen. Sie zeigte mir ein paar Sachen am Computer, fügte aber sogleich hinzu, dass die Software im Grunde selbsterklärend wäre. (Was ich jetzt auf Anhieb nicht fand, aber ich wollte auch nicht blöder dastehen als ein Schimpanse.)

Dann legten sie mir das Handbuch für den Sandmann vor, eine Broschüre, in der haarklein erklärt wird, welche Themen in der jeweiligen vierteljährlich erscheinenden Ausgabe behandelt werden müssen und wer die Artikel schreibt – hauptsächlich Lehrer. Sie übergaben mir den Schlüssel mit dem Hinweis, dass ich den wieder im Sekretariat abgeben müsste, und verabschiedeten sich. Echt, und dafür war ich einen Tag früher aus den Ferien hergekommen??? Dabei hatte ich Hector, dem Hund von Tante Kirsten, noch beibringen wollen, wie man High Five gibt.

Und jetzt sitze ich hier und fühle mich wie die Moderatorin einer dieser Make-over-Shows, wo man einen zotteligen Nerd vorgesetzt bekommt, dessen schreckliches Outfit einen zur Verzweiflung bringt, bevor man ihn zu euphorischer Musik in einen attraktiven jungen Mann verwandelt. Wobei ich noch auf die euphorische Musik warte.

Dabei könnte man so schöne Artikel schreiben. Über Sachen, die uns Schüler wirklich interessieren. Zum Beispiel das, was man normalerweise nie erfährt, es sei denn, irgendjemand wispert es einem in der Pause zu.

Oh, da habe ich eine lustige Idee! Ich werde jetzt mal die Schreibmaschine ausprobieren. Schnell bei YouTube gucken, wie man Papier einlegt, und los geht’s!

?Fragen und Ausrufezeichen zum Schulbeginn!

Es geht wieder los! Ein neues Jahr im Internat Sandsgarden liegt vor uns – und damit jede Menge Möglichkeiten zu sensationellen Erfolgen und spektakulären Niederlagen.

Und so mancher ist am Ankunftstag froh über die Urlaubsbräune, die übertüncht, wie blass wir werden angesichts der vielen Herausforderungen. Und damit meine ich nicht binomische Formeln, den Versailler Vertrag und chinesische Vokabeln. (Für diejenigen, die wahnsinnig genug waren, Mandarin als dritte Fremdsprache zu wählen!) Richtig kompliziert wird es nämlich erst abseits des Unterrichts, wenn wir versuchen, uns einen Platz in der Gemeinschaft zu erobern. Deswegen werden wir auch genau beobachten, was alles passiert, wenn die Lehrer nicht zuschauen! Konnte Darleen den Schock vom Sommernachtsball überwinden, als ihr durch ein gewisses tollpatschiges Mädchen (das erstaunliche Ähnlichkeit mit der Autorin dieses Artikels hat) die Frisur zerstört wurde?

Wird der schöne Jack Sainsbury immer noch von allen Mädchen angehimmelt, obwohl er so ein Angeber ist?

Ist Tessa über ihre heimliche Liebe zu unserem Referendar hinweg oder schmachtet sie ihn weiter an, wenn er die Vererbungslehre erklärt?

Schwört Constanze immer noch auf die hausgemachte Shampooseife ihrer Mutter, weil sie angeblich den besten Glow gibt?

Werden die Tiffanys unter der Führung von Chloé van Cleef auch dieses Jahr ihrem Ruf als Superzicken gerecht? (Das ist wirklich keine Frage. Dahinter müsste ein Ausrufezeichen stehen!)

Und wird Arjen Friedrich Conrad Dewitz von Hagebronn, der Urenkel des Schulgründers, von den Lehrern konsequenterweise mal mit »Eure Durchlaucht« angesprochen? Oder schleimen sie wieder nur mit Vorzugsnoten, während sie behaupten, sie würden alle gleich behandeln? (Worüber wir Normalsterblichen nur lachen können!)

Und wie verdammt noch mal schaffe ich es, bei all diesen Chancen zum Scheitern und Blamieren, nicht total durchzudrehen?

Darüber werde ich berichten!

Eure neue Redakteurin vom Sandmann

Lexi Glimmer

Immer noch Samstag, 26. August

Mir schmerzen die Fingerkuppen von den schwer zu bedienenden Tasten, aber das Klackern der Schreibmaschine hat was. Fühle mich so betriebsam. Lexi Glimmer, Starreporterin! Ich hab zwar das Papier ein bisschen schief eingezogen, sodass der Text sich wie der Turm von Pisa zu einer Seite neigt, aber ich bin stolz auf meinen ersten Artikel. Der natürlich nie erscheinen wird. Nur Holly und Ophelia dürfen ihn lesen. Hihi. Mache schnell ein Foto und schicke es in die Apartment-212-Gruppe (ehemals Dachkoje 4b).

