Good Pop, Bad Pop - Jarvis Cocker - E-Book

Good Pop, Bad Pop E-Book

Jarvis Cocker

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Beschreibung

Wir alle haben irgendwo im letzten Winkel unserer Wohnung eine durch den Zufall kuratierte Sammlung von Gegenständen, von denen wir uns, willentlich oder nicht, nie getrennt haben. Vielleicht sind gerade sie es, die die ehrliche Geschichte über unser Leben erzählen. Als Jarvis Cocker sich daran macht, seinen Dachboden aufzuräumen, stößt er auf ein kaum zu überschauendes Durcheinander von Gegenständen, die alle mit einem Moment seines Lebens verknüpft sind, und die merkwürdige Fragen aufwerfen: Wer glaubst du, zu sein? Was bedeutet dir Kleidung? Und wieso liegen hier oben so viele kaputte Brillen? Fotos, Eintrittskarten, ein orange-grünes Polyesterhemd, halbvolle Kaugummiverpackungen, alte Magazine und angefangene Notizbücher – Jarvis beginnt zu sortieren. Und er beginnt, sich zu erinnern. An eine Jugend im Sheffield der 70er, den naiven Traum, Popstar zu werden, an die Schule und an Jobs, und an eine Erfolgsgeschichte, die ihn zu einem stilbildenden Musiker der goldenen Britpop-Ära machen wird. Das Ergebnis dieser literarischen Inventur ist eine anrührende, unterhaltsame und fesselnde Geschichte der Popkultur des 20. Jahrhunderts und die Betrachtung eines einzigartigen Lebens, seiner Glanzpunkte und der Momente, die man lieber auf dem Dachboden vergessen hätte.

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EPUB

Seitenzahl: 302

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Jarvis Cocker

Good Pop, Bad Pop

Die Dinge meines Lebens

Aus dem Englischen von Harriet Fricke und Ingo Herzke

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Jarvis Cocker

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Zwischenspiel

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Zwischenspiel 02

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Epilog

Bildnachweise

Danke

Übersetzungen

Inhaltsverzeichnis

Für K. S., weil sie es wieder möglich gemacht hat, & Jeannette, weil sie es immer möglich macht.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Da war ein Haus, in dem ich eine Zeit lang lebte.

Ich verwahrte eine Menge Zeug auf dem Dachboden dieses Hauses.

Wenn ich »verwahrte eine Menge Zeug« sage, ist das eine höfliche Umschreibung für »verwendete ihn als Müllhalde«. Eine ganze Weile stopfte ich einfach irgendwelche Dinge in diesen Raum – bloß um sie aus dem Weg zu schaffen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dann blieb das alles ungefähr zwanzig Jahre da oben, weil ich nicht mehr in London lebte, sondern in Paris & an verschiedenen anderen Orten.

Über diesen Dachboden machte ich mir ab & zu Gedanken. Ich konnte es nicht richtig greifen, aber ich wusste, eines Tages würde ich mich darum kümmern müssen. Nur kam dieser Tag anscheinend nie.

Man könnte diesen Dachboden als Manifestation des menschlichen Hangs zum nahezu unbewussten Anhäufen von Dingen verstehen.

Oder als Mülltonne, die nie geleert wurde.

Die Umstände haben mir schließlich keine Wahl mehr gelassen, & ich muss diesen Dachboden ausräumen.

Der Tag der Abrechnung ist gekommen.

Also an die Arbeit.

Ich habe beschlossen, nicht einfach alles zu entsorgen, sondern mir jeden einzelnen Gegenstand anzuschauen & dann eine sachkundige Entscheidung zu treffen, ob ich ihn behalten soll oder nicht.

Warum?

Weil ich weiß, dass irgendwo dadrin etwas Wichtiges steckt. So eine Art Lebensgeschichte, irgendeine Offenbarung – aber wir werden danach graben müssen. Ich verwende hier nicht den Pluralis Majestatis – ich möchte, dass ihr mir helft.

Ihr müsst euch nicht jede einzelne Sache anschauen, die ich hier finde – das würde ewig dauern –, aber es scheint mir wichtig, Zeugen zu haben. Wir können sogar ein Spiel daraus machen – nennen wir es »Keep or Cob«. (»Cob« ist ein Dialektausdruck aus Sheffield & heißt »(weg-)schmeißen« – also »BLEIB oder WEG«.)

Anmerkung des Autors:

Wenn ich das Wort »Dachboden« verwende, stellt ihr euch womöglich einen Raum vor, in dem wir stehen & den wir ganz bequem erforschen können. Das ist aber nicht der Fall. Das Foto auf dem Buchumschlag ist ein Archivbild, das nur aus Designgründen gewählt wurde – es zeigt nicht den Dachboden, über den ich schreibe. Mein »Dachboden« ist ein Lagerraum, in den man durch eine Klappe in der Wand des obersten Stockwerks eines viktorianischen Wohnhauses gelangt. Die Decke ist am Eintritt gerade mal einen Meter hoch & fällt dann bis zur Dachtraufe ab. Der Raum zieht sich über die gesamte Breite des Hauses, er ist also etwa acht Meter lang. Wenn ihr euch das Innere einer riesigen Toblerone-Packung vorstellt, kommt ihr der Umgebung, die wir hier erkunden, schon recht nahe. Auf keinen Fall können wir aufrecht stehen. Man kann sich die Sachen nur anschauen, indem man ein Stück hineinkriecht, sich durch Staub & Spinnweben windet & ein paar Gegenstände ins Wohnzimmer bringt, wo sie fotografiert & inspiziert werden können. Es kommt einem vor wie Bergbau: eine schmutzige, unangenehme & schwierige Arbeit.

