Heidegger - Guillaume Payen - E-Book

Heidegger E-Book

Guillaume Payen

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Beschreibung

Ein Porträt aus Licht und Schatten: Heideggers Leben und Schaffen Die Person Martin Heidegger nicht verurteilen oder entschuldigen, sondern seine Lebensgeschichte nachzeichnen und sein Denken von innen heraus und in seiner Zeit verstehen: Das ist das Ziel, das sich der französische Historiker und Philosoph Dr. Guillaume Payen für dieses Buch gesetzt hat. Seine umfassende Heidegger-Biografie ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschungsarbeit. Sie macht Schluss mit Tabus und eröffnet neue Perspektiven im Diskurs über einen der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. - Heideggers Leben und Werk: eine quellensatte und gut lesbare Biografie - Vom angehenden Priester zu den »Schwarzen Heften«: Die vielen Seiten Heideggers - Todtnauberg: Eine schlichte Hütte als Rückzugs- und Schaffensort - Antisemitismus und jüdische Freunde: Heidegger und der Nationalsozialismus - Vorlesungen, Briefwechsel, philosophische Texte: Was die Quellen über ihn aussagenWechselhafte Schicksale: vom Katholizismus über die philosophische Revolution zum Nationalsozialismus Was hatte der in einem starken katholischen Glauben verwurzelte Heranwachsende mit dem Professor zu tun, der im Nationalsozialismus die große Chance für Deutschland sah? Heideggers Leben und Werk vollzogen sich in mehreren Etappen, die durch folgenschwere Brüche gekennzeichnet waren. Guillaume Payen hat aus den umfangreichen Quellen ein Porträt des Philosophen Martin Heidegger zusammengestellt, das sein Leben in allen Details abbildet: von den Anfängen in der Kleinstadt bis zur späten Auseinandersetzung mit seiner NS-Vergangenheit. Eine Biografie, die das Lebenswerk Heideggers in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einordnet!

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Seitenzahl: 1405

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Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin.

Die deutsche Übersetzung wurde gefördert durch die „Fondation pour la Mémoire de la Shoah“.

Copyright © 2016 by Perrin

Die französische Originalausgabe mit dem Titel Martin Heidegger. Catholicisme, Révolution, Nazisme erschien 2016 bei Perrin.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© der deutschen Übersetzung 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Dr. Alwin Letzkus, Freiburg

Satz und Herstellung: Arnold & Domnick, Leipzig

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Printed in Europe

Besuchen Sie uns im Internet:

www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4477-9

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-8062-4478-6

eBook (epub): 978-3-8062-4479-3

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Inhalt

Informationen zum Buch

Informationen zum Autor

Impressum

Diese deutsche Ausgabe widme ich Hugo Ott (1931–2022)in dankbarer Erinnerung.

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

Einleitung

TEIL 1Ein katholisches Schicksal (1889–1918)

Kapitel 1: Eine katholische Kindheit in einer südwestdeutschen Kleinstadt (1889–1903)

Die glückliche Kindheit eines Kleinbürgers vom Lande

Eine Kindheit zwischen Kirche und Schule

Der Schmelztiegel eines Jahrhunderts der Konflikte

Kapitel 2: Vom angehenden Priester zum antimodernistischen jungen Philosophen (1903–1913)

Von Konstanz nach Freiburg oder sechs Jahre Gymnasium und Knabenkonvikt

Irrungen und Wirrungen eines katholischen Lebens

Ein vielversprechender katholischer Philosoph (1912–1914)

Kapitel 3: Ein Philosoph im Weltkrieg (1914–1918)

Krieg oder Karriere? (1914–1917)

Vor dem Bruch mit dem Katholizismus (1914–1917)

Die innerliche Erfahrung des Kampfes (1918)

TEIL 2Ein revolutionärer Philosoph (1919–1933)

Kapitel 4: Das Verblassen der Welt von Meßkirch (1919–1923)

Gleichgültigkeit gegenüber der Niederlage Deutschlands

Assistent und Revolutionär

Bruch mit dem Glauben seiner Herkunft und die Entdeckung der Verwurzelung

Kapitel 5: Bodenständigkeit auf den Höhen von Todtnauberg? (1923–1933)

Vom Marburger Exil zum Vorposten von Freiburg?

Todtnauberg oder der Berg der Philosophie

Der Abschied von Meßkirch

Kapitel 6: Der Wind weht jetzt aus Richtung Berlin (1927–1933).

