Gut, dass du nicht mehr da bist - Franziska Hohmann - E-Book

Gut, dass du nicht mehr da bist E-Book

Franziska Hohmann

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Beschreibung

Was passiert, wenn sich die von Natur aus sicherste Bindung der Welt unsicher anfühlt?

Seit sich Fränzi erinnern kann, verbringt ihre Mutter die meiste Zeit weinend im Bett. Was sie als kleines Mädchen nicht weiß: Ihre Mama ist schwer depressiv. Zeitlebens nimmt die Krankheit mehr Raum ein als Fränzis Sorgen oder Wünsche – schon als Kindergartenkind kocht Fränzi für ihre Mutter und tröstet sie. Sie will ein vorbildliches Kind sein, eines, das keine Probleme macht.

Franziska Hohmann erzählt schonungslos und zugleich liebevoll, wie sie ihr Leben lang versucht, ihrer kranken Mutter eine Stütze zu sein, wie sie dabei selbst gnadenlos untergeht und alkoholkrank wird – und warum sie ihre Mutter trotz allem liebt. Kraftvoll und Mut machend berichtet sie auch von der erwachsenen Fränzi, einer Frau, die Schritt für Schritt lernt, in Liebe loszulassen.

»Ich bin mit einer schwer psychisch kranken Mutter aufgewachsen und selbst fast in den Abgrund gestürzt. Nun teile ich meine Geschichte, um Menschen zu erreichen, die Ähnliches erlebt haben oder gerade erleben. Mit diesem Buch möchte ich Mut machen, nicht aufzugeben.«

  • Was passiert, wenn sich die von Natur aus sicherste Bindung der Welt unsicher anfühlt?
  • Kraftvoll, Mut machend und trotz allem unterhaltsam: wie man sich von einer vergifteten Vergangenheit befreien kann
  • Raus aus der Tabuzone: Franziska Hohmann ist eine Identifikationsfigur für die vielen erwachsenen Kinder aus toxischen Eltern-Kind-Bindungen

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch: 

Was passiert, wenn sich die von Natur aus sicherste Bindung der Welt unsicher anfühlt?

Seit sich Fränzi erinnern kann, verbringt ihre Mutter die meiste Zeit weinend im Bett. Was Fränzi als kleines Mädchen noch nicht weiß: Ihre Mama ist schwer depressiv. Zeitlebens nimmt die Krankheit der Mutter mehr Raum ein als Fränzis Sorgen und Wünsche, während sie versucht, den Spagat zwischen ihrem eigenen Leben und den Bedürfnissen ihrer Mutter zu schaffen. Doch schon früh flüchtet sie sich in die Welt des Alkohols und zerstört sich damit fast selbst.

Franziska Hohmann erzählt schonungslos und zugleich liebevoll, wie sie versucht, ihrer kranken Mutter eine Hilfe zu sein, wie sie dabei selbst gnadenlos in einer Suchterkrankung untergeht – und warum sie ihre Mutter trotz allem sehr liebt. Kraftvoll und Mut machend berichtet sie auch von der erwachsenen Fränzi, die sich von all dem befreit hat und heute gesund und glücklich ist.

Über die Autorinnen:

Franziska Hohmann ist in der nationalen und internationalen Musik- und Medienbranche zu Hause. Als PR-Managerin platziert sie seit über zwei Jahrzehnten Stars wie Sarah Connor, Tokio Hotel, Alphaville, Adel Tawil oder Lenny Kravitz im deutschen Fernsehen und berät Künstlerinnen und Künstler auf ihrem Weg. Die gebürtige Hessin lebt heute in Berlin und auf Mallorca – ihrer ganz persönlichen Kraftinsel. Seit 2023 begleitet sie als Systemischer Coach und Resilienztrainerin mit FiveDiamondsCoaching Menschen dabei, mutig Veränderungen anzugehen und gestärkt durchs Leben zu gehen.

Nina Faecke lebt als freie Journalistin, Buchautorin und Ghostwriterin in Hamburg. Nach dem Studium der Literaturwissenschaften und der Journalistik arbeitete sie als Reporterin und Blattmacherin in verschiedenen Zeitschriftenverlagen wie etwa Gruner + Jahr. Heute ist sie selbstständig und schreibt am liebsten Interviews und Porträts, zum Beispiel für Die Zeit. An der Akademie für Publizistik unterrichtet sie zudem als Dozentin den journalistischen Nachwuchs. In ihrem Podcast Sinn & Krise – Gespräche aus der Mitte des Lebens stellt sie regelmäßig fest: Es gibt ein Leben jenseits der 40. Und was für eins.

Franziska Hohmann

Nina Faecke

Gut, dass du nicht mehr da bist

Die toxische Beziehung zu meiner Mutter – und wie ich lerne loszulassen

Wilhelm Heyne Verlag München

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Grundlage für die in diesem Buch enthaltenen Dialoge und Geschehnisse sind die Erinnerungen von Franziska Hohmann. Die Gespräche sind sinngemäß wiedergegeben. Ein Anspruch auf wörtliche Übereinstimmung mit tatsächlich stattgefundenen Dialogen wird nicht erhoben. Zum Schutz Einzelner wurden einige Namen anonymisiert und einzelne Ereignisse verfremdet.

Copyright © 2025 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Dieses Werk wurde vermittelt von dots&plots.

Redaktion: Heide Grehl

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design

unter Verwendung einer Illustration von Shutterstock/Ahsan Nafis und eines Fotos aus der Privatsammlung der Autorin Franziska Hohmann

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-33061-3V001

www.heyne.de

Für Annette

Inhalt

Vorwort

Prolog

1  Eine Trauerhalle in der Nähe von Frankfurt am Morgen des 6. Januars 2022

2  Ein Einfamilienhaus in der Nähe von Frankfurt, 1982 bis 1987

Gesprächsprotokoll Rosi

3  Berlin im Mai 2023

Gesprächsprotokoll Ramona

4  Auf dem Internat, Anfang bis Ende der 1990er-Jahre

5  Berlin im Juli 2023

6  Berlin, Ende der 1990er- bis Mitte der 2000er-Jahre

Gesprächsprotokoll Oli

7  Mallorca im August 2023

Gesprächsprotokoll Ines

8  Berlin, März 2007 bis November 2017

9  Berlin, Hessen, Potsdam und Brandenburg, November 2017 bis Mai 2018

Gesprächsprotokoll Britta

10  Ein Einfamilienhaus in der Nähe von Frankfurt, 27. Mai 2018

Gesprächsprotokoll Agnes

11   Barcelona im November 2023

12   Hamburg im Frühjahr 2019

13   Mallorca im Dezember 2023

Nachwort von Franziska Hohmann

Spezieller Dank

Danksagungen

Interview mit Prof. Eva Asselmann: »Die Familie ist der Ort, an dem man lernt, wie Beziehung geht und wie Nähe sich anfühlt«

Hilfsangebote

Vorwort

Liebe Menschen,

dieses Buch erzählt von mehreren Leben in einem. Dem der kleinen Fränzi, der Jugendlichen, der jungen Frau, die Alkohol trinkt, damit sie nichts mehr spüren muss. Und dem aktuellen Leben der geheilten Fränzi.

