Hassen kann ich nicht - Erling Rimehaug - E-Book

Hassen kann ich nicht E-Book

Erling Rimehaug

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Beschreibung

Zwischen alten Papieren findet Erling Rimehaug in einer roten Blechdose ein Neues Testament. Darin sind mit Bleistift Stichworte eines Tagebuchs notiert aus der Haftzeit in einem deutschen Zuchthaus mit Hinrichtungsstätte. Diese Aufzeichnungen gehören seinem Schwiegervater, dem norwegischen Geistlichen und Widerstandskämpfer Olav Brennhovd: Einem Repräsentanten der Kirche, den die Nachwelt schnell vergessen hatte. Einer Person, die selbst seine Familie kaum kannte. Einem Mann, der Juden rettete, und sich dennoch nach seiner Rückkehr aus der Haftanstalt auch für seine Feinde einsetzte. Brennhovd hatte sein Leben unter das Motto gestellt: Hassen kann ich nicht. Obwohl die Erlebnisse in den Kriegsjahren, die Haft und die Folter während der Verhöre tiefe Spuren in ihm hinterließen, kehrte Olav Brennhovd nach Kriegsende nicht nach Norwegen zurück. Er ging als Seelsorger in deutsche Kriegsgefangenenlager und setzte sich vor allem bei der Jugend für vorbehaltlose Völkerverständigung ein. Als Mitinitiator des Vereins "Internationale Studentenfreunde" gründete er im Sommer 1948 in Göttingen das erste internationale Studentenheim in Westdeutschland mit dem verpflichtenden Namen "Fridtjof-Nansen-Haus". In den 25 Jahren seiner Tätigkeit lebten Tausende von Studierenden aus mehr als 60 Nationen als Bewohner oder Gäste in dem Heim in der Merkelstraße 4, einem Haus, "in dem der Hass keinen Zutritt hatte". Die deutsche Ausgabe der Biografie von Olav Brennhovd enthält auch Fotos sowie Texte zu Fridtjof Nansen und zum Fridtjof-Nansen-Haus. Das Werk macht das bemerkenswerte Leben von Olav Brennhovd und sein Eintreten für internationale Verständigung und Zusammenarbeit lebendig. Sein Anliegen hat nichts an Aktualität verloren und sein Wirken ist bis heute spürbar.

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Erling Rimehaug

Hassen kann ich nicht

Olav Brennhovd – Sein Leben für die Völkerverständigung

Aus dem Norwegischen übersetzt von Anne Feindt und Irina Heiß

Deutsche Bearbeitung von Thelma von Freymann

Deutsche Ausgabe herausgegeben und ergänzt von Helga-Maria Kühn

Erling Rimehaug, geb. 1947. Historiker, Redakteur der Zeitung „Vårt Land“ [norwegische Tageszeitung] sowie Autor mehrerer Bücher.

Die Originalausgabe dieses Buches ist unter folgendem Titel erschienen:

Copyright © 2013

Lunde Forlag AS, Sinsenveien 25, 0572 Oslo, Norway

Originally published in Norwegian under the title: Jeg kan ikke hate

Abweichend von der Originalausgabe enthält dieses Buch mit Zustimmung des Autors und des Lunde Forlag zusätzlich eine Einleitung, ein Vorwort und einen erweiterten (Bild-)Anhang.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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Das E-Book einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar.

Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG

Merkelstraße 3

37085 Göttingen

Deutschland

Tel. +49 551 999 50 0

Fax +49 551 999 50 111

[email protected]

www.hogrefe.de

Umschlagabbildung: Vorderseite: Foto © Fritz Paul, Göttingen Rückseite: Foto Fridtjof-Nansen-Haus © Städtisches Museum, Göttingen; Foto Blechdose © Erling Rimehaug

Satz: Mediengestaltung Meike Cichos, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2020

© 2020 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-3035-5; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-3035-6)

ISBN 978-3-8017-3035-2

http://doi.org/10.1026/03035-000

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Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

|V|Einleitung

„Es wird zu oft vergessen, dass wir Menschen alle miteinander verbunden sind und miteinander leben müssen ohne Rücksicht auf Nationalität und dass wir so sehr vieles gemeinsam haben“.