Ihr seht schon, es ist ein Riesendurcheinander. Als ich zum ersten Mal den Kopf hineinsteckte, habe ich ziemlich schnell gemerkt, dass es weder Sinn noch Verstand noch Ordnung gab. Ich weiß, es muss irgendwelche nützlichen oder interessanten Dinge geben. Einige der Gegenstände stammen noch aus meiner Kindheit, aber an die komme ich nicht direkt heran, weil da noch so viel Mist herumliegt. Darum muss ich mir jedes einzelne Teil anschauen, bevor ich entscheiden kann, ob ich es wegschmeiße oder nicht. Ich will ja nichts Wichtiges übersehen. & im Lauf der Jahre habe ich gelernt, dass die wichtigsten Dinge im Leben oft nicht die offensichtlichsten sind.

Okay, genug Atmosphäre: Augen zu, steckt die Hand in den Berg da drüben, & dann sehen wir, was ihr gefunden habt …

Das ist Wrigley’s Extra Kaugummi, als es noch in Streifen verkauft wurde. Es hatte sich noch nicht zu der aktuellen »Drageeform« entwickelt. Dies ist ein zwanzig Jahre altes Kaugummi. Unbenutzt. Ungekaut. Jahrelang habe ich ständig ein Päckchen Kaugummi in der rechten Jackentasche mit mir herumgetragen. Das war ein wesentlicher Bestandteil meines Elternseins. Es muss Peppermint sein. Spearmint ist zu süß. Fruchtgeschmack ist abartig. Aber dieses Päckchen stammt aus der Zeit, bevor ich Vater wurde. Dies ist das Kaugummi eines Junggesellen.

Das ist tatsächlich ein guter Ausgangspunkt, denn es beweist, dass wir da oben so ziemlich alles finden können. Ihr habt vielleicht stapelweise wertvolle Manuskripte & zerfallende Masterbänder erwartet (zu denen kommen wir später) – ein Blick in das selbst kuratierte Kreativarchiv. Aber es wird eher so sein, als durchsiebte man eine Mülldeponie (oder sollte es eher »Erinnerungsdeponie« heißen?) Es ist tatsächlich eine Art Archiv, das wird sich vielleicht im Lauf der Zeit zeigen. Aber erst mal: Ich habe keine Ahnung, wieso das Kaugummi hier liegt – ich habe jedenfalls keinen Kaugummispeicher, so wie andere Leute einen Weinkeller –, aber da ist es: Wir haben es gefunden & darüber nachgedacht. Es ist ein Foto wert, aber nicht das Aufheben. Das klassische Wrigley’s Extra Gum kommt in die Mülltonne. Oder anders gesagt: WEG. (Meine Güte, ich komme mir so kühn vor.)

Nächstes Objekt: ein Aufnäher vom Wigan Casino. Das Wigan Casino war Mitte der 70er das Epizentrum der Northern-Soul-Szene. Ich war zu jung, es aus erster Hand mitzubekommen, aber ich erinnere mich, wie ältere Jungs mit dem passenden »Look« in die Schule kamen: hochtaillierte Hosen mit megaweitem Schlag. Frisur: Federschnitt. Einmal bekam ich einen Tritt ins Gesicht, als jemand in einem vollen Wohnzimmer zu dicht neben mir crowdsurfen wollte, auch wenn das damals noch nicht so hieß.

Aber das hier muss ich später im Leben ergattert haben – als diese »5 Soulful Years« endeten, war ich fünfzehn. Ich lernte Northern Soul erst im Rückblick zu schätzen. Es war eine richtige Subkultur – eine spontane Schöpfung: Menschen im Norden Englands tanzten zu obskuren afroamerikanischen Soulplatten aus dem vorigen Jahrzehnt die Nächte durch. Ich war damals vielleicht noch zu jung, um die Szene so richtig würdigen zu können, aber die Vorstellung, dass Musik eine Sache von Leben & Tod, eine Art Geheimclub war, blieb in meinem Kopf hängen. Dieser Aufnäher ist mit Sicherheit bedeutender als das Kaugummi – will sagen: Ich erkenne einen Grund, warum ich ihn aufbewahrt habe. Ich kann mich allerdings nicht erinnern, wie er in meinen Besitz gelangt ist. Übernatürliche Fussel – Dinge, die an einem hängen bleiben, ohne dass man es merkt. Solchen Sachen werden wir hier öfter begegnen.

 

Bleibt oder weg? Das ist diesmal schwieriger – aber da ich den Aufnäher nun seit mindestens dreißig Jahren besitze & nie irgendwo aufgenäht habe, wird es vielleicht Zeit, loszulassen: Ich werde ihn jemandem schenken, der oder die ihn mehr zu schätzen weiß.

Euch zum Beispiel? (Betrachtet es als Bestechung.)

Wow. Kragenstützen. Ich habe noch nie wissentlich Kragenstützen verwendet. Vielleicht glaubte ich, sie später im Leben brauchen zu können – womöglich würden meine Kragen im Alter erschlaffen oder so. Das scheint noch nicht eingetreten zu sein (danket dem Herrn), hier fällt die Entscheidung also leicht: WEG.

Okay – ich muss zugeben, hier habe ich ein bisschen geschummelt: Ich möchte euch noch nicht so früh im Buch als Leserin oder Leser verlieren, darum kommt jetzt etwas »Saftiges«. Das hier war die erste Entdeckung, die mich davon überzeugte, es könne sich lohnen, diese Selbstausgrabung vorzunehmen, anstatt den ganzen Inhalt des Lagerraums unbesehen zur nächsten öffentlichen Mülldeponie zu karren. Es ist ein Schulheft (das dem Namen nach, der oben steht, ursprünglich meiner Mutter gehörte), in dem mein fünfzehnjähriges Ich seine Ideen über das Dasein in einer Band niederschrieb. Ich kann gar nicht fassen, dass ich das wiedergefunden habe. Dieses Heft dokumentiert meine allerersten Versuche, meine Kreativität anzukurbeln. Das ist doch mal was.