Berlin, aus der Sicht von Todtnauberg

Die Hauptstadt ruft

Berlin wird braun

TEIL 3Der Nationalsozialismus – Deutschlands Schicksal? (1933–1945)

Kapitel 7: Die Rektoratsrede oder: Selbstporträt des Philosophen als Führer

Führung, Führer und Gefolgschaft

Dem deutschen Volk „seine echte geistige Welt“ erschaffen

„Gott ist tot“

Kapitel 8: Ein König der Lüfte versucht, im Gleichschritt zu marschieren.

Als Rektor und Philosoph Vorhut des NS-Regimes

Der Nationalsozialismus an der Universität: eine Politik der Säuberung.

Zunehmende persönliche Isolierung

Kapitel 9: Orakel im Sturm (1934–1945)

Vom Rücktritt zum Ende der Illusionen (1934–1936)

Affektive und philosophische Erneuerung (1934–1939)

Der nächste Weltkrieg als neue Probe (1939–1945)

TEIL 4Ein zum Schweigen verurteilter Nazi? (1945–2017)

Kapitel 10: Die Not eines Landes in Ruinen (Deutschland 1945–1949)

Die Entnazifizierung des Martin Heidegger (1945–1947)

Die „Wiederherstellung“ eines Philosophen (1946–1949)

Wiederbegegnungen nach dem Völkermord

Kapitel 11: Letzte Wege (1950–1976)

Das wiedergefundene Glück? (1950–1969)

Ein Philosoph begegnet seiner NS-Vergangenheit (1950–1976)

Letztes Aufleuchten eines Denkers (1969–1976)

Kapitel 12: Die Affäre Heidegger in der Zeit nach Heidegger (1976–?)

Eine Medien-„Bombe“, eine „abschließende Studie“ und die Fortsetzung des Leugnens

Neue Quellen, altes Leugnen (1989–2005)

Cyberspace, Globalisierung und Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie

Von den Schwarzen Heften zum Ende der Affäre?

Schlussbetrachtung.

ANHANG

Anmerkungen

Bibliographie

Die wichtigsten Quellen

Werke und Gelegenheitstexte

Die wichtigsten Briefwechsel

Zeitzeugnisse

Weitere wichtige Quellen

Studien und Biographien

Register.

Geleitwort

von Jean-Paul Bled

Wer sich an eine Heidegger-Biographie wagt, weiß im Vornherein, dass er sich auf eine schwierige Aufgabe einlässt. Man muss dafür eine doppelte Vorbildung mitbringen: eine historische und eine philosophische. Das ist bei Guillaume Payen, der von der Philosophie zur Geschichte wechselte, der Fall. Diese notwendige Bedingung ist aber noch keine hinreichende. Es gilt auch, die schwierige Balance zwischen diesen beiden Herangehensweisen zu finden. Der Philosoph muss allen Aussagen des Historikers zustimmen können – und umgekehrt. Guillaume Payen erfüllt souverän dieses Erfordernis, das sich so oft einer vom Corpsgeist der Disziplinen und Schulen geprägten Kritik ausgesetzt sieht.

Doch damit ist es nicht getan, die Kunst der Biographie verlangt noch viel mehr von einem Autor. Sine ira et studio („frei von Ab- wie Zuneigung“) könnte seine Devise lauten, wenn er sich denn Tacitus zum illustren Schutzpatron erwählt. Seine Grundregel ist es, seinen Protagonisten von innen verstehen zu wollen, und das selbst dann, wenn dieser ein ausgemachter Schurke sein sollte. Es geht um die Herstellung einer empathischen Beziehung zu ihm, ohne in den Auseinandersetzungen, die er austrägt, jemals Partei zu ergreifen. Leicht ist das nicht, denn es verlangt Nähe und Distanz zugleich, was Guillaume Payen auf Anhieb so vollkommen gelingt wie sonst nur langjährigen Praktikern des Genres. Er ist nicht Mitglied in der Gemeinde der Heideggerianer, er sucht aber auch nicht die Abrechnung mit dem Philosophen.

Nicht zuletzt verfügt Guillaume Payen über eine echte schriftstellerische Begabung. Schon nach kurzer Lektüre spürt der Leser förmlich seine Freude am Schreiben, seine Lust am Text. Wie ein Maler arbeitet er meisterlich mit allen Farbnuancen der Palette, um Gefühle und Gedanken auszudrücken. Dazu kommt ein ausgeprägter Sinn für treffende Formulierungen.

