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Tilmann Lahme

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Beschreibung

Golo Mann neu entdecken! Golo Mann – berühmter Sohn, Emigrant, Gelehrter und scharfsinniger Analytiker im politischen Spannungsfeld zweier Kontinente. Zu Beginn des krisengeschüttelten 20. Jahrhunderts hineingeboren in eine der prominentesten Familien dieser Zeit, aufgewachsen in der Weimarer Republik, war er ein früher Kritiker des Nationalsozialismus. Die Emigration führte ihn über Frankreich und die Schweiz in die USA. Nach seiner zögerlichen Rückkehr nach Europa folgte mit dem »Wallenstein« und der »Deutschen Geschichte« die späte Anerkennung des Historikers, der sich bis zu seinem Tod 1994 kontrovers und unabhängig in die Geschicke der Bundesrepublik einmischte.

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Tilmann Lahme

Golo Mann

Biographie

FISCHER E-Books

Inhalt

[Motto]VorwortI: Eine deutsche Jugend 1909–1933Kind großer LeuteEine »elende Kindheit«SchulsorgenSalemDepression und »Staatsstreich«Familienbild 1925: Unordnung und frühes LeidErste Liebe und Aushungerung der TriebeAbschied von Salem»Man muss über sich selbst schreiben«Golo Mann in Berlin: »klein, schüchtern, absonderlich und reizvoll«Karl Jaspers, ein Lebenskompass und die PolitikGegen den NationalsozialismusHebbel und Hegel: »dass ich gut schreibe, kann niemand leugnen«Vom »theoretischen Grundbuch des Hauses Mann« zu cum laudeDer Weg ins Exil und zur Familie – »das kann nicht gut gehen …«II: In der Emigration 1933–1945/46DraußenLektor in FrankreichErnst Jünger – »wollen wir denn Herrschaft?«Abkehr vom SozialismusAusgebürgert – »typischer Rassenmischling und Untermensch«Ein neuer Versuch: PragGentz, Geschichte, Konservatismus: »Die Rechte hasse ich«Eine ErlösungSommer 37Zum ersten Mal AmerikaIn den Fängen der BürokratieKriegUnd die Zukunft Deutschlands?Krieg »in seiner dümmsten Form« – Flucht aus EuropaEin übereilter AntifaschistZurück im Elternhaus – »kein Fortschritt seit neun Jahren!«Army-Liebe und Hass auf DeutschlandPropaganda gegen GoebbelsIn deutschen TrümmernIII: Zögerliche Rückkehr 1946–1958»Ich hätte ein Schriftsteller sein können«: Friedrich von Gentz»Ich und Deutschland« – zwischen den KontinentenGegen falsche Propheten und Krisengewinnler»Mitgerissen von einem Massenwahn« – ein verhinderter Ruf nach KielEin amerikanisches »Klärchen«Kritik an Amerika? UnerwünschtDer Vater stirbt: »Unvermeidlich musste ich seinen Tod wünschen«»Majestät brauchen Sonne«: Auf dem Weg zur Propyläen WeltgeschichteEine Deutsche GeschichteIV: Auf und ab: »I am getting important« 1959–1971Wieder Deutscher? »Halb muss genügen«Ein Schriftsteller unter HistorikernDie große Krise – »Gute Reden zum bösen Spiel«Streit I: Feindschaft mit Adorno und HorkheimerStreit II: Ein »Mauerorden« für eine neue OstpolitikStreit III: Das Zerwürfnis mit Karl JaspersAus einem Fernsehinterview, März 1965Von der Politik zu Wallenstein – »von beiden Seiten fliegen die Steine«Familie, Freunde, FannyV: Späte Jahre: »Der eine Pfeil in meinem Köcher« 1971–1994WallensteinWilly BrandtNach dem Wallenstein – die »Ballade vom falschen Leben«Aus dem TagebuchThomas Manns Vikar auf ErdenDas gescheiterte BuchTendenzwende? Franz Josef StraußDie Mutter und München – »man soll die Toten nicht rufen«Wahre Geschichten aus der Geschichte – LavaletteDer erzählende EssayistJahre der Erinnerung»Das Alter ist immer ein Schiffbruch«PostskriptumAbkürzungsverzeichnisAnhangArchivalienSchriften und Interviews Golo MannsGedruckte Quellen und LiteraturLebenschronik Golo MannsDanksagung[Tafelteil]

Wir sind von Kindheit an, was wir sind, und alles Spätere ist Auslegung des Frühesten. Je labyrinthisch irrer das Alter ist, desto rührender wirkt im Rückblick die Jugend, weil doch in dem hoffenden, zutraulichen Menschen des Morgens schon der heiße Mittag und die Abgeschiedenheit des Abends lag.

Golo Mann: Friedrich von Gentz (1947)

Vorwort

Im Zuge der Annäherung zwischen Deutschland und der Volksrepublik China um die Jahrtausendwende überlegte ein Verlagshaus aus Shanghai, welche historische Monographie sich am besten dafür eigne, dem chinesischen Lesepublikum die Vergangenheit des westlichen Partners nahezubringen. Nach Gesprächen mit verschiedenen Kulturinstitutionen und der deutschen Botschaft und nachdem das Thema auf der Frankfurter Buchmesse diskutiert worden war, fiel die Entscheidung: Der chinesische Verlag erwarb 2001 die Übersetzungslizenz für ein 43 Jahre davor erstmals erschienenes Werk – für Golo Manns Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. [1]

An Lesern hat es Golo Mann auch ohne Übersetzung in die am weitesten verbreitete Sprache der Welt nicht gemangelt, jedenfalls nicht in der zweiten Hälfte seines Lebens, als er aus der Emigration zurückkehrte und als Historiker und politischer Publizist die Geschicke der Bundesrepublik beeinflusste. An Gegnern fehlte es auch nicht – wenig verwunderlich angesichts eines politischen Engagements, das ihn 1950 bereits fordern ließ, auf die deutschen Ostgebiete zu verzichten, um eine aktive Friedenspolitik betreiben zu können, und das ihn ebenso an die Seite von Willy Brandt wie auch wenige Jahr später, aus anderen Gründen, an die von Franz Josef Strauß treten ließ. Sein vehement verteidigter Ansatz, Geschichte als Erzählung zu begreifen, als »wahren Roman mit Lücken«, wie er es mit Paul Veyne formulierte,[2] forderte den Widerspruch der Sozial- und Strukturhistoriker heraus, die seit den späten sechziger Jahren die führende Rolle in der Fachwissenschaft beanspruchten. Golo Mann, der 1971 sein Hauptwerk Wallenstein veröffentlicht hatte, wehrte sich gegen jene Sozialhistoriker, die den Tod der Biographie verkündeten – sie galt ihnen als »letzte Auffangstellung des deutschen Historismus«.[3] Das leidenschaftliche Pro und Contra zu Golo Mann spiegelt sich noch in den Nachrufen. Während Rolf Hochhuth die »epische Urbegabung« rühmte, die Golo Mann »zum bestschreibenden deutschen Historiker seit Theodor Mommsen und Jacob Burckhardt gemacht hat«,[4] erklangen aus dem Neuen Deutschland noch vier Jahre nach dem Ende der DDR zornige Töne über einen ideologiekritischen Historiker, dessen Werke »nicht im Gleichgewicht« seien. »Wie könnten sie es auch, wenn er so dezidiert nichts hält ›von Lenins Imperialismus-Theorie‹?«[5]

Golo Mann, mit einer Gesamtauflage von über zwei Millionen verkaufter Bücher einer der meistgelesenen Historiker deutscher Sprache im zwanzigsten Jahrhundert, ist mittlerweile selbst zum Gegenstand biographischer Forschung geworden. Ein erster Versuch einer Annäherung an sein Leben und Schreiben, 1984 unternommen, blieb – auch wegen Manns etwas enttäuschender Reaktion auf einen ersten Textabschnitt – Fragment.[6] Eine historische Dissertation des Niederländers Jeroen Koch über Golo Mann (1994), die keinerlei ungedrucktes Material zugrunde legen konnte, wurde, als sie später als »intellektuelle Biographie« auf Deutsch erschien, scharf kritisiert. Eberhard Jäckel schrieb in der Historischen Zeitschrift, alles Biographische, »und zwar auch die intellektuelle Entwicklung«, sei »blass, unvollständig und ungenau«. Koch gelange »über ein Referat nicht hinaus. Seine Urteile sind vielfach banal oder naiv.«[7] Im Jahr 2000 folgte eine kritische und quellensatte Studie von Kathrin Lüssi zum politischen Engagement Manns.[8] Die erste wissenschaftliche Biographie im eigentlichen Sinn erschien im März 2004. Urs Bitterli, vorzüglicher Kenner der Entdeckung und Eroberung Amerikas, konzentrierte sich auf den Historiker und auf die öffentliche Person Golo Mann – eine verdienstvolle Arbeit mit überwiegend werkmonographischem Charakter.[9]

Ein reiches Leben, noch dazu eines in sehr bewegten Zeiten, bietet Raum für unterschiedliche Zugänge. Hier wird eine Biographie Golo Manns vorgelegt, die auf der Basis meist unbekannter und unpublizierter Quellen wie Briefen und Tagebuch, das er mit einer Unterbrechung regelmäßig führte, Leben und Werk in den Blick nimmt. Während sich die gedruckten Texte Golo Manns über eine 2004 erschienene Bibliographie erschließen lassen,[10] sind die ungedruckten Quellen zum Leben und Werk Golo Manns hauptsächlich in seinem Nachlass versammelt, den das Schweizerische Literaturarchiv in Bern verwahrt. Die eilige Emigration im Jahr 1933 sorgte jedoch dafür, dass Mann nur wenige Dokumente aus der Jugend- und Studienzeit mit in die Fremde tragen konnte. Zudem übergab er in den fünfziger Jahren, als er nach und nach seinen Wohnsitz von Kalifornien nach Europa verlegte, den Großteil seiner privaten Papiere aus der Emigrationszeit und den frühen Nachkriegsjahren einem amerikanischen Freund zur Aufbewahrung. Diese Dokumente gingen verloren, sodass der Nachlass Manns mit Dokumenten und Materialien in breiterem Umfang erst gegen Ende der fünfziger Jahre einsetzt, als der enorme Erfolg seiner Deutschen Geschichte (1958) ihn mit einem Mal in die Öffentlichkeit warf. Für den Ansatz dieser Biographie war es unerlässlich, zusätzliche Quellen zu erschließen. Intensive Recherchen nach Dokumenten in europäischen und amerikanischen Archiven und in Privatbesitz konnten manche Lücke schließen – dies kam bereits einer Briefedition Golo Manns zugute, die 2006 erschien.[11]

