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Tilmann Lahme

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Beschreibung

Acht Menschen, acht Blickwinkel: So wurde die Geschichte der Manns noch nicht erzählt. Tilmann Lahmes Familienbiographie stützt sich auf zahlreiche unbekannte Quellen. Thomas und Katia Mann und ihre sechs Kinder sind ein Teil der jüngeren deutschen Geschichte geworden, hier stehen strahlender Erfolg neben persönlichem Unglück, Arbeitsdisziplin neben Libertinage. Einzelbiographien aller Familienmitglieder liegen zwar vor, aber nun unternimmt Tilmann Lahme nicht nur eine Gesamtschau, sondern untersucht auf der Grundlage zahlreicher bislang unbekannter Dokumente die unterschiedlichen Konstellationen und Abhängigkeiten. Legenden und Deutungen erscheinen in neuem Licht. Aus den verschiedenen Perspektiven entsteht ein vielschichtiges, ungeheuer lebendiges Bild einer Familie, in der um gegenseitige Anerkennung gekämpft wurde und sich auf einmalige Weise Literatur, Politik und Leben durchdrangen.

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Seitenzahl: 786

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Tilmann Lahme

Die Manns

Geschichte einer Familie

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Inhalt

VorspielI Eine deutsche Familie 1922–193219221923192419251926192719281929193019311932II Im Exil 1933–19361933193419351936III Die amazing family 1937–1939193719381939IV Gefahr und Geld 1940–194119401941V Krieg und Frieden 1942–194619421943194419451946VI Nach Hitler 1946–19521946194719481949195019511952VII Wer kann, der tut 1952–20021952195319541955195619571958–601961–62196319641968–691974–751976–7719811986–942001–02AnhangDie Familie Mann im ÜberblickAbkürzungenKurztitel in den AnmerkungenZur ZitierweiseHinweise zur Literatur über die Familie MannBildnachweiseLeseprobeKatia Mann an Thomas MannMichael Mann an Katia MannKlaus Mann an Katia MannErika Mann an Thomas MannMonika Mann an Thomas MannGolo Mann an Klaus MannErika Mann an Klaus MannKlaus Mann an Katia MannThomas Mann an Golo MannThomas Mann an Monika MannKatia Mann (mit einer Nachschrift von Thomas Mann) an Erika MannMonika Mann an Erika MannMichael Mann an Erika MannElisabeth Mann Borgese an Katia MannGolo Mann an Elisabeth Mann Borgese

Vorspiel

Eine Familie wird ausgebürgert. »Unwürdig, Deutsche zu sein!«, heißt es in den Zeitungen. Die Manns gelten im Dezember 1936 als »Volksschädlinge«.[1] Seit drei Jahren lebt die Familie im Ausland. Drei Jahre hat Thomas Mann gezaudert und geschwankt, nun endlich hat er sein »Herz gewaschen«, wie er das nennt, hat sich öffentlich zur Emigration bekannt und sich damit gegen das Hitler-Regime gestellt. Seine Familie hat diesen Augenblick herbeigesehnt und auf ihn eingewirkt, mal aggressiv wie seine Tochter Erika, mal deutlich wie der Sohn Klaus, mal mit sanfter Bestimmtheit wie der Sohn Golo und die Ehefrau Katia. Golo Mann ist betrübt, aber nicht, weil der deutsche Pass fort ist. Er hätte sich die Ausbürgerung wie seine älteren Geschwister Erika und Klaus gern selbst »verdient«, ist nun aber »etwas klöteriger Weise nur als Sohn betroffen«.[2]

Dass die Nationalsozialisten Thomas Mann und seine Angehörigen erst Ende des Jahres 1936 ausbürgern, ist allein mit politischen Rücksichten zu erklären. Thomas Manns Absage an das Deutschland Hitlers war bereits im Februar veröffentlicht worden. Der deutsche Botschafter in der Schweiz, Ernst von Weizsäcker, Vater des späteren Bundespräsidenten, sprach sich kurz danach dafür aus, dem Nobelpreisträger den Pass abzuerkennen. Ein Gutachten von Himmlers Geheimer Staatspolizei wies zudem darauf hin, dass Thomas Mann im Ausland als der »größte lebende deutsche Dichter« gelte.[3] Das dürfe man nicht länger dulden. Und da man gegen »größte«, »Dichter« und zum Glück auch gegen »lebende« nichts unternehmen kann, geht es wenigstens um das »deutsche«. Die Olympischen Spiele in Berlin hat das Regime noch abgewartet, doch nun, am 2. Dezember, vollzieht man den längst erwarteten und formal mittlerweile unzulässigen Akt der Ausbürgerung; Thomas Mann und die meisten Mitglieder seiner Familie sind bereits seit November tschechoslowakische Staatsbürger.

Michael Mann ist kurz vor Weihnachten 1936 nach Paris gereist. Er prüft, ob er dort seine Ausbildung als Musiker fortsetzen kann. Der Jüngste der Familie, siebzehn Jahre alt, hat wenige Wochen zuvor sein Lehrdiplom für Geige am Konservatorium in Zürich absolviert, im praktischen Prüfungsteil hervorragend, im theoretischen gerade so. Ein musikalisches Talent, wie man ihm und dem in dieser Hinsicht stolzen Vater immer wieder versichert. Und doch muss er das Konservatorium verlassen, wegen eines »Rencontre« mit dem Leiter der Musikschule, wie es die Eltern sanft umschreiben.[4] Michael Mann hat sich gegen eine Ermahnung des Direktors gewehrt, mit einer Ohrfeige.

Seine ein Jahr ältere Schwester Elisabeth macht solche Schwierigkeiten nicht. Liebling des Vaters, Einserschülerin, Matura mit Auszeichnung. Sorgen gibt es gleichwohl: Dass man ihr, die Pianistin werden will, Mittelmäßigkeit bescheinigt, kontert sie mit doppeltem Übungseinsatz. Ihre »Musikversessenheit« vermerkt der Vater betrübt im Tagebuch.[5] Und seit Jahren schon ist sie unglücklich in Fritz Landshoff verliebt, den Freund und Verleger ihres Bruders Klaus, siebzehn Jahre älter als sie. Der wiederum liebt Erika Mann. Und die ihre Freiheit.

Klaus und Erika Mann sind im Herbst 1936 nach New York gereist. Sie will ihr polit-literarisches Kabarett Die Pfeffermühle, mit dem sie im europäischen Exil große Erfolge gefeiert und Nationalsozialisten und deren Sympathisanten zur Weißglut gereizt hat, in Amerika groß herausbringen. Ihre Laune ist hervorragend: »ich bin sehr gerne hier. Es gibt hier, zum ersten Mal, seit vielen Jahren […], ein Gefühl von Sinn, Verstand und 1000 Möglichkeiten.«[6] Doch erste Zweifel kommen ihr auch: Ob man die Peppermill in Amerika nicht besser auf Englisch bieten muss? Was aber machen, da in der Truppe keiner so recht die Sprache beherrscht?

Tief verstimmt läuft Klaus Mann durch die Straßen von New York. Der Roman Mephisto ist soeben auf Deutsch in Amsterdam erschienen, seine Abrechnung mit Deutschland und mit Gustaf Gründgens, dem Schauspieler und Exschwager, der auch unter Hitler, Goebbels und Göring weiter Karriere macht. Es wird Klaus Manns berühmtestes, umstrittenstes Buch. Die amerikanischen Verleger wollen den Roman nicht haben. Vorträge, die könne er gern halten, sagt ihm seine Agentin, und zwar zum Thema My father and his work.[7] Einen prophetischen Satz hat sich Klaus Mann in diesem Jahr ins Tagebuch geschrieben: »Was für eine sonderbare Familie sind wir! Man wird später Bücher über uns – nicht nur über einzelne von uns – schreiben.«[8]

Monika Mann ist die Zuversicht abhandengekommen, unabhängig von politischer Lage und dem Verlust ihres deutschen Passes. Die Eltern sorgen sich, weil ihre Tochter mit einem Mal zu entdecken scheint, was sie längst sehen: die Sinn- und Perspektivlosigkeit ihres Lebens, ihres Tuns – derzeit ist es, nach Schulabbruch, Gesangsstunden und Kunstgewerbeschule das Klavierspielen. Da wäre selbst der Familienpsychiater Erich Katzenstein – bei dem vier von sechs Kindern in Behandlung sind – machtlos, schreibt die Mutter an Klaus. Das »malheur« im Fall Monikas sei »ganz offenbar irreversibel«.[9] Selbst das Weihnachtsfest, das wichtigste Familienfest gleich nach dem Geburtstag des Vaters, wird getrübt »durch das arme Mönle«, so Thomas Mann, »die eine Krise hatte und sich auch durch den persönlichen Besuch beider Eltern an ihrem Bette nicht bewegen ließ, herunterzukommen«.[10]

Thomas Mann sitzt zwischen Monika-Krise und Festessen an einem Brief an die Universität Bonn, die ihm als Folge der Ausbürgerung den 1919 verliehenen Ehrendoktor entzogen hat. Auf seinen jüngsten Ehrendoktor der Universität Harvard will er, wie nebenher, hinweisen und die Prophezeiung aussprechen, die er schon länger im Gepäck führt: »Sie« – die deutschen Machthaber, die ihm sein Deutschtum absprechen – »haben die unglaubwürdige Kühnheit, sich mit Deutschland zu verwechseln! Wo doch vielleicht der Augenblick nicht fern ist, da dem deutschen Volke das Letzte daran gelegen sein wird, nicht mit ihnen verwechselt zu werden.«[11] Der Bonner Brief, schon Tage später gedruckt, wird das berühmteste Manifest der literarischen Emigration.