Denn dies wird nicht bloß der Katalog einer Haushaltsauflösung, sondern auch ein Buch über den kreativen Prozess – genauer gesagt meinen kreativen Prozess. Kein Selbsthilfebuch oder Ratgeber, denn ich glaube, dass alle Menschen das kreative Gen in sich tragen, & ich hoffe, dass ich ein bisschen beleuchten kann, wie der Prozess funktioniert. Für alle. Ihr trefft in jeder Minute des Tages kreative Entscheidungen. Jawohl, das tut ihr. Ich werde es euch beweisen.

Aber jetzt zurück zu diesem Heft …

Die künstlerische Ausdrucksform meiner Wahl ist Popmusik.

Wie so gut wie alle Kinder meiner Generation war ich fast von Geburt an ein Popmusikfan – & als ich Teenager wurde, wollte ich den Sprung vom Zuschauer zum Mitwirkenden wagen. Ein großer Sprung. Dieses Schulheft ist also ein sehr wichtiges Dokument. Es sind meine Schriftrollen vom Toten Meer – der Anfang meiner künstlerischen Laufbahn – & es beginnt mit …

Die Übersetzungen der Texte aus den Abbildungen finden sich im Kapitel »Übersetzungen«.

… Kleidung.

»Die meisten Gruppen haben einen bestimmten Kleidungsstil, der unweigerlich von ihren Fans nachgeahmt wird. Die Pulp-Garderobe sollte aus Folgendem bestehen …«

»Ein verdammter Moderatgeber?« Das war meine erste Reaktion, als ich diese Worte las. Aber das sind die Gedanken meines heutigen Ichs. Das hier sind eindeutige Beweise. Primärquellen. Originalartefakte. Alles hat Bedeutung. Keine Widerrede. Sogar das Kaugummi (vielleicht sogar gerade das Kaugummi).

Hier oben stellen wir uns der Vergangenheit nach ihren eigenen Regeln. Kein Revisionismus. Also schauen wir noch mal hin: Was kann uns dieser Leitfaden zur »Pulp-Mode« verraten?

Nun, er rückt das Image in den Mittelpunkt dieses anstehenden kreativen Abenteuers.

Das erinnert an die Northern-Soul-Szene, die gerade eben anlässlich des Wigan-Casino-Aufnähers Thema war – aber bedeutsamer für mich war, dass nur wenige Jahre, bevor ich diesen Stilführer schrieb, Punkrock passiert war.

Ich nehme an, wenn ihr dieses Buch lest, seid ihr schon ziemlich vertraut mit der Geschichte des Punk. Vielleicht habt ihr sogar die Nase gestrichen voll davon. Es gibt unzählige Bücher zu dem Thema. & Dokumentarfilme. & Blogs. & Facebook-Gruppen. Das ist ein Problem unserer Zeit: wie Dingen durch ständige Wiederholung & Eingemeindung in den Mainstream der Lebenssaft ausgesaugt wird – aber besonders unerfreulich zeigt es sich im Fall von Punk.

Denn Punk war ein Riss. Eine Zeitenwende. Ein völliger Bruch mit der Vergangenheit. Eine Ablehnung des offiziellen Narrativs. Er wollte sich nicht einfügen. Er verlangte neue Klänge, neue Ideen. & neue Klamotten.

Punk betonte die Bedeutung von Kleidung als Bekenntnis zur Neuen Weltordnung – oder als Ausdruck der Abneigung gegen die »normale« Welt. Weniger »mit Kleidung Eindruck machen« als »mit Kleidung Abscheu ausdrücken«.

Die »Pulp-Garderobe« dürfte beim Durchschnittsbürger allerdings nicht allzu viel Abscheu erregt haben: keine Sicherheitsnadeln, kein PVC.

Zur Pulp-Moderevolution gehören:

Dufflecoats (am besten blau oder schwarz): Meine Tante Bess hatte mir einen Dufflecoat gekauft. Spießiger geht’s kaum. & Dufflecoats sind aus dickem Wollstoff, wären also mit Sicherheit kein praktisches Bühnen-Outfit.

Pullover mit rundem Ausschnitt (von der »ranzigen« Sorte von C&A): Im Zentrum von Sheffield gab es einen großen C&A-Laden. Diese Pullover waren 100 % Polyacryl & sehr billig. Kriegten ganz schnell Knötchen. Auch noch ein bisschen zu warm für die Bühne.

Grellfarbiges T-Shirt: Der einzige irgendwie »punkige« Einfluss in dieser Liste. Ich glaube, ich hatte zu Hause mit Stofffarben experimentiert.

Einfarbige Hemden (ohne Muster): Diese Regel hatte nicht lange Bestand.

Ranzige Schlipse: »Ranzig« scheint in dieser Lebensphase eins meiner Lieblingsworte gewesen zu sein.

Röhrenhosen oder eng zulaufende Hosen: Ich staune, dass es die unten eng geschnittene Hose auf die Liste geschafft hat. Wir hatten an der Schule einen Geschichtslehrer namens Mr Marsden, der Anzüge mit extrem eng zulaufenden Hosen trug. Wir nannten sie »Kackhalter«.

Spitze Schuhe & billige weiße Baseball-Sneaker: beides aus einem Militärkleidungsladen in der Nähe des Castle Market in Sheffield.

Haare (eher kurz): Sich die Haare zu schneiden war die schnellste & einfachste Methode, sich als »Punk« zu markieren. Meine Schwester schnitt sie mir. Am Ende hatte ich ziemlich viele kahle Stellen.

Das sind keine »Punk-Klamotten« – es sind sogar größtenteils bloß Variationen der Schuluniform, die ich jeden Tag tragen musste. Kleinere Änderungen, die dem unbeteiligten Beobachter kaum auffallen konnten – nichts, was mir in der Schule Ärger einhandeln konnte –, aber ich wusste, sie waren wichtig.

Punk kam zu einer für mich so wichtigen Zeit: Ich kam gerade in die Pubertät. Ich wollte in einer Band spielen, seit ich sieben war, aber ich hatte keinen Schimmer, wie ich das anstellen sollte. Es schien mir ungefähr so realistisch wie mein anderer Kindheitstraum: Astronaut zu werden. Ich dachte, man braucht dazu wahrscheinlich ein Diplom, irgendeinen akademischen Abschluss, der außerhalb meiner Reichweite lag.

