In der Hitze eines Sommers - Emma Flint - E-Book

In der Hitze eines Sommers E-Book

Emma Flint

0,0
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

»Das subtile Porträt einer Frau in der Krise und der Männer, die sie verurteilen.« The Times Sommer 1965, die Straßen New Yorks flimmern in der Hitze. Eines Morgens findet die alleinerziehende Ruth Malone das Zimmer ihrer beiden kleinen Kinder leer vor, das Fenster steht offen. Schnell wird Ruths eigenwilliger Lebensstil – die provokante Kleidung, das perfekt geschminkte Gesicht, die Kontakte zu Männern – ihr zum Verhängnis. Angeheizt durch Spekulationen aus der Nachbarschaft, zieht die Polizei einfache Schlüsse. Auch Boulevardreporter Pete Wonicke, für den der Fall die erste große Story ist, verurteilt Ruth zunächst. Doch je länger er recherchiert, desto klarer sieht er das falsche Spiel der Presse und die frauenverachtenden Machenschaften der Polizei. Bald schon beginnt Pete, an allem zu zweifeln, was er zu wissen glaubte. Ein hochgelobter, aufwühlender Gesellschaftsroman nach einer wahren Begebenheit.  »Ein beeindruckendes, schmerzhaft schönes Debüt! Dieser atemberaubende Roman handelt von tieferen sozialen Fragen nach Mutterschaft, Moral und nach vorschnellen Urteilen.« Publishers Weekly Emma Flint ist Absolventin des Schreibprogramms der Faber Academy in London. Schon seit ihrer Kindheit liest sie reale Verbrechensberichte und entwickelte über die Jahre ein enzyklopädisches Wissen über wahre Mordfälle und berüchtigte historische Persönlichkeiten sowie eine Faszination für unkonventionelle Frauen – vergangene, gegenwärtige und fiktive. Flint lebt und arbeitet in London.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »In der Hitze eines Sommers« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

Für alle, die an mich glaubten, als ich selbst nicht an mich glaubte.Besonders für Janet und Rebecca, die mich durch alle Höhen und Tiefen begleitet haben.Und für Alfie, der immer bei mir ist. Es gibt keinen Tag, an dem ich ihn nicht vermisse.

Aus dem Englischen von Susanne Keller

© 2017 by Emma Flint Titel der englischen Originalausgabe:»Little Deaths«, Picador, London 2017© der deutschsprachigen Ausgabe:Piper Verlag GmbH, München 2020Redaktion: Barbara Raschig

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

Dank

3

So hatte es also angefangen. Mit einer verriegelten Tür zu einem leeren Zimmer. Mit einem vom Schweiß glitschigen Schlüsselbund, den sie krampfhaft umklammert hielt, als sie auf die Straße rannte. Mit ihrer Suche, auf der sie immer wieder um den Häuserblock lief und ihre Namen rief.

Am Anfang war da nur Wut. Wenn sie schon wieder aus diesem verdammten Fenster geklettert sind, dann können sie sich auf etwas gefasst machen.

Doch die Wut ebbte allmählich ab, und sie merkte, wie unregelmäßig sie atmete und sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen breitmachte. Als sie an der Ecke des 72nd Drive ankam, wurde ihr bewusst, dass sie völlig nass geschwitzt war.

Sie sah erst in die eine, dann die andere Richtung und wusste nicht, wohin sie gehen sollte.

Die falsche Entscheidung könnte bedeuten.

Könnte bedeuten.

Sie biss sich auf die Lippe, um den Gedanken zu vertreiben. Sie ging nach links.

So viele Kinder. Immer wenn ihr eine Strähne blondes Haar ins Auge fiel, machte ihr Herz einen Sprung. Sie sah einen kleinen Jungen, und etwas an seinem Gang schien vertraut. Sie packte ihn am Arm und wirbelte ihn herum.

»Frankie! Was zum Teufel …«

Sie sah in ein fremdes Gesicht und ließ seinen Arm wieder fallen, sah den vor Schreck aufgerissenen Mund des Jungen. Registrierte kaum noch, wie er den Mund verzog und zu heulen begann. Hörte schon nicht mehr den Protest der Mutter.

»He! He, Sie da! Was fällt Ihnen ein …«

Sie lief weiter, immer schneller, bis sie gar nicht mehr darauf achtete, wo sie ging. Ihr Blick richtete sich nur auf die Gesichter, die ihr auf dem Gehweg entgegenkamen. Sie bewegte sich ruckartig vorwärts und versuchte, nicht auf die Ritzen zu treten.