(Olav Brennhovd)

Am 15.06.2018 fiel mir bei der Arbeit am Depositum „Studentenfreunde e. V.“ im Stadtarchiv Göttingen ein handschriftliches Schriftstück von Olav Brennhovd in die Hände, das zufällig das gleiche Datum trug, jedoch aus dem Jahr 1948 stammte. Auf den Tag genau vor 70 Jahren hatte der norwegische Pfarrer Brennhovd eine Erklärung mit dem Titel „Fridtjof-Nansen-Haus“ formuliert, die zugleich sein Programm für die Gründung dieses ersten internationalen Studentenheimes nach dem Krieg auf westdeutschem Boden wurde.*

Fasziniert von der Aktualität dieses Dokuments, wie es allein der oben zitierte Satz zum Ausdruck bringt, habe ich nach weiteren historischen Zusammenhängen in dem umfangreichen, 1985 vom Stadtarchiv übernommenen Aktenbestand geforscht. Dabei fand ich eine Reihe erstaunlich gegenwartsnaher und zugleich mahnender Parallelen, die heute fast völlig in Vergessenheit geraten sind. Die bundesdeutsche und damit auch die Göttinger Nachkriegsgesellschaft richtete den Blick lieber nach vorn als zurück in unbewältigte Zeiten. Erinnern ist eben nicht nur mit Nostalgie, sondern gelebten Erfahrungen verbunden, denen wir uns zu stellen oft scheuen. Mir wurde erneut deutlich, wie wichtig die vielseitige und leider nicht immer allen Bürgern bewusste Funktion eines Archivs – hier das Stadtarchiv – als Gedächtnis und Bewahrer der kommunalen Geschichte ist.

Bei weiterer Beschäftigung mit den stadtgeschichtlichen Ereignissen zur Zeit der Währungsreform und der Gründung der Bundesrepublik kamen Begebenheiten zutage, die uns heute in der heftigen internationalen Diskussion um Völkerverständigung und ein geeintes Europa durchaus hilfreich sein können. Die von seinem Schwiegersohn Erling Rimehaug verfasste Biografie Olav Brennhovds, über der sein Credo „Hassen kann ich nicht“ steht, und die jetzt ins Deutsche übersetzt werden konnte, bietet sich dabei als hilfreicher Zeitraffer gegen verdrängte Geschichtsab|VI|läufe und ihre wieder beängstigenden Interpretationen an. Wie nahe sie uns begegnen zeigen die vielen globalen Hass-Anschläge. Die neuseeländische Premierministerin Jacinda Arderns mahnte nach dem Attentat im März 2019 in Christchurch: „Auch wir sind nicht und waren nie immun gegen das Virus des Hasses… Es liegt in der Macht jedes Einzelnen, etwas zu tun. Die Antwort hängt nicht ab von irgendeiner Trennlinie oder irgendeiner Machtfrage. Die Antwort liegt in unserer Menschlichkeit.“

Die Olav-Brennhovd-Stiftung, die studentischen Übersetzerinnen und die Lektorin, die ehemaligen „Nanseaten“, der Göttinger Geschichtsverein, die Presse, viele interessierte Mitbürger der Stadt, und nicht zuletzt der engagierte Hogrefe Verlag, seit 2018 Besitzer des Fridtjof-Nansen-Hauses, haben das Erscheinen dieses (etwas erweiterten) Buches ermöglicht. Ihnen allen war es ein wichtiges Anliegen, das bemerkenswerte Leben und langjährige eindrucksvolle Wirken des norwegischen Pastors, Widerstandskämpfers und Brückenbauers in Göttingen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wie auch aus dem Büro des Bundespräsidenten mitgeteilt wurde, hat der Bundespräsident mit Freude zur Kenntnis genommen, dass die Biografie „Hassen kann ich nicht“ nun auch auf Deutsch erscheint, da seines Erachtens das Wirken von Olav Brennhovd über den Zweiten Weltkrieg hinaus, seine Versöhnungs- und Jugendarbeit, ihn auch für heutige Leser zu einer wichtigen und interessanten Figur macht. Sie alle sehen sich auch dankbar mit dem ehemaligen Göttinger und späteren Richter am Internationalen Gerichtshof Thomas Buergenthal verbunden, der mit einem Vorwort aus Amerika diese Publikation begleitet. Denn auch er gehörte, zusammen mit Olav Brennhovd und dem Sohn von Fridtjof Nansen Odd Nansen zu den „Drei Göttinger Versöhnern“ in dieser schweren Zeit.

Olav Brennhovd, etwa 1965 (© Städtisches Museum, Göttingen)

Thomas Buergenthal (li.) und Odd Nansen, 1951 (© T. Buergenthal)

Dr. Helga-Maria Kühn, Leiterin des Stadtarchivs Göttingen 1974–1996

*

vgl. Gründungsprogramm auf S. 163 im Anhang

|VII|Vorwort

Die Veröffentlichung dieser jetzt vorliegenden deutschen Übersetzung der gut recherchierten und sehr interessanten Biografie von Olav Brennhovd begrüße ich von Herzen, einmal wegen seiner persönlichen Lebensgeschichte, aber auch wegen seiner Bedeutung für das Leben anderer. Es ist die Geschichte eines ganz besonderen Menschen, dessen Engagement und Eintreten für internationale Verständigung und Zusammenarbeit bleibende Erinnerung verdienen.