Ich erinnere mich, dass ich mir eines Jahres das Beatles Illustrated Songbook zu Weihnachten wünschte & dann entsetzt war, weil jeder Song aus so vielen Akkorden bestand. Wir besaßen eine Akustikgitarre, die meine Mutter im Studium als Deko gekauft hatte, & ich starrte die Seiten des Liederbuchs an & dann meine Finger & fühlte mich total hilflos. Dann kam Punk & es gab diesen berühmten Slogan auf dem Titel irgendeines Fanzines, der lautete: »Hier ist ein Akkord. Hier ist noch einer. & hier ein dritter. & jetzt gründe eine Band.« Das war absolut perfektes Timing – drei Akkorde zu lernen war gerade noch machbar –, außerdem bedeutete Punk, dass zum Musikmachen mehr gehörte als bloßes Können: Tatsächlich war Können eher ein Problem. Haltung & Glauben waren genauso wichtig. WORUM es in einem Song ging, war ebenso wichtig wie der Klang. Wenn nicht wichtiger. Das Entscheidende war, dass es aufregend sein musste. Ich dachte mir, das würde ich hinkriegen. Außerdem wäre es weniger mühevoll, als ein Instrument »richtig« zu lernen.

 

Ein weiterer Blick in das Schulheft illustriert meine Lage perfekt. Es findet sich da mein hingekritzelter Versuch, ein Musikstück zu notieren. Ich konnte nie Noten im klassischen Sinn schreiben oder lesen – Viertel & Achtel & das alles –, besser als so bekam ich es also nicht hin. Jetzt bin ich nach unten gegangen & habe mir eine Gitarre geholt, um herauszufinden, was für ein Song das ist, & jetzt wird mir klar, dass es die Akkorde zu »Annie’s Song« von John Denver sind. (You fill up my senses etc.) Wow.

Glaubwürdigkeit: zerstört.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, fällt mir ein, dass ich tatsächlich an einer Volkshochschule in unserer Nähe einen Kurs »Gitarre für Anfänger« besuchte & diese Akkorde sorgfältig abschrieb, als der Lehrer sie uns zeigte. Ich weiß noch, dass er das Lied eher abschätzig vorspielte, denn »Annie’s Song« war ein Hit gewesen & er fand ihn kitschig, aber ich war total angetan. Ich war bestimmt kein Riesenfan von John Denver, aber nach der Beatles-Demütigung wollte ich unbedingt irgendwas so spielen können, dass es auch als Song erkennbar war. Ich wollte unbedingt mitmachen. Selbst wenn das hieß, »den Denver zu machen«.

Aber dann kam Punk & machte all diese Bemühungen überflüssig. Rettete mich vor lebenslangem Fingerpicking. Zeigte mir einen anderen Weg. Eine andere Welt. Eine Welt voller Tanzen & Schreien & Lachen.

& Klamotten.

Was für eine Erleichterung. Es könnte allerdings auch noch einen anderen Grund haben, dass ich mein kreatives Manifest mit der Garderobe begann. Bis zu diesem Moment in meinem Leben waren alle meine Kleidungsstücke von meiner Mutter oder anderen Verwandten gekauft worden. & das hatte mich ziemlich belastet.

Das schmerzhafteste Beispiel war die kurze Lederhose, die die deutschen Schwiegereltern meines Onkels John mir als Geschenk schickten, als ich ungefähr sieben war. Sie war aus grauem Wildleder mit flaschengrünem Ledersaum & mit passenden Hosenträgern ausgestattet, auf dem Brustschild ein aus Horn geschnitzter Hirsch. Darin sah ich aus wie ein Ziegenhirte aus den Alpen. Aber meine Mutter meinte, ich könne darin gut zur Schule gehen. Sobald ich das Schulgelände betrat, ging der Spaß los – & es wurde noch besser, als einer meiner Klassenkameraden entdeckte, dass die Hose vorne zwei Reißverschlüsse hatte. Zu der vertrauten Beleidigung »Vierauge« wegen meiner Brille gesellte sich eine weitere – jetzt war ich Jarvis »Doppelpimmel«. Wie gesagt: belastend.

Solche Erfahrungen führten dazu, dass ich stets unauffällig im Hintergrund zu bleiben & nicht aufzufallen versuchte. Mein Name war mir ebenfalls peinlich – ich weiß noch, dass ich bei einem großen Pfadfinderlager dem Gruppenleiter erzählte, ich hieße John, nur damit ich mich nicht öffentlich als »Jarvis« vorstellen musste. Meine Freunde starrten mich fragend an – & dann musste ich die Täuschung das ganze Wochenende aufrechterhalten. Noch belastender.

Ein weiterer Grund also, warum ich so erleichtert aufatmete, als Punk ausbrach: Endlich konnte ich mich entspannen & musste nicht mehr so verklemmt mit meinem komischen Namen umgehen. Punkmusiker gaben sich absichtlich komische Namen! Johnny Rotten, Captain Sensible, Lux Interior, Gaye Advert, Johnny Moped … Ich war ihnen sogar einen Schritt voraus, denn ich brauchte meinen gar nicht zu wechseln.

Meine kreative Reise also mit der »Pulp-Garderobe« zu beginnen scheint mir heute absolut folgerichtig. Kleidung ist ein erreichbares Ziel. Damit sage ich: »Von nun an mache ich mein eigenes Ding – ich weiß zwar vielleicht noch nicht genau, was ›mein eigenes Ding‹ ist, aber das werde ich herausfinden.« Punk gab mir das Selbstvertrauen & die Erlaubnis, mitzumachen. & Kleidung war eine einfache Methode, sich zugehörig zu fühlen, ohne herauszufinden, was als Nächstes kommen sollte. Ich hatte noch keine Band – aber immerhin wusste ich schon, wie die Band aussehen sollte, wenn ich eine hätte. Klamotten brachten den Stein ins Rollen. Schneidert die Kostüme & sucht euch dann die Leute, die sie tragen sollen. Ganz wie bei Feld der Träume.

