Glücklich ungläubig - Beda M. Stadler - E-Book

Glücklich ungläubig E-Book

Beda M. Stadler

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Beschreibung

«In vierzehn Tagen wird man mir ein Loch von der Größe eines Fünflibers in den Schädel bohren. Ein guter Moment, um eine Zwischenbilanz für mich und mein Gehirn zu ziehen.» Bekannt wurde Beda M. Stadler als scharf argumentierender Diskussionsteilnehmer und Autor bissiger Kolumnen, in denen er zu medizinischen, gesundheits- und gesellschaftspolitischen Themen auf eine Weise Stellung bezieht, die Zuhörer wie Leser zuverlässig provoziert. Auch hier, in dieser kurzen Geschichte seines Lebens – quasi zweigeteilt durch die oben angekündigte Operation, die lebensbedrohliche Komplikationen zur Folge hat und dafür sorgt, dass der Autor vieles noch einmal ganz neu überdenkt – bringt er seine Leser und Leserinnen eventuell manchmal auf die Palme, wahrscheinlich zum Lachen – aber ganz bestimmt auf neue Ideen. Und im Zentrum seiner Geschichte steht jener Satz, der sein Denken wie ein roter Faden durchzieht: Wichtig ist, dass wir auf Glaubenssysteme verzichten und der Wissenschaft mehr vertrauen, denn die Wissenschaft ist im Gegensatz zum Glauben bereit, aus ihren Fehlern zu lernen. An dieser These misst er (un)wissenschaftliche Wortwahl und Haltung von Freunden wie Gegnern – nicht zu vergessen die eigene – und amüsiert sich über die Irrationalität seines Denkorgans, die ihn schon früh ins Stolpern brachte.

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Seitenzahl: 143

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Beda M. Stadler

GLÜCKLICHUNGLÄUBIG

Autobiografie

1. Auflage 2021Copyright ©2021 Cameo Verlag GmbH, BernAlle Rechte vorbehalten.

Der Cameo Verlag wird vom Bundesamtfür Kultur für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Lektorat: Susanne Schulten, DuisburgUmschlaggestaltung, Layout und Satz: Cameo Verlag GmbH, BernDruck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

ISBN: 978-3-906287-82-9

eISBN: 978-3-039510-08-5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Keine schöne Jugend

Drillzentrum Spiritus Sanctus

In die Freiheit tauchen

Universität und Eigenständigkeit

Vater sein hingegen sehr

USA, die neue Heimat?

Zweites Vorwort

Heimweh

Männerbefreiung

Irrationalität auf dem Prüfstand

Ein Wissenschaftler als Kolumnist

Es war einmal

Die Angst vor der Gentechnik

Religionskritik

Meme und andere geistige Nahrung

Der Verlust des freien Willens

Kochen als Kunst und Wissenschaft

Bremsen oder Gas geben?

Alternativmedizin und Irrationalität

Professoraler Kampf wider die Irrationalität

Parallelrealitäten

Spaß am Leben

Zeitgeist

Evolution und Missverständnisse

Künstliches Leben

Geistige Evolution

Das Leben vor der Geburt

Das Leben in Kurzform

Für meine liebste Ehefrau Heidi

Vorwort

In vierzehn Tagen wird man mir ein Loch von der Größe eines Fünflibers in den Schädel bohren. Ein guter Moment, um eine Zwischenbilanz für mich und mein Gehirn zu erstellen. Ich bin nämlich oft nicht einverstanden mit meinem Gehirn. Gerade eben, als es um die Wahl des Hirnchirurgen ging, war mein Gehirn wieder mal keine große Hilfe. Natürlich hatte ich all die Auszeichnungen, Ehrungen und Titel an den Wänden im Wartesaal gesehen, aber so etwas kann man sich auch selbst ausdrucken. Die einzige vernünftige Frage, die mein Gehirn produzieren konnte, war: «Wie viele Patienten sind Ihnen bei der gleichen Operation verstorben?» Da mein Gehirn die Antwort nicht überprüfen konnte, schaltete es mich, seinen Sklaven aus, um in die Irrationalität zu driften – genau das hasse ich an meinem Gehirn.