Während der deutschen Besetzung von Norwegen schloss er sich der Untergrundbewegung an, und neben anderen gefährlichen Aktivitäten rettete er das Leben vieler norwegischer Juden, indem er ihnen half, in das neutrale Schweden zu entkommen. Er wurde schließlich gefangen genommen und endete in einem Gefängnis der Nazis in Deutschland, wo er knapp der Hinrichtung entkam, nicht aber der Folter.

Nach seiner Befreiung zu Kriegsende entschloss er sich, nicht nach Norwegen zurückzukehren. Er blieb in Deutschland und übte für einige Zeit seinen Beruf als protestantischer Pastor aus, um jenen Deutschen zu helfen, von denen er fühlte, dass sie seinen geistlichen Beistand brauchten.

Sein bedeutendster Beitrag aber war ohne Zweifel die Gründung des Fridtjof-Nansen-Hauses in Göttingen bald nach Kriegsende. Dieses Studentenheim, gedacht für Studenten aus aller Welt, die nach Deutschland kamen, um an Göttingens berühmter Universität zu studieren, und entstanden aus dem Geist internationaler Verständigung und Zusammenarbeit, war seine Herzensangelegenheit.

Ich lernte Olav Brennhovd kennen, nachdem Odd Nansen, Fridtjof Nansens Sohn, meiner Mutter geschrieben hatte, um seinen guten Freund Olav Brennhovd anzukündigen, der erst kurz zuvor in Göttingen angekommen war. Brennhovd war dann häufig unser Gast. Zu einer Zeit, zu der ich noch voller Hass auf die Deutschen war, die meinen Vater und meine Großeltern mütterlicherseits ermordet hatten, versuchte Brennhovd unermüdlich, wie auch Odd Nansen vor ihm, mich davon zu überzeugen, dass Hass eines Menschen Seele zerstört. Ich brauchte lange, die Weisheit seiner Ermahnung anzuerkennen, die er selber vorlebte und die er weitergab an alle anderen, deren Leben er beeinflusste.

Washington, D.C, März 2019 Prof. Dr. Thomas Buergenthal, J. D., LL. M., S. J. D.

Inhaltsverzeichnis

Die Blechdose

Das Neue Testament

Das Taufbild

Zwischen zwei Persönlichkeiten

Die Bärenhöhle

Der Mann des Widerstandes

Abschied

Das Erbe

Zum Leben verurteilt

Der SS-Offizier

Das Zuchthaus

Tagebuch aus dem Zuchthaus

Die zum Tode Verurteilten

Der lange Frühling

„Hassen kann ich nicht“

Bärlekind

Die Flucht

Auftrag in Deutschland

Das Jahr der Entscheidung

Fridtjof-Nansen-Haus

Das Lebenswerk

Der Spalt im Eisernen Vorhang

Ehre für einen unbequemen Mann

Es wird abgerechnet

Olavs Tochter

Quellen

Anhang

Anmerkungen zur deutschen Ausgabe

Bildteil

Gründungsprogramm des Fridtjof-Nansen-Hauses 15. Juni 1948

Fridtjof Nansen – „Nächstenliebe ist Realpolitik“

Essay über die Gründung des Fridtjof-Nansen-Hauses in Göttingen

Dank

|1|Die Blechdose

Die Dose ist rot und aus Blech. Darauf steht Crav A. Es ist die Hälfte einer Zigarrenschachtel. Aber Zigarren enthält sie nicht.

Ich habe schon früher einen Blick auf den Inhalt geworfen, sie aber gleich wieder zugemacht. Ich wusste, wenn ich mich einließe auf das, was dort liegt, wäre es der Beginn einer Reise. Einer Reise in die verborgenen Teile meiner Familiengeschichte. Ich weiß nicht, wohin sie führen wird. Worauf werden wir dabei wohl stoßen? Das macht mir Angst. Deswegen habe ich es so lange aufgeschoben.

Wenn ich die Dose öffne, werde ich ein Neues Testament finden. Mit Randnotizen, die mit sehr, sehr dünnem Bleistift geschrieben sind. Und genauen Angaben von Daten. Die sind aus den Jahren 1944 und 1945.

Es ist das Testament – im doppelten Sinne des Wortes – meines Schwiegervaters. Vielleicht machte er die Notizen nur für sich. Aber ich weiß, dass dies auch eine Geschichte ist und eine Botschaft, von der er wünschte, dass sie ihn selbst überlebte. Er muss gehofft haben, dass jemand sie bewahren und des Erzählens für wert befinden würde. Ich habe schon lange gewusst, dass ich derjenige bin, dem diese Aufgabe zuteil werden würde. Aber ich habe mich nicht bereit gefühlt, den Auftrag in Angriff zu nehmen.

