Glückssucherinnen - Anita Burgh - E-Book
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Glückssucherinnen E-Book

Anita Burgh

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Beschreibung

Die Suche nach wahrem Glück fängt in uns selbst an: Der bewegende Roman »Glückssucherinnen« von Anita Burgh jetzt als eBook bei dotbooks. Zwei Frauen, die bisher dachten, mitten im Leben zu stehen – und sich doch in einer Sackgasse wiederfinden: Ginnie, die als Hausfrau immer nur für ihren Mann und ihre Familie da sein wollte, und ihre Freundin Selina, die ihren geliebten Buchladen aufgeben musste. An diesem Tiefpunkt lernen die beiden Frauen den charismatischen Xavier kennen. In einfühlsamen Gesprächen finden Ginnie und Selina ihr verlorenes Selbstvertrauen wieder. Besonders Ginnie ist wie verzaubert von Xavier, der wie nie jemand zuvor auf ihre Probleme und Sorgen eingeht … Doch da trifft Selina auf den geheimnisvollen Matt, der sie eindringlich vor Xavier warnt. Doch welchem der beiden Männer können die Freundinnen jetzt vertrauen? Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der gefühlvolle Roman »Glückssucherinnen« von Anita Burgh. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 603

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Über dieses Buch:

Zwei Frauen, die bisher dachten, mitten im Leben zu stehen – und sich doch in einer Sackgasse wiederfinden: Ginnie, die als Hausfrau immer nur für ihren Mann und ihre Familie da sein wollte, und ihre Freundin Selina, die ihren geliebten Buchladen aufgeben musste. An diesem Tiefpunkt lernen die beiden Frauen den charismatischen Xavier kennen. In einfühlsamen Gesprächen finden Ginnie und Selina ihr verlorenes Selbstvertrauen wieder. Besonders Ginnie ist wie verzaubert von Xavier, der wie nie jemand zuvor auf ihre Probleme und Sorgen eingeht … Doch da trifft Selina auf den geheimnisvollen Matt, der sie eindringlich vor Xavier warnt. Doch welchem der beiden Männer können die Freundinnen jetzt vertrauen?

Über die Autorin:

Anita Burgh wurde 1937 in Gillingham, UK geboren und verbrachte einen Großteil ihrer Kindheit in Cornwall. Ihre 24 Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt und feierten international Erfolge. Mittlerweile lebt Anita Burgh mit ihrem Mann und zwei Hunden in einem kleinen Dorf in den Cotswolds, Gloucestershire.

Bei dotbooks veröffentlichte Anita Burgh ihrer Romane »Das Erbe von Respryn Hall«, »St. Edith’s: Hospital der Herzen«, »Glückssucherinnen«, »Der Weg zum Herzen einer Frau«, »Wo deine Küsse mich finden«, »Das Lied von Glück und Sommer«, »Wo unsere Herzen wohnen«

Außerdem veröffentlichte Anita Burgh bei dotbooks ihre Familiensaga »Die Töchter Cornwalls« mit den drei Einzelbänden: »Morgenröte«, »Sturmwind« und »Dämmerstunde«

***

eBook-Neuausgabe November 2020

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1997 unter dem Originaltitel »The Cult« bei Orion Books, London.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1997 by Anita Burgh

Copyright © der deutschen Erstausgabe 1998 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Potapov Alexander, nitsawan katerattakanakul

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-258-5

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Anita Burgh

Glückssucherinnen

Roman

Aus dem Englischen von Traudl Weiser

dotbooks.

Für meinen Sohn Alexander Gregory Leith,mit Liebe und Bewunderung

AUSZUG AUS DEM TAGEBUCHVON H. G. – DEM MEISTER

Die Wahrheit sollte erzählt werden, ehe es zu spät ist, weil ich fürchte, bald ermordet zu werden.

Angst! Seltsam, daß ich dieses Wort wähle, wo ich doch so viel Energie dafür aufgewendet habe, euch, meinen Anhängern, zu verkünden, daß der Tod nur ein Schritt ist, den man machen muß. Es ist nicht der Tod, den ich fürchte – im Alter von zweiundsiebzig Jahren ist mir dieser Gedanke vertraut. Nein, es ist die Art und Weise, wie ich sterben werde, die mich mit bösen Vorahnungen erfüllt.

Ich verbringe sehr viel Zeit mit Überlegungen, auf welche Weise es geschehen wird – mit einem Messer, durch einen Stoß im Dunkeln, durch Gift oder mit einer Schußwaffe.

Ich hoffe, nicht mit einer Schußwaffe getötet zu werden. Ich habe oft von meinem Abscheu davor gesprochen, deshalb wäre es eine grausame Ironie, würde man eine Schußwaffe benutzen. Dieser Gedankengang erschreckt mich. Wenn mir die Ironie daran auffällt, gibt es keinen Grund, warum es ihm nicht ebenso ergehen sollte. Aber auf eine solche Frage gibt es keine Antwort– das heißt, nicht bis zum bitteren Ende. Bei dem Gedanken, erschossen zu werden, schaudert mich. Doch nicht der Schmerz beunruhigt mich, sondern das Aussehen meines Leichnams. Wie ich es hassen würde, im Tode häßlich auszusehen!

Spotten Sie über die Eitelkeit eines alten Mannes? Doch alle, die mich wirklich kennen, würde mein Verhalten nicht erstaunen. Denn sie wissen um meine Eitelkeit. Ich strahle stolz, wenn man mir Komplimente macht, und ich bin überglücklich, wenn andere sagen, ich sei schön. Mein Aussehen war mir mein Leben lang wichtig, warum sollte es im Tode anders sein?

Ich schreibe Ihnen, doch frage ich mich, wer Sie sind, wer hat diese hingekritzelten Notizen und Weitschweifigkeiten eines zum Tode verurteilten Mannes gefunden? Wie dramatisch! Zugegeben, in diesen Tagen schwafele ich gern. Das macht es für jene, die meine Worte niederschreiben, viel schwieriger. Vielleicht sollten sie damit jetzt aufhören. Vielleicht habe ich alles gesagt, was zu sagen ist, und uns bleiben nur Wiederholungen und unbedeutendes Gefasel.

Was ich Ihnen mitteilen möchte? Die Wahrheit, wie ich schon sagte. Meine Entschuldigung für Unwahrheiten. Und ich möchte, daß bekannt wird, was er getan hat und wie er angefangen hat, mein Lebenswerk zu korrumpieren und alles zu beschmutzen, was rein und gut war.

Wo dieses Geständnis zu verstecken ist, damit er es nicht findet und vernichtet, macht mir Sorgen. Ich hoffe, mein gewähltes Versteck ist sicher genug, damit er es nicht entdeckt, aber augenfällig genug, daß Sie es finden.

Ich muß schnell arbeiten. Meine Angst wächst. Doch daran bin ich selbst schuld. Hätte ich nur von den vielen Unstimmigkeiten Notiz genommen, diesen Geräuschen in der Nacht, dem leeren Ausdruck in ihren Augen. Mein Fehler! Doch das Wissen darum hilft mir nicht, mir meine Dummheit zu verzeihen. Ich muß weitermachen! Die Wahrheit also?

Die Wahrheit ist natürlich, daß es keine Wahrheit gibt. Ist diese Aussage nicht typisch für mich? Ein idealer Gedanke für den Tag. Ich werde ihn zweifelsohne benutzen, und ihr alle werdet euch damit herumquälen, ihn diskutieren und darüber nachdenken und ihn schriftlich festhalten, so wie ihr alles aufschreibt, was ich sage. Das ist keine freundliche Feststellung. Sie klingt, als würde ich euren Eifer, eure Methode verachten. Das liegt mir fern, denn in Wahrheit liebe und respektiere ich euch alle – nun, jene, die übriggeblieben sind und die ich kenne.

Alles ist aufgezeichnet, außer diesem – mein Geheimnis ...

Kapitel 1

1

Ein paarmal im Monat, immer mittwochs, wenn in Finchester die Geschäfte früher schließen, traf sich Ginnie Mulholland mit. ihrer Freundin Selina Homer zum Mittagessen. Nachdem Ginnie ihr Auto geparkt hatte, ging sie die kurze Entfernung am Bishop's Palace vorbei in die Fußgängerzone, schlenderte, um zu Selinas Buchhandlung zu kommen, an den Schaufenstern mit teurem Porzellan, Geschenken und Boutiquen vorbei, die jedes Jahr Tausende Touristen anlockten, die Finchester besuchten. Vor dem Jaeger-Geschäft blieb sie stehen und winkte der Geschäftsführerin zu, deren Gesicht bei ihrem Anblick aufleuchtete – wohl eher bei dem Gedanken an meine Gold-Barcleycard, dachte Ginnie.

Es war ein herrlicher frischer Oktobertag, und die Blätter der Bäume in der Grünanlage vor der Kathedrale hatten sich noch nicht verfärbt. Trotz des Verbotsschilds spazierten mehrere Leute mit ihren Hunden über den Rasen. Ginnie schenkte der gewaltigen Kathedrale, deren helle Mauern in der Sonne golden schimmerten, keine Aufmerksamkeit, da ihr der Anblick vertraut war.