Fast die ganze Jugend hat es mich in dieser Irrationalität belassen und die Ratio, die Vernunft, vor mir versteckt. Mein ganzes Leben war ein Kampf gegen meine Unvernunft, um doch noch etwas Vernunft für mich zu ergattern. Genau das lief nun wieder ab. Ich fand, dass der Hirnchirurg für sein Alter gut aussah, dass sein Sprechzimmer geschmackvoll eingerichtet war und dass interessante Bilder an der Wand hingen – und nach wenigen Minuten kamen wir ins Plaudern. Er hatte damals noch Vorträge von mir zum Thema Immunologie besucht. Am meisten beeindruckte mich aber, dass in der Tiefgarage sein Ford Mustang mit 600 PS stand.

Jetzt war also klar: Einer, der so viele PS bändigen konnte, war genau der Richtige, um an meinem Gehirn herumzubasteln. Somit brauchte ich keine Zweitmeinung.

Ich hatte also wieder mal gegen mein irrationales Hirn verloren. Aber es gab auch Momente, in denen ich gewann. Von diesen Momenten handelt dieses Buch. Sie haben mich glücklicher gemacht. Jeder Verständigung mit meinem Gehirn gegen das Irrationale hat Ängste abgebaut und die Welt etwas schöner werden lassen. Da mein «Ich» ja nur eine Projektion meines Gehirns ist – etwas, das für uns alle gilt –, versuche ich, dem Denken manchmal seinen Lauf zu lassen, und verzeihe meinem Gehirn, wenn es lieber in vertrauten Mustern denkt als mit Vernunft.

Manchmal jedoch sollte man seinem Denkorgan trotzdem ordentlich auf die Synapsen hauen und etwas nüchterner – oder eben vernünftiger – denken.

Beda M. Stadler

Keine schöne Jugend

Wenn jemand sagt, er habe keine schöne Jugend gehabt, vermuten die meisten wahrscheinlich, dass er misshandelt oder missbraucht wurde. Aber auf die ersten drei Jahre bezogen, kann niemand diese Frage beantworten, da wir Menschen fast alles vergessen, was vor dem dritten Geburtstag passiert ist.

Da ich nach der Taufe auf den Altar gelegt wurde und meine Eltern ein Gelübde ablegten, dass ich Priester, lieber noch Bischof werden sollte, bin ich eigentlich froh, nichts mehr von den ersten drei Jahren zu wissen. Um diesem Gelübde Nachdruck zu verleihen, wurde die Äbtissin des Klosters Ilanz zu meiner Gotte erkoren und ein Kapuziner als Götti. Andere Kinder bekamen zu Weihnachten Geschenke, ich erhielt von der Äbtissin ein Heiligenbildchen, um es in mein Gebetsbuch zu stecken. Panini-Bildchen wären mir natürlich lieber gewesen, aber im Nachhinein bin ich heilfroh – die Gotte hat sich wenigstens nicht in meine Erziehung eingemischt.

Ich liebte hingegen meinen Götti, von dem ich allerdings nicht wusste, dass er einst Kapuziner war. Ich wunderte mich nur, warum jedes Mal, wenn ich bei ihm auf dem Schoß saß, ein Erwachsener aus der Verwandtschaft mich eiligst von dort herunterzog. Der Grund eröffnete sich mir erst vor ein paar Jahren. Der einstige Kapuziner-Novize war in ein österreichisches Kloster eingetreten und dort bereits in der ersten Nacht vom Abt missbraucht worden. Er schrieb verzweifelte Briefe an seine Eltern, die ihm aber keinen Glauben schenkten. Um die Situation für die Verwandtschaft akzeptierbar zu machen, wurde aus dem Kapuziner ein Schwuler, und die galten damals automatisch auch als pädophil – Gottes Wege sind schließlich unergründlich.