Auf dieser Basis werden persönliche Hintergründe und Motive, der Lebensweg im buchstäblichen Sinn ebenso wie die intellektuelle Entwicklung mit ihren Brüchen, das publizierte und unpublizierte Werk und die öffentliche Rolle beleuchtet. Golo Mann war vielerlei: Historiker der jüngeren Vergangenheit wie auch der Epoche des Dreißigjährigen Krieges; Hochschullehrer in Frankreich, Amerika und Deutschland; Essayist und Schriftsteller (und zwar auch auf andere Weise als bislang bekannt); politischer Kommentator und Berater verschiedener Politiker; Deutscher, Tscheche, Amerikaner und schließlich Schweizer; Emigrant, der es schwer hatte, in der Fremde Fuß zu fassen, und der als Rückkehrer nach Deutschland die Ablehnung gegenüber denen zu spüren bekam, die den Krieg auf den »Logenplätzen« der Emigration verbracht hatten; Verbündeter und Gegner, Polemiker, gelegentlich auch Weichzeichner; Freund, Liebender und, auf seine Art, Vater und Großvater; nicht zuletzt war er auch Mitglied einer berühmten Familie und Sohn Thomas Manns, der schwer an diesem Schicksal trug, der dennoch den Vater hoch achtete und immer wieder gegen Kritik in Schutz nahm. All das in seinen Verschränkungen und Wechselwirkungen soll einen Menschen in seiner Zeit zeigen – ohne den Anspruch zu erheben, ›erschöpfende‹ Antworten auf alle Fragen zu wissen, die Leben und Werk Golo Manns stellen. Für ihn gilt ebenso, was er aus dem Werk des von ihm sehr bewunderten Kilchberger »Nachbarn« Conrad Ferdinand Meyer oft zitierte: Auch er war »kein ausgeklügelt Buch«, sondern »ein Mensch mit seinem Widerspruch«.[12]

I:Eine deutsche Jugend 1909–1933

Kind großer Leute

Qualvoll der Beginn. »Es fehlte nicht viel, so hätte zur Zange gegriffen werden müssen, da die Herztöne des Kindes schon schwach wurden. Das Kind ist wieder mehr der Typus Mucki, schlank und etwas chinesenhaft. Es soll Angelus, Gottfried, Thomas heißen.«[13]

Der zweite Sohn von Thomas und Katia Mann, den man nur als ›Golo‹ kennt, eine Kindervariante des Vornamens, die ›Angelus‹ bald für immer zur Seite drängte, kam am 27. März 1909 zur Welt. Zwei Geschwister waren schon da, 1906 und 1907 geboren: Erika und Klaus. 1910 folgte ein weiteres Mädchen, Monika. Die vier wuchsen im vornehmen, aber einsamen, eben erst erschlossenen München-Bogenhausen auf, ab 1914 in einer eigens erbauten Villa in der Poschingerstraße; seit 1908 verbrachte die Familie die Sommer in einem Landhaus in Bad Tölz. Eine großbürgerliche Welt mit Komfort und Bediensteten, nach außen hin. Welchem Gewerbe der Vater in seinem Arbeitszimmer nachging, erfuhren die Kinder erst, als sie größer waren. Vorher nur dies: Das zentrale Gebot des Hauses lautete: Ruhe. Der Arbeitsfriede des Vaters war »heilig«, ihn zu stören wurde scharf geahndet.[14]

Kurz vor Golo Manns Geburt hatte Thomas Mann seinen zweiten Roman, Königliche Hoheit, abgeschlossen. Das »strenge Glück« darin, die Liebe des einsamen Prinzen Klaus Heinrich zur Millionärstochter Imma, ließ den eigenen Weg zur Ehe anklingen, das Werben um Katia Pringsheim, Tochter des Mathematikprofessors und Millionärs Alfred Pringsheim, eines der reichsten Männer Münchens. Die Vorfahren des Vaters gehören in literarischer Gestalt zur Weltliteratur, man glaubt sie dank Buddenbrooks zu kennen. Mit den Augen der Pringsheims betrachtet, waren die Lübecker Kaufleute »kleine Leute«.[15]

Die Familie: Katias Mutter, Hedwig Pringsheim, Tochter der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm und des Kladderadatsch-Redakteurs und -Mitgründers Ernst Dohm, versuchte sich als Schauspielerin, bevor sie Alfred Pringsheim heiratete und ihm nach München folgte. Dieser entstammte einer jüdischen Familie, die mit dem Eisenbahnbau zur Erschließung des oberschlesischen Kohlereviers reich geworden war. Alfred Pringsheim ließ als Mathematiker die Unternehmerwelt und den Glauben seiner Väter hinter sich, ohne sich taufen zu lassen. Die Vorfahren seiner Frau traten bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Protestantismus über. Alfred Pringsheim, dessen Jahreseinkommen aus dem elterlichen Erbe doppelt so hoch war wie das Gesamtvermögen, das Thomas Manns Vater hinterließ,[16] sammelte Kunst und war ein Musikliebhaber, Wagner-Bewunderer und -Förderer der ersten Stunde, seine Frau vor allem literarisch interessiert. In der kunstsinnigen bayerischen Hauptstadt machten ihre Eltern »ein ziemliches Haus«, wie Katia Mann es nannte.[17] Zu Teebesuchen und großen Gesellschaften zog es Prominenz aus Wissenschaft und Kunst in den Pringsheim’schen Salon: Richard Strauss, Franz von Stuck, Friedrich August Kaulbach, Franz von Lenbach, Paul Heyse oder Maximilian Harden.

Katia Mann führte Tagebuch über die heranwachsenden Kinder, aus dem Klaus und später Golo Mann in ihren Jugenderinnerungen und Peter de Mendelssohn in seiner Thomas-Mann-Biographie zitierten – die Tagebücher selbst sind, bis auf das über Monika, verloren. Die Zitate skizzieren Golo Mann als ängstliches Kind, »bei jedem ungewöhnlichen Geräusch oder Anblick [wird er] ganz hart und steif vor Angst«. Auch hafte Golo etwas »merkwürdig Gesetztes und Altkluges« an, notierte die Mutter.[18]

Neben den beiden älteren Geschwistern hatte er einen schweren Stand. Der hübsche, freche und gewinnende Klaus und die mutige, draufgängerische und charmante Erika zogen alle Aufmerksamkeit auf sich, Golo floh ins Drollige, Groteske. »Von skurriler Ernsthaftigkeit«, schrieb Klaus Mann, »konnte er sowohl tückisch als unterwürfig sein. Er war diensteifrig und heimlich aggressiv; dabei würdevoll wie ein Gnomenkönig.«[19] Der Geschilderte war 23 Jahre alt, als er dies in den Jugenderinnerungen von Klaus lesen durfte. Die Brüder, heißt es, verstanden sich gut.

Golos Ungeschick: »Aus einer üppig blühenden Wiese, wo die Kinder Sträuße pflücken«, berichtet die Mutter, »rupft er, für einen anderen kaum auffindbar, drei ganz verhutzelte Gänseblümchen und überreicht sie mir stolz und verschmitzt.« Zumeist artig, sanft und gefügig, hatte er auch manchmal Wutausbrüche. Er lasse sich dann, laut Tagebuch Katia Manns, »weder mit Freundlichkeit noch mit Strenge […] beruhigen, schreit, halbe Stunden lang, so weiter, eigensinnig, hoffnungslos und sieht dabei über alle Maßen abscheulich aus, dass man nicht anders kann als ihn hassen«.[20]

Golo Mann war kein schönes Kind. Auf Kinderbildern blickt er meist ernst, der unvorteilhafte Pagenschnitt betont die abstehenden Ohren, die vorspringende Nase verweist auf das väterliche Erbe – mit seinem hübschen Bruder Klaus konnte er nicht konkurrieren. Hinzu kam seine linkische, x-beinige Art, sich zu bewegen, und seine mit schiefem Mund und starkem Lispeln vorgebrachten Äußerungen. Von seiner »Hässlichkeit« berichtet das mütterliche Tagebuch, und die Familie zog ihn damit auf, besonders die Mutter und die Großmutter Hedwig Pringsheim.[21] Schließlich wurde es zu Literatur. In einer frühen Novelle porträtierte Klaus Mann den Bruder: »Sein Gesicht war gnomenhaft, von seidig glattem Haar eine kleine und verzerrte Miene witzig umrahmt, mit hohem Brustkorb und zu breitem Mund.«[22] Das Kind wehrte sich gegen den Spott über sein Äußeres, der Heranwachsende gab es schließlich auf. Die Vorstellung, dass er hässlich sei, setzte sich für lange Zeit in ihm fest, »nicht zu meinem Glück«, wie er es später zurückhaltend umschrieb.[23]

Mitten in die Welt des Fünfjährigen brach die »Mutterkatastrophe« des 20. Jahrhunderts herein, wie Golo Mann den Ersten Weltkrieg später nannte.[24] Waren Katia Manns Vorkriegsjahre von permanenter Kränklichkeit geprägt gewesen, änderte sich dies nun mit den steigenden Anforderungen, die der Kriegsalltag stellte. Schon im Laufe des Jahres 1915 begann das Essen knapp zu werden. Die englische Seeblockade und der Mangel an Mensch und Material in der heimischen Landwirtschaft belasteten die Ernährungssituation im ganzen Reich, eine wenig kompetente Verwaltung war der Aufgabe, die Nahrungsmittel gerecht an die Bevölkerung zu verteilen, nicht gewachsen.[25] Dankbar schilderten die Kinder in ihren Rückblicken die Leistung der Mutter, in dieser Zeit für das nötige Minimum zu sorgen.[26]