Wenige Wochen später trifft sich eine Gruppe von Kommunisten heimlich in einer Wohnung in Berlin-Grunewald, darunter der sechzehnjährige Literaturliebhaber Marceli Reich. Sein Schwager hat ihn mitgebracht, er übernimmt gelegentlich Botendienste für die Untergrundbewegung. »Alle schwiegen, in dem halbdunklen Zimmer war es etwas unheimlich.« Eine illegale Schrift wird vorgelesen, der Bonner Brief von Thomas Mann, der als Tarndruck und in Abschriften in Deutschland kursiert. Marceli Reich ist nervös, der Autor der Buddenbrooks bedeutet ihm viel, die Erzählung Tonio Kröger nennt er das prägende Literaturerlebnis seiner Jugend, die »Bibel jener, deren einzige Heimat die Literatur ist«. Die Frage, wie sich Thomas Mann zum ›Dritten Reich‹ stellt, ist entsprechend wichtig für ihn. »Nach dem letzten Satz des Briefes wagte niemand etwas zu sagen. Der den Text gelesen hatte, schlug vor, dass wir eine Pause machen und uns dann über das Prosastück unterhalten wollten. Ich benutzte die Pause, um zu danken und mich zu verabschieden. Ich möchte, sagte ich, nicht zu spät nach Hause kommen, da ich am nächsten Tag eine wichtige Klassenarbeit zu schreiben hätte. Das war gelogen. In Wirklichkeit wollte ich allein sein – allein mit meinem Glück.«[12]

Marcel Reich-Ranicki, der dem Holocaust nur knapp entkommt, wird sich später als einflussreichster Literaturkritiker deutscher Sprache immer wieder mit Thomas Mann und den Seinen beschäftigen. »Ich glaube«, schreibt er einmal, »dass es in Deutschland in diesem Jahrhundert keine bedeutendere, originellere und interessantere Familie gegeben hat als die Manns.«[13]

IEine deutsche Familie 1922–1932

Rebellion im Dichterhaus. Die ältesten Mann-Kinder begehren auf. Die Schule und ihre Lehrer nehmen Erika und Klaus Mann ohnehin nicht ernst. Und mit ihrer »Herzogparkbande« terrorisieren sie die Münchner Nachbarschaft. Mahnungen und gutes Zureden ignorieren sie freundlich. Die Eltern, die nur ungern durchgreifen, ringen sich schließlich zu einem Machtwort durch.

Harmlos hat es angefangen. Während in München die Revolution nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die alte Ordnung beseitigt hat, haben Erika und Klaus Mann am 1. Januar 1919 mit ihrem Freund Ricki Hallgarten eine Theatergruppe gegründet. Zum Laienbund deutscher Mimiker, wie sie sich nennen, gehören bald auch andere Jugendliche wie Gretel und Lotte Walter, die Töchter des Dirigenten Bruno Walter, Nachbar und Freund der Manns, oder der einige Jahre ältere, literarisch interessierte Wilhelm Emanuel Süskind; auch die Geschwister Monika und Golo Mann dürfen gelegentlich mitspielen. Golo ist in Lessings Minna von Barnhelm als Dame in Trauer ein großer Lacherfolg.

Die älteren Mimiker erweitern bald ihre Bühne. Erika, Klaus und die Walter-Töchter spielen den Leuten in der Münchner Trambahn oder auf der Straße vermeintlich reale Szenen vor, in denen sie von sadistischen Tierquälereien berichten oder sich vor Bedrohung durch böse Männer fürchten; sie unternehmen Telefonstreiche, bei denen besonders Erika mit ihrem Imitationstalent überzeugt; und sie begehen immer trickreichere Ladendiebstähle. Was als harmloser Spaß gedacht war, gerät ins Kriminelle.[14] Der Höhepunkt ist ein Fest, das die »Herzogparkbande« im Frühjahr 1922 zu Ehren eines befreundeten Schauspielers gibt – mit ausschließlich gestohlenen Lebensmitteln. Die Sache fliegt auf. Jetzt reicht es den Eltern: Sie schicken die sechzehn Jahre alte Erika und den fünfzehnjährigen Klaus ins Internat.

Die Ältesten sind nicht die Einzigen, die den Eltern Sorgen bereiten. Golo Mann, 1909 geboren, bekommt zu Ostern sein Jahreszeugnis der vierten Klasse (heute Klasse 8) im renommierten Wilhelmsgymnasium. Er ist sitzengeblieben. Golo sei zweifellos begabt, schreibt sein Klassenlehrer in der »Besonderen Schulzensur«, habe aber wegen seines »großen Unfleißes« in Griechisch und in Mathematik ein »ungenügend« erhalten. »Durch List und Schwindel – er ist da sehr erfinderisch – sucht er, seine Faulheit zu verstecken«.[15] Der dreizehnjährige Golo, der seit früher Kindheit zu hören bekommt, wie hässlich und ungeschickt er ist, findet in der Familie nur schwer einen Platz neben den großen Geschwistern, die mit Witz, Charme und Frechheit für sich einnehmen. Jetzt trägt er auch noch diese Niederlage, das Zeugnis des Sitzenbleibers, nach Hause.

Monika, das vierte Mann-Kind, 1910 geboren, lässt ebenfalls nicht gerade auf eine erfolgreiche Schulkarriere hoffen. Die verträumte, sich meist etwas abseits haltende Tochter sei von »liebenswerte[r] Dummheit«, hat die Mutter ihrem Mann einmal geschrieben, ein Urteil, das im Kern Bestand hat und nur im Fall des Adjektivs variiert wird.[16] Im Mai 1922 besucht Monika die Quinta (heute Klasse 6) des Luisengymnasiums in München. In den Worten ihrer Mutter: »Moni trottet stumpfsinnig in die zweite Klasse.«[17]

Nach wenigen Wochen in der Bergschule Hochwaldhausen, einem reformpädagogisch orientierten Internat in der Nähe von Fulda, schickt Klaus Mann einen Brief nach Hause. Er sei gerade mit Erika über das Pfingstwochenende zu Bekannten nach Frankfurt gefahren. Sie hätten es sich dort mit reichhaltigen Mahlzeiten und Theaterbesuchen gutgehen lassen (»weit über Münchner Niveau«). Fahrt, Essen, Theaterkarten und Trinkgelder seien aber teuer gewesen. Er brauche sofort 100 Mark, und damit fast doppelt so viel, wie ein Kindermädchen bei den Manns im Monat verdient.[18] Um Erlaubnis hätten sie vorher nicht fragen können, meint Klaus Mann: Es sei alles ganz spontan entstanden. Erika Mann fügt dem Brief eine Nachschrift hinzu. Ihr Bruder behandle die Sache mit den 100 Mark wohl etwas »bagatellenmäßig«, meint sie. »Aber es war so schön.«[19]

Wenig später berichtet Klaus Mann vom Leben im Internat wenig Gutes. Die oberen Klassen rebellieren gegen die Schulleitung, und die Mann-Kinder helfen tatkräftig mit. Nicht einmal das Theaterspielen versöhnt mit dem ungeliebten Internat. Klaus und Erika Mann haben für eine Schulaufführung die Hauptrollen in Büchners Leonce und Lena übernommen, trotzdem wollen sie nur weg. »Unser Aufenthalt hier ist weniger traurig für uns, als vollkommen zwecklos«, schreibt Klaus Mann den Eltern. Die Rückkehr nach München sei das einzig Sinnvolle. »Ich hoffte hier Kraft zu finden, die ich an mir vermisste, und finde Schwäche, die sich hinter deutschem Turnlehrertum verkriechen möchte.« Er lerne auch viel zu wenig, und die »verdammte ›praktische Arbeit‹« missfällt ihm ebenso wie das schlechte Essen. Wenn er bedenke, schreibt er noch, »was uns in München dagegen (abgesehen vom Unterricht) geboten wurde«.[20]

Abb. 1 Klaus und Erika Mann als Leonce und Lena

Die Eltern sind fassungslos. »Wir haben den Entschluss, Euch fortzugeben, nicht so ohne weiteres gefasst«, schimpft Katia Mann in einem Brief an Erika, und wenn Klaus nun »einfach schreibt, wenn er bedächte, was Euch in München, und was in Hochwaldhausen geboten würde, so sei Euer Aufenthalt dort der reine Unsinn, so ist das eine nicht ganz richtige Auffassung«. Vom Schulleiter der Bergschule, Otto Steche, habe sie mittlerweile einen Brief bekommen. Über Erika spreche er sich »außerordentlich günstig« aus. »Von Klaus entwirft er eine Charakteristik, die ich für absolut treffend halte, wenn sie mich auch nicht beglückt.« Die Gründe, warum die Eltern sie beide ins Internat geschickt hätten, bestünden schließlich immer noch, meint Katia Mann; »und nur wenn ihr Euch wirklich ändert, wenn heimliche Kino- und Schauspieler-Besuche, Schwindeleien jeglicher Art, das ganze Unwesen mit Walters […] ein Ende haben, kann ein erfreuliches Zusammenleben möglich sein«.[21] Wenig später verlassen Klaus und Erika Mann die Bergschule und kehren zurück nach München. Der Schulleiter Otto Steche hat seine Lektion gelernt. Mit pubertierenden Großstadtkindern will er nichts mehr zu tun haben. Er schließt die oberen Klassen seines Internats.

Um das Treiben seiner Kinder kümmert sich der Vater nicht. Die Erziehung liege ganz in den Händen der Mutter, hat bereits das Wilhelmsgymnasium im Bericht über Klaus Mann festgestellt, mit kritischem Beiklang: »Der Vater, der Schriftsteller Thomas Mann, erkundigte sich nie nach seinem Sohn«.[22] Die Belange der Familie, des Haushalts, der Bediensteten und immer stärker auch der Finanzen, all dies ist Sache Katia Manns. Sie muss vor allem dafür sorgen, ihrem Mann den Arbeitsfrieden zu sichern. Der Alltag dringt nur selten und gefiltert in seine Schreibtischwelt. Hauptsache, es herrscht Ruhe, wenn er arbeiten will – für eine große Familie mit nunmehr sechs Kindern, vier Hausangestellten und einem empfindlichen Schriftstellervater, dessen Arbeitszimmer im Zentrum der herrschaftlichen Villa in der Münchner Poschingerstraße liegt, kein ganz leichtes Unterfangen.