Mein geliebter Götti fand sich schließlich im säkularen Leben zurecht und wurde Reisender für Fleischaufschnitt-Maschinen, sah einer Mortadella nicht unähnlich und wurde zu einem großen Liebhaber von Bier.

Als Götti war er jedenfalls automatisch auch mein Firmgötti. Das Sakrament der Firmung soll Menschen auf ihrem Glaubensweg bestärken, es war also kein Wunder, dass man ihn auslud und ein Ersatz-Götti mir das Firmungsgeschenk des richtigen Götti überreichte. Diese goldene Uhr zierte fortan den Arm meines Vaters, der sie später meinem jüngeren Bruder gab. Der wiederum ließ sie nach einer Weile im Suff in ein Plumpsklo fallen. Im Nachhinein bin ich meinem Gehirn dankbar, dass es sich aus all diesen merkwürdigen Umständen rund um meinen Götti keine Verschwörungstheorie gebastelt hat.

Sobald ich lesen konnte, war mein erstes Buchgeschenk «Ursli und die erste heilige Kommunion», während Micky Maus verboten war. Es bahnte sich also langsam ein Konflikt mit Autoritäten und Glaubenssystemen an. Dass ich im Winter eine halbe Stunde zu Fuß durch den Schnee zur Frühmesse stapfte, war in dieser Hinsicht kein religiöses Problem, sondern reine Hilflosigkeit all denen gegenüber, die wollten, dass ich Messdiener wurde. Im kalten Glockenturm in die Seile zu springen und erst beim zweiten Mal im richtigen Moment, bedeutete auch, dass das ganze Dorf hörte, wenn die Glocke ins Stottern kam. Schließlich fiel mir am Altar vor ein paar alten Frauen und der religiösen Mutter meiner ersten Liebe das große Gebetsbuch herunter. Das gezischte «Du Trottel» des Priesters war so leise, dass ich noch hoffen konnte, dass die Mutter meiner Angebeteten dies nicht hörte. Als ich aber bei der Wandlung im falschen Moment die Glöckchen läutete und dafür eine Ohrfeige kassierte, wurde mir endgültig bewusst, dass mein Gehirn sich langsam mal melden sollte. Oder konnte mich jetzt mal die Pubertät beim Aufmucken unterstützen, damit ich solche fragwürdigen Autoritäten ablehnte?

Wenigstens fiel damals der Entscheid, dass ich möglichst nie einem Chef untertan sein wollte. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich allerdings noch nicht, dass mein Gehirn auch diesen Beschluss nicht beachten würde.

Meine Eltern hatten eine umfangreiche Bibliothek, allerdings ohne Bücher, die mich interessierten. Einzig die Enzyklopädien boten etwas Unterhaltung, weil ich darin Nacktheit fand. Bald kannte ich viele Bilder und Statuen, etwa die Venus von Milo. Pornografie existierte also in meiner frühen Pubertät nicht, und das Frivolste, was wir Jungs zu Gesicht bekamen, war ab und zu eine über die Grenze geschmuggelte italienische Illustrierte aus Domodossola. Ich hingegen wusste, dass allein schon meine Lüsternheit Sünde war. An jedem Samstag ging ich zur Beichte und war beim Überqueren der Straße besonders vorsichtig. Während jeder Woche kamen jedoch aufs Neue einige Male vergnüglichen Onanierens zusammen, wobei bereits ein einmaliges Tun ausgereicht hätte, um direkt auf dem Expressweg in die Hölle zu gelangen – zumindest hatten dies alle Religionslehrer behauptet.