Golo beklagte sich nicht über die kargen Mahlzeiten, verteidigte sie sogar, wenn die älteren Geschwister murrten, was ihm ihren Spott eintrug. Sein Hang, sich den Eltern gefällig zu erweisen, bot Angriffsflächen. Wohl nicht unabhängig von geschwisterlichen Demütigungen entwickelte er ein ausgeprägtes Geltungsbedürfnis und enormen Ehrgeiz. »Ein Thor war ich schon, und spät reifend«, schrieb er rückblickend im Tagebuch, »und wieder einmal sind die Grenzen zwischen meiner und jener Schuld [der Familie] nicht zu ziehen. Als ich zum ersten Mal in Träume von Größe floh, damals eines Märchenhelden in goldener Rüstung, kann ich höchstens acht Jahre alt gewesen sein […]. Dem war eine Verhöhnung durch die älteren Geschwister vorangegangen.«[27]

Der Vater rang schwer mit sich und seinem Kriegsdienst, den Betrachtungen eines Unpolitischen. »Meine Nerven sind schlecht, ich ›halte‹ mich eigentlich immer gerade nur«, schrieb er im Herbst 1915.[28] »Sehr nett« könne man in einer solchen Situation zu seiner Umgebung nicht sein, schrieb Golo Mann später. »Wohl konnte er noch Güte ausstrahlen, überwiegend aber Schweigen, Strenge, Nervosität oder Zorn. Nur zu genau erinnere ich mich an Szenen bei Tisch, Ausbrüche von Jähzorn und Brutalität, die sich gegen meinen Bruder Klaus richteten, mir selber aber Tränen entlockten.«[29]

Während draußen die Revolution tobte, die in München auf den verlorenen Weltkrieg folgte, gab es drinnen Theater. Am Neujahrstag 1919 gründeten Erika und Klaus mit ihrem Freund Ricki Hallgarten den Laienbund deutscher Mimiker. Bereits zwei Wochen später gaben die drei ihre erste Vorstellung, Die Gouvernante von Theodor Körner. Golo, so verzeichnet es das Tagebuch des Vaters, zeigte sich erbost »über den Erfolg des Stückes, da er keine Rolle hatte und als Theaterdiener sich nicht genügend auszeichnen konnte«.[30] Bald erweiterten die Mimiker ihr Ensemble, sodass Monika und Golo neben weiteren Freunden wie Wolfgang Hallgarten, den Töchtern des Dirigenten Bruno Walter, Lotte und Grete, und Greta Marcks, Tochter des Historikers Erich Marcks, mitspielen durften. Golos größter Erfolg ist ein Lacherfolg: zehnjährig als »Dame in Trauer« in Minna von Barnhelm.[31]

Eine »elende Kindheit«

»München leuchtete«.[32] Aber nicht ihm. Eine glückliche Kindheit hatte Golo Mann nicht. Der eigenbrötlerische, düstere Junge, dem Heiterkeit und Leichtigkeit abgingen, irritierte die Eltern. Vor allem beim Mittagessen herrschte der Zwang betont geistvoller Tischgespräche. Ein Gast aus späteren Tagen beschrieb das zeremonielle Essen wie eine »Audienz«, die Thomas Mann hielt. »Er brach das Brot der Grammatik mit den Seinen und verteilte es huldvoll über die Teller.«[33]

Ärger beschwor herauf, wer nicht angemessen zur Tischunterhaltung beitragen konnte. Dem neunjährigen Golo befahl man zu schweigen, der Dreizehnjährige wurde »grob angefahren«, wenn er eigene Ansichten vertrat, politische oder literarische, sodass er sich zurückzog und über Wochen beim Essen still blieb. Die »künstlichen« Tischgespräche seien »ein Alp meiner Kindheit«, schrieb er einem Freund später.[34] Und im Tagebuch beklagte er sich nach Jahrzehnten noch über die »grausamen Idiotien der Eltern, so ungeheuerlich weit unter ihrem Niveau«.[35] Bald begann Golo, sich auf die Konversation mit den Eltern, vor allem mit dem Vater, vorzubereiten, machte sich Notizen, worüber man sich unterhalten könnte, ohne Missfallen zu erregen. Später entdeckten die drei Söhne, dass jeder von ihnen es so gehalten hatte – unabgesprochen.[36]

Das Verhältnis zum Vater war seit der Kriegszeit gespannt. Von »Bewunderung, Ehrfurcht, Furcht« sprach Golo Mann als fast 80-Jähriger – auf die Frage nach Liebe und Nähe zu seinem Vater.[37] Grundsätzlich begegnete Thomas Mann seinen Kindern scheu, distanziert und zurückhaltend, ihre Existenz erschien ihm zu seltsam, als »dass es mich nicht verwirren und lächerlich fast mich bedünken hätte sollen«, dichtete er im Gesang vom Kindchen.[38] »Belustigt«, aber »in Abwehr« stand er der Familie gegenüber, »nicht willens, sich dran zu verlieren, neugierige Kühle wahrend und oft gereizt, wenn es störend zudrang und lärmte«.[39] In Prosa: »Jemand wie ich ›sollte‹ selbstverständlich keine Kinder in die Welt setzen.«[40]

Die Distanz zu den Söhnen war größer als die zu seinen Töchtern. Thomas Mann empfand – in dieser Hinsicht ganz bürgerlicher Kaufmannssohn aus dem 19. Jahrhundert – das weibliche Geschlecht als »nichts Ernsthaftes«, und seine Frau teilte diese Auffassung.[41] Für die Töchter mag dies belastend gewesen sein, und ihre – zum Beispiel musikalischen – Ambitionen wurden nicht in gleicher Weise gefördert wie die der Brüder. Doch geringere Erwartungen bedeuteten auch weniger Druck, mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Besonders Erika gelang es bald, die Scheu des Vaters mit ihrer humorvollen Art zu überwinden. In der Folge entwickelte sich eine enge und liebevolle Beziehung zwischen ihm und dem »kühnen, herrlichen Kind«.[42]

Golo merkte rasch, dass der Vater wenig von ihm hielt, zumal dieser seine Vorlieben kaum verbarg: Die ›Erwählten‹ Erika und Klaus auf der einen Seite, die wenig geschätzten Golo und Monika auf der anderen.[43] Zu den vieren gesellten sich nun 1918 und 1919 Elisabeth und Michael, welche den älteren Kindern die ungleiche Behandlung erneut deutlich vor Augen führten. Elisabeth liebte der Vater über alles (»sie ist in gewissem Sinne mein erstes Kind«[44]), und er widmete ihr den in Hexametern verfassten Gesang vom Kindchen. Michael hingegen gehörte zur Gruppe der ungeliebten Kinder: »Stelle immer wieder Fremdheit, Kälte, ja Abneigung gegen unseren Jüngsten fest […].«[45]

In den einzig erhaltenen Tagebüchern der frühen Zeit, 1918 bis 1921, kommt auch Sohn Golo nicht gut weg. Vom »lügnerischen Golo« und seiner »Falschheit« ist die Rede, er sei »mehr und mehr problematische[r] Natur, verlogen, unreinlich und hysterisch«.[46] Kleinere »Fluchtversuche« wurden unerbittlich geahndet: »Zorn und Unruhe Golo’s wegen, der von 3 bis 10 Uhr ausblieb und übel empfangen wurde.« Und dann: »Ich […] stellte wieder fest, dass ich von den Sechsen drei, die beiden Ältesten und Elisabethchen mit seltsamer Entschiedenheit bevorzuge.«[47] Was er die anderen, »mit der Souveränität, die ihm eigen war«, wie Golo Mann bitter bemerkte, nur zu deutlich spüren ließ.[48]

Und die Mutter? Innig und herzlich kann man das Verhältnis Golo Manns auch zu ihr nicht nennen, nachdem er dem Kleinkindalter entwachsen war. Sie sei »etwas ungeduldig« gewesen, sagte sie selbst,[49] vor allem, wenn die Kinder etwas nicht sofort verstanden. Dann konnte es Schläge setzen, »sinnloser Weise«, wie Golo Mann rückblickend im Tagebuch über die »schlechte Pädagogin« notierte: »Dass Prügel für meine Nerven Gift, hätte sie bei aller Uneingeweihtheit spüren müssen.«[50] Die praktisch-resolute Frau merkte nicht, dass zwischen dem sensiblen Golo und den älteren, alle Erziehungsbemühungen zurückweisenden Geschwistern ein Unterschied bestand, dass diese ignorierten oder schnell vergaßen, was sich jenem scharf in die Seele schnitt. Seine Mutter sei klug, aber überaus naiv und »völlig unfähig« gewesen, »sich in Andere zu versetzen«, zudem »enorm egoistisch«, schrieb Golo Mann später.[51] Sie möge ihn nicht sonderlich, bekannte er achtzehnjährig einem Studienfreund.[52] Seiner »Mutter Mangel an Takt und Einfühlungsvermögen, ihr Sadismus, ihre Männlichkeit, ja sogar Brutalität«, notierte Golo Mann im Tagebuch, habe ihn »mit dreizehn Jahren entsetzt, mit zwanzig abgestoßen«.[53]

Anders als seinen älteren Geschwistern entging Golo Mann, dass die bürgerliche Rolle der Eltern Fassade war, dass selbst seine Mutter Sympathien für das Künstlerisch-Unbürgerliche hegte. Erziehung, Tadel und Strafen enthielten immer ein schauspielerisches Element, die eigene Rolle ironisierend.[54] Meldete die Schule Verfehlungen, so musste Katia oft über die Streiche der Kinder lachen, ihrer »begabten Teufelchen«.[55] Das trotz dieser Skepsis »formelle Gebaren innerhalb der Familie«[56] verhinderte einen freien Umgang. Die Autorität von Vater und Mutter war gleichermaßen groß, wobei scharfe Worte des Vaters einschneidender wirkten, weil sie, seltener ausgesprochen, mehr Gewicht hatten.[57] Seine Eltern seien »nicht sehr pädagogisch« gewesen, »sie hätten mir ein bisschen mehr Spielraum geben müssen«, äußerte Golo Mann im hohen Alter. »Vielleicht habe ich mich selber ungeschickt benommen, und das hatte diese Unterdrückung zur Folge.«[58]

»Unterdrückung« ist stark – man ist geneigt, dem Späteren, der Erkenntnis, dass die Welt den Sohn des berühmten Vaters nie mit diesem Thema in Ruhe ließ, einen Anteil beim Blick auf die Kindheit zuzuschreiben. Doch man findet dies Urteil, schärfer noch, bereits im Tagebuch des 22-Jährigen: »Was hatten wir doch für eine elende Kindheit. […] Angst vor anderen Kindern, vor den Eltern, dem Gymnasium, traurige Abende …«[59] Eifersucht und eigene Unreife mögen ihren Teil dazu beigetragen haben, dass Golo Mann stark unter der resoluten Mutter litt und den Kältehauch, der vom Vater herüberwehte, eisiger erlebte, als er war.[60] Die Wärme und Herzlichkeit des Elternhauses, von der, als Letzte der Geschwister, Elisabeth Mann der Welt in Heinrich Breloers ›Doku-Drama‹ Die Manns erzählte, erfuhr jedenfalls nur sie.