Dort in der Dose liegt eine Geschichte. Eine Geschichte von Heldenmut und Aushalten. Von Idealismus und Liebe. Von Glauben und Opfer – aber auch von Trauer und Entbehrung. Von Leiden. Und von Versagen.

Zuallererst ist dies eine Erzählung für Mette. Sie ist seine Tochter. Aber sie ist auch meine Frau. Und darum ist es die Geschichte unserer Kinder und Enkel. Sie haben Anspruch darauf, dass sie erzählt wird.

Geht sie auch andere an als uns, die Familie? Davon bin ich überzeugt. Noch immer haben wir nicht voll verstanden und verarbeitet, was mit Norwegen und Europa im Zweiten Weltkrieg geschah. Zudem ist in unserer Gegenwart aus dieser Vergangenheit etwas aufgetaucht, was wir nur noch für Erinnerung hielten, mit Tod und Verderben als Folge. Die Erfahrungen von damals können uns helfen, Antworten auf Fragen zu finden, die sich heute stellen.

|2|Wie sollen wir dem Bösen begegnen? Wie können wir es vermeiden, dem Hass zu verfallen? Gibt es Raum für Versöhnung? Wie können wir zusammenleben, obwohl wir so grundverschieden sind? Das sind Fragen, die in dieser Erzählung gestellt werden. Die von einem Mann gestellt werden, der sich anders entschied, als es die meisten getan hätten.

Dieses Jahr wäre er hundert Jahre alt geworden. Dieses Jahr bin ich so alt wie er, als er starb. Darin liegt eine Art Zeichen. Jetzt oder nie.

So öffne ich die Dose.

Frühling 2012

Erling Rimehaug

|3|Das Neue Testament

Das Neue Testament ist verschlissen, der vergoldete Titel fast vollständig abgeblättert und der Buchrücken hängt nur noch lose am Einband. „Olav Brennhovd 7300“ steht ganz oben auf der ersten Seite. 7300 ist die Häftlingsnummer, die ihm die Deutschen gaben. Das Neue Testament [Bild Nr. 1, S. 157] begleitete ihn während seiner Zeit in deutscher Haft.

Zwischen „Das Neue Testament“ und „Der norwegische Bibelverlag, Oslo 1941“ stand ein Teil von „Allzeit tapfer“1, mit kräftigen Buchstaben geschrieben:

Kämpfe für alles, was du liebst,

und wenn es gilt, so sterbe.

Dann ist das Leben gar nicht so wichtig

und auch nicht der Tod.

Auf der ersten und letzten Seite des Einbandes bekommen wir in komprimierter Form die gesamte Geschichte seiner Gefangenschaft:

Møllergata Nummer 19–9.2.43

Ullevål Krankenhaus 17.2.43

Nach Grini 16.4.43

Offenes Lager 16.6.43

Vor das Polizeigericht 11.8.43, Urteil: 8 Jahre Zuchthaus

Bärlekind geboren 10.9.43

Fallschirm 17.2.44

Nach Akershus am selben Tag

Besuch von Mamabärin 23.2.44

Nach Deutschland 28.2.44

Rendsburg 1.3.44

Brandenburg 30.4.44

In die Bibliothek 2.5.44

Bekam mein NT zurück 23.5.44

5. Hochzeitstag 24.6.44

|4|Vater 65 Jahre 15.7.44

Mamabärin 40 Jahre 10.2.45

Aus Brandenburg entlassen 11.4.45

Zum Sammellager in Neuengamme 12.4.45

Nach Horsens 21.4.45

Nach Schweden 25.4.45

Erstes Telefonat mit Johanne 13.5.45

Wieder Norwegen 9.6.45

Diese kurzen Angaben zu Orten, Ereignissen und Daten wirken nüchtern. Den meisten Menschen von heute sagen sie wohl nicht viel. Doch mancher wird wissen, welche Schrecken sich hinter Namen wie „Neuengamme“ und „Brandenburg“ verbergen. Mancher weiß vielleicht, dass „Fallschirm“ die Abteilung war, in der Häftlinge gefoltert wurden. Dass nach Akershus kam, wer zum Tode verurteilt war. Nur wer das weiß, kann ahnen, was für ein Triumph in den Worten „Wieder Norwegen“ liegt.

Aber das Neue Testament enthält mehr als nur diese präzise Aufzählung der Etappen der Gefangenschaft. Es erzählt auch von einem Mann, der in diesem kleinen Buch Worte des Lebens fand, Worte, die ihm Halt gaben.

Am Rand des Testaments stehen kleine, knappe, aber umso aussagekräftigere Anmerkungen, geschrieben mit dünnem Bleistift und fast ausgeblichen. Ich muss eine Lupe benutzen, um sie lesen zu können.