Schon in zartem Alter hatte ich bereits ein stattliche Anzahl Kirchen besucht, da solche Besuche bei Ausflügen oder Ferien fast immer auf dem Programm standen. Die Bilder in den Kirchen waren zumeist sehr blutrünstig, und oft loderten darauf die Flammen der Hölle. Der Himmel hingegen, das erkannte ich schon früh, scheint bei den Katholiken nur ein nebelhaftes Fantasiegebilde zu sein. Ich habe jedenfalls bislang keine Kirchenbilder mit einem Himmel gesehen als einem Ort, an dem man Ferien machen, geschweige seinen ständigen Wohnsitz haben möchte.

Trotzdem war ich als Kind sehr religiös – aus Angst. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb ich es meinem Hirn so übelnehme, dass es mir so lange jegliche Rationalität vorenthielt. Es wäre doch nun wirklich nicht schwer gewesen, mir damals so ungefähr Folgendes zu sagen: «Lass dich nicht ängstigen von Menschen, die ernsthaft glauben, dass ein Gott sich selber kloniert und seinen Klon, also sich selber, später ans Kreuz nageln lässt, obwohl er allmächtig ist. Weil er allwissend ist, hätte er doch wissen müssen, dass die Menschen, die er schließlich selbst gebastelt hat, gerne Spaß haben – was in seinen Augen jedoch Sünde ist. Nachdem er drei Tagen tot war, soll sein Klon dann auferstanden und trotz Löchern in Händen und Füßen herumgeflogen sein. Wenn der Allgütige jetzt aber behauptet, er hätte das alles nur veranlasst, weil wir, seine Produkte, gesündigt haben, sage ich, dein Gehirn: Da hätte ich ihm doch etwas mehr Intelligenz zugetraut, schließlich soll er irgendwann nach dem Urknall eingegriffen und uns und alle anderen Viecher erschaffen haben. Wir Sünder sind also sein Werk. Sollte es tatsächlich so etwas wie einen interstellaren Herrscher geben, der einem vielleicht sogar auf der Toilette zuschaut, sich aber darüber beklagt, dass wir so handeln, wie er es uns nun mal eingegeben hat, wäre es hohe Zeit, dass er sich bei uns für all den Unsinn, den er angestellt hat, entschuldigt.»

Etwas Spaß und Freiheit gab es in der Jugend schon auch, und das war unsere Bande. Wir Jungs verbrachten ganze Tage im Wald und bauten eine eigene Hütte mit gestohlenen Verschalungsbrettern. Die Polizei wusste jedoch von diesen Brettern und entdeckte leider unsere Bude von der Straße aus. Wir wurden also abtransportiert und ins Café Commerce gebracht, wo der Besitzer der betroffenen Baufirma bei seinem Glas Wein saß. Als Grund für unseren Diebstahl gaben wir an, einen geheimen und sicheren Ort zu benötigen, wo wir unsere Bierflaschen verstecken könnten, da wir schließlich zu jung seien, um in eine Beiz zu gehen.

Diese Erklärung gefiel dem alten Säufer dermaßen gut, dass wir die Bretter behalten durften. Zudem spendierte er eine Runde, nicht ohne zu fragen, ob die beiden Polizisten damit einverstanden seien, wenn er uns zu seinen Zöglingen erklärte. Leicht betrunken, aber glücklich, stellte ich fest, dass ein Gehirn einen Diebstahl auch als Spende betrachten kann – die Beweggründe für den Diebstahl müssen nur einleuchtend genug sein.

Unser Schulhaus war sauber nach Geschlechtern in zwei Hälften getrennt. Nicht mal in der Pause bekam man einen Rock zu Gesicht. Das Haus gibt es noch, und jedes Mal, wenn ich es sehe, frage ich mich, welche Moral wohl heute dort gepredigt wird, insbesondere, da es heute «Sepp Blatter Schulhaus» heißt. Ich war übrigens ein guter Schüler und musste nur wenige Hausaufgaben machen, da ich meistens in der Klasse gut aufpasste. Ich hatte also kaum Schulängste außer einer: Ich konnte keine Gedichte auswendig lernen. Weil ich aber meistens alles wusste, hat während meiner ganzen Schulzeit tatsächlich niemand gemerkt, dass ich nichts wortwörtlich auswendig lernen kann. Angst hatte ich aber trotzdem, wenn wir ein Gedicht lernen mussten. Angst hatte ich auch beim Sport, weil mich fliegende Bälle irritieren. Einzig beim Schwimmen war ich angstfrei … wahrscheinlich, weil genügend Nacktheit um mich herum für Ablenkung und Spaß sorgte.