Step on a crack and break your back

Step on a crack, kids ain’t coming back.

Tritt auf den Knick und du brichst dein Genick,

Tritt in den Dreck und die Kinder sind weg.

Sie presste die Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien, und fing an zu rennen. Sie wusste nicht mehr, wo sie war, bog in eine Querstraße ein und war wieder auf dem 72nd Drive. Sie sah, wie jemand schnell auf sie zukam. Erkannte Carla Bonelli. Sah, wie die Lippen der Frau sich bewegten, und stammelte:

»Frankie und Cindy sind … sie sind … Ich kann sie nicht finden … Hilf mir, sie zu finden …«

Carla wollte sie beim Arm nehmen, aber Ruth schüttelte sie aufgebracht ab. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie um sich, dann wieder zu Carla. »Du musst sie finden. Bitte.«

Und dann stolperte sie weiter, die Arme eng um den Körper geschlungen. Carla stand da und sah ihr nach.

Als sie wieder zu Hause war, griff Ruth mit zitternder Hand zum Telefonhörer und wählte. Sie drückte den Hörer so fest ans Ohr, dass es wehtat, die andere Hand zur Faust geballt, die Nägel in die Innenfläche gebohrt. Angespannt lauschte sie dem Klingeln am anderen Ende.

Und wartete.

Und wartete.

Dann:

»Frank? Hast du die Kinder?«

»Mach keinen Quatsch! Wo sind die Kinder?«

»Hier sind sie nicht. Sie sind …«

»Natürlich habe ich in ihrem Zimmer nachgesehen! Ich habe schon das ganze Viertel abgesucht.«

»Vielleicht zwanzig, dreißig Minuten – was weiß ich! Ich habe überall nachgesehen, und ich … ich kann sie einfach nicht finden.«

»Ich bitte dich. Wenn die Kinder bei dir sind, dann musst du mir das sagen. Tu mir das nicht an, Frankie. Bitte.«

Es war das letzte Mal, dass sie ihn Frankie nannte.

Er antwortete etwas, aber die Worte kamen nicht bei ihr an, sie verstand nur »komme vorbei«, und als er aufgelegt hatte, hielt sie sich daran fest. Sie ging ans Fenster, um auf sein Auto zu warten, und steckte sich eine Zigarette in den Mund. Sie brauchte drei Versuche, bis sie endlich brannte.

Frank kam. Sie öffnete die Tür, und er nahm sie in die Arme. Steif ließ Ruth es einen Augenblick über sich ergehen, dann legte sie ihm abwehrend die Hand auf die Schulter. Er ließ sie los und stand dann einfach nur so im Flur.

»Du musst …« Sie deutete in Richtung Küche, und endlich nahm er die Sache in die Hand.

Er ging zum Telefon, und sie hörte zu, wie er in den Hörer sprach.

»Ich möchte eine Meldung machen … meine Kinder sind nicht mehr da. Ich möchte meine Kinder als vermisst melden.«

»Vor einer Stunde.«

»Malone.«

»Meine Adresse oder da, wo die Kinder wohnen?«

»Nein, wir … im Moment wohnen sie bei ihrer Mutter.«

Er machte frischen Kaffee und brachte sie dazu, sich hinzusetzen. Gab einen Schluck Brandy mit in die Tasse und sah ihr zu, wie sie trank. Es war der Rest aus der Flasche, die Gina zur Silvesterparty mit heruntergebracht hatte. Er brannte in ihrer Kehle, und Ruth erschauerte, aber das flaue Gefühl im Magen verschwand. Sie sah ihn an – seine Lippen täuschten ein Lächeln vor, indem sie die zusammengebissenen Zähne freigaben.

»Okay, Schatz. Okay. Die Polizei ist unterwegs. Wir müssen jetzt ruhig bleiben. Wir müssen nachdenken.«

Minnie trottete herein und drückte ihre Nase gegen Ruths Knie, bis sie sie wegstieß. Sie konnte es nicht ertragen, berührt zu werden.

Nur mit Mühe gelang es Ruth aufzustehen. Sie musste pinkeln. Anschließend betrachtete sie sich im Badezimmerspiegel. Auf ihrem Gesicht lag ein Schweißfilm, das Augen-Make-up war verschmiert.

Sie reparierte den Schaden, so gut sie konnte, hob den Arm, um sich zu kämmen, und roch den Schweiß. Sie sah wieder in den Spiegel. Unterhalb der Make-up-Schicht stimmte überhaupt nichts, ihr Körper nicht, ihr Gesicht nicht, alles war falsch. Mit ihrem Aussehen stimmte etwas nicht. Mit ihrem Geruch stimmte etwas nicht.