Wir kommen später noch mal auf dieses Heft zurück – aber jetzt wird es wohl Zeit, einen weiteren Gegenstand aus dem Haufen zu ziehen …

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Zwei

Der Groschen ist gefallen – vielmehr der Penny, besser der halbe Penny. Eine Halfpenny-Münze, in Kunstharz gegossen, um ganz genau zu sein.

Aber Moment mal: Alles muss vollständig & im Zusammenhang betrachtet werden, wisst ihr noch? Ich hatte als Kind nie ein Plasticraft-Bastelset – ich wollte es unbedingt, besaß aber nie eines –, was bedeutet, dass ich diesen Manschettenknopf irgendwann gekauft haben muss. Warum sollte ich so etwas tun? Um etwas zu besitzen, das mir als Kind verwehrt worden war? Das kann nicht der ganze Grund sein. Es ist eine offizielle Münze des britischen Königreichs, umgearbeitet zu Herrenschmuck … Fällt euch dazu irgendwas ein?

Nun, habt ihr mal einen Mann gesehen, der zwei goldene Sovereigns als Manschettenknöpfe trägt?

Während ich dies schreibe, sind goldene Sovereigns ungefähr 400 £ das Stück wert, etwa 480 €. Wer mit solchen Manschettenknöpfen rumläuft, & das taten viele in den 70ern & 80ern, dem guckt also ungefähr ein Riese aus den Jackenärmeln. Ein Statussymbol. Ein Angeber-Statement. So was gilt heutzutage als ziemlich geschmacklos. Aber damals waren sie ein Zeichen, dass man es geschafft hatte – & es zeigen wollte.

& darum gefielen mir die Halfpence-Knöpfe damals so gut: als Punk-Statement. Als Anti-Status-Symbol. Eine kleine Rebellion gegen die Werte der »normalen« Welt, gegen die ich mich entschieden hatte. Dies ist ein Rebellen-Manschettenknopf.

Auf jeden Fall BLEIBT er.

Dieser Haufen Plastiknippes sagt mir: »Pulp«. Bunt. Glänzend. Massenware. Dinge, die man in einem Weihnachtsknallbonbon findet. Aber ich fand sie kostbar. Schauen wir uns das Bild genauer an: Wir haben (1) Weihnachtsmann, (2) Sport, (3) Rauchen, (4) Ehe, (5) Tierliebe & (6) Tod. Das gesamte menschliche Leben ist vorhanden – im Pop-Format. (Pop & Pulp sind für mich austauschbare Begriffe.)

Der Name »Pulp« war schon früh da. Ich habe oft die Anekdote erzählt, dass wir im Wirtschaftsunterricht in der Schule eine Ausgabe der Financial Times zu lesen bekamen & mein Blick im Abschnitt »Rohstoffmärkte« an den Worten »Arabicus Pulp« hängen blieb. (Ich glaube, es hat irgendwas mit Kaffee zu tun.) Die Geschichte ist wahr – aber für mich war das entscheidende Wort »Pulp«.

Denn die Vorstellung, dass eine Kultur durch ihre Wegwerfartikel mehr über sich aussagt als durch ihre vermeintlich verehrten Kunstwerke, faszinierte mich. Fasziniert mich immer noch.

Muss alles BLEIBEN, fürchte ich.

Jetzt habe ich ein Hemd in der Hand. Es ist orange mit weißen Kreisen drauf. Auf dem Etikett ist »Prova« eingestickt. Ich glaube, das war die Eigenmarke der Kaufhauskette British Home Stores.

Dies ist ein »Gold Star«-Hemd. Vielleicht hatte das Einfluss auf meinen Kauf. Noch mehr positive Visualisierung. Doch der Hauptgrund, warum ich euch das zeige, ist ein anderer: Soweit ich mich erinnere (Tusch, bitte), ist dies das erste Stück Secondhandkleidung, das ich jemals erworben habe.

Das war ein großer Schritt für mich. Ich fing an, Secondhand zu kaufen, weil nur hundert Meter von meinem Elternhaus eine Methodistenkirche stand & in deren Gemeindesaal gelegentlich Wohltätigkeitsbasare veranstaltet wurden. & meine Entdeckung von Basaren & Flohmärkten fiel zeitlich so ziemlich mit meiner Entdeckung des Punk zusammen.

Heutzutage kommt ein Flohmarkt wahrscheinlich einem Benefiz-Basar am nächsten, aber die Atmosphäre bei so etwas ist doch anders. Bei einem Basar spenden Menschen ihre nicht mehr benötigten Sachen, damit sie weiterverkauft werden & das eingenommene Geld für ein neues Kirchendach oder dergleichen verwendet werden kann. Bei einem normalen Flohmarkt hoffen die Verkäufer, persönlichen Profit aus dem Verkauf ihrer Dinge zu schlagen. Es fehlt das philanthropische Element. Außerdem bringen Programme wie Antiques Roadshow, bei denen wertvolle Fundstücke begutachtet & verkauft werden, die Flohmarktkunden auf die Idee, sie könnten auf ein unschätzbar wertvolles Meisterwerk stoßen, das sie dann für Millionen versteigern lassen. Darum ist die Atmosphäre womöglich ein bisschen »aufgeladen«. Ich weiß noch, wie ich einmal einen Typen auf einem Flohmarkt beobachtete, der eine Vase umdrehte, um das Meisterzeichen unter dem Boden zu überprüfen – er musste wohl gesehen haben, wie sie es im Fernsehen machen –, & der ganze Schmodder darin, der aussah wie eine alte Fertignudelsuppe, kam herausgeglibbert & lief in seinen Ärmel. Das ist für mich der Inbegriff solcher Flohmärkte.