Immer noch Samstag, 26. August

Oha. Lexi’s Law gilt einfach immer! Und schlägt zu, auch wenn man denkt, man säße mutterseelenallein in einer Redaktion und könnte ein bisschen Spaß haben.

Ich hatte gerade vor mich hin gekichert bei der Vorstellung, dass der Artikel tatsächlich so im Sandmann erscheinen würde, da fiel plötzlich ein Schatten auf meinen Schreibtisch.

»Was schreiben Sie denn da?«, fragte mich eine Frauenstimme. Gräfin Gabriele Dewitz von Hagebronn. Sie ist die Vorsitzende der Dewitz-Stiftung, der die Schule gehört. Ich hatte sie bisher immer nur von Weitem gesehen, auf der Bühne bei irgendwelchen Veranstaltungen. Sie lächelte freundlich. Unter ihrer schwarzen Tweedjacke schimmerte eine bronzefarbene Satinbluse. Ihre goldenen Ohrclips reflektierten das Licht der Neonröhre und ihr Bronzemetallic-Lidschatten blitzte bei jedem Augenaufschlag auf, als ob sie Morsezeichen geben wollte. Ich weiß nicht, ob das eine Taktik von ihr ist, die Leute mit irgendwelchen Blinkesignalen zu irritieren. Bei mir jedenfalls funktionierte es.

»Das … äh … ist nur …«, stammelte ich.

Sie nahm mir das Blatt aus der Hand und überflog den Artikel, der sich über die Vorder- und Rückseite zog. Dabei wanderten ihre Augenbrauen immer weiter nach oben und ihre Mundwinkel nach unten. »Nun«, fing sie an und mir war klar, dass es einer sofortigen Krisenintervention bedurfte. Einer strategischen Maßnahme, die der drohenden Verschlechterung der Beziehung zu der Vorsitzenden der Stiftung entgegenwirkte.

Mit klug überlegten Worten überzeugte ich Gabriele Dewitz Gräfin von Hagebronn, dass es sich um einen privaten Brief an eine private Freundin handelte und sie gerade gegen das Briefgeheimnis verstoßen hatte, ich aber großzügig darüber hinwegsehen würde, wenn sie den Vorfall vergessen und mir meinen Brief zurückgeben würde.

Würde ich jetzt gerne schreiben.

Leider war es in Wirklichkeit so:

»Ähhh«, sagte ich. »Das ist Quatsch, was ich da geschrieben hab. Ein Scherz. Ich hab nur zum Spaß ein bisschen rumgetippt.« Ich merkte sofort, dass diese Bemerkung ein Fehler gewesen war. (Lexi Glimmer, Diplomatentochter ohne Talent für Diplomatie.) Die Vorsitzende der Dewitz-Stiftung gehört nämlich offensichtlich zu den Personen, bei denen das Wort »Spaß« mit einer Triggerwarnung versehen sein sollte.

»Zum Spaß. Aha«, wiederholte sie und der Blick aus ihren bernsteinfarbenen Augen bekam etwas Lauerndes. »Sind Sie zum Spaß auf Sandsgarden, Lexi?« Sie fing an, das Papier zusammenzufalten. Was machte sie denn da mit meinem Spaßartikel?

»Was? Äh. Nein. Natürlich nicht. Ich bin superernst!«, beteuerte ich sogleich.

Sie rümpfte die Nase. »Das will ich hoffen! Schüler, die nicht ernsthaft arbeiten, können wir auf Sandsgarden nämlich nicht gebrauchen. Sie verstehen mich?«

»Klar, logisch«, sagte ich schnell. »Ich arbeite wirklich total ernsthaft!« Ich verkniff mir die Bemerkung, dass ich eigentlich noch Ferien hatte und trotzdem schon so fleißig war.

Sie nickte knapp und verdonnerte mich, alle bisher erschienenen Ausgaben des Sandmanns zu lesen, damit ich wüsste, in welche »großen Fußstapfen« ich treten würde. (Sie sagte natürlich gräflich-vornehm »Ich empfehle Ihnen«, aber es war klar, dass das ein Befehl war.) Außerdem eröffnete sie mir, dass ich baldmöglichst zum Antrittsbesuch in ihrer Villa erscheinen sollte und mir außerdem vor dem Druck jeder Ausgabe von ihr das Layout genehmigen lassen müsse.