Spitz wie eine läufige Hündin, man riecht’s, Baby.

Sie ging ins Schlafzimmer und zog sich um. Sie nahm eine saubere Bluse, die ihrer Figur schmeichelte. Sie wusste, es würden Männer kommen, Fremde, die ihr Fragen stellen würden. Ihre Augen würden sie betatschen, als wären es Hände. Sie musste dafür bereit sein. Es war wichtig, dass sie richtig aussah.

Sie war gerade wieder auf dem Rückweg in die Küche, da klopfte es an der Tür.

Sie waren zu zweit. Zwei Polizisten, in ihrer Wohnung. Der jüngere der beiden sagte: »Sie leben also getrennt, Mr und Mizz Malone?« Das war das Erste, was er sagte. Und dann: »Ist das hier so eine Sorgerechts-Geschichte?« Sie hatte keine Ahnung, was er meinte, was sie antworten sollte.

Sie setzten sich in die Küche. Ruth stellte einen sauberen Aschenbecher auf den Tisch, und einer von den Männern ging telefonieren. Er kam zurück und wechselte mit seinem Kollegen einen Blick, dann nahm er Frank mit ins Wohnzimmer. Sie blieb mit dem jüngeren Polizisten zurück. Er nannte ihr seinen Namen, aber sie vergaß ihn sofort wieder.

Er saß da und stellte Fragen. Wie lauteten die vollen Namen der Kinder? Wie alt waren sie? Waren sie schon einmal weggelaufen? Hatte sie ein aktuelles Foto?

Dann fragte er: »Seit wann leben Sie getrennt von Ihrem Mann, Mizz Malone?«

»Ich verstehe nicht … was hat das mit den Kindern zu tun?«

Er schwieg und wartete.

»Seit letztem Frühling. Vergangenes Jahr im April ist Frank ausgezogen.«

»Weshalb haben Sie sich getrennt?«

Sie sah ihn an, seinen billigen Anzug und die abgestoßenen Schuhe, und wusste, dass sie es ihm nicht begreiflich machen konnte. Keiner hatte ihre Gründe wirklich verstanden, Frank nicht, seine Mutter nicht, genauso wenig wie die meisten Frauen, die sie kannte. Auch dieser Polizist, der praktisch noch ein Kind war, würde sie nicht verstehen.

»Wir kamen nicht mehr miteinander aus. Wir haben andauernd gestritten.«

»Und jetzt hat er eine Klage angestrengt, weil er das volle Sorgerecht will? Weshalb?«

»Er meint, dass ich … er behauptet, die Kinder wären bei ihm besser aufgehoben.«

Er machte sich eine Notiz und fuhr mit strenger Stimme fort.

»Wenn Sie hier irgendein Spiel spielen, Mizz Malone, wenn Sie hier etwas abziehen, um Ihrem Mann eins auszuwischen, dann sollten Sie damit aufhören, bevor die Sache zu weit geht.«

Entgeistert sah sie ihn an. Ein Spiel? Ihr Gesicht wurde ganz heiß, sie fühlte es am Haaransatz kribbeln und konnte sich nicht mehr beherrschen.

»Was zum Teufel soll das alles? Warum gehen Sie nicht los und suchen nach meinen Kindern? Sie müssen meine Kinder finden!«

Er räusperte sich. Überhörte, was sie gesagt hatte. »Haben Sie die Kinder irgendwo versteckt?«

Irgendetwas in ihrem Blick ließ ihn einlenken. Er hob die Hände. »Okay, okay«, sagte er. Die Röte war ihm ins Gesicht gestiegen. Er sah aus, als gehöre er eigentlich noch auf die Highschool.

Sie schluckte heftig und machte einen langen Zug an der Zigarette. Schüttelte den Kopf, obwohl der Polizist längst aus dem Raum war.

Die Zigarette brannte auf ihre Finger herunter, und sie warf den Stummel ins Spülbecken, ließ kaltes Wasser über die Hand laufen. Der kalte Strahl auf der Haut versetzte ihr einen Stoß – sie spürte auf einmal den schalen Geschmack in ihrem Mund, das flaue Gefühl im Magen.

Die Zeit verging. Frank kam in die Küche und wollte wissen, ob sie schon etwas gegessen hatte. Sie machte eine abwehrende Geste mit der Schulter. Trank stattdessen weiter Kaffee. In der Wohnung war es still, nur Franks schwerer Atem zwischen zwei Zigarettenzügen war zu hören, und hin und wieder die gedämpfte Stimme des zweiten Polizisten, der telefonierte.