Diese glückliche Verbindung von Form und Inhalt gehört zu den besonderen Vorzügen dieses Werks. Heideggers Leben und Werk vollzogen sich in mehreren Etappen, die durch folgenschwere Brüche gekennzeichnet sind. Denn was hat der in einem starken katholischen Glauben verwurzelte Heranwachsende mit dem Professor zu tun, der im Nationalsozialismus die große Chance für Deutschland sah? Lediglich in der Ablehnung der Moderne sind sie sich einig.

Diese Geschichte hat mit Orten, Landschaften und Monumenten zu tun. Schon in der Kindheit und Jugend ist diese Verbindung offenkundig, am Anfang von allem wie eh und je. In seinem Fall trägt der Beginn die Züge der schwäbischen Kleinstadt Meßkirch. Hier hatte der junge Martin seine Wurzeln. Mit dem Land ringsherum bildet sie das Herzstück seiner Heimat, dieser historischen, geographischen und gefühlsmäßigen Gemeinschaft, der die Deutschen noch vor ihrer Bindung an höhere Gemeinschaften angehören. In Meßkich wird Martin in einem brennenden katholischen Glauben erzogen. Das ist der erste Bestandteil seiner Identität, und dieser erhält seine besondere Solidität dadurch, dass er sich einer vielköpfigen Hydra konfrontiert sieht, nämlich dem Kulturkampf, dem Altkatholizismus, dem Liberalismus und dem Modernismus. Das geht bei ihm so weit, dass er sich zum großen Stolz seiner Eltern für das Priesteramt entscheidet, für sie die höchste Erfüllung ihrer Wünsche. Diesen Weg geht er aber nicht zu Ende, was jedoch keineswegs mit einem Bruch verbunden ist. Statt Priester will er nun katholischer Philosoph werden und auf diese Weise der Kirche dienen.

Schritt für Schritt entfernt er sich jedoch vom Katholizismus, bis hin zum Bruch im Jahr 1917. Aus Frustration über das langsame Vorangehen seiner Hochschullaufbahn in Freiburg ist er rasch bei der Hand mit Vorwürfen an das katholische Milieu, das er dafür verantwortlich macht; es habe ihn zu wenig unterstützt. Durchdrungen vom Bewusstsein seiner intellektuellen Überlegenheit, hat er kein Verständnis dafür, dass er sich gedulden muss: ein typisches Beispiel für die Sünde des Hochmuts! Schicksalsbestimmend ist dann seine Begegnung mit Elfride Petri, einer protestantischen Studentin, die obendrein aus Preußen stammt. Sie wird erst seine Geliebte, dann seine Ehefrau. Sie eröffnet ihm neue Horizonte und erschüttert damit den Ordnungsrahmen seines bisherigen Lebens. Nun handelt es sich um einen echten Bruch! Er verwirft völlig, was er bislang verehrte, wird zum erbitterten Verächter des Katholizismus, dessen gläubiger, ja eifernder Anhänger er gewesen war.

Von entscheidender Bedeutung war auch der Schock durch die Begegnung mit dem Krieg, auch wenn Heidegger nach seiner Einberufung nie die Erfahrung eines Fronteinsatzes machen musste. Wie in vielen anderen Fällen, verhalf auch ihm der Krieg dazu, bislang Unausgetragenes in die Welt zu setzen. Heidegger war bei Kriegsende überzeugt, dass das deutsche Volk zu seiner Regeneration einer Revolution bedürfe. Gleichwohl ist bei ihm in diesen Jahren keinerlei politisches Engagement zu verzeichnen, weder unter der roten Flagge noch im Lager der Konterrevolution. Die Revolution, die Heidegger damals vorschwebt, wird eine philosophische sein – oder nicht stattfinden.