Erika und Klaus rebellierten bald immer offener, gegen das Elternhaus und gegen konventionelle Zwänge überhaupt. Golo schwankte zwischen dem Ringen um elterliche Gunst, seiner »typische[n] Liebedienerei«,[61] und dem Wunsch, sich den bewunderten Geschwistern und deren Freunden anzuschließen. Die Unternehmungen der ›Herzogpark-Bande‹ umfassten Telefonstreiche oder Ladendiebstähle. Die zornigen Reaktionen im Elternhaus hielten sie nicht auf. Schließlich war das Maß voll, ein festliches Essen mit ausschließlich gestohlenen Speisen bot den Anlass: Die Ältesten wurden zu Ostern 1922 im Landerziehungsheim Bergschule Hochwaldhausen angemeldet.

Obwohl die Konflikte im Elternhaus nun abnahmen, litt Golo Mann unter der Abwesenheit seiner älteren Geschwister. Monika und er gerieten stärker ins Blickfeld, konnten sich nicht mehr hinter den Großen verstecken. Die beiden hatten für Heiterkeit gesorgt und die steife und zeremonielle Atmosphäre im Haus und vor allem am Esstisch aufgelockert. Es gelang Golo Mann nicht, die Distanz zu den Eltern zu überwinden, und er war »erlöst«, wenn Erika und Klaus in den Ferien nach München kamen.[62]

Man darf aber die anregenden Umstände eines solchen Elternhauses nicht unterschlagen. Die Kinder musizierten, bald nahmen die Eltern sie auch mit in Konzerte oder ins Theater. Den Dirigenten Bruno Walter sahen sie nicht nur im Münchner Opernhaus konzertieren, oft von Plätzen aus, die dem Generalmusikdirektor reserviert waren, sondern auch an seinem heimischen Klavier, an dem er vorspielte, vorsang und die Stücke erklärte.[63] Die Werke der großen europäischen Autoren lernten sie früh kennen, in vielen Vorlesestunden, dann in eigener Lektüre: Andersen, Hauff, Dickens, E.T.A. Hoffmann, die – vom Vater so geschätzten – russischen Erzähler, deutsche Klassiker und natürlich die Werke von Vater und Onkel. Buddenbrooks lasen alle Kinder in jugendlichem Alter, mit der Folge, dass ihnen die Figuren der Romanwelt näher standen als die eigentlichen Ahnen, die Grenze zwischen Familiengeschichte und Literatur fließend verlief. Als Golo Mann in der Studienzeit das Grab seiner Lübecker Vorfahren besuchte, war sein Gefühl, »eigentlich vor dem Grabstein von Thomas Buddenbrook zu stehen«.[64]

Es kamen zahlreiche Gäste, mitunter berühmte wie Hugo von Hofmannsthal, Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Jakob Wassermann oder der Philosoph Hermann Graf Keyserling, in den zwanziger Jahren zunehmend auch fremdsprachige Autoren wie André Gide oder Romain Rolland. Es war auch ein Privileg, Sohn Thomas Manns zu sein, wenn auch nicht so sehr, wie mancher wohl glauben mag.

Schulsorgen

Im September 1918 trat Golo Mann zum ersten Mal den Weg in das humanistische Königliche Wilhelmsgymnasium an, das er bislang nur aus den Berichten des Bruders Klaus kannte: Am Isarufer entlang, durch den Herzogpark hindurch, dann den Fluss querend, bis direkt am Denkmal für König Max II., dem Maxmonument, der beeindruckende, einschüchternde Neorenaissancebau der Schule in Sicht kam, das älteste, traditionsreichste und vornehmste Gymnasium der Stadt.[65]

Die Zeugnisse und die »Besondere Schulzensur« zeichnen ein detailliertes Bild der Entwicklung des Gymnasiasten. Er sei »durch mangelnde Vorbildung sehr behindert«, heißt es über den Sextaner,[66] der zuvor drei Jahre lang einen privaten Grundschulkurs besucht hatte. Von »leichter und rascher Auffassung«, arbeitete Golo Mann im Unterricht rege mit und fiel durch Ausdruckskraft und besondere Kenntnisse in Literatur und Geschichte auf, wobei »der Unterschied zwischen seinen guten Leistungen im Mündlichen und den eher mäßigen im Schriftlichen« auffiel. Speziell Schrift und Rechtschreibung wurden bemängelt, ein Problem, das ihm erhalten bleiben sollte. Seine Handschrift konnte er selbst kaum lesen, sodass er später fast ausschließlich, sogar für Tagebuchnotizen, die Schreibmaschine benutzte; in Orthographie und Kommasetzung blieb er zeitlebens unsicher. Das Manko minderte den Erfolg im Schulfach Deutsch, doch der Ausgleich im Mündlichen fiel ihm nicht schwer. »Staunenswert sind seine Kenntnisse in der deutschen Literatur und seine Gabe, Gedichte mit Ausdruck vorzutragen«, lobte der Klassenlehrer in der Quarta.[67] Insgesamt ergab dies stets eine Note zwischen »gut« und »genügend«.

Heikler sah es in Fächern aus, die ihn nicht ansprachen: Mathematik und alte Sprachen. Schon in der Quinta galt es, in Latein ein »ungenügend« zu Weihnachten in ein »genügend« zum Schuljahresende zu verwandeln.[68] Golo Mann schätzte besonders seinen Deutsch-, Latein- und Klassenlehrer Gabriel Mack und widmete ihm eine dankbare Passage in seinen Erinnerungen.[69] Dieser erkannte die Fähigkeiten seines Schülers, lobte ausdrücklich »seine Gewandtheit im mündlichen Gebrauch der Muttersprache«[70] und motivierte ihn auch, sich fleißiger mit lateinischer Konjugation zu beschäftigen.

Bald häuften sich Klagen über Unpünktlichkeit, Unordnung und Vergesslichkeit. Golo sei »gutwillig und leicht zu lenken«,[71] mit den Klassenkameraden hingegen gab es Streit. Schon im ersten Jahr lernte er die Arrestzelle »wegen Raufens auf dem Gange« kennen.[72] In der Quarta vermerkte der Klassenlehrer (nicht mehr Mack), Golo zeige sich »gegen Mitschüler, die ihm unsympathisch sind, […] allzu leidenschaftlich, ja gehässig«.[73] Nach dem Schuljahr wechselte er die Klasse, stieg von der 3A in die 4B auf.

Ebenfalls in der Quarta gesellte sich Mathematik als Problemfall hinzu. Gerade noch wurde im Zeugnis aus einem »ungenügend« zu Weihnachten 1920 per Schlussspurt ein »genügend«.[74] Schließlich schlugen die Wellen der schulischen Anforderungen über Golo Mann zusammen. Griechisch als neues Fach in der Untertertia, dazu weiterhin die ungeliebte Mathematik sorgten für ein »gefährdet« nach dem ersten Trimester, das sich in »sehr gefährdet« zu Weihnachten steigerte, um als »Erl[aubnis] z[um] Vorr[ücken] nicht er[halten]« im Jahreszeugnis die Summe unter ein missratenes Schuljahr zu ziehen.[75] In den Worten des Klassenlehrers: Die Begabung des Schülers Angelus sei »ohne Zweifel gut, sodass er in Lehrfächern, für die er Interesse hat, z.B. Geschichte, deutsche Lektüre, Vortrag von Gedichten, etwas leistet. In anderen Fächern jedoch, in Griech[isch] und der Math[ematik] leistet er in Folge seines großen Unfleißes so wenig, dass er über Note 4 [»ungenügend«] nicht hinaus kam. Durch List und Schwindel – er ist da sehr erfinderisch – sucht er, seine Faulheit zu verstecken. Außerdem ist seine Unpünktlichkeit, seine Vergesslichkeit, seine Schlamperei, die schlechte und unsaubere Führung seines Heftes, das Verschmieren seiner Lehrbücher auch nicht annähernd zu schildern.«[76]

Der ehrgeizige Junge, der es hoch und weit bringen wollte – ein Sitzenbleiber und Schulversager, den Anforderungen des renommierten Wilhelmsgymnasiums nicht gewachsen. Anders als sein Vater, der mit seiner »schimpfliche[n] Vergangenheit« als »verkommener Gymnasiast« kokettierte,[77] sprach Golo Mann nie öffentlich von der seinen. Und so liest man in der Literatur zu ihm und zur Familie, er sei ein »mittelmäßiger Gymnasiast«, ein »unproblematischer« oder gar ein »recht ordentlicher Schüler« gewesen.[78]

Klaus Mann zufolge verdankte man dem Wilhelmsgymnasium keine Anregungen, »die trübsinnige Pedanterie der bayerischen Professoren hätte mir noch den interessantesten Gegenstand verleidet«. Aufsässige Gefühle habe die Schule nicht erregt, eher »gelangweilte Gleichgültigkeit«, »stumpfsinnig und bedeutungslos«, wie sie war. Zwar kam der Rohrstock gelegentlich – nicht bei ihm – zum Einsatz, aber »die Schultragödien, die der Vätergeneration so viel zu schaffen machten, blieben der meinen erspart; man nahm die ›Lehranstalt‹ nicht mehr wichtig«.[79]

Golo Mann erlebte dieselbe Schule grundlegend anders und sprach davon einmal in einem Vortrag: Sie »erinnerte in vielem doch noch an die Erlebnisse von Hanno Buddenbrook«. Bei schlechter Laune herrschte »eine Art von kaltem Krieg in der Klasse, manchmal auch von heißem, etwas einseitig geführtem. Man war ja auch dumm und, aus Angst, sehr ungeschickt.« Dazu das enorme Lernpensum, »ein Fegefeuer« des Paukens, auch bei den geschätzten Lehrern. »Wenn der Professor in seinem Notenbüchlein studierte und zögernd, die Situation grausam auskostend, sein Urteil sprach: ›Da soll mal herauskommen und mir die Frage beantworten, der …‹ – oh, was für ein Herzklopfen war das bis zum Hals.«[80]

Die Diskrepanz zwischen den Erlebnissen beider Brüder ist offenkundig. Der frühreife, selbstgewisse Klaus, sich seiner literarischen Berufung schon in jungen Jahren bewusst, nahm Druck und Ermahnung wenig ernst, erst recht von Lehrern, denen gegenüber er sich von gleichgültig bis »blasiert«, »vorlaut« und »arrogant« verhielt.[81] Insofern mag Klaus Mann die Schule empfunden haben, wie er sie beschrieb. Selbst auf der Odenwaldschule Paul Geheebs, einer der fortschrittlichsten und liberalsten Schulen Deutschlands, hielt er es später nur kurze Zeit aus.[82] Eine Schule, der er Anregung und letztlich auch einen Schulabschluss hätte verdanken können, gab es wohl nicht.