Ich blicke mit Liebe auf meine Vergangenheit zurück, auch wenn so vieles schwierig war. Während der intensiven Auseinandersetzung mit meiner Biografie wurde mir bewusst, dass es sich richtig anfühlt, Vergangenes erzählerisch ein Stückchen weiter von mir wegzurücken. Deshalb werdet ihr in den Kapiteln, die meine Vergangenheit behandeln, von Fränzi in der dritten Person lesen.

Heute bin ich gesund und stehe mitten im Leben. Ich bin nicht perfekt, aber ich bin ganz. Und vor allem: Ich bin ganz da! Diesen Wechsel sollt ihr beim Lesen auch in der Erzählperspektive spüren. Aus diesem Grund stehen die Gegenwartskapitel in der Ich-Perspektive. Denn: Meine Gegenwart gehört mir! Und wenn ihr dieses Buch gelesen habt, gehört sie auch ein bisschen euch.

Alle, die gerade diese Zeilen lesen und denken, in meiner Geschichte schon jetzt für sich selbst etwas aufzuspüren: Ihr seid nicht allein. Euch und allen anderen danke ich dafür, dass ihr meine Geschichte lest.

Eure Fränzi

Prolog Eine Tankstelle in der Nähe von Frankfurt am Abend des 6. Januars 2022

Ich stelle mir vor, wie der Alkohol auf meiner Zunge kitzelt. Wie er warm und sanft meine Kehle hinabfließt, sich in meinem Brustkorb ausbreitet, kribbelnd in den Magen strömt und sich in jede meiner Zellen einnistet. Wie er mich in Sicherheit wiegt. Diese Sicherheit ist eine Belohnung, genau wie die Wärme. Ich verdiene heute beides.

Ist es 21:02 Uhr oder 21:07 Uhr? Ich kann die Ziffern auf dem Armaturenbrett kaum erkennen. Das orangefarbene Display glimmt so schwach, dass ich die Augen zusammenkneifen muss. Ob das an der uralten Autobatterie liegt? Es muss Monate her sein, seit meine Mutter den Wagen bewegt hat. Ständig rattert oder klackert es irgendwo. Ein Wunder, dass der Motor vorhin überhaupt angesprungen ist. Mein Fuß tippt wie ferngesteuert aufs Gas. Die Anzeige wird heller. 21:07 Uhr. Noch ein paar Stunden, dann habe ich auch diesen Tag überlebt.

Das grelle Tankstellenlicht drängt sich in mein Sichtfeld. Erst jetzt merke ich, wie gemütlich ich mein orangefarbenes Halbdunkel fand. Ich blinke besser schon jetzt, auch wenn es noch ein paar Meter bis zur Einfahrt auf das Tankstellengelände sind. Nicht dass der Stresser im SUV hinter mir gleich verpasst zu bremsen. Klick, klack, klick, klack, klick, scheiß auf den Schulterblick, klack, klick, klack. Es rumpelt, als ich über die hohe Bordsteinkante fahre. Im Rückspiegel sehe ich, wie der SUV unbeeindruckt weiter in Richtung Frankfurter Innenstadt düst.

Ich will keine der Tanksäulen blockieren, auch wenn ich gleich wieder weg bin. Am besten halte ich neben den Staubsaugerautomaten, die müssen sie nach 20 Uhr sowieso abschalten. Motor aus. Und jetzt? Reingehen oder doch nicht? Wie erstarrt, so fühlt sich mein Körper an. Obwohl ich gerade noch genau wusste, warum ich hierhergefahren bin, fange ich an zu zweifeln. Bin ich dem gewachsen, gerade heute? Schaffe ich das?

Tankstellen in Deutschland funktionieren nach einem bestimmten Prinzip. Wenn du reinkommst, sind da zuerst die Zeitschriften. Dann kommt eine Eistruhe, eventuell Blumenkübel mit in Plastik eingeschlagenen Sträußen. Diesen Bereich nenne ich Level 1 – unverfänglich. Dann kommt Level 2, wo du zum ersten Mal die Wahl hast: Du könntest in Richtung der Kühlregale gehen, in denen nach Pizza, Wurst- und Käseaufschnitt auch die Getränke lagern. Meist in Dosen oder größeren Flaschen – ein bisschen riskant. Du musst da aber nicht lang, du kannst auch den Weg vorbei an dem ganzen ungekühlten Zeug nehmen. Toblerone, Thunfisch, Tampons – ein Kinderspiel. Kritisch wird es erst bei Level 3. Das besteht aus nur einem einzigen Weg. Keine Wahlmöglichkeiten mehr. Und Level 4. Aber daran will ich jetzt lieber nicht denken.

Als ich die Fahrertür aufstoße, fällt mir auf, dass ich ohne Jacke aus dem Haus gegangen bin. Die kalte Winterluft zieht mein linkes Hosenbein hoch. Gänsehaut. Nicht verwunderlich, die schwarze Kombi aus Blazer und Anzughose ist viel zu dünn für Anfang Januar. Meiner Mutter hätte sie aber gefallen. »Schick haste dich gemacht«, hätte sie gerufen. Ich hätte misstrauisch gelächelt, woraufhin sie die Unterhaltung mit einem »Aber zugelegt haste ordentlich!« im Keim erstickt hätte.

Auch die Bouquets aus weißen Rosen wären nach ihrem Geschmack gewesen. Obwohl ich sie selbst bestellt hatte, war ich erschlagen von der Menge – als hätten die Blumen Besitz von der ganzen Trauerhalle ergriffen. Ich war überrascht, wie viele Menschen mit eigenen Kränzen gekommen waren. Meine Mutter hatte wohl doch mehr Freunde als gedacht. Oder, schoss es mir heute Vormittag durch den Kopf, waren die Leute gar nicht ausschließlich für meine Mutter, sondern auch ein bisschen für mich gekommen?