Frank ging aus dem Zimmer, und sie hörte, wie das Wasser im Badezimmer rauschte. Dann ein Klopfen an der Wohnungstür und Carla Bonellis Stimme. Leises Murmeln und: »… um zu helfen. Kann ich zu ihr?« Wieder dumpfes Raunen und die Wohnungstür, die ins Schloss fiel. Frank kam zu ihr und sagte: »Carla wollte hereinschauen. Ich habe ihr gesagt, dass das keine gute Idee ist.«

Sie verstand das nicht, nickte aber.

Er sagte: »Ich habe sie gefragt, ob sie den Hund nehmen könnte. Nur solange … fürs Erste.«

Sie nickte wieder, zündete sich eine neue Zigarette an und starrte auf die Wanduhr, bis ihr einfiel, dass sie vergangene Woche stehen geblieben war. Sie waren deswegen zu spät zu Frankies Zahnarzttermin gekommen.

Erneutes Klopfen an der Tür und Schritte auf dem Flur. Sie sah Frank an, und er erwiderte ihren Blick. Stimmen. Zwei Männer tauchten in der Tür auf, einer von ihnen der Kinder-Cop mit dem rosigen Gesicht.

Der andere war älter. Ihn umgab eine Stille, die sie für einen Moment ruhig werden ließ. Er war groß, breitschultrig und trug einen locker sitzenden Anzug, der an seiner hochgewachsenen Gestalt lose herunterhing. Seine Haut war gelblich und wächsern, mit großen Poren. Das Gesicht hing schlaff über dem gedrungenen Hals, und unter den müde herabhängenden Lidern stachen finster blickende Augen hervor. Seine Nase zuckte leicht, während er sie prüfend ansah, als rieche sie schlecht. Sie strich ihren Rock glatt. Fuhr sich über das Haar.

Er erinnerte sie ein wenig an einen Schauspieler, den sie irgendwann einmal gesehen hatte. In einem Film, vielleicht mit Ingrid Bergman. In einem der Filme, die nachmittags im Fernsehen liefen.

Er sah sie erwartungsvoll an, und ihr wurde bewusst, dass er mit ihr sprach. Ob er das noch einmal wiederholen könne?

»Ich bin Sergeant Devlin, Ma’am. Ich bin hier der verantwortliche Ermittler.«

Man hörte, dass er aus der tiefsten Bronx stammte.

Jerry. Der Name des Schauspielers war Jerry. Jerry – wie weiter, wusste sie nicht.

Sie nickte und wandte sich zum Gehen. »Wir haben mal unser Register auf Ihren Namen hin geprüft, Mrs Malone. Scheint, als wären unsere Kollegen schon einmal hier gewesen. Mehrfach.«

Er zog ein Blatt Papier aus seiner Jackentasche.

»Beschwerden wegen Lärmbelästigung im April und Juni letzten Jahres. Und am fünften März und neunzehnten Mai diesen Jahres.«

»Ich verstehe nicht …«

»Hinzu kommt eine Anzeige wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit. Zwölfter November neunzehnhundertvierundsechzig.«

Sie fuhr sich erneut über das Haar. Räusperte sich. »Und was hat das mit meinen Kindern zu tun?«

Er sah sie nur durchdringend an. Dann sagte er unvermittelt: »Wir müssen Ihre Wohnung durchsuchen. Möglicherweise müssen wir auch einige Dinge an uns nehmen. Ist das ein Problem für Sie, Mrs Malone?«

Sie schüttelte den Kopf. Hatte sie eine Wahl?

Stumm saßen sie und Frank da und warteten. Sie kaute an ihrer Nagelhaut und schaute immer wieder auf die Uhr. Jedes kleine Geräusch ließ sie zusammenzucken. Dann stand Devlin wieder in der Tür.

»Bitte kommen Sie mal eben mit.«

Sie sah ihn an. »Haben Sie sie gefunden? Haben Sie Frankie und Cindy gefunden?«

Er sah ihr in die Augen. »Kommen Sie einfach mit, bitte.«

Sie stand auf. »Wir beide?«

Seine Augen wanderten flüchtig zu Frank. »Ja.«

Sie hatte gedacht, dass er mit ihnen zum Kinderzimmer gehen würde, stattdessen führte er sie nach draußen, hinter das Haus, wo die Mülltonnen standen. Sie musste beinahe lachen, als sie sah, was sie getan hatten. Die Tonnen waren ausgeleert worden, und ihr Inhalt lag überall verstreut herum. Zwei neue Polizisten in Uniform durchsuchten die Abfallberge: leere Milchkartons, Verpackungen von Lebensmitteln, Hundefutterdosen, Orangeschalen, Papier, Kaffeesatz. Bei dem Geruch drehte sich ihr der Magen um. Devlin deutete auf einen Plastiksack, der aufgeschnürt worden war. »Ist das Ihrer, Ma’am?«

Sie sah erst ihn an, dann den Plastiksack. Sie ging hinüber und schaute hinein. Neun oder zehn leere Flaschen. Gin. Bourbon. Wein. Sie sah ihn wieder an. War das sein Ernst?