Golo Mann hingegen, der weder gegen den patriotischen Geist des Wilhelmsgymnasiums noch gegen die Lehrer aufbegehrte, erlebte die Schule als bedrückend. Mit jenem erstarrten System von 1880, gegen das sich die Bewegung der Reformpädagogik richtete, kann man das Wilhelmsgymnasium in dieser Zeit sicher nicht gleichsetzen, der etwas ältere Wolfgang Hallgarten bestätigte diesen Eindruck der Schule nicht.[83] Für einen unproblematischen Schüler hielt sie keine größeren Schrecken bereit. Den schwierigen, komplizierten Fällen hingegen, wie Golo Mann einer war, schlug Unverständnis entgegen.

Das drollige Kind hatte sich in einen 13-jährigen Spätentwickler verwandelt, begabt ohne Zweifel, aber verträumt, sensibel, ungewöhnlich ernsthaft, zu Schwindeleien neigend, mal unterwürfig, dann wieder aufbrausend und insgesamt wenig zugänglich. Dass er nicht gänzlich resistent gegen Hilfe war, hatte das zweite Gymnasialjahr gezeigt, in dem es dem geschätzten Lehrer Mack gelang, Zugang zu Golo Mann zu gewinnen. Zwei Jahre später war an Macks Stelle ein Dr. Fronmüller getreten, den – nach Ausweis seiner Zeugnisformulierungen – keine Ahnung davon zu belasten schien, dass ein Schüler mit ausdrücklich guter Begabung, der das Klassenziel nicht erreicht, ebenso eine Niederlage für seine Lehrer bedeutet.

Zu Ostern 1922, zeitgleich mit dem Höhepunkt der Aktivitäten der ›Herzogpark-Bande‹ und dem anschließenden Auszug der großen Geschwister, trat Golo den schweren Gang nach Hause an, im Gepäck das beschämende Zeugnis der Nichtversetzung. Die Mutter fand schnell eine Lösung: Golo sollte nicht die vierte Klasse am Wilhelmsgymnasium wiederholen, stattdessen meldete sie ihn am Alten Realgymnasium an.[84] Hier konnte er wenigstens eines der ungeliebten Fächer, Griechisch, loswerden, an dessen Stelle Englischunterricht auf dem Lehrplan stand.

Zeugnisse Golo Manns aus seiner Schulzeit auf dem Alten Realgymnasium haben sich nicht erhalten,[85] doch klar ist, dass es nun besser wurde. Nach einigen Monaten schrieb Katia Mann an Erika: »Golo schreibt beständig die besten lateinischen Klassenarbeiten und macht sich überhaupt.«[86] Vielleicht müsse man, so Golo Mann später, erst harte Widerstände überwinden lernen, um »in den Himmel der Horazischen Oden zu gelangen«.[87]

Die Atmosphäre im Elternhaus erlebte er weiterhin als quälend, verschärft noch durch die Abwesenheit der beiden großen Geschwister. Seit einiger Zeit war er nun Mitglied bei den Pfadfindern, ein »Ausbruchsversuch«, wie es in den Erinnerungen heißt.[88] Die Ausflüge und die Gemeinschaft mit ›normalen‹ Kindern gefielen Golo Mann. Die älteren Geschwister spotteten über sein kleinbürgerliches Hobby.[89]

Katia Mann handelte schließlich. »Sie hatte verstanden, und dafür bin ich ihr dankbar, dass ich für eine Zeit aus dem Hause müsste, in dem ich nicht mehr guttat, mich auch nicht mehr wohlfühlte.«[90] Im Dezember 1922 fuhr sie mit ihrem Sohn an den Bodensee, um ihn dort am Landerziehungsheim Schloss Salem anzumelden.

Im Sommer zuvor hatte der Leiter Salems, Kurt Hahn, die Aufnahme von Klaus abgelehnt. Der »ungewöhnlich begabte und fein veranlagte Junge«, schrieb Marina Ewald, Hahns Stellvertreterin, habe seine Kindlichkeit und Natürlichkeit infolge alleiniger Beschäftigung mit Literatur eingebüßt. »Manieriert«, »selbstgefällig« und »frühzeitig gereift«, habe Klaus »das natürliche Interesse an seiner Umwelt verloren«, kultiviere seine »Unfähigkeit in allen Dingen des praktischen Lebens mit Eitelkeit« und bemäntele sie »unter einer Verachtung der Welt der Tat und [des] Handelns«.[91] Ein solcher Junge musste eine Gefährdung für eine Schulgemeinschaft wie Salem sein. Einen ähnlichen Eindruck erweckte Golo Mann: spöttisch, ironisch, kritisch, seinem literarischen Milieu verhaftet und mit mancherlei Vorurteilen ausgestattet.[92] Doch in diesem Fall sah Hahn Hoffnung, auf ihn einwirken zu können, und nahm ihn auf.

Salem

Das ehemalige Zisterzienser-Kloster, knapp acht Kilometer im Hinterland des nordwestlichen Bodensees nahe Überlingen gelegen, bietet eine imposante und geschichtsträchtige Kulisse für Internat und Schule. Prinz Max von Baden, letzter kaiserlicher Reichskanzler, gründete gemeinsam mit seinem Privatsekretär, Berater und Vertrauten Kurt Hahn 1919/20 das Landerziehungsheim, das drei Jahre nach Einzug der ersten Schüler auch Golo Mann aufnahm. Etwa fünfzig Kinder und Jugendliche besuchten 1923 das Internat, schon drei Jahre später verdreifachte sich die Schülerschaft. Bis 1932 war die Gesamtzahl auf 380 angewachsen.[93]

Für Golo Mann begann ein völlig neues Leben, spartanisch, betriebsam und mit wenig Freizeit. Er wohnte in einem Zimmer im Nordflügel des Schlosses, zuerst gemeinsam mit neun anderen Mitschülern,[94] von denen einer als ›Zimmerführer‹ die Verantwortung für Ordnung, Sauberkeit und Einhaltung der Hausregeln trug und bei Missachtung kleinere Strafen verhängen durfte. Morgenlauf, schlichtes Essen, Unterricht, viel Sport, dann Werk- und Landarbeit, Gelände- und Kriegsspiele, Rad- und Wanderausflüge: All das gehörte zum Alltag. Seltene freie Stunden nutzte Golo Mann meist zum Lesen, seltener, um nach Hause zu schreiben.[95] Keiner der Briefe scheint die Wirren späterer Zeiten überstanden zu haben.

Kurt Hahn, kein Theoretiker, ein Praktiker der Pädagogik,[96] nahm die reformpädagogischen Ansätze der Landerziehungsheime auf, vor allem von Hermann Lietz ausgehend, und mischte Beobachtungen seiner englischen Jahre von public schools wie Eton oder Harrow hinzu. Doch erst die unbedingte Verbindung von Erziehung und Politik verlieh Salem seine besondere Note. Hahn konstatierte das Versagen der Führungsschicht vor und während des Weltkriegs und setzte sich vor diesem Hintergrund das Ziel, eine neue, fähigere Elite zu erziehen, wobei Salem als Modell auch Reformwirkung auf das staatliche Schulwesen ausüben sollte.[97] Weniger Belehrung und Wissensvermittlung als Charakter- und Willensbildung standen im Zentrum seines »Schulstaates«, in dem Hahn dem Sport große Bedeutung als »Sorgenbrecher« und Erzieher zu Fairness beimaß. »Erlebnistherapie« (Outward bound) nannte er einen anderen zentralen Aspekt seiner Pädagogik, der wohl die größte Breitenwirkung entfaltete. Durch Abenteuer, Reisen in unberührte Wildnis und Rettungsdienste (Feuerwehr, Seenotrettung) wollte er Bewährung, Kameradschaft, Mut und Hilfsbereitschaft lehren und sprach hierbei in Anlehnung an William James vom »moralischen Äquivalent des Krieges«.[98]

Also ein ausgesprochen paramilitärischer Einschlag Salems. 1926 stellte Hahn sogar einen ehemaligen Feldwebel an, der die Ordnung der Zimmer und Schränke überwachte, die soldatische Ausbildung übernahm und regelmäßig Kriegsspiele organisierte.[99] Privilegierte Herkunft erkannte Hahn als Problem für den Einzelnen und die Gemeinschaft, »da sie unfähig macht zur Hingabe an die gemeinsame Sache der Schule wie der Nation«.[100] Diesem Grundproblem aller Landerziehungsheime seit den Lietz’schen Gründungen versuchte er durch Stipendien entgegenzuwirken, sodass mindestens jeder vierte Schüler allein nach Begabung und Charakter und nicht nach finanziellem Hintergrund ausgewählt werden sollte. Ein Vorsatz, der nicht immer einzuhalten war, gerade nach den Inflationsjahren 1922/23. Zwei Kinder in Salem – Golo Mann folgte im Jahr darauf seine Schwester Monika – seien »ein rechtes Opfer«, schrieb die Mutter, »denn nachdem sie jahrelang von den meisten Eltern so gut wie nichts genommen haben, sind sie jetzt vor dem Bankrott und infolgedessen plötzlich unsinnig teuer«.[101] »Es müssen sofort viele vollzahlende Kinder aufgenommen werden«, vermerkte die Schulchronik unter »Tragödien«: »Durchbrechung des bisherigen Standpunktes: Charakter Hauptsache.«[102]