Ich steige aus und schlage die Fahrertür mit mehr Wucht als nötig zu. Gut, dass ich so weit entfernt geparkt habe, so kann ich mir auf dem Weg zum Eingang überlegen, ob ich heute wirklich in der Verfassung bin, mich den beiden schwierigsten Leveln zu stellen. Da wäre einmal das bereits erwähnte Level 3, der Bereich um die Kasse. Dort lagert, was ich heute will: die Schokoriegel, die Gummitierchen und die Chipstüten. Am liebsten kaufe ich zwei oder drei kleine Tüten anstatt einer großen, die unterschiedlichen Geschmacksrichtungen kicken besser. Heute nehme ich vielleicht das komplette Chipssortiment mit, von »Ungarisch« bis »Sour Cream and Onion«. Schließlich habe ich vor ein paar Stunden das, was einmal meine Mutter war, in einer Urne durch einen Raum mit lauter weinenden Menschen getragen. Und in meiner Trauerrede im Café gesagt, dass sie mir fehle – das tut sie wirklich. Da wird ein bisschen Kompensation mit frittierten Kartoffelscheiben ja wohl drin sein.

Wäre da bloß nicht Level 4 mit seinem übermächtigen Endgegner, das Regal rechts neben der Kasse. Das mit den Miniwodkas, den Kleinen Feiglingen und anderen Kurzen. Ich nenne es das Säuferregal, denn für niemand anderen ist es gedacht. Bezwingen kann ich diesen Endgegner nur, wenn ich ihn ignoriere.

Der Sensor der Glasschiebetür scheint meine knappen eins siebzig Körpergröße nicht zu erfassen – was soll das denn jetzt? Jedenfalls bleibt die Tür geschlossen. Ist das ein Zeichen? Gott bewahre!

»Du kannst nicht in der Umgebung heilen, die dich krank gemacht hat.« Der Spruch meiner Therapeutin schwirrt mir schon den halben Tag im Kopf herum. Wenn ich in der Suchtberatung aber eines gelernt habe, dann, dass ich die Endgegner im Alltag – und von denen gibt es reichlich – immer wieder besiegen kann.

Nach ein paar Ausfallschritten nach hinten schiebt sich die Glastür endlich auf. Stickige Heizungsluft strömt mir entgegen. Wo ist eigentlich mein Geldbeutel? Ich bleibe neben dem Zeitschriftenregal stehen und greife in die rechte Blazertasche. Es knistert. Die Gummibärchen! Ramona hat mir die Tüte heute früh zugesteckt. Daran erinnere ich mich. Doch mich wundert, dass sie leer ist. Ich kann mich nicht entsinnen, heute überhaupt etwas gegessen zu haben.

In der Selbsthilfegruppe habe ich gelernt, dass Verlust, Trauer, Wut, aber auch Gefühle wie Erleichterung und Freude die besten Gründe sind, um wieder mit dem Trinken anzufangen. Jetzt gerade fühle ich jedes einzelne.

Mein Blick fällt auf ein paar Nelken in einem Eimer, sie lassen die Köpfe hängen. Ich greife in meine linke Blazertasche. Kein Geldbeutel, aber immerhin die Kreditkarte.

»Vorsicht, Rutsch- und Sturzgefahr«, steht auf dem gelben Schild, das mir den Weg Richtung Level 3 weist. Der Gang ist als Einziger mit einer grauen Matte ausgelegt, vielleicht sieben, acht Meter lang. Als ich auf die Matte trete, quietscht es, wahrscheinlich weil es den ganzen Abend geregnet hat und schon viele nasse Schuhsohlen darübermarschiert sind. Der Regen hat heute nur für eine einzige Stunde ausgesetzt, während der Trauerfeier. Absurd.

Ich kann die kleinen Chipstüten jetzt sehen. Prall, glänzend und wie erwartet im unteren Regal vor der Kasse. Der Mann dahinter lächelt mich an. Ich mache den nächsten Schritt auf der Quietschematte, schaue auf meine schwarzen Stiefel und anschließend wieder auf die Chipstüten, mir kann nichts passieren.

Nur nicht nach rechts gucken, Fränzi, immer schön geradeaus. Du kannst das. Ich balle die rechte Hand zur Faust. Dann lasse ich locker. Und noch mal. »Auf Anspannung folgt Entspannung«, so betet es mir die Therapeutin doch immer vor. Aber ich spüre keine Entspannung, nur meine kalten Finger in meiner schwitzigen Handfläche. Früher hätte ich nicht so ein Geschiss um den Einkauf in einer Tankstelle gemacht. Ich wäre hineinspaziert, hätte mir zwei Flaschen Weißwein geschnappt, beim Bezahlen ungefragt irgendetwas von »Party bei Freunden« oder »Housewarming« gesagt, und fertig. So einfach ist das aber nicht mehr.

Mein Blick wird neblig. Als hätte ich Watte in den Augen. Kommt das von dem grellen Licht hier drin? Ich blinzle, aber die Watte geht nicht weg. Endlich stehe ich vor dem Kassierer. Die Miniwodkas sind jetzt nur noch eine Armlänge von mir entfernt. Ich habe das Gefühl, die Fläschchen im rechten Augenwinkel funkeln zu sehen. Es würde keine Sekunde dauern, nach einem zu greifen. Dazu eine Alibidose Red Bull, damit es nicht nach Suff, sondern Longdrink aussieht. Bezahlen, raus und im Auto den ersten Schluck seit dreieinhalb Jahren nehmen.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragt der Kassierer und macht ein besorgtes Gesicht. Ich schüttle mit dem Kopf. Vom hinteren Teil der Theke weht der Duft von Bockwurstwasser herüber. Ich muss an meine Mutter denken. Daran, wie ich ihr nach der Party im Golfclub die Haare hielt, während sie sich ins Klo übergab. An den Moment, wie ich als Elfjährige auf dem Internatsparkplatz stand und kapierte, dass sie nicht kommen würde, um mich abzuholen. An den kalten Flur in der Entzugsklinik, und wie ich nachts mit Beruhigungstabletten im Blut barfuß in die Küche schlich, um heimlich Burger zu braten.

Mein Herz pocht bis hoch in die Schläfen. »Sind Sie okay?«, fragt der Kassierer etwas dringlicher. Ich gehe in die Hocke und fische drei Chipstüten aus der Auslage.

Als ich wieder hochkomme und die Tüten auf den Tresen lege, nicke ich. Ja, es ist alles okay. Zumindest für den Moment. Zumindest in dieser Minute.