Wohltätigkeitsbasare sind viel entspannter. & für mein jüngeres Ich waren sie eine so wichtige Inspirationsquelle. Die Botschaft des Punk lautete: »Es ist okay, anders auszusehen.« Ich würde also nicht mehr versuchen (& dabei scheitern), mich anzupassen – von nun an würde ich mir meine Klamotten selbst kaufen. Das einzige Problem an der Sache war, dass ich eigentlich kein Geld hatte. Gut, ich trug Zeitungen aus. Ich verdiente also um die 2 £ die Woche. Aber selbst wenn ihr die damalige Kaufkraft ausrechnet, merkt ihr sicher, dass ich für meine optische Runderneuerung ziemlich begrenzte Mittel zur Verfügung hatte.

Darum waren diese Basare ein Geschenk des Himmels. Sie waren billig. Unglaublich billig, ehrlich gesagt. Normalerweise musste man fünf Pence Eintritt bezahlen, & die einzelnen Stücke kosteten dann so zwischen 10 & 20 Pence. Preiswert. Man konnte sich für weniger als ein Pfund ganz neu einkleiden. & weil die Sachen billig waren, konnte man auch richtig experimentieren. Den Sprung ins Ungewisse wagen. Man konnte ein Kleidungsstück sehen & denken: »Na, das kostet ja bloß 10 Pence, dann kaufe ich es doch einfach & schaue zu Hause, wie es aussieht. Vielleicht steht mir ein Pullover mit Fledermausärmeln richtig gut.«

Auf Basaren entdeckte ich auch meine Instinkte als Jäger & Sammler. Man musste mit anderen Menschen in riesige Kleiderstapel eintauchen & herumwühlen, bis man irgendwas fand, was einem gefiel. Das konnte richtig körperlich werden. Man musste sich schnell entscheiden, wenn man nicht mit leeren Händen nach Hause gehen wollte. Für einen Teenager eine steile Lernkurve.

Es war auf jeden Fall besser, als in ein normales Geschäft zu gehen – abgesehen von der Preisfrage mochte ich Läden nie besonders, Bekleidungsgeschäfte schon gar nicht –, denn die Verkäuferinnen & Verkäufer wollten unweigerlich mit einem reden & liefen einem sogar durch den ganzen Laden hinterher, wenn man sich bloß in Ruhe umschauen wollte. Außerdem kamen mir normale Läden im Vergleich zu Basaren & Flohmärkten jetzt langweilig vor. Da hing alles so brav auf Bügeln. Man musste sich nicht mit einer Gang alter Frauen prügeln, um zu kriegen, was man wollte. Ziemlich reizlos.

& wo waren die Erfrischungen? Bei den Basaren gab es Tee zu sehr anständigen Preisen. & selbst gebackene Kuchen. Da war richtig was los. Ein echter Tagesausflug. Für rund ein Pfund.

Ich bin also froh, dass ich das noch habe. Das erste Hemd, das ich jemals auf so einem Basar gekauft habe. Es verstößt gegen die Hemdenregel aus dem Pulp-Manifest: »Einfarbige Hemden (keine Muster)« (ich sagte ja, die Regel hatte nicht lange Bestand), aber das macht gar nichts, denn es markiert den Beginn einer neuen Wahrnehmung & Haltung.

Denn ich besorgte mir nicht bloß etwas zum Anziehen, ich erwarb auch den Auswurf der Gesellschaft & »nutzte ihn um«. Ich lernte etwas über die Welt, indem ich mir anschaute, was sie wegwarf. Was sie für »wertlos« hielt. Das war der wahre Anfang der Pulp-Ästhetik. Den Abfall durchkämmen, um eine Alternative zum offiziellen Narrativ zu finden. Mit Dingen aus zweiter Hand eine brandneue Geschichte erzählen.

Meine eigene Geschichte erzählen. Das ist, soweit ich das verstehe, im Grunde die Definition des kreativen Akts.

Am selben Tag kaufte ich auch die Nylonversion eines Shetland-Pullovers in Grün, Weiß & Schwarz, den meine Mutter so widerwärtig fand, dass ich ihn unter meinem Bett verstecken musste.

Doch die Wahrheit ließ sich nicht verstecken:

Das große Experiment hatte begonnen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Drei

Ihr solltet nicht glauben, dass meine Teenagerinteressen ausschließlich kreativer Natur waren … manche waren auch kreatürlicher.

Was ich hier in der Hand halte, ist ein Heft mit dem Titel Sexy Laughs – The Fantastic Dirty Joke Book. Das ist sogar schon länger in meinem Besitz als das »Prova Gold Star«-Hemd. & es spielt eine Schlüsselrolle in meiner sexuellen Entwicklung. Im Ernst. Ich werde euch erzählen, wie ich daran gekommen bin.

Von der Schule wurden wir zum Schwimmunterricht im Zentrum von Sheffield geschickt. Da muss ich dreizehn oder vierzehn gewesen sein: schon post-pubertär, aber noch prä-punk. Der Unterricht fand in einem Hallenbad namens Sheaf Valley Baths statt, direkt neben dem Busbahnhof. Wir mussten Sachen machen, wie nach einem Gummiblock auf dem Beckenboden tauchen & in Schlafanzughosen Wasser treten (eine nützliche Fähigkeit, wenn man je beim Schlafwandeln auf einem Schiff über Bord geht).

Es gab immer ein Wettrennen darum, bei der Busfahrt zurück zur Schule oben & in der letzten Bank zu sitzen, denn jeder Mensch mit Verstand weiß, das sind die besten Plätze überhaupt. & eines Tages, als wir nach oben kamen, wartete dort dieses Heft auf uns.

Ihr könnt euch die Erregung vorstellen, die es bei einem Haufen Teenagerjungs auslöste. Ein verstohlener Blick in die Erwachsenenwelt. Ein heimliches Hineinspähen. Es ging von Hand zu Hand, & dann gab es ein bisschen Streit darum, wer es am Ende behalten durfte, als wir wieder ausstiegen. Man sieht, dass es zu Handgreiflichkeiten kam, weil der Einbandrücken abgerissen ist.