Kurt Hahn schwebte das Idealbild eines Schülers vor, von dem Golo Mann nahezu nichts an sich hatte. Er sollte sportlich, pünktlich, ordentlich, offen, ehrlich, treu, gerecht und intelligent, aber nicht intellektuell sein, fähig, sich ein- und unterzuordnen, zugleich bereit, Verantwortung für andere zu übernehmen, wobei die gemeinsame Sache und nicht der persönliche Ehrgeiz im Vordergrund zu stehen hatte. Eher Hans Hansen als Tonio Kröger, oder besser noch: Hans Graf von Hansen. Mit Träumern, Denkern, Literaten konnte er wenig anfangen, sodass manch ein künstlerisch orientierter Schüler Salem als »Alptraum« erlebte.[103]

Golo Mann fühlte sich von Beginn an wohl in Salem, anfangs mehr trotz als wegen der Hahn’schen Pädagogik, der er mit Ironie und Spott begegnete.[104] Er genoss das Leben unter Gleichaltrigen in historischer Kulisse sowie den freundlichen und liberalen Umgang mit den Lehrern.[105] Aus unbekannten Gründen stufte man ihn in die Untersekunda ein, was bedeutete, dass er eine Klasse übersprang. Zeugnisse aus Salem haben sich nicht erhalten, doch aus den Erinnerungen und aus Briefen lässt sich ersehen, dass Golo Mann ein eher schlechter Schüler blieb. Gegen Ende seines zweiten Schuljahres in Salem galt es, drei »ungenügend« zu bekämpfen, wobei sich zu den schon gewohnten Problemfällen Mathematik und Griechisch Englisch hinzugesellte, weil er die Sprache vernachlässigte, um sich ganz auf die »ernsthaften« Problemfächer zu konzentrieren.[106] Anders als in München gab es in Salem jedoch nur geringen Erwartungsdruck in Bezug auf akademische Leistungen, die Schulgemeinschaft und die charakterliche Erziehung nahm man ernster.[107] Nach und nach verlor der ehrgeizige »Ich-Anbeter«, wie Hahn ihn nannte,[108] seine Vorurteile und wurden auch die Noten in den ungeliebten Fächern besser. »Außerordentlich habe ich mich über Deine Fortschritte im Unterricht gefreut«, schrieb Hahn gegen Ende der Obersekunda an Golo Mann. »Sie zeigen, welcher langandauernden Willensanstrengung Du fähig bist.«[109]

Vor allem Sport war für Golo Mann neu. Die Turnstunden am Wilhelmsgymnasium im Turnvater-Jahn-Stil hatten keine Begeisterung wecken können,[110] doch auch der familieneigene Tennisplatz hinter dem Bad Tölzer Landhaus war kaum genutzt und mehr und mehr von Unkraut überwuchert worden – in der Familie spielte Sport keine Rolle. Mit seiner anfangs ablehnenden Haltung konnte Golo Mann in Salem nicht bestehen. Hahn trug ihm tägliches Lauftraining auf, und wirklich entwickelte Golo Mann sich zu einem ordentlichen Hundertmeterläufer, wie Hahn, als Beispiel für die Wirksamkeit seiner Pädagogik, später berichtete.[111] Im Hockey kam er über den Einsatz in der dritten Mannschaft nicht hinaus.[112]

Auch das politische Denken erwacht in Salem. Golo Mann freundete sich mit Michael Lichnowsky an, Sohn des letzten deutschen Botschafters in London vor dem Ersten Weltkrieg, Fürst Karl Max Lichnowsky. Dieser hatte die Reichsregierung unermüdlich gewarnt, England werde in einem europäischen Krieg nicht neutral bleiben. Den unangenehmen Kassandra-Rufer stellte man zu Beginn des Krieges kalt, und auch die Weimarer Republik zeigte kein Interesse an ihm.[113] Dass sein Sohn die Frage der Schuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg differenzierter als Kurt Hahn beurteilte, verwundert kaum – und auch Golo Mann begann, die unreflektierten deutschnationalen Vorstellungen der Kindheit abzulegen und betrachtete das Zeitgeschehen zunehmend mit wachen, kritischen Augen. Den Botschafter a.D. traf er einmal bei einem Besuch auf dem Stammsitz der Familie Lichnowsky in Kuchelna im Nordosten von Mähren, eine beeindruckende, wegen Manns Ungeschicklichkeit zugleich zutiefst peinliche Begegnung, die er in seinen Erinnerungen ausführlich beschrieben hat.[114] Es war sein erster Ausflug in ein »historisches Märchenland«,[115] die Welt des Hochadels, die ihn sein Leben lang anziehen sollte.

In den Weihnachtsferien 1923 beobachtete Golo Mann in München die Folgen des Hitler-Putsches. Zurück in Salem, schrieb er für die Schulzeitschrift einen kritischen politischen Aufsatz, der nicht erscheinen durfte. Der geschickte, aber einseitige Bericht könne in der Schule, insbesondere auch unter den Lehrern Unfrieden stiften, so die Begründung Marina Ewalds.[116] Antisemitische Parolen hörte man in Salem auch, selbst von Lehrern. Es kam zu schulinternen Streitgesprächen, und Anfang Juni fand eine offizielle Schuldebatte zum Thema Antisemitismus statt.[117] Zwei nationalsozialistische Lehrer waren bemüht, den »undeutschen« Geist und die zahlreichen Versuche von Juden zu beweisen, sich im Krieg vor der Front zu drücken. Golo Manns Intervention fiel »schwach und aufgeregt« aus. »Zum ersten Mal erfuhr ich«, schrieb er rückblickend, »dass ich besser schreiben als reden, einen geschriebenen Vortrag besser sprechen konnte, als während einer öffentlichen Diskussion improvisieren; was immer so blieb.«[118] Schließlich hielt Hahn eine »wundervolle Rede«, in der er sich gegen die gehörten Ausführungen zur »Judenfrage« sowie »die Methoden der Völkischen wandte, während er ihnen eine, besonders anfangs gezeigte Edelkeit nicht ganz absprach«.[119]

Kurt Hahn hegte Illusionen über den Charakter der Hitler-Bewegung. Zum einen sah er in den Nationalsozialisten »zornige Patrioten«, deren legitimen Protest gegen das »Versailler Diktat« es zu nutzen galt.[120] Zum anderen täuschte er sich entschieden in der Person Hitlers, auf den er ein seinem Menschheitsideal entsprechendes Wunschbild projizierte. Er sah Hitler von bösen Elementen umgeben, deren er sich manchmal nicht erwehren könne, und bescheinigte ihm noch im Herbst 1933, nachdem er selbst von den Nationalsozialisten aus Salem vertrieben worden und in die englische Emigration gegangen war, ein »warmes, ja sogar ein weiches Herz«.[121]

Auch wegen dieser Einschätzung duldete Hahn nationalsozialistische Pädagogen im Internat. In der geschilderten Antisemitismus-Debatte beschwichtigte er sogar den Zorn der Schüler, als ein Lehrer ausführte, die Salemer sollten »nicht alles glauben, was gerade Herr Hahn zu diesem dunklen Komplex zu sagen« habe – eine Anspielung auf die jüdische Herkunft des Schulleiters.[122] Der Altphilologe Wilhelm Kuchenmüller, der dies vortrug, war zeitweise Golo Manns Lateinlehrer, gerade 24 Jahre jung und der NSDAP nahestehend, ab 1932 auch Parteimitglied. Im selben Jahr hielt Kuchenmüller in Überlingen einen antisemitischen Vortrag mit dem Titel Wie werden wir gesund? Bald wurde er aus dem Staatsdienst entlassen, weil er die Weimarer Verfassung wiederholt öffentlich geschmäht hatte. Wenig später nahm Hahn ihn erneut in Salem auf, nun als angestellten, nicht mehr verbeamteten Lehrer.[123]

Jüdische Freunde und Förderer Hahns und des Prinzen von Baden wie der Bankier Max M. Warburg oder Hans Lachmann-Mosse, Sohn des »Pressezaren« Rudolf Mosse, unterstützten Salem mit hohen Spenden, zahlreiche Kinder aus jüdischen Familien gingen hier zur Schule. Im Internat trat Hahn antisemitischen Tendenzen entschieden entgegen und versuchte, seinen Schülern in religiösen und ›rassischen‹ Fragen Toleranz zu vermitteln. Und dennoch haftete seinem liberalen Engagement ein Hauch von Unverbindlichkeit an, da Hahn – ebenso wie Max von Baden – die politische Orientierung, die hinter den Rassefanatikern stand, für koalitionsfähig im Kampf gegen den Vertrag von Versailles erachtete. Offenbar meinte er, der Antisemitismus der »zornigen Patrioten« sei ein Missverständnis, könne argumentativ widerlegt werden und werde sich durch die Revision der Ursachen, der verfehlten Demokratie und vor allem des »Versailler Diktats«, abschwächen. Dass er Lehrern wie Kuchenmüller, die offen nationalsozialistische Parolen verbreiteten, widersprach, ihnen aber nicht die Tür wies, ganz im Gegenteil diesen später sogar zum Leiter der Tochterschule Birklehof ernannte, war Folge dieser Haltung.