Viele Bibelverse sind unterstrichen. Zuerst blättere ich nur durch die Seiten und sehe mir einige dieser hervorgehobenen Stellen an. Sie versetzen mich unmittelbar in die Seele dieses Mannes, den ich nicht kenne.

Auf den Seiten 10 und 11 hat er zwei Verse der Bergpredigt unterstrichen: „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn Er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“

Am Rand steht: „Pfingstabend in Brandenburg. Mamabärin denkt sehr an mich, oh, wie ich mich nach dir sehne.“

Auch auf der nächsten Seite hat er zwei Verse der Bergpredigt unterstrichen: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. Darum sorget nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“ Am Rand steht: „Dies hat mir Gott vollends gezeigt.“

Und dann: „Hatte einen gesegneten Pfingsttag (Abend). Große Freude. Brief von Mamabärin. Eine freudige Pfingstüberraschung. Besuch von Arne Berge aus Hamburg. Betete gestern um Nachricht von daheim oder draußen, und heute kam sie. |5|Gott sei Dank und Lob. Heute gehört, dass meine zehn norwegischen Freunde erschossen wurden. Gott sei bei ihren Familien, stehe ihnen bei und stärke sie in diesem Leid. Der Kampf für Freiheit und Frieden hat wieder einmal Opfer gefordert. Doch wir wissen, dass er seinen Preis hat.“

Pfingsten ’44 hat er auch Johannes 14,27 unterstrichen: „Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch.“ Am Rand: „So reich und voller Trost. Feiere Pfingsten mit Mamabärin im Gebet vereint.“ [Bild Nr. 2, S. 157]

Matthäus 10,19 ist ebenso unterstrichen: „Wenn sie euch nun überantworten werden, so sorget nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt.“ Am Rand: „Dies lehrte uns Gott, als wir vor Gericht standen.“

„Dies erleben wir heute“, steht weiter unten neben dem Vers „Es wird aber ein Bruder den andern zum Tod überantworten und der Vater den Sohn, und die Kinder werden sich empören wider ihre Eltern und ihnen zum Tode helfen“.

Und auf derselben Seite: „Ein unangenehmer Tag. 16 Hinrichtungen. Bekam als Gruß von meinen zwei hingerichteten Landsleuten ein Geistliches Liederbuch. Pedersen und Hjelmen.“

Ein weiterer unterstrichener Vers: „Doch Jesus sprach gleich zu ihnen und sagte: Seid getrost, ich bin’s; fürchtet euch nicht.“ Und daneben diese Bitte: „Herr, lass die Furchtlosigkeit in mir fortleben, lass dieses Wort jeden Tag in mir und zu mir klingen. 16 hingerichtete Männer heute.“

Doch viele der Randnotizen haben keinen Bezug zu den Bibelversen. Das Testament hat auch als Tagebuch gedient. Die Notizen stehen etwas zufällig, vielleicht dort, wo er gerade an dem Tag im NT gelesen hatte. Viele davon sind Nachrichten über den Kriegsverlauf. An ihnen hing die Hoffnung auf Heimkehr. Viele Notizen handeln aber auch vom Leben im Gefängnis. Ich habe sie in chronologischer Reihenfolge zusammengetragen und eine Art Geschichte daraus zusammengestellt:

28.4.44

Habe mein Testament seit 7/3 nicht gehabt. Soll heute weiterreisen. Weiß nicht wohin. Entweder nach Drei Bergen, nach Mecklenburg oder nach Brandenburg.

4.6.44

Habe mich heute ganz entsetzlich nach Mamabärin und Bärlekind gesehnt. John geht es dieser Tage nicht gut. Muss innig für ihn beten. Es gibt Tage, an denen ich mich nach meinem Land, meinem Zuhause und meinen Lieben krank sehne. Lass den Tag schnell kommen, lieber Herr, an dem wir uns wiedersehen.

|6|11.7.44

Heute wurden wieder 25 hingerichtet. Die Russen rücken stetig vor.

21.7.44

Wieder ein Brief von Mamabärin. Glücklich, dass es beiden gut geht. Attentat gegen Hitler. Gute Nachrichten. Gott hat unsere Gebete erhört.

24.7.44

Heute 30 Mann hingerichtet. Es ist entsetzlich, das Beil fallen zu hören. Es kann nicht schlimmer sein, selbst enthauptet zu werden.

23.7.44

Ein sogenannter christlicher Gottesdienst in der Gefängniskirche. Mit das Empörendste, was ich erlebt habe.

6.8.44

Gewaltiger Bombenangriff auf Brandenburg. Große Zerstörungen. Gott hat mich wieder vor dem Tod bewahrt.

7.8.44

Der Geburtstag meines Freundes Charles Harris. Durch Gottes Hilfe bekam ich Gelegenheit, ihm mit Brot und Tabak zu helfen. Ein Tag der Gnade. Selbst bin ich niedergeschlagen.