In ihrem Gang lag eine Beschwingtheit, die ihr noch gestern und seit langer Zeit gefehlt hatte. Ginnie hatte nämlich ein Problem – ihren Mann, Carter. Sie liebte ihn innig, wenn auch mit argwöhnischer Eifersucht. Seit ihrer Heirat vor zweiundzwanzig Jahren hatte Ginnie, die nie wirklich an ihr Glück hatte glauben können, jederzeit mit einem Ende dieser Beziehung gerechnet. Kam Carter spätnachts nach Hause, war sie überzeugt, daß er eine andere, ihr weit überlegene Frau kennengelernt hatte. War er auf Reisen, wußte sie einfach, daß er mit einer anderen Frau zusammen war. Und sie erging sich in qualvollen Phantasien, wie sich die beiden Körper in einem Hotelbett in irgendeiner Stadt in leidenschaftlicher Lust wanden. Obwohl Carter seit Jahren genügend Geld besaß, um im Ritz abzusteigen, war Ginnie bei der Überprüfung seiner Visa-Abrechnungen aufgefallen, daß er die Trust-House-Forte-Hotels bevorzugte.

Ihr Leben war ein einziges Dilemma: Ständig befürchtete sie das Schlimmste und hatte gleichzeitig Angst, ihren Mann zur Rede zu stellen und zu zwingen, ihr die Wahrheit zu sagen. Ginnies Mißtrauen irritierte Carter, denn er war Künstler, und als Künstler liebte er seine Freiheit. Ginnie sagte sich immer wieder, daß sie nicht erwarten dürfe, daß Carter wie andere Männer sei, und da er schon so gewesen war, als sie ihn kennenlernte, müsse sie seine Lebensweise akzeptieren. Das gelang ihr allerdings nicht, denn sie hegte noch immer die törichte Hoffnung, sie sei die einzige Frau, die ihn ändern könne.

Dieses Mal hatte sich Ginnie in die Überzeugung hineingesteigert, daß Carter ein Verhältnis mit Anna Tylson habe, einer Frau, mit der sie oft gesellschaftlich verkehrte, was immer wieder zu peinlichen Situationen führte. Manchmal stellte sich Ginnie gerne vor, welche Erleichterung es ihr bringen könnte, würde sie sich jemandem anvertrauen – Selina vielleicht. Aber solche Vertraulichkeiten könnten zu quälenden Bedenken führen oder sogar irgendwie gegen sie benutzt werden.

Der heutige Tag jedoch war für Ginnie wie ein Neubeginn, denn Carter war gestern abend rechtzeitig zum Dinner nach Hause gekommen, hatte ihr eine Flasche Pol Roger – ihre Lieblingsmarke –, einen riesigen Blumenstrauß und den neuesten Bestseller mitgebracht und ihr mit einem breiten Grinsen seine Pläne für Weihnachten verkündet. Daraus hatte sie die Schlußfolgerung gezogen, daß ein Mann, der beabsichtigte, seine Frau zu verlassen, wohl kaum mit derart aufregenden Überraschungen aufwarten würde. Anna Tylson war Vergangenheit, davon war sie überzeugt – nun, beinahe.

Als Selina beim Aufwachen klar wurde, daß Mittwoch war, hatte sie gedacht, wie schön es wäre, den Tag frei zu haben, um das tun zu können, was ihr gefiel. Sie könnte Ginnie anrufen und die Verabredung zum Mittagessen absagen, wußte aber, daß sie es nicht tun würde. Ginnie freute sich auf diese Treffen in einer Weise, die Selina nicht teilte, und sie brachte es nicht übers Herz, ihre Freundin im Stich zu lassen.

Selinas letzter Kunde verließ schließlich die Buchhandlung, ohne etwas gekauft zu haben – einer von vielen in dieser Jahreszeit, die vor der Kälte flohen und nur eine Weile in den Büchern schmökern wollten. Sie nahm das Geld aus der Kasse und beschloß, es später zu zählen. Dann merkte sie jedoch, daß der Betrag höher zu sein schien als die Vormittagseinnahmen in letzter Zeit. Also steckte sie das Geld in einen Beutel, beschriftete ihn mit Datum und Uhrzeit und räumte den Kassenbereich auf. Dann sammelte sie die Kaffeetassen ein und brachte sie nach hinten in die Küche, um das Geschirr zu spülen. Heute morgen hätte es beinahe einen Aufruhr gegeben, als sie einigen ihrer Stammkunden erklärt hatte, daß sie in Zukunft für den Kaffee bezahlen müßten: »Die Zeiten sind schwer. Tut mir leid.«

Eines der Probleme, die Selina mit diesen Mittwoch-Lunches hatte, bestand darin, daß der Wein sie für den Rest des Nachmittags in einen leicht benommenen Zustand versetzte und sie sich zu nichts mehr aufraffen konnte. Natürlich wäre die einfachste Lösung gewesen, keinen Wein zu trinken, aber das brachte sie nicht fertig, denn Ginnie bestellte nur erlesene Weine. Zweifelsohne war Ginnie einer der großzügigsten Menschen, den Selina kannte, doch manchmal erinnerte sie diese Freigebigkeit an ein in der Schule unbeliebtes Mädchen, das versucht hatte, sich Freundschaften mit Süßigkeiten zu erkaufen.

Es war eine recht einseitige Beziehung: Selina hatte eine Menge Freunde, während Ginnie nur sie zu haben schien. Aber Selina brachte es nicht fertig, sich von Ginnie zu distanzieren, weil sie ihr nicht weh tun wollte.

Selina machte sich Sorgen, daß diese Abhängigkeit noch schlimmer werden könnte, weil Ginnie einfach nicht genug zu tun hatte, und jetzt, da ihre Tochter Tessa auf dem College war, noch weniger sinnvolle Aufgaben hatte.

Selina hatte Ginnie mit vielen verschiedenen Wissensgebieten bekannt gemacht, und eine Zeitlang schien die Aromatherapie Ginnies Interesse zu fesseln. Sie hatte einen Kurs belegt, ihn aber, wie so viele andere – Astrologie, Tarot, Englisch-Abitur, Französisch und Yoga – wieder abgebrochen.

Und Ginnie war kein Mensch, mit dem man leicht zurechtkam. Ihr Perfektionismus ließ sie oft unduldsam und überkritisch den Fehlern anderer gegenüber werden. Auch ihre ständige Gereiztheit war irritierend. Stets hatte man das Gefühl, sie stünde kurz vor einem Nervenzusammenbruch oder leide an einer großen inneren Trauer. Nicht, daß Selina je erfahren würde, was Ginnie bedrückte, denn Ginnie war kein Mensch, der andere ins Vertrauen zog. Und das war wahrscheinlich der Grund dafür, daß sie überhaupt Freundinnen wurden, denn auch Selina enthüllte niemandem ihre tiefsten Gefühle. Obwohl sie oft den Wunsch verspürt und sich vorgestellt hatte, wie es sein könnte, einer mitfühlenden Seele ihr Herz auszuschütten. »Von Gefühlsduseleien will ich nichts hören«, hatte ihre Mutter sie und ihren Bruder regelmäßig scharf bei den ersten Anzeichen von Überschwang zurechtgewiesen. Und Selina hatte gelernt, ihren Kummer zu verbergen, obwohl sie manchmal das Gefühl hatte, in ihr sei ein Damm, der die Probleme ihres Lebens zurückhielt – ein dunkler Ort, den die Lektionen ihrer Mutter sie gelehrt hatten zu ignorieren. Obwohl Selina und Ginnie sich gegenseitig als »beste Freundinnen« bezeichneten, wußte Selina, daß sie es nicht waren und nie sein würden – zumindest nicht im herkömmlichen, vertraulichen Sinn.

»Störe ich?« Ginnies Stimme und die Ladenglocke ertönten gleichzeitig. »Du bist so tief in Gedanken versunken.«

»Oh, keine welterschütternden Erkenntnisse«, antwortete Selina verwirrt und ein bißchen ängstlich, weil sie befürchtete, Ginnie könnte ihre Gedanken erahnen.

»Ich liebe diesen Laden.« Ginnie setzte sich anmutig in einen der Ohrensessel an dem niedrigen Eichentisch, wo die Kunden sitzen, Kaffee trinken und sich überlegen konnten, welches Buch sie kaufen wollten – dafür war die Sitzgruppe ursprünglich gedacht gewesen. Sie blickte zu der niedrigen Decke mit den massiven alten Balken hoch. »Einfach schön und einzigartig«, sagte sie.

»Das war er mal, aber jetzt nicht mehr. Sieh dir doch nur diesen ganzen Krempel an.« Selina deutete auf die Regale voller Accessoires für spiritistische Sitzungen und die handgefertigten Gefäße für das Verbrennen von Aroma-Ölen, die Selina jetzt im Angebot hatte, weil sie hoffte, damit ihr Geschäft retten zu können.

»Aber dieser Krempel, wie du ihn nennst, hat uns zusammengebracht, nicht wahr?«

»Das stimmt«, sagte Selina, denn Ginnie war eines Tages in ihre Buchhandlung gekommen und hatte sich nach Büchern über Tantra erkundigt – wobei Selina nie den Mund aufgebracht hatte, Ginnie zu fragen, ob ihr Interesse vor allem den tantrischen Sexualpraktiken gegolten habe. »Möchtest du ein Glas Wein, ehe wir gehen?«

»Ich habe für halb zwei einen Tisch im Buckingham reserviert«, sagte Ginnie hastig, denn sie zog einen Aperitif dem billigen säuerlichen Wein vor, den Selina in letzter Zeit zu kredenzen pflegte.