Bezogen auf mein Gehirn könnte man meine frühe Jugend so zusammenfassen: Dieses blöde Ding hat mir nicht geholfen, Ängste abzubauen. Es hat geduldet, dass alles, was Spaß machte, entweder Sünde, verboten oder ungesund war. Mein jugendliches Gehirn war eine echte Spaßbremse, weil es jeden Stuss glaubte, den man ihm erzählte.

Fast verzweifelt bin ich zudem an dem Umstand, dass mir in dem ganzen Drama oft die Worte fehlten. Ich kam sogar ins Stottern, weil mich meine Sprache im Stich ließ. Ich konnte nicht argumentieren, da mir überall, wie bei einem riesigen Puzzle, Teile fehlten. Der Gebrauch von Fremdwörtern war regelrecht Glückssache, und sobald ich den Mund aufmachte, musste jedem auffallen, dass hier ein Mensch ohne Bildung seine Sätze zusammenkratzte.

Drillzentrum Spiritus Sanctus

«Ihr seid die Elite des Oberwallis.» Das war das Motto des Kollegiums Spiritus Sanctus in Brig, wo ich während acht Jahren zur Maturareife gedrillt wurde. Dieses Kollegium kümmerte sich als einer der ganz wenigen Orte in der Schweiz nicht um den 1848 eingeführten Artikel, der den Jesuiten jegliches Unterrichten verbot. Im Wallis gelten noch heute manchmal ganz eigene Gesetze und es gab damals zu wenige Lehrer – warum also jemandem ein Berufsverbot aufzwingen? Die Jesuiten machten ohnehin mehr den «Spiritus» und weniger den «Sanctus» des Kollegiums aus.

Noch heute bin ich ihnen dankbar für ihre Methoden … weniger allerdings für die Inhalte, die sie vermittelten. Auf jeden Fall wurde mir endlich bewusst, dass mein Gehirn auch zum Denken da war, und nicht nur zum Auswendiglernen. Und die Kunst der Dialektik wurde einem dermaßen eingebläut, dass ich später bei neuen Bekanntschaften jedes Mal rasch herausfand, ob jemand ebenfalls durch eine Jesuitenschule geschleust worden war.

Einer der Jesuitenprofessoren lehrte mich allerdings das blanke Entsetzen, denn ich wurde zu ihm aufs Zimmer im Haus der Professoren gebeten und musste mich dort auf sein ungemachtes Bett setzen, während er neben mir auf seinem gepolsterten Gebetsstuhl kniete. Ich musste seine fast mit Grünspan belegten Zähne betrachten und die Speichelfäden, die von der Lippe hingen. Er war ein ausdauernder Beter, und ich hatte keine Ahnung, weshalb ich an diesen Ort beordert worden war. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand er auf und erklärte mir, dass ich verschiedentlich mit jungen Damen gesehen worden sei. So etwas zieme sich nicht in meinem Alter. Ich wunderte mich, schließlich war ich siebzehn Jahre alt. Dann griff er zielsicher in sein Bücherregal und sagte: «Sehen wir mal, was Ignatius von Loyola dazu sagt.» Es folgte ein längerer Text, in dem es darum ging, dass ein Frauenkörper nichts anderes sei als ein Sack voll Dreck mit einem Schlitz unten drin. Daraufhin wurde ich entlassen, und mir war übel. Lange Zeit konnte ich niemandem erzählen, was dieser Idiot mir da vorgelesen hatte. Zum Glück hatte ich bereits einschlägige anatomische Erfahrungen, sodass es letztlich nur um die Frage ging, wie ein erwachsener Mann überhaupt auf die Idee kommen konnte, einem jungen Menschen so etwas anzutun.