10.9.44

Bärlekind 1 Jahr! Heute sind sicher alle bei Else und Kaare versammelt und denken viel an mich.

(Undatiert)

Es ist immer sowohl gut als auch schlecht, einen Brief zu bekommen. Danach sehne ich mich immer so entsetzlich nach meinen beiden Lieben. Wunderbar, ein Bild von Bärlekind zu bekommen.

2.10.44

Nichts Neues. Bekam Erlaubnis, an Mamabärin zu schreiben. 15 Mann hingerichtet.

11.10.44

Es geht an allen Fronten voran. Schluss mit den Magenschmerzen. 30 Mann hingerichtet.

29.10.44

Zog in eine neue Zelle. Schön und friedlich mit Carl Heinz und Prof. Ohlberg.

6.11.44

Martin Blindheim und Per Andersen kamen als zum Tode Verurteilte hierher. Hoffe, ihnen einen Gruß senden zu können.

9.11.44

Versuch, Blindheim und Andersen zu besuchen, missglückt. Gebe nicht auf.

|7|10.11.44

Bärlekind 14 Monate und kann laufen. Wir bleiben vermutlich zu Weihnachten hier. Habe es geschafft, einen Brief zu Martin B. hineinzuschmuggeln.

13.11.44

26 Mann hingerichtet. Hammerfest von den Deutschen geräumt.

27.11.44

36 Mann hingerichtet. Ein evangelischer Pastor. Das Morden hat keine Grenzen mehr.

1.12.44

Plötzlich ohne Grund aus der Bibliothek geworfen. Zusammen mit mehreren Norwegern zu Busch ins Haus 4 gekommen.

16.12.44

Es wird wohl ein äußerst einfaches Weihnachten dieses Jahr. Könnten wir doch ein wenig von zu Hause hören. Aber selbst ein Besuch des Seemannspastors ist uns verboten.

Weihnachtsabend 1944

in Brandenburg mit Høgvold, Haugland, Halvorsen, Lohne und Konow. Zweiter Weihnachtsabend im Gefängnis. Wenig Gefühl von Weihnachten hier. Die innere Stimmung trotzdem da. Die Gedanken ständig zu Hause bei meinen beiden. Gott gib, dass es für die beiden leichter ist, und dass dies das letzte Weihnachten drinnen ist.

27.–28.12.44

Strafarbeit. Schwierig, mich wach zu halten. Zweimal schlafend erwischt. C-H hat es schwer. Ebenso Martin und Per, die auf den Tod warten.

2.1.45

Bjørns erster Tauftag. Die Nachrichten spärlich. Die Deutschen führen überall Abwehrkämpfe. Sehe dem neuen Jahr optimistisch entgegen. Fliegerangriff auf Berlin.

10.2.45

Mamabärin 40 Jahre. Sehne mich sehr nach meinen beiden Lieben. Werden wir uns wiedersehen? Wann?

16.2.45

Aufforderung von der deutschen Regierung an alle Zuchthaushäftlinge, sich zum Kriegsdienst zu melden. Entmutigend. Fast alle Deutschen meldeten sich.

Carl Heinz ist auch Deutscher, trotz all seiner guten Seiten. Ist katholischer Priester und mein bester Freund hier. Immer Enttäuschung mit Deutschen.

20.2.45

Neuer Transport. 600 Mann sollen fort. Nur ein Norweger dabei. Alles Heizen beendet. Wir frieren.

|8|1.3.45

Ein Jahr, seitdem wir nach Deutschland kamen. Das Jahr ist besser gegangen als erwartet. Die letzte Zeit unangenehm kalt. Gott ist die ganze Zeit mit uns gewesen, und wir haben ihm nur von Herzen für alles zu danken.

14.3.45

Beginne neue Woche in Spannung. Jeder Tag kann Veränderung bringen. Nun starkes Heimweh. Frühling in der Luft. Kein Brief von Mamabärin. Schwierig mit dem Gebetsleben.

17.3.45

Gerüchte über Transport nach Rendsburg. Gott gib, dass wir fortkommen.

26.3.45

Versuche, zusammen mit John in den Transport nach Hamburg zu kommen. Halvor will auch mit, wenn möglich. Wir lassen Gott entscheiden.

27.3.45

John Høgvold mit Transport nach Hamburg gereist. Sehr traurig, ihn zu verlieren. Wieder ein Brief von Martin und Per. Erfreulich.

5.4.45

Die Alliierten 120 km vor Brandenburg. Die Spannung steigt jeden Tag. Zu Pfingsten nach Hause?

11.4.45

Entlassen aus Brandenburg. Zum nordischen Sammellager bei Hamburg.