Thomas Mann hat schwere Zeiten hinter sich. Im Alter von 26 Jahren veröffentlichte er 1901 den Roman, der ihn berühmt machte: Buddenbrooks, die Verfallsgeschichte einer Kaufmannsfamilie, in der Eingeweihte die Lübecker Familie des Autors erkennen. Inzwischen liegt die Erstveröffentlichung von Buddenbrooks über zwanzig Jahre zurück. Den zweiten Roman, Königliche Hoheit, hat die Kritik eher kühl aufgenommen. Mancher Schreibplan bleibt ein Entwurf. Aus all dem, womit Thomas Mann selbst nicht ganz zufrieden ist in diesen Jahren, ragt die Novelle Der Tod in Venedig heraus, die Geschichte eines berühmten, alternden Schriftstellers, der sich in Venedig in einen Jungen verliebt und dem Rausch der Gefühle hingibt, aus der Distanz zwar, aber bis zum Verlust der eigenen Würde und damit zum Tod. Ein Meisterwerk, Thomas Mann weiß es selbst: »Es scheint, dass mir hier einmal etwas vollkommen geglückt ist«.[23] Begonnen hat Thomas Mann eine Erzählung, die in einem Schweizer Hochsanatorium für Lungenkranke spielt. Doch den Zauberberg, angeregt von einem langen Sanatoriumsaufenthalt Katia Manns in Davos, hat er unterbrochen, als der Erste Weltkrieg ausbricht.

Mit einem Mal spürte der ehrgeizige Schriftsteller, dessen Werk und Denken bislang um Ästhetisches, um Künstler und Außenseiter kreiste, den Drang, sich politisch zu positionieren. Seinen Kriegsdienst leistete Thomas Mann, der dank literarisch verständiger Ärzte vom wirklichen Soldatentum verschont blieb, am Schreibtisch, mit patriotischen Texten, die den Krieg und den deutschen Obrigkeitsstaat verteidigten.

Der ältere Bruder Heinrich Mann sah es anders. Kurz vor Kriegsbeginn war der erste Teil seines neuen Romans vorab in Fortsetzungen in einer Zeitschrift erschienen: Der Untertan, eine grelle Satire, die den Obrigkeitsgeist des kaiserlichen Deutschlands scharf angreift. Nach Kriegsbeginn stellte die Zeitschrift den Vorabdruck ein. Das Buch wurde nicht gedruckt. Inmitten der Kriegsbegeisterung, die auch Thomas Mann erfasst hat, war die kritische Haltung von Heinrich Mann eine einsame Position. Die Brüder stritten sich, die literarische Rivalität und alte Verletzungen vermischten sich mit den politischen Gegensätzen. Schließlich herrschte feindliches Schweigen, über Jahre. Thomas Mann schrieb in dieser Zeit die Betrachtungen eines Unpolitischen, einen immer weiter ausgreifenden Essay über geistige und politische Fragen, in dem er auf 600 Seiten die westliche, aufklärerische Demokratie und – ungenannt – den eigenen Bruder angreift. Als der Krieg längst verloren war, veröffentlichte Thomas Mann im Herbst 1918 seinen gewaltigen Essay.

Zu Beginn des Jahres 1922 versöhnen sich die Brüder, eine schwere Erkrankung Heinrich Manns bietet den Anlass. Thomas Mann bewegt sich innerlich auf die Weimarer Republik zu – und damit auch auf den Bruder, der mit seinem Untertan nun großen Erfolg hat und einer der geistigen Repräsentanten des neuen, demokratischen Staates ist; eine Rolle, die auch Thomas Mann anstrebt. Er sieht sich als geborener Repräsentant, nicht als Oppositioneller. Kurz nach der brüderlichen Versöhnung lernt er bei der Eröffnung der »Goethe-Woche« in Frankfurt den sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert kennen. Ein erster Schritt auf seinem Weg zur Demokratie.

Und die Kinder? Nach dem kurzen Internatsabenteuer soll Erika Mann erneut das Münchner Luisengymnasium für Mädchen besuchen. Sie schafft die Aufnahmeprüfung, gerade so. Der Fall ihres Bruders Klaus ist komplizierter. Sein schulischer Rückstand ist noch größer als der seiner Schwester, und seine Neigung, sich den Ermahnungen von Eltern oder Lehrern zu beugen, ist noch geringer. Er will Schriftsteller werden, wozu also Abitur, der Vater hat ja auch keines. Eine erfolgreiche Schulkarriere sieht Katia Mann für ihren Sohn kaum, und schon gar nicht in München, bei all dem, was Klaus dort außerhalb der Schule »geboten« bekommt.

Im August fährt die Mutter mit Klaus in das Internat Schloss Salem am Bodensee und prüft, ob der Sohn seine Schulausbildung dort fortsetzen kann. Thomas Mann ist derweil an die Ostsee gefahren. Offenbar hat er die Reise sogar mit dem versöhnten Bruder Heinrich unternommen. Katia Mann jedenfalls macht sich Sorgen. »Bin doch sehr neugierig«, schreibt sie ihrem Mann, »wie Du auf die Dauer mit dem Heinrizi herumreist. Du bist doch bis jetzt schließlich immer nur mal eine Stunde mit ihm zusammen gewesen, und ein gewagtes Experiment ist es doch. Ärgere Dich nur nicht, und lasse Dich nicht tyrannisieren.« Vom Internat Salem berichtet sie auch. Sie habe »vorwiegend günstige Eindrücke«, schreibt sie. Vor allem der Schulleiter Kurt Hahn imponiert ihr, der es »mit seinem Erzieherberuf ungewöhnlich ernst zu nehmen scheint, und ethisch und intensiv wirkt«. Hahn war der wichtigste Berater des letzten Kanzlers des deutschen Kaiserreichs, Prinz Max von Baden. 1920 hat er im Barockschloss des Prinzen Max Schule und Internat gegründet. Hahn sei von Klaus »bis zur Erschütterung begeistert« gewesen, fährt Katia Mann in ihrem Bericht fort. Trotzdem habe er abgelehnt, ihn in Salem aufzunehmen. Das Gemeinschaftsleben und die eher sportlich-praktische Ausrichtung des Internats seien nicht das Richtige für ihn. Zwischen den anderen Schülern in Salem, Hahn zufolge »durchwegs von geistig schlichter bis einfältiger Art«, müsse sich Klaus »allzu vereinsamt« fühlen. Hahn habe für den »wundervollen, aber gefährdeten Knaben« die Odenwaldschule vorgeschlagen. Er wolle gern eine Empfehlung dorthin schreiben.[24]

Hahns Stellvertreterin Marina Ewald schreibt den Brief an die Odenwaldschule. Darin liest sich der Eindruck, den man in Salem gewonnen hat, anders als im Bericht der Mutter. Klaus Mann sei ein »ungewöhnlich begabter und fein veranlagter Junge«, heißt es zwar, und er habe »sehr ernsthafte geistige Interessen«. Andererseits sei er aber »durch vieles Lesen sehr früh an die meisten Probleme des menschlichen Denkbereichs herangetreten« und habe »seine Kindlichkeit und Natürlichkeit bei dieser Art geistiger Tätigkeit eingebüßt«. In Salem habe man den »Eindruck eines überaus manierierten, selbstgefälligen, frühzeitig gereiften und fähigen Jungen« gewonnen, »dessen Lebenskraft angeknaxt ist und der das natürliche Interesse an seiner Umwelt verloren hat und seine künstlich herangebildete Unfähigkeit in allen Dingen des praktischen Lebens mit Eitelkeit kultiviert und unter einer Verachtung der Welt der Tat und [des] Handelns bemäntelt«.[25] Das Empfehlungsschreiben ist eher eine Warnung. Die Odenwaldschule nimmt Klaus Mann dennoch auf.

Thomas Mann nutzt den Ferienaufenthalt auf Usedom an der Ostsee, um einen Text zu schreiben, in dem er sich zur Demokratie bekennt. Aus einem Geburtstagsartikel für Gerhart Hauptmann, den er den »König der Republik« nennt, macht er ein demokratisches Manifest. Sein letzter Anstoß zu diesem Schritt war der Mord am Reichsaußenminister Walther Rathenau im Juni, begangen von jungen Männern einer rechtsradikalen Terrororganisation. Ein »schwerer Choc« für Thomas Mann, der sich aufgerufen fühlt, der »Jugend, die auf mich hört, ins Gewissen« zu reden.[26] Mit der politischen Wirklichkeit der Weimarer Republik hat Thomas Manns Rede Von deutscher Republik, die er am 13. Oktober in Berlin hält, so viel zu tun wie die Betrachtungen eines Unpolitischen mit der Realität des Ersten Weltkriegs: sehr wenig. Sein Bekenntnis ist das Wort eines Vernunftrepublikaners, der sich mit den Gegebenheiten abfindet. Die Argumente und die Gewährsleute, auf die er sich stützt, von Novalis bis Nietzsche, sind in demokratischer Hinsicht wenig überzeugend. Was zählt, ist das Bekenntnis zur Republik an sich. Und wenn Thomas Mann auch nur vage weiß, wofür er eintritt, so weiß er doch sehr klar, wogegen er sich wendet: gegen die völkischen, nationalistischen und antisemitischen Republikfeinde, die den Weimarer Staat mit Hetze, Straßenkampf und Mord bekämpfen. Entsprechend fallen die öffentlichen Reaktionen aus: Die rechte Presse hat einen neuen Feind entdeckt, den man für einen Verbündeten hielt. Mann über Bord titelt eine Zeitung.[27]