Wie bitte?, wollte ich fragen, hatte aber Sorge, dass es etwas begriffsstutzig wirken könnte. Ich hatte sie ja verstanden. Theoretisch jedenfalls. Praktisch hatte ich gedacht, ich würde als einziges Redaktionsmitglied und somit Redaktionsleiterin bestimmen, wie die Zeitung am Ende aussieht. Aber das war offensichtlich auch eine Fehleinschätzung gewesen.

»Machen Sie mit meinem Sekretär einen Termin aus.« Sie drehte sich zur Tür.

»Ähm. Ja. Klar, mach ich. Und können Sie mir … äh … das da wiedergeben?« Ich deutete auf meinen zusammengefalteten Artikel.

»Nein. Wenn es nur ein Scherz war, brauchen Sie den ja wohl kaum wieder.« Damit hatte sie ihn in die Jackentasche geschoben und war rausgegangen. Ich hoffe nicht, dass er in meiner Schülerakte landet. Megapeinlich! Umso wichtiger ist es jetzt, zu beweisen, wie ernsthaft ich drauf bin. Weswegen ich einen Strauß Blumen für unser Willkommensfest besorgen werde. Blumen kaufen für die Tischdeko ist ja wohl so was von seriös und erwachsen. Ich habe genau 12,80 €. Das reicht auch noch für die Zutaten für Schokobananentorte.

So, flitze jetzt mit dem Rad ins Städtchen. Freue mich schon auf meine Freundinnen! Und auch auf das neue Mädchen. Bin gespannt, wie diese Juna wohl drauf ist.

Es gibt zwei Bedingungen für dasS T I P E N D I U Mam Internat Sandsgarden, das mir von der Iris-Mecklenburg-Gesellschaft verliehen worden ist. Die erste ist, dass mein Notendurchschnitt zu den besten drei des Jahrgangs zählen muss. Nur dann wird das Stipendium um ein Jahr verlängert. Die zweite ist ein Bericht am Ende des Schuljahres über meine Erfahrungen, der »ehrlich und alle Bereiche meines Lebens umfassend« sein soll. So hat es mir der Vorsitzende Dr. Udo Herbst erläutert.

Die Iris-Mecklenburg-Gesellschaft, die sich der sozialwissenschaftlichen Forschung verschrieben hat, möchte aus diesem Bericht herauslesen können, »was ich für ein Mensch bin«, und wie es sich »für mich anfühlt, auf einem Elitegymnasium zu sein«. Diese Vorgaben werden mit wissenschaftlichem Forschungsinteresse begründet. Klingt ja auch viel besser, als ehrlich zuzugeben, dass die Gesellschaft einfach neugierig ist, wie ein Mädchen mit meiner Biografie sich zwischenMillionärssprösslingenundAdeligenundBildungsbürgerkindernbehauptet. Aber da ich auf keinen Fall vorhabe, mich selbst zu einem wissenschaftlichen Objekt machen zu lassen, werde ich der Gesellschaft am Ende des Schuljahres einen schönen, kurzen und professionellen Bericht abliefern, der sich allein auf den schulischen Bereich konzentriert. Nur für mich selbst werde ich einen ausführlichen Bericht machen und notieren, was wirklich so abgeht, auf diesem Eliteinternat. Für meine eigenen wissenschaftlichen Zwecke sozusagen. Wie interessant das hier ist, habe ich nämlich schon bei meiner Ankunft gemerkt.

Das Erste, was mir auffiel, als wir heute Morgen auf das Internatsgelände fuhren, war die Sauberkeit. Keine leeren Flaschen unter den Parkbänken, keine zerfetzten Mülltüten im Gebüsch, aus denen ein toxischesA L U F O L I E N - D Ö N E R S O S S E N - G E M I S C Hhervorquillt. Keine Kippen auf den Kieswegen, keine Hundekacke auf dem Rasen. Nicht einmal Graffiti an den Wänden! Die Autos, die die anderen Schüler brachten, blitzten sauber in der Sonne. Alle Leute waren ordentlich angezogen. Zum ersten Mal begriff ich, was der Ausdruck »heile Welt« bedeutete.

»Du meine Güte, Juna, das ist ja ein richtiges Märchenschloss!«, staunte Mama, als wir auf Sandsgarden zufuhren. Sie parkte unseren alten Renault Twingo in einigem Abstand zu den Luxusschlitten der anderen.