War die Zeit des Katholizismus mit Meßkirch verbunden, so ist es die neue Phase mit der Hütte im Schwarzwald, die Heidegger sich 1922 in Todtnauberg bauen lässt, nahe bei Freiburg, wo er dann auch einen Lehrstuhl erhält. Gerne zieht er sich in diese Umgebung zurück, die seinem Denken Nahrung gibt. Hier entsteht sein Werk. Die philosophische Revolution, als deren Herold er sich versteht, wird die Grundlage für die notwendige, auf ihr aufbauende politische Revolution bilden. Einige der Themen, die er nun in den Vordergrund rückt, verbinden ihn mit der Konservativen Revolution, ja dem Nationalsozialismus. Dabei denkt man natürlich insbesondere an die Blut- und Boden-Thematik, die in Hitlers Weltanschauung breiten Raum einnimmt. Und dann ist da die Frage des Antisemitismus bei Heidegger. Seine Wurzeln hat dieser im traditionellen katholischen Antisemitismus, er verbindet sich aber mit Bestandteilen anderer Herkunft. Heidegger kritisiert nunmehr die „Verjudung“ des kulturellen Lebens und die Gefahr des jüdischen Sozialismus, ein Begriff, der unweigerlich an den „jüdischen Bolschewismus“ oder „Judäo-Bolschewismus“ erinnert, der die bevorzugte Zielscheibe der Nationalsozialisten war.

Auch wenn hier mögliche Verbindungen zum Nationalsozialismus bereits deutlich erkennbar sind, impliziert dieser Kurs noch nicht, dass Heidegger gewissermaßen vorprogrammiert war, über seine damaligen Positionen hinauszugehen. Wie etliche Vertreter der Konservativen Revolution hätte er den Rubikon nicht überschreiten müssen. Heidegger aber ergriff entschieden Partei für die Fahne des Nationalsozialismus. Doch im Unterschied zu anderen war es nicht erst dessen Sieg, der ihn dazu veranlasste. Sein Engagement ist älteren Datums. Seine Überzeugung, dass Deutschlands Heil Adolf Hitler hieß, stand vor Januar 1933 fest.

Mit dem Rektorat der Universität Freiburg erreicht Heidegger in der NS-Hierarchie den Status eines Führers, der es ihm erlauben soll, den Auftrag, mit dem er sich betraut zu wissen glaubt, zu erfüllen. Ist die vorhergehende Kultur erst einmal beseitigt, wird es möglich sein, dem neuen System einen philosophischen Gehalt zu geben. Das wird die berühmte philosophische Revolution sein, die Voraussetzung für eine in die Tiefe gehende Erneuerung Deutschlands. Diese wird in der Matrix jeder Philosophie wurzeln, nämlich in der des alten Griechenlands. Doch dieses groß angelegte Projekt wird ein Fehlschlag sein. Wie hätte es auch anders enden können? Im Vergleich mit Berlin und München nahm Freiburg eine Randstellung in der Hierarchie der Universitäten ein und bot sicherlich nicht die idealen Startvoraussetzungen für ein so weitgespanntes Unterfangen. Vor allem aber hatte der Nationalsozialismus bereits seine Vordenker, allen voran natürlich Hitler und in geringerem Maße Rosenberg. Außerdem lag es nicht im Geringsten in der Absicht der Herren des neuen Deutschlands, aus den Universitäten die Pflanzstätten der künftigen Führer des Tausendjährigen Reichs zu machen.

Aus Enttäuschung über das Scheitern seines großen Werks, legte Heidegger im April 1934 das Rektorat nieder. Ja mehr noch: er gestand ein, als Führer an der Spitze der Universität versagt zu haben. Angesichts des Neids vieler Kollegen und etlicher gegen ihn gerichteten Intrigen gab er lieber auf und nahm seine normale Vorlesungstätigkeit wieder auf. Völlig verfehlt wäre es gleichwohl, diese Entscheidung als die Geburt eines Dissidenten oder gar eines Widerständlers namens Heidegger aufzufassen. Dergleichen behaupteten zwar die Schüler des Meisters, doch ist das schlicht und einfach eine Re-interpretation der Geschichte in der Absicht, eine Heldengeschichte zu konstruieren, die jeglicher Grundlage entbehrt. Dieser These wird von Payen der Garaus gemacht. Er zeigt auf, dass diese Entscheidung einen Rückzug, nicht aber einen Bruch bedeutet. Die Beziehung zwischen dem Radikalismus Hitlers und Heideggers Anliegen war zu eng, um so in die Brüche zu gehen. Sollte es in diesem Punkt letzte Zweifel gegeben haben, so wurden sie mit der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte und einiger Vorlesungen beseitigt.

Die Biographie von Guillaume Payen, die den Ertrag der Forschungsarbeit eines Jahrzehnts darstellt, wird rasch zum Standardwerk werden. Sie macht endgültig Schluss mit Tabus und wird daher lebhafte Reaktionen herausfordern und Debatten auslösen. Was kann man sich Besseres wünschen? Das ist es ja, was große Werke auszeichnet.