Klaus Mann berichtet im Herbst von seinem neuen Leben in der Odenwaldschule, von der liberalen Atmosphäre, dem frühen Aufstehen, dem Unterricht (»ungemein glimpfliche, kleine Kurse«), von Sport und praktischer Arbeit (»grausig«). Sein Defizit in diesem Bereich, das schon der Brief aus Salem beklagt hat, soll ausgeglichen werden: »Gott strafe England«, flucht er im Brief an Erika. »Ich muss immer Holz hacken. Wundert Euch nicht, wenn ich einhändig zurückkomme.« Das Leben im Internat sei aber »nicht so übel«. Nur brauche er dringend Schokolade. »Ich kann ohne Chokolade nun einmal nicht dichten. Annette Kolb konnte nur im Caféhaus was zuwege bringen. Ich finde mich eigentlich noch interessanter.«[28] Die Schwester möge den Brief ruhig den Eltern zeigen. »Ach – mein’ Ruh’ ist hin«, schreibt er in einem der nächsten Briefe. »Ich liebe doch leider den Knaben Uto und muss viel kostbare Geschenke für ihn erhandeln, da er so sehr nett ist. Außerdem verschlingen unsere Teeabende mit Schminke, Chokolade und ›Zarathustra‹-Lektüre diverse Sümmlein.« Dieses »kleine Kulturdokument« brauche den Eltern »nicht in die Hände zu fallen«[29], ergänzt Klaus Mann, ohne auszuführen, ob er seine Nietzsche-Lektüre, das Schminken, die Verliebtheit in einen Mitschüler oder alles zusammen nicht für elterntauglich hält. Als Thomas Mann sich im Oktober auf Vortragsreise befindet, schreibt ihm seine Frau, sie höre wenig von Klaus. Sie habe aber »den Verdacht, dass er sich in der Odenwaldschule zu einem egoistischen Genüssling entwickelt«.[30]

Die Mutter stirbt. Im März 1923 eilen Thomas und Heinrich Mann an Julia Manns Sterbebett. Die Geschwister Viktor und Julia sind auch da – die Schwester Carla hat sich 1910 das Leben genommen. Julia Mann, die Witwe des Kaufmanns und Senators der Hansestadt Lübeck, Thomas Johann Heinrich Mann, hatte den Norden bald nach dem Tod ihres Mannes und dem Verkauf der Firma 1893 verlassen und sich mit den jüngeren Kindern in München angesiedelt. Thomas Mann folgte nach Beendigung seiner unrühmlichen Schullaufbahn nach. Unter dem Streit ihrer Söhne hat Julia Mann in den vergangenen Jahren schwer gelitten. Jetzt verabschieden sich die versöhnten Brüder gemeinsam von der geliebten Mutter. Die Mann-Kinder haben ihre Großmutter, die in den letzten Jahren wie getrieben von Pension zu Pension zog, nicht gut gekannt. Zur Beerdigung auf dem Münchner Waldfriedhof nehmen Katia und Thomas Mann nur Erika mit. Den Erinnerungen ihres Bruders Golo zufolge macht die Schwester sich hinterher über die ungeschickte Rede des Pfarrers lustig und erzählt, »nicht ohne Stolz«, sie habe die Brüder Heinrich, Thomas und Viktor »alle drei weinen sehen, jeden für sich, in einem anderen Moment«.[31]

Im Mai schreibt Thomas Mann einen Sorgenbrief an Paul Geheeb, den Leiter der Odenwaldschule – in diesem Fall kümmert sich der Vater persönlich. Zum einen machen die Schulkosten in Zeiten der Wirtschaftskrise und der Inflation, die sich 1923 zu einer schwindelerregenden Geldentwertung entwickelt, der Familie zu schaffen. Mehr als 100000 Mark im Monat könne er für Klaus nicht zahlen, schreibt der Vater. Wichtiger noch ist ihm der Hinweis, dass er Geheebs pädagogische Milde im Fall von Klaus mit Skepsis betrachte. Als Eltern hätten sie die Hoffnung, Klaus könne erst das Abitur absolvieren, um danach »in einen Beruf einzutreten, der seinen dichterischen Neigungen irgendwie verwandt ist, etwa in einen Verlag oder eine Dramaturgenstellung«. Der »weiche, mit sich selbst äußerst zärtliche Junge« benötige auf diesem Weg aber »feste Führung«, meint der Vater.[32]

Wenig später beschließt Klaus Mann, die Odenwaldschule zu verlassen. Er sei dankbar, schreibt er Paul Geheeb, für die große Freiheit, die man ihm gewährt habe – zuletzt scheint der Schulleiter ihn von den meisten Internatspflichten freigestellt zu haben, um dichten zu können. Das hat Thomas Mann mit »fester Führung« vermutlich nicht gemeint. Die »Atmosphäre, die Luft einer derartigen Anstalt« sei dennoch nichts für ihn, schreibt Klaus Mann. Er könne im Internat »nicht so schaffen, wie ich fühle, dass ich’s sonst könnte«. Ob er einen Ort finde, wo er »ganz daheim« sein werde, wisse er nicht, fügt er hinzu. »Überall werde ich – Fremdling sein.«[33]

Klaus Mann kehrt ins Münchner Elternhaus zurück, sein Bruder Golo hat es gerade verlassen. Nach dem Sitzenbleiben besuchte er für ein Schuljahr das Alte Realgymnasium in München. Die Noten wurden besser, aber der Wunsch nach Abstand zur Familie, in der Golo Mann sich nicht wohl fühlt, ist groß. Schon beim missglückten Versuch im Sommer 1922, Klaus im Internat Salem unterzubringen, hat die Mutter an ihren Sohn Golo gedacht. Die Gemeinschaft mit Gleichaltrigen, der Sport und die Arbeit mit den Händen, zu der die Schüler verpflichtet sind, wären »genau das Richtige« für ihn, schrieb sie damals an Thomas Mann.[34] Während Klaus mit Privatunterricht darauf vorbereitet wird, an einem Münchner Gymnasium das Abitur anzugehen, fährt Katia Mann im Dezember mit Golo nach Salem, um ihn dem Schulleiter vorzustellen. Diesen Mann-Sohn nimmt Kurt Hahn auf. Zum Beginn des Schuljahres 1923 bezieht Golo Mann ein karges Zimmer im Nordflügel des Schlosses, das er sich mit neun Mitschülern teilt. Neben dem Unterricht gehören zu seinem Alltag nun Sport, Werk- und Landarbeit, Geländespiele und Kriegsübungen sowie Rad- und Wanderausflüge. Eine vollkommen neue Welt für den Dichtersohn. Sie gefällt ihm sofort.

Thomas Mann bemüht sich, mit Artikeln und Lesungen im Ausland Geld zu verdienen, das nicht, wie die deutsche Mark, in grotesker Geschwindigkeit seinen Wert verliert. Für Erika und Klaus Mann hingegen ist die Hyperinflation des Jahres 1923 ein großes Abenteuer. Sie haben sich mit Theodor Lücke angefreundet, einem Devisenspekulanten, fünf Jahre älter als Erika, der von der großen Krise mit Frechheit und Geschick profitiert. Mit ihm und auf seine Rechnung sowie mit W.E. Süskind, Ricki Hallgarten und einer neuen Freundin, Pamela Wedekind, der Tochter des verstorbenen Dichters Frank Wedekind, gehen sie zum Essen in die teuersten Restaurants und feiern in den exklusiven Nachtclubs von München. Eine Reise nach Berlin, um das Nachtleben der Hauptstadt kennenzulernen, haben sie auch unternommen und den Eltern erzählt, sie gingen in Thüringen wandern.[35] Wieder bleibt das Treiben der Ältesten den Eltern nicht lange verborgen, und nicht nur ihnen. Der Onkel Heinrich und seine Frau Mimi, selbst Eltern einer siebenjährigen Tochter, sprechen beiden ernsthaft ins Gewissen. Thomas Mann dankt Bruder und Schwägerin dafür, »dass ihr halft, den schlimmen, instinktlosen Kindern den Kopf zu waschen. Gott wecke ihnen den Verstand mit der Zeit«.[36] Sinn und Interesse für Politik, einen Blick dafür, dass Wirtschaftskrise und Geldentwertung den Menschen den Boden unter den Füßen wegziehen und das Vertrauen in den Staat nachhaltig beschädigen, haben die ältesten Mann-Kinder zu dieser Zeit nicht.

Im neuen Jahr muss sich die Familie Mann wieder einmal auf eine Phase ohne die Mutter einstellen. Katia Mann ist krank und wird, wie so oft in den vergangenen Jahren, von ihrem Arzt in ein Sanatorium geschickt. In München kümmern sich die Hausbediensteten um den Alltag, das Essen und die Kinder, vor allem um die fünfjährige Elisabeth und um ihren vierjährigen Bruder Michael. Erika Mann führt die Aufsicht und bereitet sich auf das Abitur vor. Der Vater verlässt sein Arbeitszimmer, wie gewohnt, nur selten.

Am 1. Februar 1924 schreibt Katia Mann aus dem Sanatorium Clavadel in Davos. Der Sanatoriumsarzt habe sie gestern untersucht, mit der Lunge sei alles in Ordnung. »Prophylaktisch« sei es aber gut, habe der Arzt gesagt, dass sie in ihrem geschwächten Zustand, für den er »psychische Ursachen« vermutet, hergekommen sei. Sie solle vier bis sechs Wochen bleiben und sich stärken, an Gewicht zunehmen und Liegekuren und Spaziergänge machen. Normalerweise gerät Katia Mann während eines Aufenthalts im Sanatorium in nachdenkliche Stimmung. Manchmal lässt sie dann brieflich Kritik an ihrem Mann anklingen, dass er zu selten schreibe und nicht einmal ihre Briefe genau lese. Im Oktober 1920 hat sie Thomas Mann sogar mit der Frage konfrontiert, ob es nicht doch ein Fehler gewesen sei, das Leben »so ausschließlich auf Dich und die Kinder zu stellen«.[37] Nichts davon dieses Mal. Vergnügt erzählt Katia Mann vom guten Essen oder einem kuriosen Konzert, das man für die »Lungesträflinge« veranstaltet habe, von denen einige auf Tragen in den Saal gebracht wurden.[38] Sorgen klingen nur zu einem Thema an: »Hoffentlich geht es mit dem Aissi einigermaßen«, schreibt Katia Mann mit Blick auf den teuren privaten Unterricht für Klaus, dem sein Kindername »Aissi« oder »Eissi« in der Familie anhängt. »Wenn der Aissi sich durch diese Kosten nur ein bisschen verpflichtet fühlte!«[39]