1

Original: „Alltid freidig“ (1868) von dem dänischen Pfarrer Christian Richardt, Klassiker der norwegischen Kirchenlieder.

|9|Das Taufbild

Stolz hält eine Mutter ihr Kind vor sich hin. Sie trägt einen langen Mantel und einen schwarzen Hut und sie lächelt zur Kamera. [Bild Nr. 6, S. 159] Das Kind trägt ein langes weißes Kleid und eine bestickte Kappe. Es ist ein Bild von einer Taufe. Es wurde vor massiven Kirchentüren aufgenommen. Ich weiß, dass es die Türen der Østre Aker Kirche sind. Über dem Bild steht das Datum, Weiß auf schwarzem Grund: 12.6.1946.

Und darunter steht der Name: Mette Helene. Mit ihr bin ich verheiratet, und dies war ihre Taufe.

In diesem Bild steht der Pastor nicht im Hintergrund, sondern neben dem Kind und schaut lächelnd auf das kleine Gesicht herab. Er lächelt aus gutem Grund so stolz – er ist der Vater des Kindes.

Am Tag darauf reiste er ab. Er verschwand aus ihrem Leben. Darum ist dies die Geschichte eines Verrats2. Jedenfalls erlebte sie es als solchen. Sie, die mit ihm verheiratet war und dieses Kind geboren hatte. So hätte auch die Tochter empfinden können. Aber sie hatte so viele, die sie liebten, viele, die in den leeren Raum eintraten, den der Vater hinterlassen hatte. Sie erlebte eine reiche und gute Kindheit. Aber lässt sich ein Vater ersetzen? Und was bedeutet es für ein Kind, zu wissen, dass sein Vater es verließ, weil ihm etwas anderes wichtiger war?

Das Taufbild ist das erste in ihrem Album. Auf den nächsten Seiten sehen wir sie in ihrem ersten Kleidchen, auf dem Arm ihrer Mutter. Und einige Monate später mit ihrer ersten Haarschleife, auf dem Schoß von ihrem Großvater mütterlicherseits. Johannes Johansen, mit lichtem Haar, aber immer noch prächtigem Bart – der Telegrafchef, der so früh Witwer wurde. Bald darauf kommen die Geburtstagsbilder, Faschingsbilder, Schul- und Konfirmationsbilder – und auf den letzten Seiten tauche auch ich auf.

Aber lange vor mir sind Bilder von der Tante mütterlicherseits und ihrem Mann zu sehen. Johanne, Mettes Mutter, nahm lange Arbeitstage beim NRK3 Lizenzbüro auf |10|sich, um sie beide zu versorgen. Doch Mette hatte es gut. Johannes Schwester Else wohnte auf der anderen Straßenseite und blieb zu Hause, so wie es sich damals für die Ehefrau eines gut verdienenden Mannes gehörte. Die beiden bekamen keine eigenen Kinder, so konnten sie Mette all ihre Fürsorge schenken. Und Onkel Kaare wurde die Vaterfigur, die ihr fehlte – einen gütigeren Mann kann man kaum finden. Neben ihrer Mutter wurden Tante und Onkel für sie die wichtigsten Erwachsenen.

Von Mettes Vater gibt es im Album keine weiteren Bilder. Olav Brennhovd wurde zu einer Nicht-Person in ihrem Leben. Seit sie vier war, traf sie ihn ein paar Mal pro Jahr. Die ersten Jahre bei seinem Bruder zu Hause in Oslo. Später im Theatercafé (in Oslo). Mit vierzehn machte sie zusammen mit ihrer Tante und ihrem Onkel eine Autoreise durch Deutschland. Da traf sie ihn in seiner Wohnung. Und seit sie zehn war, schrieb sie ihm auch Briefe, meist nach ihrem Geburtstag und Weihnachten, mit Dank für Geschenke.

Sie erinnert sich nicht besonders an diese Treffen. Sie hatten einander nicht viel zu sagen. Er war ein fremder Mann und bedeutete nie etwas in ihrem Leben. Vielleicht war er es, der am meisten verlor?

„Der Krieg hat ihn zerstört“, sagte Johanne die wenigen Male, als wir von ihm sprachen. Und zweifellos war es der Krieg, der sie auseinanderbrachte. Doch wie hatte er das erlebt? Zerstörte ihn der Krieg, oder war es nur der Krieg, der sie beide auseinanderbrachte? Was trieb ihn nach Deutschland zurück? Wie wurde sein Leben dort? Ich hätte ihn fragen sollen, als ich ihn traf, denke ich heute.

An dem Tag Mitte der 1970er Jahre, als er sich die Treppe zu unserem Haus hochschleppte, war er schwer und korpulent und kurzatmig. Wir saßen auf der Veranda und er begrüßte die Enkel, die er noch nie gesehen hatte. Es hätte so vieles gesagt werden können. Aber ich wusste einfach nicht, wie ich es diesem fremden Mann hätte sagen sollen.