Vorwort

Ein Autor schreibt, um gelesen zu werden, zu seinen Lebzeiten oder nach seinem Tod. Veröffentlicht zu werden ist ein großes Glück, übersetzt zu werden ein Privileg. Über etwas so Reiches, Schwieriges und sich immer wieder Erneuerndes wie das Leben und Denken Martin Heideggers zu schreiben, stellt einen Autor auf eine lange Probe, die sich der Normalbürger kaum vorstellen kann. Zwei Jahre nach Beendigung dieses Buchs setze ich nun den Schlusspunkt unter seine zweite, durchgesehene und aktualisierte Ausgabe. Dies verdanke ich dem glücklichen Umstand, Übersetzungen ins Englische, Deutsche, Russische und Japanische vorlegen zu können. Das hat mir die Gelegenheit gegeben, einige Abschnitte zu verbessern und andere hinzuzufügen, die ich aufgrund verlegerischer Zwänge nicht gleich hatte verfassen können. In meine Darstellung konnte nun auch eingehen, was mir der Austausch mit meinen Lesern gebracht hat, aber auch das Studium des Briefwechsels zwischen dem Denker und seinem Bruder Fritz, der das Bild, das ich gezeichnet habe, vervollständigt.

Einige meiner Kritiker werfen mir vor, Heidegger nicht verurteilt zu haben. Ihnen fehlt es, dass ich ihnen die ach so beruhigende Entrüstung nicht gönne, die einen sicher sein lässt, was gut und was schlecht ist. Aber ein Autor, dem es um das Wissen geht, wird seinem Publikum nur dann gerecht, wenn er nicht dem gewöhnlichen Hang zum Emotionalen nachgibt, der die Analyse seines Gegenstands beeinträchtigt. Gewiss gibt es Texte von Heidegger, die uns schockieren, etwa wenn er sich in einem seiner geheimen Schwarzen Hefte als Negationist zeigt. Er fragt dort: „Wäre z. B. die Verkennung dieses Geschickes [gemeint ist das des deutschen Volkes, GP] […] nicht eine noch wesentlichere ‚Schuld‘ und eine ‚Kollektivschuld‘, deren Größe gar nicht – im Wesen nicht einmal am Greuelhaften der ‚Gaskammern‘ gemessen werden könnte“1. Kann der Historiker angesichts eines solchen Satzes unbeteiligt bleiben? Natürlich nicht. Muss er sich zum Richter aufschwingen? Auch nicht. Die Geschichte verliert ihre Wissenschaftlichkeit, wenn sie zum Gerichtshof wird, und der Historiker übt Verrat an den Fragen und den Quellen, die ihn bei der Feststellung der Fakten leiten. Er muss nicht gefühllos sein, darf sich von seinen Gefühlen aber nicht verunsichern lassen. Dadurch mag seine Darstellung etwas blasser wirken, sie wird dafür umso exakter und nuancenreicher sein und wahrheitsgemäß präsentieren, was sich in einer Vergangenheit verlor, die sich von seiner eigenen Epoche unterscheidet, beschädigt wurde. In aller Bescheidenheit überlässt er es dem Philosophen, über das Gute nachzudenken, und dem Gesetzgeber, es in Gesetzesform zu bringen, während Ankläger, Verteidiger und Richter vor Gericht darüber streiten. Wie Spinoza bemüht er sich, „die Verhaltensweisen der Menschen“ zu verstehen, statt sie „zu belachen, zu beklagen oder sie zu verwünschen“2. Die übertriebene Radikalität Heideggers verlangt einem einiges an Anstrengung ab, um seinen Ekel und seine Entrüstung zu überwinden, doch nur so kann man feststellen, was an seinem Tun und Denken menschlich, wenn schon nicht humanistisch, ist. Mir ist bewusst, dass Sensationsdarstellungen sich besser verkaufen, aber eine Gelehrtenlaufbahn schlägt man ohnehin nicht aus Gewinnstreben ein, dafür böten sich weit lohnendere Berufe an. Und das Ansehen, das so zu erringen ist, kann man als ehrlicher Forscher nicht auf der verzerrten Darstellung seines Gegenstands aufbauen.