Anfang März hat sich diese Hoffnung verflüchtigt. Thomas Mann informiert seine Frau, dass Klaus sich entschieden weigert, weiter zu lernen. Er wolle keinesfalls noch einen Tag im Leben in die Schule gehen. Der Vater sieht keine Chance, ihn umzustimmen, und hat die Privatlehrer entlassen. »Natürlich hätte ich genauso entschieden«, schreibt Katia Mann aus Davos. »Wenn es dem Jungen so entsetzlich contre cœur ist, hat es keinen Zweck auf dem Abitur zu bestehen, ganz abgesehen davon, dass man es ja doch nie erreichen würde. Es war eben ein letzter, gut gemeinter Versuch, dessen Fehlschlagen ich nicht zu tragisch nehmen will, da ich, wie Du annimmst, ja selbstverständlich darauf gefasst war.«[40]

Erika Mann hingegen schafft ihr Abitur zu Ostern 1924. Ihr Ehrgeiz ist darauf gerichtet, es mit Charme und Witz zu absolvieren, nicht mit Lernen und Leistung. Das gelingt ihr ausgezeichnet: Ihr Abiturzeugnis verzeichnet die Note »mangelhaft« in den Fächern Latein, Französisch, Englisch, Mathematik, Physik und Chemie – wie das Gymnasium ihr damit bescheinigen kann, sie sei »befähigt für den Übergang an die Hochschule«, ist ein Münchner Geheimnis.[41] Erika Mann freut sich jedenfalls, dass sie den »Kampf um das Nicht-Durchfallen« gewonnen hat. Schon wenig später zieht sie nach Berlin, um sich in der Schauspielschule des berühmten Max Reinhardt ausbilden zu lassen. Das »Sau Sau Sau Sau-Kotz-Abitur« habe sie glücklich hinter sich gebracht, schreibt sie der Freundin Lotte Walter im Mai aus der Hauptstadt, »und jetzt lebe ich hier wie ein Halbgott. Ich studiere, filme und bin zum Herbst am deutschen Theater engagiert – für garstige kleine Röllülein –, aber immerhin«.[42]

Kurz nach Erika Manns Abitur am Luisengymnasium muss ihre Schwester Monika die Schule verlassen. Wenig weiß man über die Gründe. Sie hat sich wohl einem Lehrer unangemessen genähert. Er habe sie ins »Unstatthafte« gelockt, schreibt sie später in ihren Memoiren,[43] ohne die Wolken vor dieser Erklärung zu vertreiben. Für einige Monate besucht Monika, die im Juni vierzehn Jahre alt wird, in München das St.-Anna-Gymnasium für Mädchen. Ihre Noten sind katastrophal: »mangelhaft« in Religion, Deutsch, Englisch, Erdkunde, Rechnen, Naturkunde und Physik, in Geschichte und Stenographie sogar »ungenügend«. Ein »hervorragend« bekommt sie im Singen, immerhin.[44] Im Herbst meldet Katia Mann die Tochter in Salem an. »Bist Du zornig?«, schreibt sie Erika, die mehr und mehr die Vertraute der Mutter wird. »Dass ich so gegen Deinen ausgesprochenen Rat Moni nach Salem gab, war ja wohl auch recht unartig.« Erika Mann muss argumentiert haben, dass ihre Schwester angesichts des Vorgefallenen in einem Internat, das Jungen und Mädchen gemeinsam besuchen, nicht gut aufgehoben ist. Die Mutter sieht das anders. Der Geist des Ortes, die Atmosphäre sei entscheidend, und wenn diese »so ethisch und unerotisch wie in Salem ist, sind die Gefahren der Koedukation nicht allzu groß«. Der Bruder Golo sei sehr zufrieden im Internat, und Monika müsse für eine Weile das Elternhaus verlassen, meint Katia Mann, so »muffig und unerfreulich«, wie sie zuletzt gewesen sei. Der Schuldirektor des Luisengymnasiums habe sich erstaunt darüber geäußert, berichtet Katia Mann noch, wie unterschiedlich die beiden Schwestern seien. Dem »scharfsichtigen Mann« zufolge habe Monika »manchmal geradezu etwas von einem Dienstmädchen in ihrem Niveau«.[45]

Klaus Mann hat keine Zeit zu verlieren. Eigentlich will er gleich nach dem Abbruch der Schulbemühungen nach Berlin und Tänzer werden. Und Schauspieler. Und Schriftsteller ohnehin. Er sehnt sich nach Abenteuern, will berühmt werden. Im Mai wird seine erste Erzählung in einer Zeitung gedruckt. Im Juni verlobt er sich mit Pamela Wedekind. Die Eltern bremsen. Den Siebzehnjährigen, der ihnen so unreif erscheint, wollen sie nicht in die wilde Hauptstadt mit all den politischen Kämpfen und dem glamourösen Nachtleben schicken; schon dass die ältere, bei aller Wildheit lebenstüchtigere Erika dort lebt, gefällt ihnen nicht. Klaus soll erst einmal nach Heidelberg gehen, in das Stift Neuburg, das ein Bekannter des Vaters leitet. Dort kann er sich in Ruhe überlegen, was er künftig machen will. Klaus Mann sagt zu, reist ab – und fährt wenig später für einige Tage nach Hamburg. Mit Gertrud Feiß, die er in der Bergschule kennengelernt hat und die mit einem Betrugsmanöver Geld für die beiden beschafft,[46] genießt er das Nachtleben auf St. Pauli. Er verliebt sich in einen »hübschen, kleinen Trommler« und hat mit ihm ein »Rendezvous«. Dass er homosexuell ist und die Liebe zum Mitschüler Uto in der Odenwaldschule nicht nur eine Pubertätsphase war, ist Klaus Mann inzwischen klar, trotz Verlobung. Er hat damit kein Problem und scheint sich von der verbreiteten Meinung über die »Perversion« ebenso wenig bedrängt zu fühlen wie von der Strafbarkeit homosexueller Handlungen. Er schreibt der Schwester Erika offen von seinen Erlebnissen mit dem Trommler und von anderen Hamburger Abenteuern. Besonders beeindruckt sei er davon, wie ungerührt seine Freundin Gertrud sich prostituiert. Erika möge seinen Brief nicht offen herumliegen lassen, schreibt er noch. Er müsste »den verheerensten Eindruck machen. Ich bin aus guter Familie.«[47]

Dass es den Sohn nach Berlin drängt, können die Eltern nicht verhindern. Der vereinbarte Aufenthalt in Heidelberg gerät viel kürzer als geplant. Im September zieht Klaus Mann in die Hauptstadt. Katia Manns Zwillingsbruder Klaus Pringsheim, musikalischer Leiter der Reinhardt-Bühnen, hat versprochen, sich um den Neffen zu kümmern. Er vermittelt ihm eine Stelle als Theaterkritiker im 12-Uhr-Mittagsblatt. Klaus Pringsheim sorgt auch dafür, dass sich der Herausgeber der renommierten Weltbühne, Siegfried Jacobsohn, einige Artikel von Klaus Mann ansieht. Der Onkel hat sie Jacobsohn vorgelegt, ohne den Autor zu nennen. Der Herausgeber ist beeindruckt und will die Texte in der Weltbühne drucken, ohne Namensnennung, so wie es Klaus Pringsheim vorgeschlagen hat. Aber Klaus Mann besteht darauf, dass sein Name genannt wird.[48] Wie soll man mit anonymen Texten berühmt werden?

Viel Geduld hat Erika Mann auch nicht. Eben erst hat ihr Schauspielunterricht begonnen, da hofft sie schon auf eine Hauptrolle, und zwar in der Theatersensation des Jahres am Deutschen Theater in Berlin: in George Bernard Shaws deutschsprachiger Erstaufführung von Die heilige Johanna. Sie erhält eine Statistenrolle. Der Vater tröstet, mit irritiertem Beiklang über die Ungeduld der Tochter. »Das mit der Johanna war an sich keine schlechte Idee, aber natürlich etwas verfrüht.« Wenn Erika nur weiter fleißig übe und sich ausbilden lasse, würden ihr solche Rollen bald »zufallen«, meint er.[49] Für solche Ratschläge hat Erika Mann keinen Sinn. Es geht ihr viel zu langsam vorwärts in Berlin, der Unterricht langweilt sie, und mit den kleinen Rollen, die man ihr derzeit anbietet, ist sie unzufrieden.

Endlich hat Thomas Mann den Zauberberg abgeschlossen. Getrübt wird die Feierlaune im Münchner Haus aber durch die Krankheit der jüngsten Kinder. Beiden musste der Blinddarm entfernt werden. Beim fünfjährigen Michael hatte sich bereits eine Entzündung gebildet. Thomas Mann plant an sich, nach Abschluss des Romans in den Urlaub zu fahren, zusammen mit seiner Frau und der sechsjährigen Tochter Elisabeth. Michael soll zu Hause in der Obhut der Kinderfrau bleiben. Nun müssten sie womöglich Michael statt Elisabeth mitnehmen, schreibt er missvergnügt im Brief an Erika. »Da soll doch gleich das Hagelwetter.«[50] Der Vater mag seinen jüngsten Sohn nicht. »Stelle immer wieder Fremdheit, Kälte, ja Abneigung gegen unseren Jüngsten fest«, hat er sich in einem der spärlich erhaltenen Tagebücher aus diesen Jahren über den nicht einmal ein Jahr alten Michael notiert.[51] Elisabeth hingegen, sein »Kindchen«, hat er von Beginn an geliebt: »sie ist in gewissem Sinne mein erstes Kind«.[52] Die Parteilichkeit seiner Vatergefühle betrifft auch die vier Größeren. Er habe wieder festgestellt, hat sich Thomas Mann einmal notiert, »dass ich von den Sechsen drei, die beiden Ältesten und Elisabethchen mit seltsamer Entschiedenheit bevorzuge«.[53] Verborgen werden die Zu- und Abneigungen nicht, die Kinder wissen Bescheid. Katia Mann schreibt im Oktober an Erika, die beiden Kleinen seien aus dem Krankenhaus entlassen worden. Elisabeth (»Mädi«) gehe es recht gut, Michael (»Bibi«) sei aber noch recht mitgenommen. Der Vater, den die Kinder den »Zauberer« nennen, sei schon nach Italien vorausgefahren. Sie werde bald mit den beiden Jüngsten nachkommen. »Denn mit Mädi alleine zu fahren, wäre doch unter diesen Umständen zu herzlos, das sah auch der Zauberer ein.«[54]