Selina schaltete den CD-Player aus und ließ Mozarts Musik somit abrupt verstummen, machte die Lichter aus, schlüpfte in ihren salbeigrünen Wollponcho und drückte ihre Frisur zurecht, was wirkungslos blieb, da ihr natürlicher Lockenkopf zu widerspenstig war. »Also gut. Gehen wir.«

2

Selina und Ginnie gingen zu der früheren Kutscherkneipe, die jetzt in die Fußgängerzone integriert war. Beide waren sich ihres unterschiedlichen Aussehens bewußt und hatten oft Witze darüber gemacht, vor allem, wenn die Leute sie neugierig anstarrten und sich fragten, was diese beiden Frauen verband.

Ginnie hatte den hellen Teint der meisten Blonden, auch wenn die Farbe ihres Haars im schicken Bubikopfschnitt jetzt durch eine Tönung aufgehellt war. Sie war groß, schlank und hatte feingeschnittene Gesichtszüge und eine schöne Haut, die nur von einem feinen Netz Fältchen durchzogen war. Ihr Mund war schmal, und in ihren großen grauen Augen lag immer ein mißtrauischer Ausdruck. An ihrer teuren, modischen Kleidung war nie eine Knitterfalte, ein herunterhängender Saum oder ein loser Faden zu sehen. Garderobe, Make-up, Figur, Frisur und Stil waren das Resultat der rigiden Selbstbeherrschung, die ihr Leben bestimmte.

Selina war gut fünfzehn Zentimeter kleiner, sie trug robuste Halbstiefel und einen knöchellangen Rock. Ihre Kleidung war ein Durcheinander verschiedener Stoffe, Farben und Stile. Morgens zog sie an, was ihr gerade in die Hände fiel, und machte sich tagsüber keine Gedanken mehr darüber. Sie war nicht übergewichtig, aber ihre kleine Statur und ihre Schlabbergewänder ließen sie rundlicher aussehen, als sie war. Ihr Gesicht wurde von einem Wust widerspenstiger, brünetter Locken mit einem Stich ins Rötliche umrahmt, und es drückte Intelligenz aus. Es war eher ausdrucksvoll als schön, und dichte schwarze Wimpern umrahmten ihre haselnußbraunen Augen. Obwohl die beiden Frauen ein Altersunterschied von zehn Jahren trennte, sahen sie gleichaltrig aus: Teure Cremes und geschickt aufgetragenes Make-up ließen Ginnie jünger aussehen, während eine zerbrochene Ehe und ständige Geldsorgen Selinas Gesicht gezeichnet hatten.

In der Eingangshalle des Buckingham blockierte eine Gruppe schick gekleideter, schrill durcheinander sprechender, älterer Damen den Weg zur Bar.

»O nein!« stöhnte Ginnie leise beim Anblick ihrer Schwiegermutter, Joan Mulholland. »Hat sie mich gesehen?« flüsterte sie Selina zu.

»Leider ja«, antwortete Selina lächelnd und winkte.

»Kommt sie her?« fragte Ginnie und schaute in die entgegengesetzte Richtung.

»Leider ja«, wiederholte Selina. »Da ist sie schon.«

»Selina, wie schön, Sie zu sehen. Virginia«, fügte sie mit einem kurzen Nicken hinzu.

»Joan«, sagten beide gleichzeitig und blickten wie zwei ertappte Schulmädchen zu Boden.

Joan Mulhollands Stellung in der Gesellschaft verliehen ihr eine Arroganz und Selbstsicherheit, um die sie von vielen beneidet wurde. Zu jenen, die in ihren Augen der niederen Gesellschaftsschicht angehörten – wozu sie zweifellos Ginnie zählte –, sprach sie mit betonter Langsamkeit, denn ihrer Meinung nach war allein sie aufgrund ihrer höheren gesellschaftlichen Stellung mit überragender Intelligenz gesegnet. »Eßt ihr hier wieder mal zu Mittag?«

»Ja, unser gewohntes Mittwochs-Ritual«, antwortete Selina anstelle von Ginnie, die offensichtlich nicht antworten wollte oder konnte.

»Wie reizend. So wie wir – die Blumenmädchen der Kathedrale!« Ihr kokettes Lachen paßte nicht zu ihrem Alter.

Selina wußte nicht, was sie entgegnen sollte. »Tja ...«, murmelte sie, wurde aber gleich unterbrochen.

»Da ihr wohl im Restaurant zu Mittag essen werdet«, sagte Joan, »könntet ihr euch doch zu uns setzen.«

»Wie freundlich von Ihnen – aber leider haben wir einen Tisch im Lokal reserviert«, entschuldigte sich Selina geschickt.

»Dann beim nächsten Mal, liebe Selina. Und jetzt muß ich zu meinen Damen zurück.« Mit einem herablassenden Lächeln schwebte sie davon.

Nachdem Selina und Ginnie endlich an der Bar gelandet waren – Joan gehörte einer Generation an, die niemals eine Hotelbar betreten würde –, fragte Selina: »Ist sie immer so unhöflich zu dir?«

»Du hast fabelhaft reagiert mit dieser Ausrede, daß wir im Lokal essen würden. Bekommen wir denn dort jetzt noch einen Tisch?«

»Klar. Ich gehe schnell mal rein und arrangiere das.«

»Ich hole inzwischen die Drinks. Einen Gin Tonic für dich?«

»Ein Mineralwasser. Ich trinke keinen Alkohol mehr.« Selina schnitt eine Grimasse und verschwand in Richtung Lokal. Als sie zurückkam, ergatterte sie zwei Sitzplätze in der überfüllten Bar mit den abgewetzten Ledersofas, dem zerschlissenen, türkischen Teppich, den Jagddrucken an den Wänden und der vom Nikotin geschwärzten Decke. Der mürrische Barmann reagierte nicht, als Ginnie mehrmals versuchte, die Drinks zu bestellen, und ignorierte sie einfach. Selina fragte sich, warum Ginnie sich diese Unverschämtheit gefallen ließ, so wie sie kurz zuvor nicht auf die Unhöflichkeit ihrer Schwiegermutter reagiert hatte. Das zeigte eine Schwäche in Ginnie, die eine Tyrannin wie Joan natürlich sofort ausnutzte.

Bestimmt war es nicht leicht für Ginnie gewesen, in diese rigide, hochanständige Familie des Mittelstandes einzuheiraten. Und Joan hatte ihr sicher noch nicht verziehen, daß sie ihren vergötterten Carter geheiratet hatte – keine Frau wäre gut genug für ihn gewesen. Selina erinnerte sich, wie ihre Mutter einmal zynisch gesagt hatte, es sei eine Schande, daß Joan Mulholland nicht ihrem Mann, Patrick, die Zeit und Hingabe widme, die sie für ihren Sohn aufbringe. Dann hätte er sich nicht zu dem aufdringlichen Grapscher entwickelt, der alle Frauen in der Stadt belästigte. Selina überlegte, ob sie Ginnie davon erzählen sollte, um sie aufzuheitern, entschied sich aber dagegen. Menschen reagieren manchmal seltsam, wenn es um die eigene Familie geht, und jede Bemerkung kann als abwertende Kritik ausgelegt werden.

»Versprich mir, nicht zu lachen – aber hast du auch manchmal das Gefühl, daß du wie deine Mutter redest?« fragte Ginnie später beim Mittagessen.

»Das finde ich wirklich nicht witzig, weil mir das dauernd passiert. Gräßlich, nicht?«

»Entsetzlich! Kürzlich habe ich meinen Schatten gesehen und hätte beinahe geschrien – denn ich glaubte, meine Mutter zu erkennen!« Ginnie erschauderte.

»Dabei lebt deine Mutter noch. Ich warne dich, es wird noch schlimmer, wenn sie erst mal tot ist. Ich glaube, ich denke manchmal sogar wie sie – möge Gott mich davor bewahren!«

»Du hast deine Mutter also auch nicht gemocht?« fragte Ginnie und bereute sofort ihre Frage, denn damit hatte sie ihre eigenen Gefühle verraten.

»Wir haben uns nie ausstehen können. Als Chris und ich uns trennten, hat sie zu ihm gesagt, sie könne verstehen, warum er nicht mit jemandem, der so schwierig wie ich sei, leben könne. Bezaubernd, nicht wahr? Danach haben wir nie wieder miteinander geredet.«

»Das muß dich sehr gekränkt haben.«

»Nicht besonders. Obwohl ein bißchen Loyalität schon ganz nett gewesen wäre.« Selina griff nach ihrem Glas, um das Thema zu beenden. Obwohl sie gute Miene zum bösen Spiel machte, tat es ihr noch immer weh. Und manchmal, wenn wieder eine Beziehung in die Brüche gegangen war, fragte sich Selina, ob es an der Gefühlskälte ihrer Mutter lag, daß sie keine Beziehung aufrechterhalten konnte, daß die Liebe immer endete, weil sie nicht daran glaubte. Jetzt wußte sie, daß man als Kind geliebt werden mußte, um später lieben zu können. Das war eine interessante Theorie, und da Selina eine intelligente Frau war, merkte sie auch, daß man sie als faule Ausrede benutzen konnte. Aber darüber würde sie nie mit Ginnie diskutieren, das wäre ein zu intimes Gespräch.

»Wie geht's Carter?« fragte Selina mehr aus Höflichkeit als aus Interesse. Sie mochte Ginnies Mann nicht, der ihrer Meinung nach zu sehr von sich eingenommen war.

»Gut. Er malt fleißig«, antwortete Ginnie mit einem strahlenden Lächeln und fügte spontan hinzu: »Er macht mir ein phantastisches Weihnachtsgeschenk.«

»Was denn?«

»Einen Flug mit der Concorde nach New York. Wir bleiben eine Woche.«

»Das ist wirklich ein tolles Geschenk!« sagte Selina, mußte sich aber unwillkürlich fragen, wer dafür bezahlen würde.