1Eine Trauerhalle in der Nähe von Frankfurt am Morgen des 6. Januars 2022

Ich stehe mit dem Rücken zur Tür. Hinter mir der Eingang der Trauerhalle, vor mir Stuhlreihe um Stuhlreihe. Heute sieht der Raum ganz anders aus als noch vor zwei Wochen bei der Besichtigung. Besichtigung – das klingt falsch, irgendwie nach neuer Wohnung. Wie nennt man es denn, wenn man sich den Ort anguckt, an dem man der eigenen Mutter für immer Lebewohl sagt? Instinktiv ziehe ich die Schultern hoch und den Kopf ein. Dabei habe ich bei diesem Anblick doch allen Grund, zufrieden zu sein. Vom hölzernen Braunton der Trauerhalle ist fast nichts mehr zu sehen. Das Podest, auf dem das Pult des Trauerredners steht, ist durch drei Stufen von den Stuhlreihen abgesetzt. Alles dort oben strahlt. Die stattliche weiße Urne mit dem kitschigen Engel vorne drauf, in der ihre Asche liegt, und vor allem die unzähligen weißen Rosen. Ihre Lieblingsblumen. Ich habe so viele Rosen von der Friedhofsgärtnerei liefern lassen, dass die Bestellung fast für Engpässe gesorgt hätte. Ha, so ein Brimborium, das hätte meiner Mutter gefallen! Oder? Sicher sein kann ich mir nicht, denn außer dem Wunsch, eingeäschert zu werden, hat sie keine weiteren Gedanken für mich festgehalten. Ganz anders als die inzwischen ebenfalls verstorbene Mutter einer guten Freundin. Sie hat ihrer Tochter einen langen liebevollen Brief mit ihren Vorstellungen für das Begräbnis hinterlassen. Machte man das als gute Mutter nicht so, um dem Kind neben dem Schmerz ein bisschen was von dem großen Chaos zu ersparen?

Mehrere Blumenkränze thronen um das Pult, allesamt gesteckt und gebunden aus dicken weißen Blüten. Direkt neben meinem steht der von Rosi, einer von Mamas ältesten Freundinnen. Und der Kranz neben Rosis, von wem war der noch mal? Es sind so viele, wie soll man da den Überblick über die Absender behalten? »In Gedenken an Annette« oder »Wir werden dich nie vergessen, Annette« steht in goldener Schrift auf opulenten Schärpen, die an den Kränzen hängen. Auf einer anderen Schärpe lese ich die Worte: »Jetzt bist du erlöst.« Ich nicke.

»Was?«, fragt Ramona leise. Ramona steht so dicht hinter mir, als müsste sie in der Lage sein, mich aufzufangen, falls ich falle. »Wie, was?«, entgegne ich, ohne die Schärpe mit dem Erlösungssatz aus den Augen zu lassen. »Du hast gerade genickt, warum?« Ich nicke noch mal und flüstere Ramona zu: »Ich weiß nicht.« Doch ich denke bei mir: Vielleicht weiß ich es doch, aber sagen kann ich es nicht, nicht mal Ramona. Noch nicht.

Ramona und Britta waren am Abend zuvor aus Berlin angereist. Sie übernachteten mit im Haus meiner Mutter und stellten am Morgen mit mir das Outfit für den Tag zusammen. Sie stopften Taschentücher in die eine Tasche meines Blazers und statteten die andere mit Gummibärchen aus. Sie bemuttern mich richtig. Weich und warm fühlt sich das an. Ich spüre, wie sich die beiden bei mir unterhaken. Sie schieben mich ein Stückchen weg von der Eingangstür. Ich stehe jetzt in der Mitte des Gangs. Auf der einen Seite ist die Tür der Trauerhalle, sie wirkt klein und dunkel, auf der anderen das große strahlende Weiß. Wie angewurzelt stehe ich auf einem Fleck, als hätte man mich eben dort abgestellt. Wie eine Figur aus einem Schachspiel, die auf den nächsten Zug wartet. Meistens ist der nächste Zug eine Umarmung, die ich bekomme, kombiniert mit lieben Worten oder ein paar stumm verdrückten Tränen.

Ist das immer noch der Funktionsmodus, in dem ich mich befinde? In diesen Zustand war ich wenige Stunden, nachdem ich am Flughafen vom Tod meiner Mutter erfahren hatte, hinübergeglitten. Zuerst hatte ich so viel geweint wie insgesamt in meinem ganzen Leben noch nicht. Doch im Anschluss setzte sofort mein Retterinstinkt ein: sich um alles kümmern, an alles denken, bloß nicht ausruhen, am besten alles allein erledigen, dann passieren schon keine Fehler.

Mein Blick wandert über die schwarz gekleidete Masse. Obwohl es noch etwas dauert, bis die Beerdigung beginnt, sind fast alle Sitzplätze belegt. Manche der Menschen blicken mit gesenktem Kopf vor sich hin. Andere tauschen sich im Flüsterton miteinander aus. Die Stimmung ist im Keller, alle sind traurig. Anders darf es ja auch gar nicht sein. Ein paar Satzfetzen fliegen dann und wann zu mir herüber. »Wie die Blumen duften, herrlich!« oder »Nein, sieht das schön aus!« oder »Mein Gott, die arme Annette!« oder »Mein Gott, die arme Fränzi!«. Eine einzige schwere Wortmasse. Wie zäher Teig oder zu lang gekauter Kaugummi. Mein Blick kommt immer wieder bei der weißen Urne an, tapfer steht sie auf einem kleineren Pult, direkt neben dem großen, und strahlt hinab auf die Trauernden. Doch, doch, das alles hätte meiner Mutter sicher gefallen. Besonders der kitschige Engel.

Mein Herz pocht schnell und fühlt sich dabei an, als wären die Schichten meines Körpers, die eigentlich die Aufgabe haben, es zu schützen, dünner geworden. Auch das Atmen fällt mir schwer. Ich bin hellwach und todmüde zugleich. Geschlafen habe ich in dieser Nacht kaum. So viele Fragen, auf die ich keine eindeutige Antwort finden konnte. Nicht in der Nacht, nicht heute früh. Irgendwann? Bis zuletzt war ich nicht sicher, ob ich eine Grabrede schreiben und dann auch halten können würde. Doch heute früh um sechs Uhr zog es mich plötzlich unter der warmen Bettdecke hervor und in das spärlich beheizte Wohnzimmer meiner Mutter, wo ich schließlich alles in einem Rutsch runterschrieb. Ganz leicht war es mir von der Hand gegangen. Ist das nicht komisch?, fragte ich mich im Morgengrauen und später Ramona und Britta. »Nein, wieso?«, fanden beide. Ich versuche noch immer, mich mit dieser Antwort zufriedenzugeben.