Im November erscheint Thomas Manns Zauberberg, die Geschichte des Hamburger Kaufmannssohns Hans Castorp, der seinen kranken Cousin in einem Lungensanatorium in Davos besucht, dort in den Bann der Sanatoriumswelt gerät und für sieben Jahre bleibt – bis ihn der »Donnerschlag« des Ersten Weltkriegs aus den Schweizer Bergen vertreibt. Der Erfolg des Romans ist groß, ein Meisterwerk, der würdige Nachfolger der Buddenbrooks, finden zahlreiche Leser und die meisten Kritiker. Manchem ist der Roman zu kalt, zu arrangiert und montiert, kurz: zu modern. Ebendies versöhnt wiederum andere mit Thomas Mann. Walter Benjamin schreibt in einem Brief, »dass dieser Mann, den ich gehasst habe wie wenige Publizisten, mit seinem letzten großen Buch, dem Zauberberg, das mir in die Hände fiel, mir geradezu nahegekommen ist«.[55] Zu Weihnachten teilt Katia Manns Mutter, Hedwig Pringsheim, einer Freundin mit: »Dass mein Schwiegersohn jetzt auf der Höhe seines Ruhmes angelangt ist, wird dir vielleicht bekannt sein. Er hat Erfolg über Erfolg, seine Stellung nicht nur in der Litteratur, sondern überhaupt in der Welt, ist glänzend, und Katja sonnt sich in diesem Glanz. Sie begleitet ihn sehr viel auf seinen Reisen und nimmt teil an seinen Ehrungen.« Katia und Thomas Mann – von den reichen Pringsheims in den ersten Ehejahren finanziell stark unterstützt – seien jetzt selbst sehr wohlhabend, fügt Hedwig Pringsheim noch an. Sie hätten sich gerade ein Automobil angeschafft: »nobel«.[56] Apropos: In den Spekulationen um den Nobelpreis wird von nun an Thomas Mann Jahr für Jahr als einer der Favoriten gehandelt.

Klaus Manns erstes literarisches Werk ist fertig: das Theaterstück Anja und Esther. Er braucht dafür nicht, wie der Vater, Jahre, sondern hat das Stück in den vergangenen Monaten in beschwingter Eile, neben Theaterkritiken, Erzählungen und seinem ersten Roman, geschrieben. Es geht um Liebe, Hoffnungen und Sehnsüchte einer Gruppe junger Menschen, die in einem abgelegenen Stift leben, das an die Odenwaldschule erinnert. Die Mutter liest das Manuskript. Ihr gefalle die »dichterische Qualität« und die »Atmosphäre«, schreibt sie an Erika, und »vieles im Dialog« sei »fein und gut« und »könnte bei sehr guter Aufführung wohl auch wirken«. Ihr seien die »jungen Leute« und »das Milieu« allerdings »zu krankhaft«, gibt sie zu, »und was mich am meisten stört, ist, dass die Kontrastfigur, der Erik, der doch dem lebensabgewandten, ungesunden Stift gegenüber das Leben repräsentiert, nun auch wieder der kokainessende Sohn einer perversen Circusreiterin ist, der vom Leben nichts weiß als Stepptanzen, Nachtlokale u.s.w.«.[57] Das »Milieu« des Stückes gefällt ihr nicht, konkret: die Drogen, die homoerotische Atmosphäre und die Sympathie der jungen Leute mit dem Abgrund; noch weniger gefällt ihr all das, wenn sie daran denkt, dass Literatur aus dem Hause Mann zumeist auf eigenem Erleben und Beobachten beruht.

Golo Mann ist glücklich im Internat Salem. Mit Sport und Wehrübungen hat er sich abgefunden. Wichtig ist ihm die Gemeinschaft und der Platz, den er in ihr gefunden hat; nicht als wenig talentierter Hockeyspieler in der dritten Mannschaft, sondern als Intellektueller, der Gleichgesinnte um sich versammelt und über philosophische und politische Fragen diskutiert.

Der paramilitärische Einschlag Salems ist nicht zu übersehen. Kurt Hahn ist ein leidenschaftlicher Gegner der Demokratie. Er will in seiner Schule eine Elite heranziehen, welche die »Schmach von Versailles« beseitigt und Deutschlands Größe und Ehre wiederherstellt. Dass hierfür ein neuer Krieg gegen Frankreich notwendig sein könnte, nimmt er in Kauf und bereitet seine Schüler darauf vor. Golo Mann verehrt Kurt Hahn als Lehrer und als Persönlichkeit; politisch aber befindet er sich in leidenschaftlicher Opposition gegen den national-konservativen Geist der Schule und ihres Leiters. Der bald Sechzehnjährige versteht sich als Sozialist und Pazifist und tritt für demokratische Strukturen auch im Internat ein. Im Februar 1925 zettelt er eine Revolte gegen die Art der Schülermitbestimmung an. Nur eine bestimmte Gruppe von Schülern, die »Farbentragenden«, erhalten Ämter und Vergünstigungen. Zuwachs erhalten die Farbentragenden durch eigene Zuwahl, vom Schulleiter überwacht und gesteuert. Kaum ist Golo aufgenommen, kritisiert er das Verfahren als undemokratisch und ungerecht, fordert Änderungen und gewinnt Mitstreiter. Die Schule ist in Aufruhr. Noch dazu hält Kurt Hahn sich derzeit in Berlin auf, wo er mit dem Prinzen Max von Baden an dessen Memoiren als Reichskanzler arbeitet. Nur mühsam kann Hahn aus der Ferne Golos »Staatsstreich« unter Kontrolle bringen, indem er Reformen verspricht. Demokratische Reformen meint er nicht. »Salem ist in Kampfstellung gegen das heutige Deutschland«, schreibt er seinem Schüler. Die Schule sei »dazu berufen, sich dem Verfall entgegenzuwerfen«.[58] Als Golo aus Protest seinen Austritt aus der Vereinigung der Farbentragenden erklärt, reagiert der Schulleiter zornig: Um die Sache sei es ihm doch gar nicht gegangen, schreibt er ihm, Golo habe sich nur wichtigmachen wollen. Als eine Schülergruppe Ostern nach Italien fährt und Golo sich anschließen will, entscheidet Hahn, dass er nicht mitfahren darf. Den »nervösen, überreizten Gesellen jetzt der südlichen italienischen Atmosphäre auszusetzen, wäre nach meiner Meinung ein Verbrechen«.[59] Hahn ist verstimmt. Sein Schulstaat ist ihm heilig, Widerstand kann er nicht ertragen. Schulische Leistungen und Noten hingegen sind in Salem weniger wichtig. Zum Ende des Schuljahres steuert Golo Mann auf viermal »mangelhaft« in »lebenswichtigen Fächern« zu, schreibt Katia Mann. In die nächsthöhere Klasse wird er trotzdem versetzt, wenn auch nur »probeweise«.[60]

Der Reichspräsident, »Vater Ebert«, wie Thomas Mann ihn in seiner Republikrede genannt hat,[61] ist tot. Angefeindet und verfolgt von den Republikfeinden, vor allem von Rechtsextremisten, am Ende in einen grotesken Landesverratsprozess verwickelt, der ihn nicht nur belastet, sondern auch eine Bauchoperation verschleppt hat, ist Friedrich Ebert am 28. Februar mit erst 54 Jahren gestorben. Thomas Mann würdigt den Präsidenten in der Frankfurter Zeitung als Mann »von Güte, Gefasstheit, besonnener Männlichkeit«. Besonders betont er Eberts repräsentatives Wirken. Die bedeutende Rolle des Präsidenten im Kampf der Weimarer Demokratie gegen ihre Feinde und bei der Stabilisierung von Wirtschaft und Währung – die große Krise von 1923 ist auch dank seiner Tatkraft mittlerweile überwunden – erwähnt Thomas Mann nicht. Trotz freundlicher Worte schwingt skeptische Distanz in seinem Nachruf mit. In einer Passage wird es besonders deutlich: Thomas Mann schreibt von einem »Zug von Kleinbürgerlichkeit im Charakter des ersten Präsidenten«. Ihrer nationalen Aufgabe werde die Sozialdemokratie insgesamt erst gewachsen sein, fügt er hinzu, wenn sie »Anschluss« finde an das »höhere geistige Deutschland«, wenn »Karl Marx den Friedrich Hölderlin gelesen haben wird«.[62] Ganz ausgesöhnt hat Thomas Mann sich mit dem neuen Staat und denen, die seine politische Basis bilden, noch nicht. Die Frankfurter Zeitung streicht diese Passage heraus.