»Ja, nicht wahr! Und aus heiterem Himmel!« Ginnie sah aus, als wollte sie sich vor Glück selbst umarmen. »Nur wir beide und Tessa.«

»Wie schön.«

»Und wie geht's Geoff?« fragte Ginnie dann pflichtbewußt. Sie mochte Selinas Freund nicht, da er ihrer Meinung nach Selina nicht genug schätzte.

»Gut. Er ist bis Freitag auf Reisen. Ich sage ihm, daß du dich nach ihm erkundigt hast.« Selina erging sich in Floskeln, um die Wahrheit zu umgehen. Ihre Beziehung zu Geoff, die so vielversprechend begonnen hatte, drohte rapide an den Klippen von Gewohnheit und Langeweile zu scheitern. Sie hätte Ginnie davon erzählen können, wie demütigend für sie der Verdacht war, daß Geoff sich wieder mit seiner Exfrau traf, und nicht nur wegen der Kinder. Sie hätte gerne darüber gesprochen, unterdrückte aber diesen Impuls und fragte statt dessen: »Und wie geht's Tessa?«

»Sie kommt nächste Woche zu Carters Geburtstag nach Hause. Jetzt, da sie auf der Universität ist, vermisse ich sie sehr. Das Haus kommt mir ohne sie ganz leer vor.« Ginnie beglückwünschte sich für diese leicht dahingesagten Worte, die von ihr erwartet wurden, denn in Wahrheit gefiel es ihr, daß ihre Tochter nicht mehr zu Hause lebte und sie endlich mit ihrem Mann allein war.

»Und bestimmt viel ruhiger«, sagte Selina grinsend.

»Ich werde mich nie wieder über ihre Musik beklagen, und auch nicht über ihre Füße – sie macht beim Gehen einfach schrecklich viel Lärm.«

Die beiden schwiegen, während der Kellner den Kaffee servierte. »War es schwer für dich, allein zu leben?« fragte Ginnie und wunderte sich gleichzeitig über ihre Frage. Ich bin nie allein gewesen, dachte sie glücklich, also muß ich auch nicht wissen, wie es ist.

»Eigentlich nicht«, antwortete Selina mit einem unbekümmerten Schulterzucken, das verschleierte, wie schrecklich die Zeit gewesen war. »Warum fragst du?«

»Ach, nur aus Neugierde, nehme ich an.« Selina hatte bei ihren Unterhaltungen mit Ginnie immer das Gefühl, mitten in einem Gesprächs-Menuett zu sein. Kaum berührten sie ein Thema, das an Intimität grenzte, scheuten beide zurück und flohen in die Sicherheit höflicher Floskeln, so wie Tänzer, die einander flüchtig berühren und dann wieder davonschweben.

Der Pfarrer von Whitham – das Dorf, in dem Ginnie lebte – kam an ihrem Tisch vorbei und blieb kurz stehen. Er wollte die Gelegenheit nützen, sich Ginnies Mitarbeit beim Weihnachtsmarkt zu vergewissern.

»Engagierst du dich für solche Sachen? Du weißt schon, die Rechte und Pflichten einer Grundherrin?«

»Wie kannst du nur so etwas sagen!« Ginnie lachte. »Ich tue nur, was ich kann. Denn wenn man in einem Dorf lebt, sollte man sich gegenseitig helfen.«

»Ich könnte nie in einem Dorf leben. Damit käme ich nicht zurecht.«

»Ich gehe ganz gern in die Kirche. Eine Messe bietet Trost und Ermutigung. Oft kommt das allerdings nicht vor, denn ich mag die meisten der hochnäsigen Mitglieder der Kirchengemeinde nicht.«

»Was meinst du mit ›Trost‹?« fragte Selina neugierig.

»Ich finde es tröstlich zu glauben, daß es noch ein anderes als das irdische Leben gibt. Fragst du dich das nie?«

»Nein.«

»Hast du nicht das Bedürfnis, an etwas zu glauben?«

»Woran denn? An einen Gott auf Wolken, an Engel und diesen ganzen Rossetti-Quatsch?«

»Natürlich nicht. Sei doch nicht albern. Nein, an eine höhere Macht.«

»Das hört sich für mich nicht besonders einleuchtend an.«

»Nein, wahrscheinlich nicht. Aber ich glaube, daß jeder Mensch etwas braucht, woran er glaubt.«

»Nicht jeder. Ich nicht«, sagte Selina bestimmt.

AUSZUG AUS DEM TAGEBUCHVON H. G. – DEM MEISTER

Es gibt Zeiten, da schwafele ich gern – niemand kritisiert mich deswegen, das würden diese Schmeichler, meine Jünger, nie wagen. Aber da ich gerne glaube, daß ich ehrlich bin, gebe ich es zu. Da ich also nicht weiß, wer Sie sind oder ob Sie vielleicht sogar einer meiner Anhänger sind, werde ich versuchen, diese irritierende Angewohnheit zu zügeln. Er war fort, was meine Stimmung erheblich aufgeheitert hat. Morgen kommt er zurück, und dieser Gedanke beunruhigt mich. Ich muß weitermachen und Ihnen alles erzählen. Die Wahrheit, oder vielmehr die Unwahrheit, hat vor über sechzig Jahren an einem Strand auf Ceylon begonnen.

Die offizielle Version der Ereignisse jenes Morgens ist viele Male berichtet worden, aber nie so, wie ich sie gesehen habe. Wie Sie zweifellos wissen, habe ich in einer Mulde im Sand gelegen, in diesem Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen. Ich genoß diese kostbaren Augenblicke, die jene, die in einem heißen Land gelebt haben, zu schätzen wissen – diese Minuten des Wohlbehagens, wenn die Kühle der Nacht schwindet und die Hitze des Tages noch nicht eingesetzt hat. Ein fernes Stimmengewirr ließ mich vollends wach werden. Ich spähte über den Rand meiner Mulde und sah in einer Entfernung von etwa fünfzig Metern ein paar Leute zielstrebig in unsere Richtung marschieren. Die Gruppe wurde von einer stämmigen, aufrecht gehenden weißen Frau angeführt. Sie trug einen Sonnenschirm. Ganz in Weiß gekleidet, sah sie wie ein Geist aus. Nie stockte ihr Schritt, obwohl der Sand weich und tief war. Sie marschierte entschlossen weiter und wurde von ihren unterwürfigen Begleitern umschwärmt wie ein großer Wal von Fischschwärmen.

So hat mich die Ehrenwerte Bay Tarbart an jenem Morgen gefunden, genau wie es in den Dokumenten, die sie in dem Sandelholzkästchen gefunden hatte, prophezeit worden war – oder vielmehr, wie sie die Worte interpretierte. Wer würde schon mit ihr darüber streiten? Da Miss Tarbart jener Rasse herrischer Engländerinnen der Oberschicht angehört, die von Selbstgerechtigkeit durchdrungen ist, war es ihr wohl nie in den Sinn gekommen, daß ihre Interpretation der Ereignisse angezweifelt werden könnte.

Ungewöhnlich für jene Zeit war, daß Bay Tarbart ihrem Glauben abgeschworen hatte. Zweifelsohne hatte der Verlust ihres Verlobten in dem Gemetzel des Ersten Weltkriegs, der erst neunzehn Jahre zuvor zu Ende gegangen war, zu dieser Entscheidung erheblich beigetragen. Bestimmt hatte sie noch kristallklare Erinnerungen an dieses Grauen.

Ich habe of darüber nachgedacht, welchen Verlauf unsere Leben ohne diese Tragödie genommen hätte – sie wäre Ehefrau, Mutter, adelige Herrin eines stattlichen Schlosses geworden. Und ich? Tja, wer weiß? Wahrscheinlich wäre ich schon längst tot.

Ich verfalle wieder in meine Gewohnheit und schweife ab. Was konnte die Leere füllen, die der Verlust des Glaubens in ihr hinterlassen hatte? Eine Mischung aus Humanismus, christlicher Ethik mit einer Prise Buddhismus, kombiniert mit Tierliebe. Mit anderen Worten: ein ziemlicher Wirrwarr.

Bay Tarbart brauchte etwas, an das sie glauben konnte, und das fand sie in einem alten Manuskript auf Pergament in ihrem kostbaren Sandelholzkästchen. Darin stand, wann und wo sie ihren Propheten finden würde. Sie war aufgebrochen, um ihn zu suchen. Und sie fand ihn. Mich!

Ich will zum ersten Mal meine ehrliche Meinung über diese Niederschrift kundtun: Ich finde den Inhalt ziemlich unglaubwürdig. Er erinnert mich an die Worte des Nostradamus – Rätsel innerhalb von Rätseln –, die alles bedeuten können, was man hineinlegt.

Bay Tarbarts Interpretation lautete, daß sie in der dritten Dekade dieses Jahrhunderts an einem sechsten Juli, in der Nähe einer Stadt, die mit C beginnt, am Meer in einem Land, wo Elefanten leben, einen heiligen Mann von dunkler Haut und mit blauen Augen finden würde. Eine sehr vage Prophezeiung, nicht wahr? Bis auf das letzte Detail, denn ich bin berühmt wegen meiner Augenfarbe. Viele Städte am Meer beginnen mit C. Doch die Elefanten engten das Territorium ihrer Suche ein. Niemand hatte sie darauf hingewiesen, daß ihr Verlobter am sechsten Juli an der Somme gefallen war. Als die kleine Gruppe bei meiner Mulde ankam, stand ich schon – jetzt hellwach – am Rand und bot in meinen schmutzigen Kleidern und ohne Schuhe an den Füßen einen ziemlich verwahrlosten Eindruck. Meine Freunde waren auch herausgekrochen, und wir harrten gespannt der Dinge, die sich da anbahnten.