Mein Gehirn hat mir bis heute nicht dabei geholfen, herauszufinden, ob die acht Jahre Lateinbüffeln an dieser Schule überhaupt etwas gebracht haben. Sicher ist: Weder ich noch ein anderer von meiner Klasse war nach dieser Zeit fähig, einen Aufsatz in Latein zu schreiben oder in einer Stadt nach dem Weg zum Bahnhof zu fragen. Es gab noch zwei, drei andere Fächer, in denen die ganze Klasse miserabel war. Doch dabei ging es nicht um unsere unfähigen Gehirne, sondern darum, dass die Lehrer miserabel waren. Das ärgert mich noch heute, wenn ich daran denke, mit welcher Leichtigkeit unsere Gehirne damals den Lernstoff verarbeiten konnten.

Andererseits hatten wir einen Lehrer für Kunstgeschichte, der uns alle zu begeistern vermochte. Ich kann heute noch spielend ionische von korinthischen Säulen unterscheiden – genützt hat mir das allerdings nie etwas. An diesen Lehrer erinnere ich mich auch noch aus einem anderen Grund. Er sagte immer wieder: «Unser Gehirn ist wie ein Trichter. Man muss ihn ständig etwas mehr befüllen, als was unten wieder herausläuft. Nur so wird man gescheit.» Mir gefiel dieser Spruch, besonders, weil er nicht sagte, was man in den Trichter füllen sollte. Nebst der Pflichtlektüre konsumierte ich also jeden Schund, aber auch alles über die Geschichte Ägyptens, über Parapsychologie, und ich las die Bücher von Erich von Däniken. Im Großen und Ganzen also reine Konfliktliteratur für mein Gehirn. Manchmal lief der Trichter sogar fast über – aber ich bin trotzdem nicht wirklich gescheiter geworden.

Das Schwierigste während der Zeit im Kollegium aber waren die Hormone. Die Klosterfrauen im Mädchenpensionat nebenan kannten das Problem. Das Pensionat war nämlich von einer hohen Mauer umgeben, und auch die kühnsten Kletterversuche scheiterten spätestens auf der Mauerkrone, da sie zuoberst mit Glasscherben bestückt war. Der hormonelle Angriff auf mein Gehirn war kein bewusster Vorgang, aber ich merkte dennoch, dass etwas ganz Neues in meinem Körper nach immer mehr Irrationalität schrie.

Unsere Maturareise nach Berlin war ein Paradebeispiel für diese spätpubertäre Zeit, es kommt mir meine erste Flugreise in einer DC-3 in den Sinn, welche noch als Rosinenbomber bei der Berlinblockade im Einsatz gewesen war; dann der Beate-Uhse-Sex-Shop, das Musical «Hair» und der Geruch von Haschisch. Gedacht war die Reise als Bildungsreise, wobei ich mich nur noch undeutlich an Nofretete im Ägyptischen Museum erinnern kann – und an ein Theaterstück von Brecht, aber in dem bin ich eingeschlafen.

Und dann kam die Zeit, wo man ständig überlegte oder andere einen fragten, was man denn nun werden wollte. Meine innigsten Wünsche hatte man mir bereits zu Hause ausgeredet und auch geschworen, dass man sich unter keinen Umständen finanziell beteiligen würde, sollte ich Formel-1-Pilot werden wollen. Da ich Brillenträger war, fiel auch der andere große Wunsch, nämlich Flugzeugpilot zu werden, ins Wasser. Also wollte ich wenigstens genauso wie Jacques-Yves Cousteau die Meere erforschen. Und ich fand, ein Biologiestudium wäre da eine gute Grundlage.