Katia Mann besucht ihre ältesten Kinder in Berlin. Während ihres Aufenthalts findet die öffentliche Trauerfeier für Friedrich Ebert statt. Inmitten der Menschenmasse kann sie zwar nicht viel erkennen, ist aber dennoch beeindruckt von der Anteilnahme am Tod des Präsidenten und schreibt ihrem Mann: »Ganz rührend war es, wie abends, nachdem alles vorbei war, die Leute wie die Mauern auf den hochgewölbten Brücken des Kanals standen, um Eberten ein letztes Mal vorbei fahren zu sehen, nämlich im Extrazuge über die Eisenbahnbrücke.« Die »ekelhafte Rechtspresse« rege sich über die angebliche »Prunkbestattung« auf, schreibt Katia Mann, aber »wie soll man denn das Reichsoberhaupt bestatten, auch wenn er nicht ein so hochverdienter Mann gewesen wäre«? Sie denke immer, fügt sie noch an, »dein Artikel in der Frankfurter war am Ende ein bisschen zu leicht im Ton«.[63]

Klaus Mann schreibt und schreibt, auch nach Abschluss seines ersten Theaterstücks: Erzählungen, Theaterkritiken, seinen ersten Roman. Einen Verlag hat er auch schon gefunden, der einen Erzählungsband herausbringen will: Paul Steegemann in Hannover. Der Verlag hat das Buch im Oktober 1924 bereits mit einem Inserat im Branchenmagazin angekündigt: In Kürze erscheine der Erzählungsband Vor dem Leben von Klaus Mann, »der 17jährige Sohn von Thomas Mann«, der damit beweise, »dass er mehr ist, als nur der Erbe eines großen Namen. Er ist, trotz seiner Jugend, ein Dichter«. Damit man die wesentliche Information auch nicht übersieht, steht sie noch einmal in großen Buchstaben über der Buchankündigung: »Der Sohn von Thomas Mann«.[64]

Klaus Mann bereut, dass er mit Steegemann einen Vertrag geschlossen hat. Nicht wegen der Werbung mit dem Vater, das stört ihn nicht. Zu Weihnachten 1924 hat ihm der Vater ein Exemplar des Zauberberg geschenkt und hineingeschrieben: »Dem hochgeschätzten Kollegen – sein hoffnungsvoller Vater.« Die private Widmung benutzt Klaus Mann wenig später als Werbung in eigener Sache. Zu viel Rummel, findet er, kann es gar nicht geben. Den Vertrag mit Steegemann will er trotzdem auflösen. Der Enoch Verlag in Hamburg hat ihm inzwischen ein besseres Angebot gemacht, samt hohem Vorschuss. Während Steegemann das Buch schon setzen lässt, erklärt Klaus Mann, er könne seinen Vertrag nicht einhalten. Sein Vater habe die Publikation untersagt. Man möge Verständnis haben, dass er sich dem Gebot des Vaters unterwerfe. Man wisse ja, er sei nicht volljährig und daher seine Unterschrift unter dem Vertrag nicht rechtsgültig. Mit dem großen Thomas Mann will sich der kleine Verlag nicht anlegen. Steegemann fügt sich und bleibt auf den Herstellungskosten und der Peinlichkeit der Ankündigung des Buches sitzen.[65] Wenig später, im Frühjahr 1925, erscheint Vor dem Leben im Enoch Verlag.

Die Schwester seiner Verlobten Pamela, Kadidja Wedekind, fühlt sich zu einem Gedicht mit dem Titel Klaus Mann inspiriert:

Das ist der Mann

der schreiben kann

trotzdem sein Vater schreibt

und dem trotz Vater’s feinem Kopf

das eigene Köpfchen bleibt!

Das ist ein Mann

und doch kein Mann

der wie ein Weib sich schmückt.

Oh ihr Verleger seht euch vor

er haut euch tückisch übers Ohr

und lächelt nur entrückt![66]

Deutschland wählt einen neuen Präsidenten. Es geht um die Nachfolge von Friedrich Ebert. Ihr Dienstpersonal habe erklärt, so Katia Mann, es wolle sich an der Wahl »unter keinen Umständen beteiligen, weil dieser Staat nicht genug für seine Bürger tue«. Was die »Damen« eigentlich vom Staat erwarteten, sei ihr nicht klar, fährt sie im Brief an ihren Mann fort, »vielleicht wäre es seine Pflicht gewesen, ihnen goldene Staatsgebisse zu stiften«. Sie selbst wählt den Zentrums-Kandidaten Wilhelm Marx.[67] Für den zweiten Wahlgang einigen sich die Mitte-Links-Parteien samt SPD auf Marx, und die Rechten schicken ebenfalls einen gemeinsamen Kandidaten ins Rennen: Sie haben Paul von Hindenburg überredet, sich aufstellen zu lassen – kurioserweise erlaubt das Wahlrecht eine Kandidatur, auch wenn man im ersten Wahlgang nicht dabei war. Thomas Mann warnt in einem Artikel mit der Überschrift Rettet die Demokratie!, der in mehreren Zeitungen erscheint, eindringlich davor, den Mann zu wählen, der im Ersten Weltkrieg der Oberbefehlshaber des deutschen Heeres war. »Unheilvolle Folgen dieser Kandidatur sind leider in jedem Falle sicher.« Der Generalfeldmarschall »würde das Land in einen Zustand der Unruhe, der Unsicherheit und der inneren Kämpfe zurückwerfen, der glücklich überwunden schien«, schreibt Thomas Mann. Er wäre stolz auf »den Lebens- und Zukunftsinstinkt unseres Volkes«, fügt er noch an, wenn es »darauf verzichtete, einen Recken der Vorzeit zu unserem Oberhaupt zu wählen«.[68] Hindenburg, 77 Jahre alt und voller Verachtung gegenüber der Parteiendemokratie, wird mit knapper Mehrheit zum neuen Reichspräsidenten gewählt.

Und Klaus Mann? Der langweilt sich. Seine Zeitung schickt den achtzehnjährigen Neuling als Theaterkritiker nicht in die großen Premieren, sondern zu den Berliner Vorstadtbühnen. Ein paar Monate spielt er mit, dann lässt er sich beurlauben und geht dank Buchvorschuss auf Reisen, zuerst nach London. Zum Glück ist W.E. Süskind dabei, Klaus Mann spricht kein Englisch. Er fährt weiter nach Paris. Als das Geld aufgebraucht ist, findet er eine andere Form der Reisefinanzierung. Er lässt sich von Hans Feist, einem älteren, reichen jüdischen Kunstsammler und Theaterliebhaber, den Erika und er im vergangenen Jahr kennengelernt haben, aushalten. Feist, den die Mann-Geschwister wegen seiner unklaren Sprechweise »Nebel« nennen, hat sich in Klaus verliebt und finanziert eine gemeinsame Reise, die sie für zwei Monate von Paris bis nach Nordafrika führt. Die Beziehung des Älteren, Liebenden zu dem jungen, Abenteuer und Freiheit Suchenden samt ihren finanziellen und erotischen Abhängigkeiten ist heikel und damit literarisch ertragreich. Gleich nimmt Klaus Mann sie auf in seinen ersten Roman.

Der Vater hat mittlerweile Klaus Manns Erzählungsband Vor dem Leben gelesen. In der Haupterzählung Der Vater lacht geht es um das Verhältnis eines Ministerialrates zu seiner Tochter Kunigunde. Theodor Hoffmann ist Witwer, auf äußere Formen bedacht, ein kalter Einzelgänger. Vater und Tochter sind einander fremd und leiden darunter. Überwinden können sie die Distanz nur, indem sie ein inzestuöses Verhältnis eingehen. Es endet im großen Gelächter. »Kläuschens Buch las ich mit Anteil«, schreibt Thomas Mann, der von den Kindern früher »Pielein« genannt wurde, seiner Tochter Erika. »Vieles ist ganz merkwürdig. Aber einen tüchtigen Pielein-Komplex hat der Wackere, unter anderem.«[69]

Thomas Mann wird am 6. Juni fünfzig Jahre alt. Bei der großen Feier im Alten Münchner Rathaus hält sein Bruder Heinrich eine ergreifende Ansprache, in der er an Lübecker Kindheitsgeburtstage erinnert. Die Rede, schreibt Thomas Mann später, rührte »nicht mich allein zu Thränen«.[70] Neben Heinrich Mann sitzt der junge expressionistische Schriftsteller Hanns Johst, der Thomas Mann bewundert und von ihm gefördert wird. »Ich liebe Sie sehr«, hat Thomas Mann ihm 1920 geschrieben. »Sie stellen Jugend dar, Kühnheit, Radikalismus, stärkste Gegenwart«.[71] Katia Mann hat den Dichter zwei Jahre später kennengelernt und Erika und Klaus von ihm berichtet. Johst sei »ein sehr netter, temperamentvoll und warmherzig wirkender Mensch, mit durchaus passender Einstellung zum Vater«.[72] Über das Bekenntnis Thomas Manns zur Republik hat sich Johst wenig später aufgeregt und den Meister auch öffentlich kritisiert. Zum Bruch hat es nicht geführt. In die Segenswünsche für den fünfzigjährigen Thomas Mann stimmt Hanns Johst eifrig ein.

Zum Geburtstag bringt der S. Fischer Verlag eine Ausgabe der Neuen Rundschau heraus, die Thomas Mann gewidmet ist. Er selbst hat für das Heft im Frühjahr eine Erzählung geschrieben: Unordnung und frühes Leid. Sie schildert die Wirren der Nachkriegszeit im Inflationsjahr 1923 im bürgerlichen Haushalt eines Geschichtsprofessors. Abel Cornelius hat vier Kinder, zwei fast erwachsene und zwei kleine im Vorschulalter. Die Großen, Bert und Ingrid, rebellieren gegen die bürgerliche Familie und gegen die alten Werte, die die Eltern vertreten. Sie machen Streiche, sind frech und respektlos und verkörpern die neue Welt der Unruhe und der Unsicherheit, der fehlenden Ordnung. Der Professor-Vater hängt der alten Welt an, er ist Historiker und liebt Geschichten nur, wenn sie vergangen sind – möglichst lange vergangen. Ingrid, achtzehn Jahre alt, wird als »sehr reizvolles Mädchen« geschildert, das kurz vor dem Abitur steht, das sie »wahrscheinlich« ablegen wird, »wenn auch nur, weil sie den Lehrern und namentlich dem Direktor die Köpfe bis zu absoluter Nachsicht zu verdrehen gewusst hat«. Dank ihres »angenehmen Lächelns«, ihrer »wohltuenden Stimme« und »eines ausgesprochenen und sehr amüsanten parodistischen Talentes« drängt es sie zum Theater. Der ein Jahr jüngere Bert will hingegen die Schule »um keinen Preis« beenden, sondern »Tänzer oder Kabarett-Rezitator oder aber Kellner« werden, »dies letztere unbedingt ›in Kairo‹«. Der erklärte Liebling des Vaters ist seine fünfjährige Tochter Lorchen. Für den vierjährigen »Beißer« und seine »schwierige Männlichkeit« hat Cornelius wenig Sympathie. Der Sohn »hat ein recht labiles und reizbares Nervensystem mitbekommen« und »neigt zu Jähzorn und Wutgetrampel, zu verzweifelten und erbitterten Tränenergüssen über jede Kleinigkeit und ist schon darum der besondere Pflegling der Mutter«.[73]

Die Erzählung schildert ein Fest, das Ingrid und Bert im Haus der Familie geben. Das kleine Lorchen verliebt sich beim Tanz in einen der Freunde ihrer großen Geschwister. Vom Liebesunglück geschüttelt, lässt sie sich später nur durch den tröstenden Besuch des jungen Mannes an ihrem Kinderbett beruhigen. Der Vater ist bekümmert, seine Tochter nicht von ihrem Leid befreien zu können; mehr noch allerdings leidet er darunter, schon jetzt den Schmerz zu erfahren, sein Lorchen eines Tages an einen anderen Mann zu verlieren.