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mehr, was ich in den letzten Tagen so weggeworfen habe. Kann schon sein.«

Sein Gesicht zeigte keine Regung. Eingefroren, wie das Standbild eines Filmschauspielers. Er nickte einem der Uniformierten zu, der mit einem Briefumschlag in der Hand herüberkam. Er hielt ihn ihr vors Gesicht, und sie schrak zurück – er hatte unter Essensresten gelegen.

»Da steht Ihr Name drauf, Mrs Malone.«

Sie sah, dass er eine Rechnung für irgendetwas enthalten hatte, sie konnte sich nicht mehr erinnern, wofür. Aber sie wusste noch, dass sie ihn geöffnet und dann weggeworfen hatte. Die Rechnung hatte sie in die Schublade gesteckt. Sie hatte noch überlegt, wann sie die wohl würde zahlen können.

»Die war in demselben Sack.«

»Oh. Ja … dann ist der wohl von mir.«

»Und die Flaschen?«

Sie sah wieder zu dem Plastiksack hinüber. »Tja, ja, die sind wohl auch von mir. Wenn der Umschlag von der Rechnung da drin war.«

»Alle?« Er machte eine komische Bewegung mit dem Mund.

»Was hat das mit den Kindern zu tun? Warum suchen Sie nicht nach Frankie und Cindy?«

»Wir wollen uns nur ein Bild von den Gegebenheiten machen, Ma’am.«

»Ich habe die Wohnung aufgeräumt. Mein Anwalt hat mir gesagt … das Gericht wird wohl eine Kontrolle durchführen lassen. Er hat gesagt, ich soll gründlich sauber machen. Die Wände streichen. Damit alles schön ordentlich aussieht.« Sie vermied es, Frank anzusehen.

Devlin betrachtete sie lange und nachdenklich und sprach dann mit dem Polizisten in Uniform hinter ihr, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Notieren Sie das, Officer. Vorliegen einer Sorgerechtsklage.« In seinem Mund klang es wie ein Schimpfwort.

Sie wandte sich zu Frank um, der ihrem Blick auswich.

»Ich habe nur aufgeräumt.«

Ohne sie anzusehen, nickte er.

Die Stunden vergingen. Ruth wanderte ziellos durch den Flur, ging im Wohnzimmer auf und ab, kaute an den Nägeln, und der Kloß in ihrem Hals hinderte sie nicht daran, eine Zigarette nach der anderen zu rauchen. Ein Mann mit Pinsel und einem kleinen Behälter kniete am Couchtisch und verteilte ein Pulver auf der Oberfläche. Er arbeitete sich nach und nach durch alle Räume und hinterließ eine weiße Spur. Er sah kurz auf, sprach sie aber nicht an.

Als sie wieder in den Flur kam, bemerkte sie, dass die Tür zum Kinderzimmer einen Spaltbreit offen stand, durch den Licht auf den ausgetretenen Teppichboden fiel. Sie ging einen Schritt darauf zu und sah, wie sich drei Männer über den Schreibtisch am Fenster beugten: Devlin, der Cop mit dem rosigen Gesicht und ein Mann mit einem Fotoapparat.

»Ich will jeden Zentimeter davon.« Devlin sprach leise, seine Stimme klang ernst und konzentriert. Gebannt blieb sie stehen und lehnte sich an den Türrahmen.

Die Rufe des Suchtrupps draußen schienen unendlich weit weg, verzerrt drangen sie aus der Ferne durch den von Hitze flirrenden Nachmittag.

Da war nichts weiter auf dem Schreibtisch: zwei Bücher von Frankie, eine Lampe, eine Tube mit der Creme für Cindys Ausschlag. Ruth hatte vor zwei Tagen aufgeräumt, einen Stapel Wäsche, der dort gelegen hatte, und ein paar Spielsachen. Sie dachte daran, wie sie ihn abgewischt hatte, wie sie die Ringe vieler Tassen zu entfernen versucht hatte. Sie dachte an den Geruch der Bienenwachspolitur.