Welche meiner Freundinnen hatte mich eigentlich vor einer knappen Stunde zur Beerdigung gefahren? Oder hatte ich selbst hinterm Steuer gesessen? Das gibt’s doch nicht, ich kann mich nicht erinnern. Auch wenn an diesem Tag bislang alles nur so an mir vorbeizieht, nehme ich jetzt wahr, wie Britta einige der Gäste in Empfang nimmt. Und wie Ramona auf herzliche Weise irgendetwas mit dem Trauerredner klärt. Gut, dass die beiden da sind, gut, dass sie bei diesem Gang zwischen Leben und Tod hinter mir stehen. Es fühlt sich richtig an, heute nicht allein zu sein. Dabei bin ich doch so gut im Alleinsein. Ja, meine Mutter hatte sich ihr Leben lang durch Depressionen und eine Psychose nach der anderen gequält – und ich mit ihr, aber das steht hier nicht zur Debatte, hatte es nie innerhalb unserer Mutter-Tochter-Beziehung. Dass meine Mutter jetzt tot ist, ist trotzdem schwer zu begreifen. Ich spüre Zufriedenheit beim Anblick des opulenten Blumenschmucks, den ich organisiert und bezahlt habe. Und zugleich fühlt es sich so an, als würde ich den Boden unter den Füßen verlieren, weil jetzt der eine Mensch nicht mehr da ist, den ich am meisten geliebt und am meisten gehasst habe. Wie, um alles in der Welt, soll ich diesen Tag überstehen – ohne meine Mama? Und dann auch noch ohne Alkohol.

Ich umarme viel und nehme noch mehr Beileidsbekundungen entgegen, dabei versuche ich, die Urne nie aus den Augen zu verlieren. Kommt dieser Teil mit dem Beileid nicht erst am Schluss, wenn man es geschafft hat? Warum stürmen alle auf mich zu, als wäre ich ein kleines Mädchen? Aber lieb finde ich es schon auch. Wie es sich wohl anfühlen wird, wenn ich die Asche meiner Mutter gleich zu Grabe tragen werde? Während der ganzen Organisationsphase hatte mir eine Freundin, die auch ein schwieriges Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter hatte, geraten, nicht den Urnenträger die Urne zu Grabe tragen zu lassen, sondern das selbst zu übernehmen. Das würde helfen, hatte die Freundin gemeint, und ich hatte den Vorschlag instinktiv angenommen, statt ihn noch zehn- oder zwanzigmal in meinem Kopf abzugleichen.

Als ich den Termin bei der Bestatterin hatte, hatte die mich recht irritiert angesehen und gesagt: »Frau Hohmann, also, ich verstehe Sie, aber das ist eher unüblich.« Dann hatte sie die Hände etwas verkrampft im Schoß gefaltet. Ich hatte sofort gedacht, dass die Frau gar nichts versteht und das Verhältnis zu meiner Mutter auch eher unüblich gewesen war und sie meinen Wunsch doch bitte einfach in den Unterlagen festhalten soll.

»Bitte. Es ist mir wirklich wichtig.« Ich sah der Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs lang in die Augen, als ich diesen Satz sagte.

So lang, bis diese schließlich sagte: »In Ordnung, Frau Hohmann, dann machen wir das so.« Geht doch, dachte ich, ohne weiter über den Gang mit der Urne nachzudenken. Es gab genügend andere To-dos, und die musste ich Schritt für Schritt abarbeiten.

Helfen würde es, die Urne der Mutter selbst zu tragen, hatte die Freundin immer wieder gesagt. Wobei eigentlich?, frage ich mich jetzt, wo der Gang in einer Stunde, vielleicht anderthalb bevorsteht. Oder wogegen?

Die Süße der Rosen strömt vom Podest bis zu mir. Die Blumen duften wirklich gut. Eine ältere Dame erhebt sich aus einer der vorderen Sitzreihen. Rosi. Sie arbeitet sich durch die inzwischen voll besetzten Stuhlreihen und wischt sich immer wieder verstohlen Tränen aus den Augen. Als Rosi auf meiner Höhe ist, fasst sie mich am Arm. Ganz sanft. So wie früher. »Ich hol noch mal ein paar Taschentücher aus dem Auto, Fränzilein. Bin gleich wieder da«, flüstert sie. Ich spüre Rosis warme trockene Hand auf meinem kalten Unterarm und lächle sie an.

Der Strom an Besuchern ist verebbt. Zum Glück, einige von ihnen haben nicht einmal einen Sitzplatz abbekommen, so groß ist der Andrang. Gleich geht es los. Gleich werde ich in der ersten Reihe, direkt gegenüber von der Urne, meinen Platz einnehmen. Einatmen. Ausatmen. Du kannst das.

Ich erinnere mich noch genau an die Kurve im Flughafen auf Mallorca, in der ich am Morgen des 17. Dezembers den Anruf aus Deutschland bekam. »Jetzt ist sie gegangen«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

Ich traute meinen Ohren nicht. Wieso gerade jetzt, nachdem ich mein Leben wochenlang ins Krankenzimmer meiner Mutter verlegt hatte, um immer an ihrer Seite sein zu können? Wieso gerade jetzt, wo ich sie wenige Tage zuvor in das schönste Pflegeheim gebracht hatte, das ich in ganz Hessen finden konnte? Wieso gerade jetzt, wo ich in dem Glauben war, meine Mutter sei den Umständen entsprechend in einem stabilen Zustand? Wieso gerade jetzt, wo ich mich zum ersten Mal seit Monaten für einen Moment um mich selbst gekümmert hatte, um dann, mit neuer Kraft, zurück zu meiner Mutter zu reisen?

»Gegangen. Sie ist gegangen« – die Worte hallten in meinem Kopf nach. Zuerst im Schneckentempo, als ob man eine Sprachnachricht mit verringerter Geschwindigkeit abspielt. Dann auf einmal immer schneller und schneller. Überall Menschen um mich herum, die hin und her wuselten, von Gate zu Gate und von Termin zu Termin. Gerade noch war ich eine von ihnen gewesen. Jetzt plötzlich nicht mehr. Auf einmal war ich ein Kind, das keine Mutter mehr hatte. Weil die »gegangen« war. Fort. Weg. Nicht mehr da. In meinem Magen, meiner Kehle, hinter den Augenhöhlen fing es an zu drücken. Als wollte etwas raus. Meine Knie fingen an zu zittern. So sehr, dass ich die Beine ein wenig anwinkeln musste. Ich tastete mit tauben Fingern nach der Sitzbank, die ich neben mir vermutete. Die war doch immer hier gewesen, in dieser Kurve in Richtung Gate, oder? Bis vor ein paar Jahren hatte ich genau dort regelmäßig einen Zwischenstopp eingelegt, um einigermaßen unbeobachtet einen Schluck aus meinem Flachmann zu nehmen.