Eine einfühlsame, humorvolle, leicht erzählte, aber keineswegs leichtgewichtige Novelle, die das Bild einer bürgerlichen Familie und ihrer Nöte, den Konflikt der Generationen und die Verwobenheit mit der Zeitgeschichte und ihren Umwälzungen, ihrer »Unordnung« verknüpft. Abstand und Unbefangenheit sind notwendig, die Geschichte auf diese Weise zu lesen. In der Familie Mann sorgt sie hingegen für Unruhe und Ärger. Die Erzählung trägt stark autobiographische Züge: Die vier Novellen-Kinder als unverhülltes Porträt der eigenen Kinder – nur die mittleren fehlen; die Streiche, Pläne und Abenteuer der Großen; die ungleiche Verteilung der väterlichen Gunst; selbst für die kindliche Verliebtheit Elisabeth-Lorchens gibt es eine reale Vorlage. Als Thomas Mann die Erzählung seinem Freund, dem Germanisten Ernst Bertram, Pate des »Kindchens« Elisabeth, widmen will, lehnt dieser wegen der »Preisgabe der Kinder« ab.[74] Vor allem Klaus Mann ist getroffen. Das Porträt als Bert verletzt ihn sehr. Mehr noch als die spöttische Schilderung seiner Lebenspläne kränkt ihn das Urteil des Novellen-Vaters, der die Freunde seiner Ältesten mit dem Sohn vergleicht und »Unruhe, Neid und Beschämung« empfindet. All diese tüchtigen jungen Leute – und dagegen »mein armer Bert, der nichts weiß und nichts kann und nur daran denkt, den Hanswursten zu spielen, obgleich er gewiss nicht einmal dazu Talent hat«.[75] Bitter beklagt sich Klaus bei Erika über »des Zauberers Novellenverbrechen«.[76]

Kurz zuvor ist ein Brief von Paul Geheeb bei Thomas Mann eingetroffen. Es geht um eine kurze Erzählung aus Vor dem Leben, Klaus Manns literarischem Debüt. In Der Alte skizziert er einen Schulleiter, der sich seinen Schülerinnen sexuell nähert, sie in seinem Zimmer umarmt, küsst und streichelt. Dieser Alte, mit Rauschebart und kurzen Hosen, ist unverkennbar Paul Geheeb nachempfunden. Der Leiter der Odenwaldschule ist empört: Das sei eine »große, gemeine Verleumdung meiner Persönlichkeit«. Klaus Mann hat auch nach seiner Schulzeit den Kontakt zu Geheeb gehalten, ihm Briefe geschrieben und ihn in der Odenwaldschule besucht, dankbar für seine ermutigende Liberalität. Jetzt schreibt Geheeb dem Vater, er möchte »auf keinen Fall je wieder mit Ihrem Sohn Klaus zusammentreffen«. Der Vater möge ihm auch mitteilen, »dass er die Odenwaldschule nicht mehr betreten darf«.[77] Thomas Mann antwortet, er könne wenig zur Entschuldigung, nur etwas zur Erklärung vortragen. Sicher sei keine Absicht im Spiel gewesen, Geheeb, von dem Klaus immer mit Sympathie gesprochen habe, zu schädigen. Vielmehr habe Klaus »geglaubt, starke Eindrücke der Wirklichkeit mit Erfundenem dichterisch vermischen zu dürfen, ohne sich über die menschlichen Gefahren solchen Tuns klar zu sein«. Er werde mit dem Sohn »noch sehr ernsthaft darüber zu reden« haben. »Seine Artisten-Naivität ersehen Sie aus der Tatsache«, fährt Thomas Mann fort, »dass er Ihnen das Buch mit frommer Miene übersandt und womöglich noch auf Lob gerechnet hat.« Das alles sei sicher »unverschämt«, aber die Odenwaldschule und Geheeb persönlich würden »durch den skurrilen Spaß eines sichtlich so unreifen literarischen Anfängers« sicher nicht geschädigt. Das gesamte Buch sei ja von ähnlichem Geist durchdrungen, »der beständig aus dem Realen ins Groteske, Phantastische und Irreal-Fratzenhafte abgleitet«. Er selbst sei mit »Klausens ganzer Entwicklung sehr wenig einverstanden« und mache sich seinetwegen Sorgen, fügt der Vater noch hinzu. »Auch stehe ich der Publikation seiner Elaborate durchaus fern und bin nur dadurch daran beteiligt, dass ich sie nicht verhindert habe.« Man müsse, schließt er resigniert, »den jungen Menschen seinen Weg machen lassen, so gut er kann«.[78] An die »feste Führung«, die er Geheeb vor zwei Jahren im Umgang mit seinem Sohn Klaus empfohlen hat, glaubt Thomas Mann offenbar selbst nicht mehr.

Zwei Wochen später schreibt Klaus Mann selbst an Paul Geheeb. Er habe dessen Brief an den Vater gelesen und sei getroffen, dass sich Geheeb nicht direkt an ihn gewandt habe. Der »Ton« von Geheebs Brief sei »hart, beleidigt-beleidigend und verständnislos«. Dabei handle es sich beim Alten doch nur um eine »Traum- und Spukphantasie«, in der eben »Ihr Bart, Ihr Blick, Ihr Mienenspiel« vorkämen. »Ich gedenke Ihrer in Verehrung«, schreibt Klaus Mann noch, trotz der »Blöße«, die sich Geheeb mit seinem Brief an den Vater gegeben habe.[79] Der Pädagoge lenkt ein, schluckt den Ärger und neuerliche Frechheiten hinunter und nimmt Hausverbot und Kontaktabbruch zurück – nicht ohne seinem ehemaligen Schüler noch einmal ins Gewissen zu reden: »Lieber Klaus, Sie müssen einsehen, dass Sie da unverantwortlich gehandelt haben, müssen begreifen, dass ein Autor auch für die unbeabsichtigten Wirkungen verantwortlich ist, wenn sie so nahe liegen und vom Autor in dem Maße zu berechnen waren, wie im vorliegenden Falle!«[80]

Unzufrieden mit ihren kleinen Rollen an den Bühnen von Max Reinhardt, hat sich Erika Mann entschlossen, ihre Ausbildung und das Engagement in Berlin abzubrechen. Sie geht nach Bremen. Lieber größere Rollen in einem weniger bedeutenden Theaterhaus, als in der Hauptstadt weiter Nebenrollen zu spielen, so ihr Kalkül. Die Eltern freuen sich, dass ihre Tochter das ungeliebte, ihnen gefährlich erscheinende Berlin verlässt, einerseits. Andererseits irritiert sie die Ungeduld ihrer Ältesten, zumal sie sich in Bremen dann ebenfalls nicht wohl fühlt, über Stadt und Stücke und Kollegen klagt. Sie werde schon noch »Wurzeln schlagen«, tröstet der Vater sie im August. Dann berichtet er von seiner Arbeit, von einem Essay, den er gerade abgeschlossen hat: Über die Ehe. »Es ist ein ziemlich umfangreiches Dokument geworden, hochmoralisch, und enthält auch eine prinzipielle Auseinandersetzung mit der Homoerotik, ei, ei. Es hat Mielein sehr gefallen.«[81] Ein dreifach merkwürdiger Hinweis, der da im heiteren Ton daherkommt: Warum sollte ein Text über die Ehe das Thema Homoerotik behandeln? Weshalb sollte ausgerechnet das der Mutter, »Mielein«, gefallen? Und was ist das für ein ungewöhnliches Thema im Brief des Vaters an die Tochter?

Thomas Mann formuliert in seinem Essay eine Theorie der Ehe in Abgrenzung zur Homoerotik. Zwischen den Zeilen findet sich zugleich die persönliche Erklärung, warum Thomas Mann überhaupt geheiratet hat: als Absage an seine homosexuellen Neigungen, als Hinwendung zu einer bürgerlichen, allgemein akzeptierten Lebensform. Die Homoerotik sei »Libertinage, Zigeunertum, Flatterhaftigkeit«, sie sei »unmoralisch« und ein Ausdruck von »Unfruchtbarkeit, Aussichtslosigkeit, Konsequenz- und Verantwortungslosigkeit«, schreibt Thomas Mann, während die Ehe Treue, Familie und Leben bedeute.[82] Dieses Bekenntnis zur Ehe ist es, das Katia Mann »gefallen« hat. Sie ist sich im Laufe der ersten Ehejahre über die verborgenen Neigungen und Sehnsüchte ihres Mannes klargeworden, ob durch immer deutlichere Signale in seinem Werk, spätestens mit dem Tod in Venedig, oder auf andere Weise – irgendwann ist es zwischen ihr und ihrem Mann besprochen worden; in Thomas Manns Tagebüchern aus den Jahren 1918 bis 1921 jedenfalls weiß sie Bescheid. Thomas Mann thematisiert darin mehrfach seine sexuelle Problematik, seine wiederholte »Impotenz« im Ehebett und seine Dankbarkeit für das Verständnis seiner Ehefrau, die es »in ihrer Liebe nicht im Geringsten beirrt oder verstimmt, wenn sie mir schließlich keine Lust einflößt«. Die »Ruhe, Liebe und Gleichgültigkeit, mit der sie das aufnimmt, ist bewunderungswürdig«, notiert er sich, »und so brauche ich mich nicht davon erschüttern zu lassen«.[83]