»Fragen Sie ihn nach seinem Namen.« Bay Tarbart deutete mit ihrem Sonnenschirm gebieterisch auf mich.

»Ich heiße Harry, aber ...« Ich beendete den Satz nicht, denn die Frau war so weiß wie ihr Kleid geworden und schien wie ein mächtiger Baum zu schwanken, während ihre junge, hübsche Begleiterin aufschrie.

»Haré – so steht es in der Handschrift!«

»Harry ...«, fing ich wieder an, verstummte aber sofort. Diese Frau schien so glücklich zu sein, daß ich einen heiligen Namen hatte, daß ich es dabei beließ

»Er hat mich verstanden! Er spricht Englisch.« Sie griff sich an die Kehle, und mir fielen die kostbaren Ringe an ihren plumpen Fingern auf– Armut schärft den Blick für solche protzigen Klunker. »Eine göttliche Intervention!« keuchte die junge Frau.

»Hyacinth, reden Sie keinen Unsinn! Was habe ich Ihnen gesagt? Diese Prophezeiung steht in der Handschrift des Sandelholzkästchens. Das Kind mit dem heiligen Namen und blauen Augen, das viele Sprachen spricht. Sprichst du auch noch andere Sprachen, mein Junge?«

»Sí, señora. Guten Tag. Et comment ça va?« antwortete ich mit unerträglicher Blasiertheit.

»Es ist ein Wunder«, rief Hyacinth, von Miss Tarbarts Verärgerung unbeeindruckt, aus. Hinter ihr stand ein kleiner fetter Inder. Er beobachtete uns nervös, sein Blick huschte hin und her wie der eines Kolibris, und seine Zunge glitt wie die einer Eidechse ständig über seine Lippen.

Ich grinste stolz über meine Gerissenheit und hoffte, meine Bettler-Clique damit beeindruckt zu haben. Ich stand ziemlich weit unten in der Hackordnung und konnte eine Aufwertung gebrauchen, denn die Ranghöheren bekamen einen größeren Anteil von der täglichen Beute– und hatten dadurch natürlich auch mehr zu essen. Bay Tarbart holte aus ihrer voluminösen Handtasche eine kleine schwarze Samtbörse, die sie dem fetten Mann gab. Ich hörte das vielversprechende Klimpern von Münzen.

»Nehmen Sie das, Sanjay. Suchen Sie seine Eltern. Überreden Sie sie, mir den Jungen zu überlassen. Unterschreiben Sie alle nötigen Dokumente. Er kommt mit mir«, sagte sie.

Ich war nahe daran, ihr zu sagen, daß das nicht nötig sei, weil ich keine Eltern hatte, aber ich weiß nicht, was mich davon abhielt – das war die zweite Unwahrheit. Statt dessen zwinkerte ich Sanjay zu und zuckte leicht mit dem Kopf damit er hoffentlich begriff, daß wir uns irgendwie wegen des Geldes arrangieren würden.

Die Engländerin nahm meine Hand. Ich rief meinen Freunden einen Abschiedsgruß zu und trennte mich von ihnen leichten Herzens. Ist man allein auf der Welt, wartet man immer auf eine günstige Gelegenheit und hat keine Zeit für Gefühle. Also klammerte ich mich an die teigige Hand und trottete neben dieser fremden herrischen Frau in mein neues Leben ...

Bald ist Zeit für den Tee. Manche Dinge im Leben sind unveränderlich, und dazu zählt der edwardianische Ritus – Tee um vier Uhr –, den ich von Miss Tarbart übernommen habe. Ich komme später noch einmal auf diese Geschichte zurück ...

Kapitel 2

1

Tessa Mulholland langweilte sich. Sie hatte an diesem Wochenende nicht nach Hause kommen wollen, fühlte sich aber der einer Absage unweigerlich folgenden Szene nicht gewachsen. Sie beobachtete mit wachsender Verärgerung ihre Mutter, die in der Küche herumhantierte.

»Das wird ja ein tolles Geburtstagsfest. Wo, zum Teufel, bleibt er nur?« fragte Tessa Ginnie, die nach der Zubereitung des Geburtstagsessens für ihren Mann die Küche aufgeräumt und geputzt hatte, und jetzt zum x-ten Mal über die blitzsaubere Arbeitsfläche wischte. »Mum, die hast du doch schon geputzt. Kannst du dich nicht endlich mal hinsetzen? Du gönnst dir wohl nie eine Ruhepause, wie?«

»Ich mag es gern, wenn alles sauber ist.« Ginnie polierte die Keramikfliesen der Arbeitsfläche und konzentrierte sich dabei besonders auf die Fugen.

»Darauf könntest du ohne Bedenken jemanden operieren. Kann ich noch einen Gin haben?«

»Hältst du das für richtig? Ich habe erst getrunken ...«

»Als du schon lange verheiratet warst – ich weiß. Das hast du mir oft genug erzählt!« fiel ihr Tessa ungeduldig ins Wort, denn die ewigen Predigten gingen ihr auf die Nerven. »Und sollte es deiner Aufmerksamkeit entgangen sein – ich bin achtzehn und darf trinken, wann und was ich will. Das geht dich nichts mehr an.«

»Es ist nicht gut für dich«, erwiderte Ginnie gelassen, da sie sich über Tessas Reizbarkeit längst nicht mehr aufregte. »Was für mich nicht gut ist, kann für Dad auch nicht gut sein.«

»Das ist etwas anderes.«

»Was ist denn daran anders? Du wärst erstaunt, wenn du wüßtest, was ich auf dem College alles trinke.«

»Darüber möchte ich mir lieber keine Gedanken machen. Was du dort tust, ist deine Sache. Aber zu Hause habe ich ein Wörtchen mitzureden.« Sie putzte noch einmal den Herd, um sich zu beschäftigen. Wenn ihre Hände etwas zu tun hatten, konnte sie vielleicht ihre aufsteigende Verzweiflung in Schach halten.

»Ich finde es nicht sehr schön, wenn du dauernd da rumfummelst. Ich habe eine tolle Party sausenlassen, nur um bei euch zu sein. Jetzt will ich wissen, wann Dad endlich kommt.«

»Bestimmt ist er bald hier.« Ginnie wischte nicht vorhandenes Fett von der Halogenlampe. Sie wagte es nicht, auf die Uhr zu sehen. Carter kam wieder einmal viel zu spät nach Hause – und das an seinem Geburtstag! Am liebsten hätte sie geweint, wollte aber nicht, daß Tessa etwas von ihrem Argwohn bemerkte – Carter hatte sicher seine Affäre mit Anna wieder aufleben lassen. Außerdem war sie im ungewissen, auf welcher Seite ihre Tochter stehen würde, sollte sie je davon erfahren.

»Dad ist ein rücksichtsloser Mistkerl!«

»Tessa! Paß auf, was du sagst!« Ginnie lachte, denn sie wußte, daß Tessa es nicht so meinte. Sie vergötterte ihren Vater und liebte ihn mehr als ihre Mutter, was Ginnie aber nichts ausmachte. Ihr kam das völlig normal vor, denn auch sie hatte eine sehr enge Beziehung zu ihrem Vater gehabt. Deswegen hatte sie sich früher glücklich geschätzt, aber inzwischen hatte sie traurigerweise feststellen müssen, daß es nicht gut gewesen war, von Harry Brown, ihrem Vater, auf diese selbstlose innige Art geliebt worden zu sein. Die ersten Probleme hatte es gegeben, als ihre Beziehung zu ihrem Mann überhaupt nicht der Beziehung zu ihrem Vater geglichen hatte – nicht einmal im weitesten Sinn. Sie seufzte.

»Warum seufzt du?«

»Habe ich geseufzt?« fragte Ginnie. »Ich habe gerade an deinen Großvater Brown gedacht und wünschte mir, du wärst alt genug gewesen, um ihn richtig kennenzulernen, ehe er starb.«

»Hat er Dad gemocht?«

»Was für eine seltsame Frage. Natürlich hat er ihn gemocht«, log Ginnie mühelos und rieb noch heftiger über den Herd.

Ich hätte mir für dich einen besseren Anfang mit einem charakterlich gefestigteren Mann gewünscht, hatte ihr Vater erwidert, als sie ihm gesagt hatte, daß sie Carter heiraten würde, und ihm gleichzeitig gestanden hatte, daß sie schwanger sei. Ihr Vater hatte in seinem Geschäft sorgfältig eine Pyramide aus Jaffa-Orangen aufgestapelt, bis bei ihrem Geständnis seine Hand zu zittern angefangen hatte und das Kunstwerk eingestürzt war. Sie hatte versucht, ihm ihre Gefühle für Carter zu erklären, daß sie sicher sei, er würde ruhiger und beständiger werden – er war erst fünfundzwanzig –, und wie nett er sei.

»Nett zu sein genügt nicht für eine Ehe«, hatte ihr Vater gesagt. »Liebt er dich?«

Ginnie konnte sich erinnern, daß sie errötet war und gelacht hatte, als wäre diese Frage unwichtig.

»Er hat nicht gesagt, daß er dich liebt, nicht wahr? Er heiratet dich aus Pflichtgefühl. Wegen des Babys.« Ihr Vater hatte ausgesprochen, was sie wußte und sich nicht eingestehen wollte.