Dass es sich jetzt hier oben auf dem Dachboden befindet, muss bedeuten, dass ich diesen Kampf irgendwie gewonnen & es mit nach Hause genommen habe. Kaum zu glauben – ich war mit Sicherheit nicht der »härteste« Typ in der Klasse –, aber der Beweis liegt vor uns. Vielleicht haben die harten Jungs gemerkt, dass meine Not größer war als ihre.

Ich wollte unbedingt alles über Sex herausfinden. Oder vielleicht sollte ich das einschränken: Ich wollte unbedingt alles über Sex aus MÄNNLICHER Perspektive herausfinden.

Vielleicht gibt euch dieses Bild einen Hinweis, warum ich das so formuliere. Das bin ich im Alter von sieben Jahren, umgeben von meinen engsten Angehörigen. Meine Mutter, meine Oma, meine Schwester, meine Tanten Mandy & Jutta – ein sehr weibliches Umfeld (sogar die Katze Nif war ein Weibchen).

Mein Vater hatte die Familie in diesem Jahr verlassen, & der Bruder meiner Mutter war ein paar Monate zuvor gestorben. Der einzige dauerhafte männliche Bestandteil der Familie war mein Großvater (er hat das Foto geschossen), & den fand ich schlicht … alt. Ich konnte mir ihn & Oma nicht beim Sex vorstellen. Das Bild wollte ich gar nicht erst im Kopf haben. Wenn ich also von der Schule nach Hause kam, lauschte ich immer meiner Mum & ihren Freundinnen, die in der Küche plauderten, weil ich auf Hinweise hoffte. Sie redeten oft über die Männer in ihrem Leben. Das war immer ein brennendes Thema, denn all ihre Ehemänner waren aus dem einen oder anderen Grund weg. Bei einem Gespräch, das mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, erzählte eine von ihnen, sie werde ihren Freund »in den Wind schießen«, weil er »zu nett« sei. Das fand ich damals schwer zu begreifen, denn als Kind wird man ständig aufgefordert, »nett« zu sein. Von Erwachsenen. Aber jetzt schien es, als würde diese Regel nicht immer gelten, wenn man selbst erwachsen war. Es gab Ausnahmen – Momente, wo »Nettigkeit« von Nachteil sein konnte. Mehrdeutigkeit. Sex war verwirrend. Ich hoffte, das Fantastic Dirty Joke Book könne ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Soweit ich wusste, lasen (oder schrieben) nur Männer für solche Schmuddelmagazine, das war also meine Gelegenheit, auch die andere Seite zu hören.

Doch ich sollte eine Enttäuschung erleben. Erst mal verstand ich keinen der Witze. Zum Beispiel:

Was zum Teufel sollte das bedeuten? Inzwischen weiß ich, dass es ein lahmer Witz über Kartenspiel ist – aber damals dachte ich, es ginge in verschlüsselter Sprache um irgendwelche Sexpraktiken. Ich meine, Bridge? Eine Brücke, die zwei Landstücke verbindet – also könnte sich das doch auf eine Verbindung zwischen zwei Menschen beziehen? Logisch? Ich hatte keinen Schimmer.

Ein andermal alberte ich mit einem Freund auf der Schaukel des Spielplatzes herum, als uns ein paar ältere Mädchen fragten, ob wir masturbierten. Wieder zu Hause, holte ich das Wörterbuch aus dem Regal & suchte den Eintrag »masturbieren«. Ich erfuhr, dass Masturbation »Selbstbefleckung« bedeutete. Eine Weile dachte ich also, masturbieren heißt, sich beim Essen oder sonstwie zu bekleckern.

Weitere Verwirrung erzeugte die örtliche öffentliche Toilette. Dort gab es eine Menge Schmierereien. Was aber sollte ich mit diesen unsterblichen Versen anfangen?

Once I saw a right shag

It sat upon a wall

I tried to put my jonny on

& strangled my left ball.

Ich sah mal eine Knallerbraut

Die saß an einem Hafenkai

Ich zog mir rasch den Präser drauf

& klemmte mir das linke Ei.

Ich wusste, das musste was mit Sex zu tun haben, aber ich hatte keine Ahnung, was es bedeuten sollte, nur dass es ziemlich unangenehm klang, sich das linke Ei zu klemmen. Sex konnte also auch gefährlich sein. & dass sich die Informationen darüber an einem nach Pisse stinkenden Ort fanden, war auch nicht gerade verheißungsvoll.

Wenn überhaupt, dann trug das Fantastic Dirty Joke Book nur noch mehr zu meiner Verwirrung bei: Weil ich die Witze darin nicht verstand, nahm ich an, dass ich Sex an sich überhaupt nicht begriff.

Inzwischen ist mir klar, dass es einfach Dreckswitze sind.

In dem Heft finden sich auch Schwarz-Weiß-Bilder von halb nackten Frauen.

Also hatte es zumindest einen praktischen Nutzen.

Als ich das Heft zum ersten Mal wiederentdeckte, war mein Sohn gerade in der Pubertät (es hat schon frühere erfolglose Versuche gegeben, sich mit dem Inhalt des Dachbodens zu befassen, oh ja) & ich dachte mir: »Also, mein Vater war nicht da, um mit mir ein ›Aufklärungsgespräch‹ zu führen, aber warum sollte ich es nicht tun?« Damals hatte ich so nach Informationen gelechzt. Ich hatte mir geschworen, wenn es so weit wäre, würde ich meinem Sohn beistehen. Verantwortung übernehmen.

Ich dachte, ich könnte das Heft verwenden, um das Eis zu brechen & die Themen Sex & Verhalten Frauen gegenüber anzusprechen. Ich glaube, viele moderne Eltern werden von kalter Furcht gepackt, wenn ihre Kinder sich der Pubertät nähern. Wir leben im Google-Zeitalter. Wenn ein junger Mensch also »Sex« – oder »nackte Frau« oder gar »Knallerbraut am Hafenkai …« – in die Suchmaschine eingibt, stehen die Chancen gut, dass er oder sie ziemlich Unappetitliches findet.