Als klar war, dass ich sein Schwiegersohn werden würde, hatte ich ihm geschrieben. Ich erzählte von mir und auch, dass ich im Grunde nicht viel von ihm gehört hatte, weder Negatives noch Positives. Er verstand es nicht als Einladung, etwas von sich zu erzählen. Ich bekam bloß eine Gratulation, mitsamt einer – etwas besorgten? – Frage nach der wirtschaftlichen Lage meiner Eltern. Also worüber sollten wir jetzt noch sprechen? Es ging hauptsächlich um die Kinder und um unser Leben.

Als er die Treppe hinaufging, kam Johanne um die Ecke. Sie wohnte bei uns in der zweiten Etage. Wir hatten ihr bestimmt erzählt, dass er kommen würde, aber ich glaube nicht, dass sie vorhatte, ihm zu begegnen. Ihr letztes Treffen war 1949 in Schweden, als sie mit einem Pastor sprachen und sie in die Scheidung einwilligte.

Es wurde eine sonderbare Begegnung. Sie hatte ihm nichts zu sagen. Doch er brachte wenigstens einen Satz hervor, den sie später zitierte: „So hätte es nicht laufen sollen.“

Ein paar Jahre später starb er. Sie sahen sich nie wieder.

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Das wiederholte Wort „Verrat“ muss besser verstanden werden als „im Stich gelassen“.

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NRK: Norsk rikskringkasting ist damals wie heute die staatliche Rundfunkgesellschaft in Norwegen (Anm. d. Übers.)

|11|Zwischen zwei Persönlichkeiten

Als Mette während ihrer Kindheit den Tåsenbacken hinunter zur Tåsen Schule ging, lief sie am Fuße des Hügels an einem schwarzen Holzhaus rechter Hand vorbei. Sie wusste, dass dort ihr Großvater väterlicherseits wohnte.

Mette schaute nie bei ihm herein. Er zeigte kein sonderliches Interesse an seinem einzigen Enkel. Ab und zu nahm ihre Mutter sie zu einem Besuch bei ihm mit. Dadurch lernte sie „Tante Martha“ kennen, die zweite Frau ihres Großvaters. Mettes Großmutter war schon 1937 gestorben. Und auch nach dem Tod des Großvaters 1956 besuchten Johanne und Mette weiterhin Tante Martha.

An einem Augusttag im Jahre 2012 parken wir unseren Toyota in der Ortschaft Sjauset, die auf einem Bergrücken zwischen Gol und Hemsedal liegt. Die Abendsonne färbt das üppige Gras fast rötlich – das passt gut zu der roten Blockhütte, die am Abhang steht, dem blauschimmernden Skogshorn genau gegenüber. In ein paar Stunden, das weiß ich, wird die Sonne den Himmel hinter dem Storehorn und dem Veslehorn vergolden, deren dunkle Umrisse sich auf unserer Seite des Bergrückens gegen den Himmel abzeichnen.

Die Aussicht und das Gelände kenne ich gut. In den ersten Jahren unserer Ehe verbrachten wir die Sommerferien in dieser Hütte. Die beiden Kleinen, die draußen spielen, erinnern mich an meine eigenen Kinder, die dort spielten. Auch bei Mette weckt dieser Ort Kindheitserinnerungen. Seit sie zehn Jahre alt war, verbrachte sie alle Oster- und Sommerferien dort. Drinnen auf dem Tisch liegt ihr erster selbstgewobener Tischläufer und an der Wand hängen die Skier ihrer Mutter.

Es ist 34 Jahre her, seit wir hier waren. Nun gehört die Hütte Johannes Brennhovd, Olavs Halbbruder. Zusammen mit seiner Frau Britt hat er sie so pietätvoll restauriert, dass fast nichts verändert aussieht.

Zusammen mit Johannes blättern wir im Hüttenbuch. Auf der ersten Seite erzählt Mettes Großvater Ola Knutson Brennhovd, dass er diese Almwiese 1911 gekauft hatte. Sie liegt neben der Alm vom Brennhovdhof unten in Grønlio. Hier war er aufgewachsen, jeden Sommer seiner Kindheit hatte er hier auf der Alm verbracht. Darum bekam die Hütte den Namen „Heimatt“.

Jeden Sommer fuhr die Familie mit dem Zug nach Gol und wurde von dort mit Sack und Pack für einen ganzen Sommer in einer Pferdekutsche nach Sjauset hi|12|nauf gefahren. Genauso auch zu Ostern – aber da fuhren sie Schlitten. Auch für Mettes Vater war diese Hütte und die Landschaft rundherum ein wichtiger Teil seiner Kindheit und Jugend. Es ist ein Bild, das er stets in sich trug – als ein Bild vom Vaterland.