»Aber ich liebe ihn, Dad. Das reicht für uns beide. Es wird schon gutgehen«, hatte sie mit einem Anflug von Verzweiflung erklärt. Sie wollte, daß ihr Vater ihr glaubte, sie brauchte seine Bestätigung. Sie wollte den traurigen Ausdruck aus seinem Gesicht wegwischen. Aber das war ihr nicht gelungen. Ihr Vater war bei seinem Tod noch immer traurig und besorgt gewesen – ihretwegen. »Juhu! Bist du noch da?« rief Tessa, wedelte mit der Hand vor Ginnies Gesicht herum und brachte sie in die Gegenwart zurück, obwohl sie an einem Tag wie diesem lieber in der Vergangenheit geblieben wäre.

»Entschuldige, ich war in Gedanken woanders. Vielleicht leiste ich dir doch bei einem Gin Gesellschaft.«

»Du meine Güte! Gleich stürzt der Himmel ein.« Tessa wölbte die Hände trichterförmig vor ihrem Mund. »Achtung! Achtung! Ginnie Mulholland gönnt sich einen Gin!«

»Du bist albern. Heb die Füße.« Ginnie kehrte mit einem Besen unsichtbaren Staub weg.

»Wenn ich dir einen Drink eingieße, setzt du dich dann zu mir? Du bist heute ja noch schlimmer als sonst. Was ist nur mit dir los?«

»Nichts. Ich wünsche mir nur, daß dein Vater bald kommt.«

»Ein wahres Wort. Ich bin am Verhungern. Wo hast du Dad eigentlich kennengelernt?« fragte Tessa abrupt.

»Das habe ich dir doch schon erzählt.«

»Ja, schon oft, aber du erzählst es gern, und ich höre es gern. Vielleicht setzt du dich dann endlich.«

Ginnie lachte, setzte sich aber an den Tisch und nahm ihr Glas in die Hand. »Ich habe in der Anwaltskanzlei deines Großvaters Mulholland gearbeitet, als er eines Tages hereinkam, direkt auf mich zusteuerte und sagte: ›Sie sind neu hier.‹ Und dann wollte er meinen Namen wissen und fragte mich, ob es Brown mit e oder nur die schlichte Version sei. Und als ich sagte, die schlichte Version, meinte er: ›Aber nur der Name.‹ Auf diese Weise hatte mit mir noch kein Mann geflirtet.« Ginnie lächelte, als sie sich an den Tag, sogar an die Stunde und die Atmosphäre in dem muffigen Büro erinnerte. »Und dann führte er mich zum Abendessen aus, und ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was er in mir sah. Er war so groß und so gutaussehend und trug diesen wundervollen weichen Samtanzug mit einem geblümten Hemd und einer locker gebundenen Krawatte – von Liberty, wenn ich mich recht erinnere.«

»Klingt gräßlich!«

»O nein! Damals war das der letzte Schrei. Und wir redeten und redeten, und ich habe noch nie jemandem zugehört, der so interessante, radikale Ansichten hatte. Er vertrat die Meinung, daß niemand gezwungen werden sollte, zu arbeiten. Daß Müllmänner denselben Lohn wie Gehirnchirurgen bekommen sollten – sogar mehr –, weil das Leeren von Mülleimern so langweilig sei. Daß die Ehe eine bourgeoise Falle sei und die Kernfamilie ein makabrer Scherz. Für mich war das alles neu ...« Ihre Stimme verlor sich. Dann redete sie weiter: »Und dann hat er mich auf eine Party mitgenommen, und das war's. Wir liebten uns.« Ginnie unterließ es, ihrer Tochter von der Studentenparty in dem chaotischen Haus mit den purpurnen Wänden und schwarzen Decken am Stadtrand zu erzählen, in dem es von Leuten wimmelte und laute Musik von Pink Floyd aus Lautsprechern dröhnte, die wie Abflußrohre aussahen. Billiger Wein und Bier waren in Strömen geflossen, und von Hand liebevoll gerollte Zigaretten waren von jungen Leuten mit rotgeäderten, ausdruckslosen Augen weitergereicht worden – nein, diesen Teil der Geschichte würde Tessa nie erfahren. Ginnie hatte in ihrem adretten blauen Kleid mit dem gehäkelten Peter-Pan-Kragen und dem ausgestellten Rock und mit ihren kniehohen Plastikstiefeln völlig deplaziert ausgesehen. Die anderen jungen Frauen waren in langen, losen, wehenden Gewändern und mit bloßen Füßen in indischen Sandalen von Raum zu Raum geschwebt und hatten bei Ginnies Anblick unverschämt gekichert. Und sie würde ihrer Tochter auch nie erzählen, wie Carter ihre Hand genommen, sie durch die Menge und eine schmale Stiege hoch in ein Schlafzimmer gezerrt, die Tür zugeschlossen und sie auf das Bett, auf dem Mäntel gestapelt waren, gestoßen hatte. So hatte sie ihre kostbare Jungfräulichkeit verloren, während ständig gegen die Tür gehämmert wurde und ihr Gesicht in die Mäntel gepreßt war, die muffig und nach Schweiß rochen. Seltsam, daß sie sich nach all diesen Jahren noch an jede Einzelheit erinnern konnte ...

»Wenigstens hat er verwirklicht, was er gepredigt hat.«

»Was meinst du damit?« Ginnie riß sich wieder von der Vergangenheit los.

»Er hat nie in seinem Leben gearbeitet.«

»O nein, Tessa, das ist nicht fair. Er arbeitet hart an seinen Gemälden. Es ist nicht seine Schuld, daß die Leute sein Talent nicht erkennen«, sagte Ginnie mit jahrelang eingeübter Taktik.

»Ach, Mum. Er malt doch kaum noch. Wann hatte er seine letzte Ausstellung? Du bist viel zu nachsichtig mit ihm.«

Ginnie schüttelte verwirrt den Kopf. Das Gespräch nahm einen völlig überraschenden Verlauf. »Aber, Tessa, du liebst doch deinen Vater.«

»Natürlich liebe ich ihn, aber das heißt doch nicht, daß ich seinen Fehlern gegenüber blind sein muß.«

»So ist es nicht, und so muß es auch nicht sein«, entgegnete Ginnie, für die Loyalität und Liebe untrennbar waren. »Ich höre es nicht gern, wenn du so über deinen Vater sprichst. Das ist illoyal.«

»Er ist dir gegenüber illoyal.«

Ginnie hob die Hand wie ein Verkehrspolizist, um abzuwehren, was sie nicht hören wollte. »Es wäre mir lieber, du würdest nicht so über ihn sprechen, Tessa.«

»Mach doch, was du willst«, sagte Tessa schulterzuckend. »Weißt du, Mum, du siehst überhaupt nicht wie vierundvierzig aus. Kein bißchen. Mit deinem Aussehen könntest du alles mögliche anfangen.«

»Danke für das Kompliment, aber ich möchte weder Kernphysikerin noch Biochemikerin werden. Dafür braucht man mehr als ein gutes Aussehen. Und außerdem, warum sollte ich irgend etwas verändern wollen?« Ginnie freute sich über die Anerkennung ihrer Tochter, die ihr bestätigte, daß sich die Mühe, die sie für den Erhalt ihrer Schönheit aufwendete, gelohnt hatte.

»Du weißt genau, was ich meine!« Wieder lag Verzweiflung Tessas Stimme. »Du kannst doch nicht so weitermachen – willst du ewig die brave kleine Frau bleiben, die zu Hause sitzt und darauf wartet, daß er sich gnädigerweise blicken läßt? Du mußt etwas mit deinem Leben anfangen, Mum. Du lebst nur einmal und läßt die Zeit verstreichen, während du dich hinter Dad versteckst.«

»Das tue ich nicht. Ich habe viele Interessen«, verteidigte sich Ginnie.

»Aromatherapie, Yoga, Hellseherei – dieses ganze New-Age-Zeug, das dir Selina einredet. Mum, hast du dich je gefragt, warum dich diese seltsamen Dinge interessieren? Ich sag's dir. Weil du die Wirklichkeit haßt, weil du vom Leben enttäuscht bist, suchst du nach risikofreien Alternativen. Bei diesen überalterten Hippies wirst du keinen neuen Lebensinhalt finden.«

»Manchmal redest du wirklich Unsinn, Tessa. Yoga hält mich fit, und ich habe mich schon immer für alternative Medizin interessiert.«

»Und alternative Lebensstile.«

»Was ist denn daran falsch?«

»Weil dich dieser Quatsch davon abhält, wirklich etwas mit deinem Leben anzufangen.« Tessa hämmerte auf den Tisch. »Die Rolle der Ehefrau und Mutter kann dir doch nicht genügen. Such dir einen Beruf, der dich ausfüllt. Ich bin aus dem Haus, also bleibt dir nur die Rolle der Ehefrau – und Dad dankt es dir nicht einmal, oder? Mach doch was anderes. Finde zu dir selbst. Sei du.«

»Nur jemand, der so jung wie du ist, kann solchen Unsinn reden«, konterte Ginnie scharf. Doch Tessa, das mußte sie einräumen, wußte mehr über den Zustand ihrer Ehe, als ihr lieb war. »Für dich ist es richtig, egoistisch und ichbezogen zu sein, aber mir liegt das nicht.« Ginnie spielte gereizt mit ihrem Glas.

»Komm mir bloß nicht mit diesem Geschwafel! Ich hasse es einfach, mit ansehen zu müssen, daß du deine Möglichkeiten nicht ausschöpfst. Du bist noch jung. Für dein Alter siehst du großartig aus. Mach was aus dir!«

Ginnie mußte über Tessas ungeschickt formulierte Komplimente lachen und vergaß kurz ihre Verärgerung und ihre Angst.