Unbeirrt von seinem rhetorischen Misserfolg in der Antisemitismus-Debatte, beschäftigte sich Golo Mann weiterhin mit dem politischen Zeitgeschehen, las alle Zeitungen, die er bekommen konnte, und diskutierte mit Freunden und Lehrern. Bald – auch dies gegen den Geist der Schule gerichtet – wurde er begeisterter Pazifist und tendierte überhaupt stark nach links, zu sozialistischen Vorstellungen. So sehr, dass es wieder einmal Anlass zum Spott der größeren Geschwister bot: »Golo, im neuen Anzug, sah wie ein bedeutender Proletarierführer aus«, berichtete Klaus 1926 von der Hochzeit seiner Schwester Erika mit Gustaf Gründgens, mit dem sie eine kurze »Cocktailehe« führte.[124]

Allgemeine Beliebtheit konnte Golo Mann als ›Denker‹ in Salem nicht erreichen. Hahns Abneigung gegen »frühreife Intellektuelle« teilten viele Schüler und blickten etwas verächtlich auf diejenigen, die sich lieber mit Hölderlins Gedichten als mit Automobiltypen beschäftigten.[125] Aber Golo Mann verschaffte sich mit spitzer Zunge Respekt, und sein Spott war gefürchtet – die Mädchen nannten ihn den »kleinen Teufel«. Es bildete sich bald eine kleine Gruppe, die ihn als Anführer ansah. Sonntags saß man nach dem Mittagessen noch lange diskutierend im Esssaal, zum Ärger der jüngeren Schüler, die zum Kellnerdienst eingeteilt waren.[126]

Depression und »Staatsstreich«

Auf eine recht unbeschwerte Anfangszeit in Salem folgte zu Beginn des Jahres 1925 eine schwere Krise. In den Erinnerungen gab Golo Mann eine knappe Andeutung der Geschehnisse, sprach »mit Vorsicht« von der »Erschütterung«, die ihn mit knapp sechzehn Jahren ereilte.[127] Wegen einer Sportverletzung hatte er sich in den Weihnachtsferien in München einer Operation am Knie zu unterziehen, in deren Folge er, nach einem Albtraum in der Narkose, in eine tiefe Depression geriet. In ein ausführliches Tocqueville-Zitat verhüllt, schilderte er rückblickend den »universale[n] Zweifel«, der ihn befiel: »Ich erfuhr plötzlich die Empfindung, von der die Leute sprechen, die ein Erdbeben erlebt haben, wenn der Boden unter den Füßen sich heftig bewegt, die Wände um sie herum, die Decke über ihrem Kopfe, die Sachen in ihren Händen, die ganze Natur vor ihren Augen. Ich wurde von der schwärzesten Melancholie ergriffen, fasste den äußersten Widerwillen gegen das Leben, ohne es zu kennen, und war wie zerschmettert von Angst und Schrecken beim Anblick des Weges, den ich noch auf der Welt zu gehen hatte …«[128]

Erschüttert kam Golo Mann nach den Weihnachtsferien in Salem an. Zu allem Unglück war Kurt Hahn, dessen Anwesenheit eine moralische Bestärkung hätte bedeuten können, in dieser Zeit nicht im Internat, da er in Berlin an der Fertigstellung der Memoiren des Prinzen Max arbeitete. Die Nachricht, dass mit Golo Mann etwas nicht in Ordnung sei, erreichte bald die Schulleitung, und es wurde zwischen Kurt Hahn und seiner Stellvertreterin Marina Ewald brieflich erörtert, ob der Junge für einige Tage zu Hahn nach Berlin reisen sollte. Schließlich entschieden sowohl Ewald als auch Golo Mann selbst dagegen.[129] In seinem ›Mentor‹ Otto Baumann, dem für den Flügel, in dem er wohnte, zuständigen Pädagogen, zugleich seinem geschätzten Geschichtslehrer, fand er schließlich eine Vertrauensperson, öffnete diesem einen Spalt in die Kammer seiner Bedrängnis und fand Verständnis und guten Zuspruch.[130]

Marina Ewald hatte sich mit den Eltern in Verbindung gesetzt und informierte Hahn über den Zustand des Jungen. Sogar »mit dem großen Thomas selbst« habe sie telefoniert. Wenig später kam ein »sehr verständiger Brief« von Katia Mann in Salem an.[131] Allmählich fing Golo Mann sich wieder. Nun verdrängte die Sorge vor einem Rückfall, die »Angst vor der Angst«, die eigentliche Depression. Aber noch über Monate geriet er »in Verzweiflung, wenn ein Gespräch irgendwie das Philosophische, Religiöse oder Probleme der Astronomie streifte; ich musste dann hinausgehen«.[132] Marina Ewald berichtete von der Besserung, schrieb Hahn nach Berlin, Golo sei so sehr »von unpersönlichen Dingen erfüllt, dass ich glaube, die Heilung, die er von Salem erhoffte, ist eingetreten«.[133]

Urs Bitterli fasst die Erschütterung des Jahres 1925 entschieden zu harmlos auf, wenn er schreibt: »Krisen dieser Art mögen jeden empfindsamen Menschen heimsuchen; er wird sie durchstehen und sich als gereifter Mensch vielleicht darüber wundern.«[134] In Golo Manns Fall handelte es sich nicht um ein pubertäres Stimmungstief, sondern um ein Krankheitsbild. Die Neigung zur Depression blieb ihm zeitlebens erhalten, und es galt künftig, manche schwere Nerven- und Sinnkrise zu überstehen. Mehrfach war psychotherapeutische Hilfe nötig, und lebenslang nahm Mann starke Medikamente, von denen er abhängig wurde und unter deren Nebenwirkungen er litt (im Familienjargon euphemistisch »Heiterlein« genannt).

Das Leben im Internat mit seinen vielfältigen Möglichkeiten und dem gedrängten Tagesplan war geradezu ideal für jemanden, der nicht in die »Falten seiner Seele« blicken wollte, wie es im Wallenstein heißt.[135] Doch der Tatendrang Golo Manns zielte darüber hinaus. Eben noch zutiefst erschüttert, zeigt er sich wenige Tage später im Zentrum einer Rebellion in Salem.

Das Prinzip der Schülermitverantwortung, das in den ersten Jahren des Internats unter Hahns persönlichem Regiment und mit einer kleinen Schülerzahl funktioniert hatte, zeigte zu dieser Zeit seine begrenzte Tauglichkeit. Die Versammlung der ›Farbentragenden‹, Spitze der Salemer Schülerhierarchie, war mit der größer werdenden Schülerschaft stetig angewachsen, und Hahn bestimmte, um endlosen Debatten in den Versammlungen vorzubeugen, einen ›Kern‹ von Farbentragenden, mit dem er wichtige Entscheidungen vorbereitete.[136]

Solange Hahn selbst die Zusammenkünfte der Farbentragenden leitete, hatte sich noch kein Widerspruch gegen dieses autokratische Prinzip geregt. Seiner Stellvertreterin Marina Ewald jedoch, die während seiner Abwesenheit den Vorsitz führte, gelang es nicht, wie Hahn zu »modeln« und zu dirigieren, wie sie es nannte.[137] Nun wurde Kritik laut. Allen voran übernahm Golo Mann, eben erst mit dem violetten Band versehen und in den Orden aufgenommen, eine führende Rolle und mahnte eine Verfassung mit klar umrissenen Kompetenzen der einzelnen Ämterträger an. Im Laufe der Diskussionen brachte er eine Mehrheit der Versammlung auf seine Seite, sodass Ewald in Abstimmung mit Hahn nichts anderes übrigblieb, als von sich aus eine Reform der Schülermitverwaltung anzustrengen, schon um zu verhindern, dass »die Änderungen auf dem Wege einer von Golo geschürten Debatte in der Vollversammlung erfolgten«.[138] Hahn, der von Berlin aus nur brieflich auf das Verfahren einwirken, somit auch nicht kraft seines persönlichen Auftritts die Reform verhindern konnte, schäumte vor Wut und bezeichnete das Vorgehen Golos als »Staatsstreich«.[139] Eine »Notstandsverfassung« wurde verabschiedet, die keine tiefgreifenden Änderungen beinhaltete, aber man schaffte den Kern der Farbentragenden ab, vergrößerte die Zahl der Ämterträger, der ›Helfer‹, und wies ihnen spezielle Aufgabenbereiche zu.[140]

Damit war Golo Manns Rebellion nicht beendet. Die Änderungen gingen ihm nicht weit genug. Er erklärte öffentlich, dass er das Tragen äußerlich sichtbarer Farben ablehne, da es nur den Geltungsdrang fördere, durch die tägliche Herausstellung der Ordensmitglieder den Schulstaat in zwei Klassen teile, was auf der einen Seite zu Überheblichkeit, auf der anderen zu Verbitterung führe. Dann trat er aus der Farbentragenden Versammlung aus. Wenige Tage später schrieb Ewald an Hahn, Golo habe »zwar eingesehen, dass er auf dem Holzweg war, hatte aber schon zu vielen von seiner ›großen Geste‹ mitgeteilt, als dass ich es Recht fand, ihn dran zu verhindern. Was anderes wollte Golo nicht direkt. Seine Absichten waren das für ihn typische Gemisch reinen Strebens nach dem Vollendeten [und] schmutziger Intrigue. Er berührt die Sache mit den Farben nicht mehr. Ich glaube, er schämt sich. Ich glaube, ich kann leicht in der nächsten Versammlung seine Bewunderer, falls es solche gibt, zu anderer Ansicht bekehren.«[141]

Hahn ließ sich nicht besänftigen. Auf einen – nicht erhaltenen – Brief Golo Manns, der darin seine Motive zu erklären versuchte, antwortete er scharf. »Das Gefühl der Niederlage und Enttäuschung war groß, als Du nicht durchdrangst, das beleidigte Selbstgefühl schreit nach dramatischer Betätigung in solchen Augenblicken. Und Du hast noch nicht die Gabe, Dich dann zur Geduld zu stimmen.« Ausführlich wies er Golo Manns sachliche Kritik zurück, gipfelnd in einer Verteidigungsrede für das System: »Wir brauchen den Orden, und wir brauchen den täglichen Ansporn durch die äußere Tracht, daran zu denken, dass wir eine Gemeinschaft von Kämpfern sein wollen. […] Der Verfall unseres Landes ist nicht immer abstoßend, sein dekadenter Zauber muss auch manchen von unseren Jungen und Mädchen ergreifen. Wir aber wollen die Farben nur denen geben, denen wir vertrauen können, dass sie im Kampf durchhalten und nicht zum Gegner überlaufen. Darum brauchen wir die Unterscheidung und Erprobung.«

Ob Hahn mit dem »dekadenten Zauber« auf Golo Manns Vaterhaus anspielte, auf die Sympathie mit Verfall und Tod, welche sich in den Werken des Vaters ausdrückte, und auf das berauschte Leben von Erika und Klaus in der Münchner Schickeria? Jedenfalls hieß dies nichts anderes, als dass er Golo Mann vorläufig sein Vertrauen entzog. »Jetzt musst Du für’s erste ›draußen‹ bleiben. Aber ich freue mich auf den Tag, da Du wieder die Farben haben wirst, um Deinetwillen und auch um des ›Ordens‹ willen. Aber Du musst nicht nur das Knie, sondern auch den Gemeinsinn täglich üben. Du ahnst nicht, wie der lästige Geselle, der Ehrgeiz, dann klein und hässlich werden wird.«[142]

Das Kräftemessen mit Hahn hinterließ Spuren – auf beiden Seiten. Nicht allein die Tatsache, dass er sich mit seinen Vorstellungen nicht hatte durchsetzen können, traf Golo Mann tief. Er musste sich bald eingestehen, dass Hahn recht hatte mit seiner Kritik, dass es ihm wirklich mehr um den eigenen Geltungsdrang als um die Sache gegangen, dass der »lästige Geselle, der Ehrgeiz« Haupt-, nicht Begleitmotiv gewesen war. Mann bezeichnete sich selbst im Rückblick als ihm »fremd[en], oft unsympathisch gewordene[n] Wichtigmacher von 1925«.[143] Momentan mied er jegliche Selbstkritik, widmete sich lieber dem Theaterspiel und bot einen glänzenden Auftritt in der Hans-Sachs-Aufführung Der Teufel mit dem alten Weib – immer noch auf die Damenrolle abonniert.[144] Auf Dauer sollte die Hahn’sche Lektion Wirkung zeigen.