Ja, da war sie, die vertraute Holzoberfläche. Ich ließ mich fallen und den Tränen, die in den vergangenen Sekunden mit einer unglaublichen Wucht in mir hochgestiegen waren, freien Lauf. Scheiß auf die Menschen. Deine Mutter ist verdammt noch mal tot.

In den Monaten vor Annettes Tod hatte ich mich in den Kliniken, in denen meine Mutter behandelt wurde, manchmal wie im Film »Einer flog über das Kuckucksnest« gefühlt. Aus der einen Ecke kamen Schreie, aus der anderen Geräusche und Gerüche, wie sie nur eine geriatrische Station eines Krankenhauses hervorbringen kann. Nicht dass mir ein solches Umfeld fremd war, schon als Kindergartenkind besuchte ich meine Mutter auf allen möglichen Stationen. Als Erwachsene wankte ich selbst über Klinikflure, weil ich endlich mit dem Trinken aufhören wollte. Kräftezehrend waren die Besuche in den vergangenen Monaten trotzdem gewesen. Tagsüber wachte ich am Bett meiner Mutter, arbeitete nebenbei E-Mails ab, schlich mich für Telefonate kurz raus, abends nahm ich Onlinetreffen meiner Selbsthilfegruppe wahr, nachts schlief ich wenig. Und wieder von vorn. Trotzdem: Ich war angetreten, um, wie seit jeher, mein Bestes für meine Mutter zu geben. Ich hatte an ihrem Bett gewacht und versucht, sie bei Laune zu halten, so wie ich es schon als kleines Mädchen getan hatte. Das war schließlich meine Aufgabe im Leben, dachte ich. Nicht die einzige Aufgabe, auch wenn es sich manchmal so angefühlt hatte.

Natürlich ahnte ich in jeder Sekunde in der Klinik und im Heim, in der ich meine 74 Jahre alte Mutter im Rollstuhl über die Flure geschoben hatte, dass es irgendwann zu Ende gehen würde. Weil meine Mutter so oft gestürzt war, dass sie nicht mehr gehen konnte, und sich immer mehr in sich zurückzog. Selbst den Löffel oder die Gabel zum Mund führen konnte sie nicht mehr. Und nicht mehr sprechen. Ich war die ganze Zeit da, auch als nur noch Laute aus ihrem Mund kamen und keine Sätze mehr. Woher ich das bloß nähme?, hatten meine Freundinnen und ein paar Kolleginnen gefragt. Ich hatte meist bloß müde gelächelt. Kümmern war schließlich eine meiner Superkräfte. Schon immer. Für immer? Ich hatte schon so viele Male in meinem Leben unmenschliche Kräfte an den Tag gelegt. Dazu kam mein schlechtes Gewissen – wenn ich doch mal über den Witz eines Kollegen lachte, obwohl meine Mutter gerade Höllenqualen litt. Oder ausnahmsweise mal für ein, zwei Stunden eine gute Zeit mit einer Freundin hatte. Und einmal, da hatte ich sogar kurz diesen gemeinen Gedanken: »Eigentlich wäre es doch ganz gut, wenn du …« Doch den verbot ich mir sofort wieder.

Ich hatte mitangesehen, wie das Pflegepersonal meine Mutter wog. Weil die sich nicht mehr bewegen konnte, holte man dafür einen Minikran, der mit einer kleinen Hängematte ausgestattet war, damit man den Menschen dort hineinlegen konnte. Als ich meine Mutter dort hängen sah, konnte ich nur eines denken: wie bei einem Tier. Danach hievte ich sie gemeinsam mit dem Pfleger aus der würdelosen Trage heraus, bettete sie so weich wie möglich und begann, ihr aus Promimagazinen vorzulesen. Klatschblättchen hatten meine Mutter schon immer erfreut. Und diese kleine Freude hatte sie jetzt wirklich verdient. Egal, was gewesen war.

Nachdem meine Mutter nach der Zeit im Krankenhaus ihr Zimmer in dem schicken Pflegeheim bezogen hatte, schmückte ich den kleinen Tisch und die Fensterbänke weihnachtlich. Ein paar Tage darauf hatte ich viel bei der Arbeit aufzuholen und das Gefühl, dass meine Mutter nun ein Stück weit angekommen war in ihrer neuen Welt. Und so hatte ich beschlossen, für ein paar Tage nach Mallorca zu fliegen, um pünktlich zu Weihnachten wieder in Deutschland zu sein. Jeden Tag bekam ich Fotos aus dem Heim aufs Smartphone. Auf diesen Fotos sah meine Mutter zwar abwesend aus, trotzdem wirkte sie irgendwie zufrieden. Alles in allem hatte ich das Gefühl, dass es ihr einigermaßen gut ging. Und dann – stirbt sie einfach.

Nach den sturzbachartigen Tränen am Flughafen und den ganzen Flug über kamen die Qualen. Hatte ich genug Zeit mit meiner Mutter verbracht? Hatte ich mich genug um ihr Wohlergehen gekümmert? Fest stand, dass ich schon wieder versagt hatte, obwohl ich mich doch so angestrengt hatte. Unzählige Male war mein Ex-Alki-Hirn in diesen Tagen um eine bestimmte Sache gekreist: einen Schluck. Nur einen einzigen. Wie unfassbar wohltuend wäre das. Und wie unfassbar zerstörerisch.

Ich hatte die Wochen am Klinikbett überstanden, ohne rückfällig zu werden. Den Todestag meiner Mutter auch. Ebenso Weihnachten und Silvester, auch wenn an Feiern selbstverständlich nicht zu denken war. All diese typischen Rückfallmomente und -gefühle hatte ich besiegt. An jedem einzelnen Tag, in jeder einzelnen Stunde, in jeder einzelnen Minute. Glauben konnte ich es selbst kaum.

Die Tür der Trauerhalle fällt mit einem Klicken ins Schloss. Ich stehe noch immer in der Mitte des Gangs. Ramona berührt mich ganz leicht am Rücken. »Komm, wir setzen uns hin«, flüstert sie. Ich lasse mich von ihr in Richtung der vordersten Stuhlreihe schieben. Einatmen, ausatmen. Es sind nur ein paar Meter bis zu dem freien Stuhl gegenüber der Urne. Meinem Platz. Als ich den Kopf leicht nach rechts drehe, sehe ich in der mittlerweile verstummten Menge eine Schulfreundin sitzen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Als sich unsere Blicke treffen, presst die Freundin die Lippen aufeinander und versucht zu lächeln. »Du bist gekommen, extra für mich?«, will ich am liebsten sagen. Auch ich versuche zu lächeln.