»Tessa, du mußt mir versprechen, daß du nie eine Karriere im diplomatischen Dienst anstrebst.«

Tessa runzelte mißbilligend die Stirn, grinste dann und strich sich mit einer Geste, die sehr an ihren Vaters erinnerte, das lange, dunkle Haar zurück.

»Du siehst deinem Dad so ähnlich, daß ich mich manchmal frage, ob überhaupt etwas von mir in dir ist«, sagte Ginnie wehmütig.

Wieder schlug Tessa mit der Faust auf den Tisch. »Jetzt fängst du schon wieder an, dich herabzusetzen. Ich habe erfreulicherweise eine ganze Menge von dir geerbt, aber hoffentlich nicht deine selbstquälerische Ader.«

»Tessa, bitte!« Das ist schrecklich, hatte sie hinzufügen wollen, kam aber nicht dazu.

»Tessa, bitte, was?« fragte Carter von der Tür her und füllte mit seiner Gegenwart sofort den Raum aus.

»Wie schön, daß du dich endlich blicken läßt«, sagte Tessa schneidend. »Wir haben bereits gegessen.«

»Das stimmt nicht, Carter. Sie zieht dich nur auf.« Ginnies Stimmung verbesserte sich erheblich beim Anblick ihres Mannes.

»Ach, Mum!«

»Entschuldigt bitte, daß ich mich verspätet habe. Ich wurde aufgehalten. Ich habe ein paar Deutsche kennengelernt, die Interesse daran zeigen, eine Ausstellung für mich zu arrangieren.«

Carter, das ist ja wundervoll!« rief Ginnie, während sie ihm einen Drink eingoß.

»Ach, ja? Und wann soll die stattfinden?« fragte Tessa zynisch. »Nach unserer Reise nach New York – im neuen Jahr.«

»So bald?« Ginnie wußte, daß die Vorbereitungen für eine Ausstellung normalerweise Monate dauerten.

»Weihnachten kannst du nicht auf mich zählen, Dad. Ich fahre mit Freunden nach Frankreich.«

»O nein, Tessa!« Carters gute Laune schwand merklich.

»O Liebling!« sagte Ginnie, freute sich aber spontan, daß sie ihren Mann für sich allein haben würde.

2

»Dad, bist du nicht auch der Meinung, daß sich Mum eine sinnvolle Betätigung suchen sollte?« Tessa legte Messer und Gabel weg, um sich besser auf das Thema konzentrieren zu können.

»Ich dachte immer, sie hätte genug zu tun.«

»Du weißt, was ich meine. Mum sollte sich eine interessante Aufgabe suchen.«

»Die, hat sie schon. Mich«, sagte Carter, warf seiner Tochter einen kurzen Blick zu und nahm sich noch eine Portion Kartoffelgratin.

»Tu doch nicht so begriffsstutzig, Dad. Sie braucht ein Hobby, das ihren Geist anregt.«

»Sie hat ein Hobby ...«

»Wenn du noch einmal ›mich‹ sagst, erwürge ich dich.« Tessa kicherte und warf ihre Serviette nach ihm.

»Ich wünschte, ihr würdet nicht über mich reden, als wäre ich gar nicht da. Als nächstes wirst du deinen Vater fragen, ob ich den Kaffee mit Zucker trinke. Wer will noch mehr Erbsen? Noch etwas Fleisch?« Ginnie stieß die Gabel in die Reste des Beef Wellington.

»Ich bin satt. Es hat wundervoll geschmeckt, Gin. Das beste Geburtstagsessen, das ich je hatte. Ich danke dir.«

»War das Fleisch nicht ein bißchen trocken?« fragte Ginnie stirnrunzelnd.

»Nein. Es war perfekt.«

»Du mußt mir nicht schmeicheln.«

»Das tue ich nicht.«

»Trotzdem hätte ich ...«

»Mum, bitte! Könntest du aufhören, an dem Essen rumzumäkeln, und mir zuhören? Das Dinner war fabelhaft. Du hast dich selbst übertroffen. Laßt uns doch nicht vom Thema abweichen. Es ist mir ernst – du solltest dir eine Beschäftigung suchen, weil du, wie ich glaube, kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehst.«

»Ich hole die Nachspeise – deinen Lieblingspudding, Carter.« Ginnie lächelte ihn an und war ausnahmsweise glücklich – obwohl ihr bewußt war, daß ihre Hochstimmung dem Wein zuzuschreiben war. Es gelang ihr einfach nicht, völlig entspannt zu sein. Sie sammelte die Teller ein und ging in die Küche.

»Machst du dir denn keine Sorgen um sie, Dad?«

»Sollte ich das?«

»Siehst du nicht, wie angespannt Mum dauernd ist? Mit welcher Besessenheit sie sich um alles kümmert – um das Essen, um den Haushalt ...«

»So war deine Mutter schon immer. Sie mag es, wenn alles seine Ordnung hat.«

»Ich weiß, daß sie einen Putzfimmel hat – verdammt, wie habe ich als Kind darunter gelitten.« Tessa schnaubte bei der Erinnerung daran, wie ihre Mutter ständig hinter ihr hergeräumt und ständig an ihr herumgenörgelt hatte. »Aber das wird immer schlimmer. Ich war vorhin bei ihr in der Küche, während wir darauf gewartet haben, daß du dich dazu herabläßt, uns mit deiner Gegenwart zu beehren, und da hat sie mindestens dreimal die bereits saubere Arbeitsfläche geputzt. Das ist ein krankhaftes Verhalten. Wenn sie so weitermacht, wird sie sich bald alle fünf Minuten die Hände waschen.«

»Du übertreibst, Tessa.« Carter goß Wein in die Gläser. »Was hältst du von diesem Wein? Ein Château Cheval Blanc, Jahrgang 1990. Ich habe ein paar Kisten günstig ergattert.«

»Dad, ich halte dich wirklich für den egoistischsten, selbstsüchtigsten Mann, den ich kenne.«

»Und ich liebe dich auch, Schatz.« Er warf ihr eine Kußhand zu. »Schmeckt verdammt gut, nicht wahr?« Er hob sein Glas.

»Ich wünschte, du würdest mir zuhören. Mich einmal ernst nehmen.«

»Tessa, das tue ich. Ehrenwort.« Er legte die rechte Hand auf sein Herz. »Aber ich glaube, daß du dieses Mal auf dem Holzweg bist. Deine Mutter ist so, wie sie immer war. Du kannst von ihr nicht erwarten, daß sie sich ändert. Genausowenig, wie du mich zu einem entsagungsvollen Heiligen machen kannst. Dafür sind wir beide zu alt.«

»Liebst du sie?«

»Was für eine Frage. Natürlich tue ich das.«

»Du hast eine komische Art, das zu zeigen.«

»Was soll das bedeuten?«

»Mum ist immer allein. Sie wartet ständig darauf, daß du irgendwann auftauchst. Sie opfert dir ihr Leben, und du scheinst das nicht einmal zu merken.«

»Ich merke es schon.«

»Wann bist du zum letzten Mal mit ihr ausgegangen? Ich meine, nur ihr beide?«

»Sie kommt schon zurecht«, sagte er kurz angebunden.

»Wann hast du ihr mal Blumen oder ein Überraschungsgeschenk mitgebracht?« bohrte Tessa weiter.

»Erst vor ein paar Tagen habe ich ihr einen riesigen Blumenstrauß mitgebracht«, erwiderte er selbstgefällig. »Mit der Zeit wirst auch du lernen, daß es in einer Ehe mehr gibt als Blumen und Geschenke.«

»Das weiß ich. Da du ihr aber so selten Blumen schenkst und ihr kaum Gesellschaft leistest, mußt du dich nicht wundern, wenn Mum eines Tages die Nase voll hat und dich verläßt.«

Carter Mulholland brach in schallendes Gelächter aus, als hätte er noch nie so etwas Komisches gehört. »Da gefriert eher die Hölle.«

»Das hoffe ich, damit dir endlich dieses selbstzufriedene Grinsen vergeht«, fauchte Tessa. »Hast du eine Affäre mit einer anderen Frau?« fragte sie abrupt.

Carter verschluckte sich an seinem Wein. »Und wenn es so wäre, ginge es dich überhaupt nichts an«, würgte er schließlich hervor. »Doch ich habe keine.«

»Mum glaubt es aber.«

»Ach, wirklich? Mit wem denn?«

»Das weiß ich nicht. Sie spricht nicht darüber, quält sich aber mit dem Gedanken.«

»Also hat sie nichts gesagt?«

»Nein, aber ich gehe jede Wette ein, daß sie deshalb so nervös und angespannt ist.«

»Tessa, Tessa. Du solltest nicht solche Vermutungen anstellen. Das bringt nur Ärger. Du hast mehr Phantasie, als uns allen guttut. Wo bleibt deine Mutter?« Er warf einen Blick zur Tür, die wie auf ein Stichwort hin geöffnet wurde. Ginnie kam rückwärts mit einem großen Silbertablett ins Zimmer.

»Er ist teilweise zusammengefallen«, klagte sie. »In diesen gefrorenen Früchten ist einfach zuviel Flüssigkeit. Es tut mir leid.«

»Bestimmt schmeckt der Pudding wundervoll wie immer«, tröstete Carter sie lächelnd.

»Tessa, hättest du nicht das restliche Geschirr wegräumen können?« fragte Ginnie gereizt, stellte die mißglückte Nachspeise auf die Anrichte und fing an, den Tisch abzuräumen.