Hahn hingegen reagierte so zornig, nicht weil er ernsthaft um den Bestand des Internats fürchtete, sondern weil Golo Manns Aufstand, mehr als dieser ahnte, einen wunden Punkt getroffen hatte. Hahn sah, dass die Kritik nicht unberechtigt war. Die hierarchische Gliederung der Schülerschaft sorgte sehr wohl für Härten, Verbitterung und Selbstgefälligkeit. Gerade der Kern der Farbentragenden war ein unglückliches Konstrukt. Wer in diesen Kreis ohne spezielles Aufgabengebiet bestimmt wurde, wähnte sich oft am Gipfel der persönlich angestrebten Schulkarriere und ließ in den Bemühungen um das Gemeinwohl nach, wie Hahn selbst in einem Brief zugab, während er zur gleichen Zeit Golo Mann gegenüber alle Kritik zurückwies.[145] Hahn ließ kurz darauf das Schulsystem reformieren und eine Verfassung ausarbeiten, die ihren Namen verdiente. Golo Manns »Staatsstreich« während der Abwesenheit des Schulleiters hatte bewiesen, dass weniger die propagierten Werte und das Verantwortungsgefühl das Gelingen der Gemeinschaft bestimmten als vielmehr die integrierende Kraft Kurt Hahns.

Das Ende des Schuljahrs kam näher, und voller Furcht dachte Golo Mann an die kommenden Wochen im Elternhaus,[146] in dem ihm die Ablenkung des Schulbetriebs fehlen musste. Eine Gruppe von Schülern unternahm über Ostern eine Reise nach Süditalien, und er hatte den begleitenden Lehrer gebeten, mitfahren zu dürfen. Obwohl dieser sich dafür aussprach,[147] lehnte Hahn ab. »Gegen Golos Reise nach Italien bin ich unter allen Umständen. Der Junge muss in den Ferien sehr energisch schwedische Gymnastik treiben und massiert werden. Darüber hinaus, wenn die Eltern Geld übrig haben, sollen sie ihm Tennisunterricht bei einem Trainer geben lassen. Aber diesen nervösen, überreizten Gesellen jetzt der südlichen italienischen Atmosphäre auszusetzen, wäre nach meiner Meinung ein Verbrechen.«[148]

Familienbild 1925: Unordnung und frühes Leid

An Geld mangelte es nicht. 1924 war Thomas Manns Zauberberg erschienen, nach Buddenbrooks sein zweiter von der Kritik als Meisterwerk gefeierter Roman, zugleich ein immenser Verkaufserfolg. Ende des Jahres baute man eine Garage und schaffte sich ein Automobil samt Chauffeur an – großer Luxus in diesen Zeiten. Von nun an verging kein Jahr, in dem der Name Thomas Mann nicht als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt worden wäre.[149]

Das Beziehungsgeflecht innerhalb der Familie war kompliziert von Anfang an, von Solidarität, Zuneigung und Unterstützung ebenso geprägt wie von Kälte, Spott, Konkurrenz untereinander und Missachtung, bisweilen sich zu Hass steigernd. Das mag sich in vielen Familie so zutragen, aber bei den Manns, den »Windsors« der Deutschen, wie Marcel Reich-Ranicki sie nannte,[150] spielte sich vieles und manch Intimes durch künstlerische Werke oder journalistische Beiträge auf der öffentlichen Bühne ab.

Nach der kurzen Landerziehungsheim-Episode war zuerst Erika, wenig später auch Klaus Mann ins Elternhaus zurückgekehrt. Während seine Schwester das Abitur an einem Münchner Gymnasium eben so bestand,[151] verweigerte Klaus jegliche Schulanstrengung, sodass er schließlich ohne Abschluss seine Laufbahn als Schriftsteller begann. Den Unterschied zwischen den vier älteren Geschwistern kann man sich kaum groß genug vorstellen. Hier die beiden Salemer Monika und Golo, angehalten zu Ehrlichkeit, Disziplin, Abstinenz von Alkohol und Nikotin, zu Sport, gesunder Lebensweise und gemeinschaftlichem Engagement, dort die mondänen älteren Geschwister, die sich in das Münchner Nachtleben stürzten und als »Dichterkinder« für Schlagzeilen sorgten. Sie machten erste Erfahrungen mit Drogen und erkundeten ihre erotischen Neigungen – die von Klaus richteten sich aufs eigene, Erikas auf beide Geschlechter.

Eine Novelle Thomas Manns sorgte 1925 in der Familie für Aufregung: Unordnung und frühes Leid – die Wirren der Nachkriegszeit im bürgerlichen Haushalt eines Geschichtsprofessors. Die Anleihen bei der Realität, Kunstprinzip Thomas Manns, betrafen hier einmal mehr die eigene Familie. Klaus Mann geriet in Zorn, als er über die Figur, die seine Züge trug, das Urteil des Novellenvaters lesen musste: »Mein armer Bert, der nichts weiß und nichts kann und nur daran denkt, den Hanswurst zu spielen, obgleich er gewiss nicht einmal dazu Talent hat!«[152]

Während Klaus Mann sich bitter über »des Zauberers Novellenverbrechen« beklagte[153] und selbst der Freund Thomas Manns, Ernst Bertram, die angetragene Widmung der Erzählung wegen der »Preisgabe der Kinder« ablehnte,[154] erreichte den Vater der aufgebrachte Brief Paul Geheebs, Leiter der Odenwaldschule, der sich über ein verleumderisches Porträt aus der Feder des Sohnes beklagte. In der Erzählung Der Alte hatte Klaus einen Schulleiter, der sich seinen Schülerinnen sexuell näherte, mit Zügen Geheebs versehen. Thomas Mann versuchte, Geheeb mit dem Hinweis zu besänftigen, Klaus habe »geglaubt, starke Eindrücke der Wirklichkeit mit Erfundenem dichterisch vermischen zu dürfen, ohne sich über die menschlichen Gefahren solchen Tuns klar zu sein«.[155]

So vehement Thomas Mann stets alle Kritik an der Literarisierung seines Umfeldes zurückwies, spürte er im Fall von Unordnung und frühes Leid wohl, dass er recht weit gegangen war. Als ein befreundeter Maler, Hermann Ebers, der für die Buchausgabe der Novelle Zeichnungen anfertigte, diese zu sehr den Vorlagen anglich, sodass die gezeichneten Figuren (bis auf Bert/Klaus) unverkennbar die Züge sowohl von Thomas Mann als auch die seiner Familie trugen, ließ Thomas Mann die Buchausgabe stoppen. Literarische Anklänge an die Realität reichten aus und sollten nicht noch, und gerade nicht in diesem Fall, graphisch unterstützt werden. Erst jüngst sind die Zeichnungen aus dem Nachlass des Malers erstmals publiziert worden.[156]

Auf seine Weise replizierte Klaus Mann in den folgenden Jahren. In der Kindernovelle trat der Vater nur als Totenmaske auf, im Theaterstück Revue zu Vieren (beide 1926) klagte Klaus Mann als Autor und Schauspieler von der Bühne herab die Elterngeneration an, die es leichter gehabt habe, während man selbst ohne Boden unter den Füßen aufgewachsen sei. Der vom wenig schmeichelhaften Porträt des Bert in Unordnung und frühes Leid so schwer Getroffene hätte sich kaum verwundert zeigen dürfen, wenn sein jüngerer Bruder Golo mit ähnlicher Anklage an ihn herangetreten wäre. Sein Porträt als »Fridolin« in der Kindernovelle zeugte auch nicht von ausgeprägtem Takt: Der Novellen-Golo war zwar klug, aber klein, hässlich, dämonisch, unterwürfig und von »sonderbarem Ehrgeiz«.[157]

Thomas Mann unternahm im Juli 1925 mit Katia und den beiden jüngsten Kindern einen Ausflug nach Salem, besuchte den Unterricht und las den Schülern vor, eben aus Unordnung und frühes Leid. Golo Mann freute sich wenig über den Besuch des Vaters und die Lesung aus der indiskreten Novelle – er mag überhaupt den Besuch als Eindringen in sein Terrain empfunden haben. Ein ehemaliger Mitschüler berichtet, während der Lesung habe sich Golo zu ihm und zwei weiteren Schülern hinübergebeugt und geflüstert: »Mein Vater liebt kleine Jungen!«[158]

Die literarischen Taktlosigkeiten in der Familie ärgerten Golo Mann entschieden, auch dann, wenn sie ihn persönlich nicht betrafen. Schon daher bezeichnete er später »das Ding« Unordnung und frühes Leid als eine der schwächsten Erzählungen seines Vaters und wies die Vermutung des Germanisten Hans Mayer, dies liege nur daran, dass er selbst nicht abgebildet sei, scharf zurück: »Da hätte ich unseren Freund denn doch für einen besseren Psychologen gehalten«, schrieb er an Marcel Reich-Ranicki.[159] Ein »liebenswürdig entspanntes Stück« konnte es nur für Außenstehende sein.[160]

Während sein Bruder Klaus im Alter von gerade 26