Es machte mich verrückt, dass die erste Begegnung meines Sohnes mit der Welt der Sexualität sehr explizite oder ekelhafte Bilder im Netz sein könnten.

Also packte ich das Fantastic Dirty Joke Book aus – & begann eine ziemlich peinliche Unterhaltung.

Zuerst erzählte ich ihm, wie ich das Heft gefunden hatte, als ich ungefähr so alt war wie er & meine Neugier auf Sex erwachte. Ich wollte ihm klarmachen, dass es ganz natürlich war, nach Informationen über Sex zu suchen – dass aber das, was man dabei fand, nicht unbedingt eine korrekte Darstellung davon sei, wie Sex zwischen zwei echten Menschen in Wirklichkeit war. Ich erzählte ihm, wie frustriert ich war, weil ich die Witze im Fantastic Dirty Joke Book nicht verstand. Was man online findet (oder in der letzten Reihe im Bus), sind bloß Vorstellungen von Sex. Oder Inhalte, die für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe an die Stelle von Sex treten. Die allgemeine Stoßrichtung (wenn ihr den Ausdruck verzeiht) meiner Ausführungen war, dass Internetseiten oder Pornomagazine keine gute »Einführung« (noch so ein unschöner Begriff) in die Welt sexueller Beziehungen seien. Sex ist etwas, was zwei Menschen miteinander tun. Nicht etwas, was man jemandem zufügt, sondern mit jemandem macht.

Ende des Vortrags.

Nach kurzer Stille fing mein Sohn an zu lachen & lachte ziemlich lange weiter & sagte, das hätte ich mir sparen können, weil man ihm in der Schule schon alles über Sex erzählt hätte. Aber auch das beschwor vor meinem geistigen Auge schreckliche Bilder herauf.

In der einen Sexualkundestunde, die ich in der Schule hatte, wurde uns der »Geschlechtsakt« als Schaubild präsentiert, gefolgt von einigen Nahaufnahmen der Symptome von Geschlechtskrankheiten, & gekrönt wurde das Ganze von extrem plastischen Filmaufnahmen einer Geburt, wobei die Kamera direkt auf die entscheidende Körperpartie gerichtet war. Als der Kopf des Babys herauskam, wurde ich ohnmächtig. Das gesamte »Aufklärungsprogramm« schien den Zweck zu verfolgen, Jugendlichen für den Rest ihres Lebens den Sex zu verleiden. Es hätte beinahe geklappt.

Ich versuchte meinen Sohn davon zu überzeugen, dass Sex viel mehr war als die bloße »technische Ausführung«, aber ich merkte schon, er verlor das Interesse. Also teilte ich ihm noch mit, dass unter dem Waschbecken im Bad Kondome lagen, & beließ es dabei.

Aber das Fantastic Dirty Joke Book hatte sich endlich bezahlt gemacht. Es verhalf mir zu einem Einstieg in das Vater-Sohn-Gespräch. Vielleicht war das Gespräch für den Vater wichtiger als für den Sohn – aber das spielt keine Rolle: Es hatte stattgefunden. BLEIBT.

Manches von dem Zeug hier oben auf dem Dachboden könnte sich doch noch als nützlich erweisen.

Wer hätte das gedacht.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Vier

Es wäre ein Trost, könnte ich glauben, dass ich über all die Jahre ein Lager von Dingen angelegt habe, die mir eines Tages von Nutzen sein werden.

Dann stoßen wir auf einen Gegenstand wie den auf der vorigen Seite abgebildeten. Zunächst irritiert mich, dass ich gar nicht weiß, worum es sich eigentlich handelt. Es sieht aus, als müsste es ein Schlüsselring sein, aber ich kann nicht erkennen, wie man Schlüssel an dieses steigbügelartige Ding bekommen sollte, das an dem Lederriemen hängt. Irgendwelche Vorschläge? & dann der Spruch: »LOVE ME, I’M NICE AND EASY«. Wollte ich wirklich irgendwann »nett & unkompliziert« sein? Oder hielt ich es für komisch unpassend, mich so zu etikettieren? Womöglich hätte ich gegen das Warenkennzeichnungsgesetz verstoßen.

Nach zwanzig Jahren habe ich immer noch nicht herausgefunden, was es ist, also hänge ich wohl nicht so sehr daran. WEG.

Das sieht schon vielversprechender aus. Ein Weltempfänger von Sterling. Ein Radio mit beeindruckendem Skalenknopf & einer Weltkarte, auf der man die Zeitzonen ablesen kann. Außerdem hat es »Rauschunterdrückung«.

Ich habe von frühester Kindheit an Radio gehört, aber mein erstes Livekonzert habe ich erst mit dreizehn gesehen. Als Fünfjähriger glaubte ich also, dass Musik stets perfekt geformt & vorgefertigt aus einer kleinen Kiste auf dem Küchenregal kommt. (Wäre ich im 18. Jahrhundert geboren, hätte es vielleicht einen seltsamen Onkel gegeben, der ab & zu vorbeigekommen wäre & an meiner Wiege eine Blechflöte gespielt hätte. & das wäre dann meine erste Musikerfahrung gewesen. Erschreckender Gedanke.)

Doch zu der Zeit, als ich tatsächlich auf die Welt kam, war Musik GLEICHBEDEUTEND mit Radio, jedenfalls in meiner Erfahrung. Vor allem Pop-Radio. Einige meiner frühesten Erinnerungen sind, wie ich mich morgens für die Grundschule fertig mache, während im Hintergrund Terry Wogan die Breakfast Show moderiert. Ich hatte ein klares Bild von ihm im Kopf: ein blonder Mann in einem cremefarbenen Aran-Strickpullover mit Zopfmuster. Diese Vorstellung hatte ich ausschließlich vom Klang seiner Stimme abgeleitet. Es war ein richtiger Schock, als ich irgendwann beim Fernsehquiz Blankety Blank sein wirkliches Äußeres sah.