Ich spüre, wie sich meine Augen mit Tränen füllen wollen, aber ich werde es nicht zulassen, nicht jetzt. Ich schlucke die Tränen hinunter und setze einen Fuß vor den anderen. Nur nicht nach rechts gucken, immer schön geradeaus. Du kannst das. Ich bin bereit.

• • •

Die Holzbank vor dem Café des Golfclubs ist schön warm, als ich mich setze. Kein Wunder, während der Trauerfeier, auf dem Weg zur Grabstätte und während des Leichenschmauses hier im Café hat die Sonne ohne Unterlass geschienen. Davor hatte es tagelang wie aus Eimern geschüttet – ein Tief mit Namen Annette war über das Land gefegt. Jetzt, hier auf der Bank, lache ich laut darüber, dass gerade dieses eine Tief den Namen meiner Mutter trägt. Hören kann mein Lachen niemand, die Gäste haben sich nach Kaffee und Kuchen verabschiedet. Und Ramona und Britta habe ich gesagt, dass ich kurz durchatmen will, während die beiden das Auto holen.

»Da haste uns doch wirklich ein paar Sonnenstrahlen geschickt«, murmle ich vor mich hin und blinzle nach oben ins Licht. »Lieb von dir.«

Nachdem der Trauerredner die ersten Worte gesprochen hatte, war der Tag an mir vorbeigaloppiert. Aber ich hatte nicht auf Durchzug geschaltet, im Gegenteil. Die Gefühle, die Reaktionen, die der anderen und auch meine, alles hatte ich versucht aufzusaugen. Die Stille, die jetzt auf meiner sonnigen Bank herrscht, hilft mir, mich zu erinnern. Die Melodie des Elvis-Songs »Always on My Mind« schwirrt mir im Kopf herum. Ich hatte das Lied deshalb für die Trauerfeier ausgewählt, weil Elvis während seiner Jahre in der US-Army mal in Friedberg stationiert war. Dem Ort, an dem meine Mutter ihre Kindheit verbracht hat, genau wie ich. Und weil meine Mutter Elvis’ Lieder so mochte. Einmal hat sie ihn als junge Frau in der Stadt gesehen und ihn dabei beobachtet, wie er einen Schneemann gebaut hat. Als zweiter Song lief »I Just Called to Say I Love You« von Stevie Wonder. Weil meine Mutter früher gern dazu mit mir tanzte – wenn sie mal nicht krank war. Überhaupt war der Wechsel zwischen Reden und Musik genau richtig gewesen für die Trauerfeier. Das hatten so gut wie alle Gäste rückgemeldet. Weil es die Stimmung ein bisschen gelockert hat. Außer bei Lied drei, aber das war von vornherein klar gewesen. Als drittes hatte ich »Nessun dorma« in der Version von Luciano Pavarotti spielen lassen. Da fingen alle in der Trauerhalle an zu weinen. Wahrscheinlich, weil es so eine berührende Komposition ist. Doch ich weinte aus einem anderen Grund. Weil die Melodie meine schönsten Erinnerungen an meine Mutter weckt. An die Abende, an denen sie zusammen mit mir in der Oper gewesen war. Ich konnte die Besuche zwar an meinen Händen abzählen – einmal war meine Mutter sogar laut schnarchend während einer Vorstellung eingeschlafen, weil sie Beruhigungsmittel und Antidepressiva intus hatte. Ich hatte mich in Grund und Boden geschämt, als die ersten Leute um sie herum anfingen, sich nervös mahnend zu räuspern. Aber sei’s drum, ich, die Tochter, war dort gemeinsam mit meiner Mutter gewesen, und allein deshalb war es etwas Besonderes. Zeit mit meiner Mutter, wenn sie gerade mal gesund war, war nämlich immer ein rares Gut gewesen.

Beim Gang aus der Trauerhalle, durch den Flur, raus auf den Friedhof und hin zum Grab, hielt ich die Urne ganz fest an meinen Körper gedrückt. Meine Schritte hatten sich auf einmal gar nicht mehr wie ferngesteuert angefühlt, sondern irgendwie friedvoll. Da waren nur ich und meine Mama. Und in meinem Rücken meine wunderbaren Freundinnen, meine Menschen, die Sonne und die frische Januarluft. Hast du es jetzt geschafft oder geht es jetzt erst richtig los?

Ich atme bewusst durch die Nase ein und hörbar durch den Mund aus. Wie nach einer sportlichen Anstrengung, um runterzukommen. Die Sonne scheint immer noch auf die Bank vor dem Café und in mein Gesicht. Ich schließe die Augen. So sicher und warm wie bei dem Urnen-Spaziergang habe ich mich selten gefühlt. Schon ein bisschen verrückt, Sicherheit und Wärme waren auch immer die beiden Gefühle gewesen, in die mich ein guter Rausch versetzt hatte. Doch während ich mit der Asche im Arm den Weg entlangging, hatte ich keine Sekunde an Wodka oder Weißwein gedacht. Nur an meine Mutter.

In der Trauerrede, die ich etwa zwei Stunden nach der Beerdigung bei Kaffee und Kuchen im Golfclub vor allen Gästen, ohne aufs Blatt zu gucken, gehalten hatte, gab ich zu, dass ich mir ein paar mehr Ausflüge in die Oper mit meiner Mutter gewünscht hätte. Und ein paar mehr Shoppingmittage und Kinobesuche. Nicht aber, dass ich mir ein bisschen mehr Muttersein, Dasein, Verlässlichsein von meiner Mama gewünscht hätte. Und ein bisschen weniger Kranksein. Schließlich ging es in einer Trauerrede nur darum, den Menschen gut dastehen zu lassen. Als ich die Worte am Morgen in Windeseile in meinen Laptop getippt hatte, fand ich alles daran richtig. Diese Rede war richtig. Punkt.

Warum also komme ich jetzt, gerade einmal neun, zehn Stunden später, an diesem sonnigen Plätzchen sitzend, nicht los von dem Gefühl, dass meine Rede sich zumindest zu einem Teil doch irgendwie falsch anfühlt? Ich habe sie doch nun gehalten, passé, warum also weiter darauf herumdenken? Und überhaupt: Wie kann sich etwas gleichzeitig richtig und falsch anfühlen? Das geht doch gar nicht. Mein Magen zieht sich zusammen. Bekomme ich meine Tage? Nein, das wäre zu früh im Monat. Wahrscheinlich zieht und zerrt es in mir, weil ich heute noch nichts bis auf die Gummibärchen gegessen habe.