Meine große Schwester Marina sprang sofort aus dem Wagen. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen mitzukommen. Offenbar hatte sie also noch nicht gemerkt, dass ihre sauteuren Ohrringe verschwunden waren. Die ich mir genommen hatte als kleinen Ausgleich dafür, dass sie mir meine gesamten Ersparnisse geklaut hatte. Diese kleineMistkröte!Geredet hatten wir darüber nicht. Hätte eh nichts gebracht. Marina hat noch nie was eingesehen. Außerdem würde ich sie nach heute nicht mehr oft zu sehen bekommen. Einer der Gründe, weswegen ich mich so aufs Internat freute.

Mit ihremCheckerblickscannte meine Schwester die Leute vor dem Schloss, während ich mein Gepäck aus dem Kofferraum holte. »Da wirst du mit Sicherheit einen reichen Ehemann finden«, sagte sie.

»Marina, du wirst es kaum glauben, aber ich bin nicht an einem Ehemann interessiert«, sagte ich. »Und das nicht nur, weil ich erst fünfzehn bin.«

»Doch nicht für dich, Dummerchen. Für mich.« Sie gluckste. Seit sie vor ein paar Monaten achtzehn geworden ist, redete sie nur noch vom Heiraten.

Ich verdrehte die Augen. Ich halte nichts von der Liebe. Sie ist wie ein Computervirus. Einmal auf den falschen Link geklickt, hast du dir was eingefangen, das dein ganzes System lahmlegen kann. Liebe bringt nur Schwierigkeiten. Deswegen sollte man besser die Finger davon lassen.

Drei Beispiele:

Meine Schwester denkt, Liebe wäre die Lösung. Anstatt den Weg zum Glück auf eigene Faust zu finden, hängt sie in der Illusion fest, dass sich einfach nur ein reicher Mann in sie verlieben muss und dadurch alle ihre Probleme gelöst sind. Dabei ist diese Illusion das eigentliche Problem.

Meine Mutter hatte sich in meinen Vater verliebt und das war einRiesenfehler.Abgesehen davon, dass meine Schwester und ich sonst nicht auf der Welt wären, ist da nichts Gutes bei rumgekommen. Als er das letzte Mal aufgetaucht ist, hat er mal wieder behauptet, dass er sich jetzt um seine Familie kümmern will. Aber sobald Mama ihm Geld gegeben hatte, ist er nach Paraguay abgehauen, wo er in einer Community von Querdenkern und anderen Verrückten rumhängt. Ich hoffe, er kommt niemals wieder.

Und dann wäre da noch meine beste Freundin Trix, die sich immer in die falschen Mädchen verliebt, sich erst komplett zum Affen macht und am Ende leidet wie ein Hund, der in der Wüste ausgesetzt wurde. Ich hab ihr schon oft geraten, das mit dem Verlieben sein zu lassen. Sie hat jedes Mal gesagt, sie versucht es. Ich verstehe nicht, was es da »zu versuchen« gibt.

Es gibt Sachen, über die habe ich keine Kontrolle. Das Wetter. Ob meine Mutter wieder auf die Lügen meines Vaters reinfällt. Ob die Bitches in meiner Schule mich auslachen, weil ich immer dieselben Klamotten anhabe. Darauf hab ich keinen Einfluss. Aber was ich tue, ist ganz alleine meine Entscheidung. Meine Reaktionen kann ich kontrollieren, meine Gefühle kann ich kontrollieren. Und daher weiß ich: Wer sich verliebt, begibt sich in die Irrationalität. Nicht Wolke 7, sondernP L A N E TU N Z U R E C H N U N G S F Ä H I G .Das ist nichts für mich.

Vernunft ist für mich die einzige Basis, um Entscheidungen zu treffen. Vernunft hat mich hierhergeführt. Und Vernunft wird mich noch weit bringen.

»Da musst du vermutlich einen Heiratsvermittler einschalten, damit er eine Hochzeit arrangieren kann, sobald dein Bräutigam volljährig geworden ist«, sagte ich zu Marina mit Blick auf die Schüler vor dem Schloss, die von ihren Eltern gebracht wurden. Es waren hauptsächlich Fünftklässler und nur einige Ältere, die wie ich neu hier anfingen. Gleich würden wir gemeinsam eine Führung über das Gelände bekommen.

»Wer sagt denn, dass ich einen von den Jungen möchte? Die Väter sind doch viel interessanter.« Marina warf ihre blonden Haare über ihre Schulter und lachte laut in die Richtung eines grauhaarigen Mannes im Anzug, der sich gerade von seiner Tochter verabschiedete. Sie war mal wieder ganz in ihremElement.