»Entschuldige bitte. Wir haben uns unterhalten.« Tessa sprang auf und half ihrer Mutter. Carter blieb stoisch sitzen und sah den beiden Frauen zu.

Als der Pudding schließlich serviert war, fragte Ginnie: »Worüber habt ihr denn geredet?«

»Über dieses und jenes«, sagte Carter.

»Über dich«, sagte Tessa.

»Oh, Tessa, hast du etwa deinen Vater mit deinen albernen Ideen gelangweilt?«

»Jetzt reicht's mir!« Tessa stieß ihren Stuhl so abrupt zurück, daß er umfiel. »Ich weiß gar nicht, warum ich mir überhaupt den Kopf über euch zerbreche.« Sie warf ihre Serviette auf den Tisch, die in ihrer Schale landete und sich mit blutrotem Fruchtsaft vollsaugte. Ginnie war sofort auf den Beinen und versuchte, größeren Schaden zu verhindern.

»Herrgott noch mal, du kannst bald Werbung für Putzmittel machen, Mum.« Tessa stapfte durchs Zimmer. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Ehrlich gesagt, ich glaube, ihr beide habt einander verdient.« Ohne eine Antwort abzuwarten, marschierte sie hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

»Was ist nur in dieses Mädchen gefahren? Sie ist derart gereizt und unverschämt.« Ginnie starrte verwirrt die Tür an.

»Das kann man wohl sagen! Ich hätte nie erwartet, daß sie so mit mir reden würde.« Carter hatte sich noch immer nicht von dem Schock erholt, daß seine Position als vergötterter-unfehlbarer Daddy angegriffen worden war. »Sie hat mich doch tatsächlich gefragt, ob ich eine Affäre habe. Meine eigene Tochter, kannst du dir das vorstellen?«

»Nein, wirklich? Wie schrecklich!« sagte Ginnie ruhig, obwohl ihr bei dem Gedanken, wie seine Antwort gelautet haben mochte, übel war.

»Ja. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, daß du glaubst, ich hätte eine Affäre. Das stimmt doch nicht, oder?« fragte er aggressiv.

»Was für ein alberner Gedanke!« Ginny lachte nervös. Sie wußte, daß dies der Augenblick war, ihn nach der Wahrheit zu fragen. Da sie aber zuviel Angst vor seiner Antwort hatte, ließ sie die Gelegenheit ungenutzt verstreichen.

»Und ich dachte, sie liebt mich«, sagte er noch immer wie betäubt.

»Das tut sie auch«, versicherte ihm Ginnie hastig, war aber gleichzeitig froh, daß auch er jetzt wußte, wie unfreundlich, aggressiv und gereizt Tessa manchmal sein konnte.

»Wenn sie so weitermacht, werde ich noch froh sein, daß sie uns nicht nach New York begleitet. Wieviel angenehmer wird es sein, wenn nur wir beide verreisen.« Bei diesen Worten jubilierte Ginnies Herz.

»Mir ist sehr wohl bewußt, was du für mich tust, Gin, und ich weiß es auch zu schätzen. Du bist die beste Frau, die sich ein Mann nur wünschen kann.«

»Das hast du schön gesagt«, antwortete Ginnie mit einem strahlenden Lächeln.

»Tessa meint, ich verbringe nicht genug Zeit mit dir. Aber, verdammt noch mal, wir sind schon so lange verheiratet. Da müssen wir doch nicht mehr ständig zusammensein, oder?«

»Natürlich nicht«, erwiderte sie, obwohl sie das Gegenteil dachte.

»Wir würden uns bald miteinander langweilen, nicht wahr?«

Es gelang ihr, einer Antwort auszuweichen, indem sie ihn fragte, ob er mit der Nachspeise fertig sei, und anfing, den Tisch abzuräumen.

»Bist du in letzter Zeit angespannter und beunruhigter?«

»Mehr als gewöhnlich? Nein.« Ginnie war froh, daß ihre Stimme so unbeschwert geklungen hatte, während ihre Nerven zum Zerreißen angespannt waren. Sie sehnte sich danach, von ihm in die Arme genommen zu werden, und wie gerne hätte sie einmal von ihm gehört, daß er sie liebe. Diese Worte hatte er noch nie ausgesprochen. Er blieb jedoch am Kopfende sitzen und bat sie, den Brandy zu holen. Trotzdem, sagte sie sich, als sie Kognakschwenker und Flasche aus dem Wohnzimmer holte, sollte ich glücklich sein und mich über seine Worte freuen. Sie mußte aufhören, ständig mehr zu erwarten. Und in gewisser Weise hatte Tessa ihr einen Gefallen getan: Er saß im Eßzimmer und machte sich Gedanken über ihre Beziehung, was er wohl in all den Jahren ihrer Ehe noch nie getan hatte. Alles in allem war es doch ein wundervoller Abend gewesen, und da Tessa zu Bett gegangen war, konnten sie beide noch eine Weile allein sein.

»Wie viele Bilder brauchst du für die Ausstellung?« fragte Ginnie, als sie mit dem Brandy ins Eßzimmer zurückkam.

»Dreißig. Im Studio habe ich fünfundzwanzig. Es hat doch seine Vorteile, keine Bilder zu verkaufen. So habe ich immer einen Vorrat, wenn ich welche brauche. Die restlichen fünf kannst du mir aus deiner Privatsammlung leihen.« Seine Stimme klang bitter. Verbittert über die Ablehnung seiner Kunstwerke, die in der Vergangenheit von allen Ausstellungen als unverkäuflich zurückgeschickt worden waren.

»Es ist nicht deine Schuld, daß die Menschen so dumm und blind sind, dein Talent nicht zu erkennen.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Wie erhofft, bedeckte er ihre Hand mit seiner.

»Du bist so loyal, Gin. Ich wollte dir schon immer mal sagen ... Ach, verdammt!« fügte er hinzu, als das Telefon läutete. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

»Ich gehe ran.« Sie machte einen Schritt in Richtung Tür.

»Nein, laß nur. Es ist sowieso für mich. Ich erwarte einen Anruf.«

»Von wem?«

»Von Anna Tylson.«

Ginnie bildete sich ein, die Wände würden einstürzen. »Anna Tylson?« fragte sie dümmlich.

»Ja. Durch sie habe ich diese Deutschen kennengelernt. Anna arrangiert die Ausstellung für mich. Habe ich dir das nicht erzählt?«

»Nein, das hast du mir nicht erzählt«, sagte sie mit bebender Stimme. Aber er hörte sie schon nicht mehr, denn er war bereits zur Tür hinausgegangen. Er rennt ja förmlich zum Telefon, dachte sie. »Er hat gelogen!« sagte sie laut zu dem leeren Zimmer.

AUSZUG AUS DEM TAGEBUCHVON H. G. – DEM MEISTER

In den letzten Wochen war ich sehr beschäftigt. Es war anstrengend, mich auf die vielen Sitzungen vorzubereiten. Früher habe ich nie etwas vorbereitet, ich saß einfach auf meinem Teppich – diesem berühmten Teppich – und habe gesprochen. Doch diese Tage sind längst vorbei.

Er hat nichts Ungehöriges getan, und manchmal, wenn ich logisch denke, frage ich mich, warum ich diese Angst habe, die in meinen Eingeweiden wühlt.

Er war immer höflich – ich kann nicht einmal behaupten, daß er übertrieben höflich ist, denn ein Fluch meiner Position besteht darin, daß mir jeder mit äußerster Höflichkeit begegnet. Unverschämtheit oder Mangel an Interesse würden auffallen, nicht aber Höflichkeit. Ich habe vergessen, wie es ist, mit Widerspruch konfrontiert zu werden und nicht nur Akzeptanz zu erfahren. Was wäre es für eine Wonne, wenn eines Tages jemand zu mir sagen würde: »H. G., Sie sind ein blödes Arschloch!« Doch eigentlich muß ich über diese undenkbare Möglichkeit herzlich lachen.

Es ist sehr schwierig, zu erklären, was mich derart beunruhigt. Doch dieses Gefühl, daß er mich verachtet, daß er mir schaden will, daß er auf mein Versagen wartet, damit er meine Position einnehmen kann, ist für mich so wirklich wie der Wind auf meinem Gesicht. Er hält mich für einen Dummkopf denn er weiß, daß mit der Bewegung viel mehr Geld zu machen ist, woran mir aber überhaupt nichts liegt.

Geld ist mir, wie alle wissen, nicht wichtig. Wäre ich allein im Leben, hätte ich sehr einfache Bedürfnisse. Nachdem mich Miss Tarbart zu sich genommen hatte, ist die Faszination des Geldes, die meine Kindheit geprägt hat, geschwunden. Als Kind bin ich immer auf der Jagd nach Geld gewesen, hungerte förmlich danach, denn Geld zu haben bedeutete damals den Unterschied zwischen Leben und Tod. In ihrer Obhut jedoch wurden mein Hunger und mein Durst gestillt, ich hatte saubere Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Mein Verlangen nach Geld erstarb, und ich habe nie wieder einen Gedanken darauf verschwendet – bist jetzt.

Doch nun will ich zu meinem Bekenntnis der Unwahrheiten zurückkehren.

Nachdem vor so vielen Jahren an jenem Strand die Lügen ihren Anfang nahmen, wußte ich nicht mehr, wie ich die Dinge richtigstellen sollte. Mein Schweigen begründete sich auf der Angst, verstoßen zu werden, sollte die Wahrheit ans Licht kommen.