Das Smartphone vibriert. Ich fische es aus meiner schwarzen Lederhandtasche. Ramona schreibt: »Kommen dich in den nächsten Minuten einsammeln. Gut?«

Ich klicke die Nachricht an. Nee, nicht gut. Weil: Wie soll es denn jetzt eigentlich weitergehen? Mit meiner toten Mutter. Und mit mir. Wie oft soll ich ans Grab fahren, wie oft von Berlin hierherreisen? Oder zurückziehen ins Frankfurter Umland, obwohl die Mutter tot ist – wie verrückt wäre das denn bitte? Oder ist das der nächste logische Schritt? Wie machen das die anderen Kinder? Und insbesondere solche, deren Mütter sich auch nicht um sie gekümmert haben? Moment. Stopp. Solche Gedanken kurz nach der Beerdigung zu haben, das ist wirklich undankbar.

»Gut, bis gleich, Küsschen«, tippe ich in den Chat mit Ramona und schicke schnell ab. Am liebsten wäre es mir ja gewesen, wenn die Beerdigung erst morgen stattgefunden hätte. Morgen, an meinem eigenen Geburtstag. Zu gerne hätte ich Leben und Tod an diesem Tag ineinanderfließen lassen. So hatte ich es auch der Bestatterin gesagt. Doch an meinem Geburtstag war kein Termin mehr frei gewesen. »Schon auch ’ne Schnapsidee«, flüstere ich vor mich hin und muss lächeln wegen der Wortwahl.

Ramona und Britta fahren vor und stellen den Motor ab. Nachher werde ich an einem Onlinemeeting der Selbsthilfegruppe teilnehmen und mich mit Chips belohnen. Vielleicht war es auch gut, dass der Termin an meinem Geburtstag nicht geklappt hatte. Oder wollte ein Teil in mir irgendetwas am Tod der Mutter feiern? Tief Annette schickt einen kalten Windstoß. Ich spüre, wie sich Gänsehaut an meinen Schenkeln und Armen bildet, und ziehe meinen Blazer zu.

»Ich glaube, heute ist der schlimmste und der schönste Tag meines Lebens.« Habe ich diesen Satz gerade laut gesagt? Oder habe ich ihn nur gedacht? Die Scheibe am Beifahrersitz fährt runter. Britta lächelt und winkt mich mit einer absichtlich übertrieben großen Bewegung heran. »Komm ran, Schatzi! Ist doch arschkalt da draußen!«

Ich greife den Henkel meiner Handtasche, stehe auf und gehe los in Richtung Auto. Ich gehe aufrecht, als hätte ich gerade einen übervollen Rucksack abgesetzt. Meine Schritte fühlen sich auf einmal leichter an. Mein Brustkorb füllt sich mühelos mit Sauerstoff, wenn ich einatme. Und das Ziehen im Magen ist auch weg. Als ich die Autotür öffne, dreht sich Britta halb zu mir um. »Echt frisch auf einmal, oder?«

»Total«, sage ich. Und dabei strömt eine Wärme durch meinen Körper, die mit Januartemperaturen nichts zu tun haben kann.

2 Ein Einfamilienhaus in der Nähe von Frankfurt, 1982 bis 1987

Neun Uhr morgens war eine heikle Zeit. Für Fränzis Mama bildete sie eine unsichtbare Brücke hin zu einem dunklen Tag. Wenn sie um neun noch im Bett lag, lohnte es sich für sie nicht mehr, überhaupt noch aufzustehen. Für die kleine Fränzi hingegen bedeutete dieser Neun-Uhr-Moment, dass sie versuchen musste, ihrer Mama den Tag so angenehm wie möglich zu machen. Und dass sie deswegen wahrscheinlich nicht in den Kindergarten gehen würde.

Die Wanduhr in der Küche konnte Fränzi schon eine ganze Weile lesen. Der lange Zeiger stand bereits ein Stückchen hinter der Zwölf. Wenn sie keinen Ärger bekommen wollte, musste sie jetzt schnell sein. Der Küchenhocker in der Ecke war aus Holz und ganz schön schwer. »Nicht ziehen, tragen«, hatte die Mama gesagt. Fränzi wusste, dass der Lärm nicht gut für ihre Mama war. Vor allem, wenn die oben krank im Bett lag. Und krank war sie so gut wie immer.

Wenn Fränzi in Gedanken war, vergaß sie schon mal, dass Stille zu Hause oberstes Gebot war. In solchen Momenten wurde die Mama zuerst ganz traurig und dann ein bisschen böse. »Ein undankbares Kind bist du«, fauchte sie dann. Dabei wusste Fränzi gar nicht so recht, was das Wort ›undankbar‹ überhaupt bedeutete und was genau ihre Mama damit meinte. Aber wenn es der Mama nicht gut ging, sollte man besser keine dummen Fragen stellen.

Fränzi nahm den Küchenhocker hoch und stemmte die Sitzfläche gegen ihren Bauch, so fiel ihr das Tragen ein bisschen leichter. Sie stellte ihn vor der Spüle ab. Darüber war der Oberschrank mit den Haferflocken. Natürlich wäre es einfacher für sie gewesen, wenn die Haferflocken auf der Anrichte gestanden hätten, denn dann müsste sie nicht jeden Morgen klettern. Aber der Mama war es wichtig, dass alles seine Ordnung hatte. Ihre Ordnung.

Fränzi stieg auf den Hocker, fand das Gleichgewicht und machte sich lang. »So schnell ist keiner irgendwo, Speedy-bi, Speedy-bo«, sang sie im Flüsterton vor sich hin. Die Comicserie über die Maus mit der lustigen Stimme mochte Fränzi vor allem wegen der Titelmelodie. »Speedy-bi, Speedy-bo, immer wieder frech und froh.« Mit der rechten Hand tastete sie nach der Packung Haferflocken, denn obwohl sie auf dem Schemel stand, konnte sie nicht in den Schrank gucken. Sie fasste zuerst ins Leere, dann spürte sie das vertraute raue Papier. Fränzi griff zu und stieg, die Beute unter den schmalen Arm geklemmt, vom Hocker herunter. Sie lächelte, weil sie fand, dass das Ende des Liedes jetzt prima passte, und sang leise weiter: »Zu guter Letzt siegt sowieso die schnellste Maus von Mexiko!«...Ende der Leseprobe