Einige Philosophen haben sich darüber gewundert, dass ich Heideggers Philosophie darstelle, ohne sie in Frage zu stellen. Philosophische Interpretationen mögen ihren Glanz von der Sonne der Ideen erhalten, meine Muse hat daran nicht teil, sie bewegt sich vielmehr im Halbdunkel der menschlichen Höhle, in der es prosaischer zugeht und wo die Dinge sich verändern; ihr Anliegen ist es, diesen Ort mithilfe der Fragestellungen und Methoden zu erhellen. Sie befragt die Modernität und die Reaktionen, die diese hervorruft, sie befasst sich mit sozialen und politischen Identitäten, mit engagierten Intellektuellen, der Frage von Krieg und Gewalt, mit Diskursen und Praktiken des Hasses, mit revolutionären Systemen und deren Gehalt an säkularisiertem Glauben sowie ihrem Hang zu Terror und Verbrechen, mit der Geschichte der Medien und öffentlichen Meinung, auch wenn all das den Geistern, die sich nicht gerne mit der Empirie befassen, grau und uninteressant erscheinen mag. Man kann mir ruhig vorwerfen, nicht genügend philosophisch vorzugehen, mein Ziel liegt ja woanders. Der Philosoph, der mich lesen will, muss sich auf eine Reise in ein befremdliches Gebiet gefasst machen. So mancher Gegenstand und manche Person wird ihm mancherorts bekannt vorkommen, aber in seltsam barbarisches Licht getaucht. Er wird manchmal enttäuscht und oft verstört werden, aber doch die eine oder andere wohlschmeckende und nicht gekannte Frucht mitnehmen und sich schmecken lassen, auch die eine oder andere kräftige und nahrhafte Pflanze, die auch bei ihm gedeihen wird. Doch auch der Philosoph möge den einzigen Anspruch anerkennen, den ich auf seinem Gebiet erhebe: Es geht darum, wie Diogenes anhand von Fakten aufzuzeigen, dass auch die Philosophen, die in höheren Regionen ihre Dialoge führen, in gewissem Maße ihrer Zeit, die auch die der sie umgebenden Gesellschaft ist, verhaftet bleiben und dass man Gefahr läuft, ihr Denken mitunter grob misszuverstehen, wenn man ihr Menschsein außer Acht lässt. Wer als Kommentator auf die Geschichte zurückgreifen will, tue das im Bewusstsein, dass sie mehr ist als eine bloße Abfolge von Fakten, während die Philosophie sich die Interpretationen vorbehält. Nein, auch die Geschichte hat ihre Methoden, ihre fraglosen Errungenschaften und ihre Streitfragen, die man nicht beherrscht, wenn man sich nur flüchtig mit ihnen befasst.

Es ist nicht Aufgabe eines Biographen und auch nicht des Historikers, eine Person zu kritisieren, einen Autor zu tadeln. Was ich wollte, ist dies: ein Leben nachzeichnen, eine Zeit verstehen. Wer mich liest, kann von mir aus seinem Zorn freien Lauf lassen und von der Philosophie Heideggers übernehmen oder verwerfen, was er will. Der Autor kann nicht mit jedem Leser eine Diskussion führen, doch wird dieser seine Lektüre, wenn sie ihm etwas gebracht hat, verlängern und bereichern durch seine eigenen Gedanken und vielleicht sogar durch eigene Veröffentlichungen. Dies ist es jedenfalls, was ich diesem Buch wünsche.

Einleitung

Für viele gehört es zur Wissenschaft, dass sie langweilig daherkommt, in der tristen grauen Prosa des Jargons, und nach dem Staub von Bibliotheken riecht. Für mich liegt der Wert eines Textes in seiner Lebendigkeit, seiner Ausgewogenheit und Präzision. Es wird mir gewiss nicht gelingen, Heidegger wieder zum Leben zu erwecken, so weit reicht die Macht des Wortes nicht. Ich möchte aber den Eindruck vermitteln, dass er tatsächlich gelebt, gefühlt und gedacht hat, dass er wie andere auch vom Strudel der Geschichte erfasst wurde. Meine Einbildungskraft wird nur auf dem Pfad, den das historische Denken vorzeichnet, freien Lauf bekommen. Aber ich werde gerne auf seriöse Kleidung verzichten, den Mantel des Malers anziehen und zum Pinsel greifen, denn eine Biographie zeigt uns, so historisch sie auch angelegt sein mag, das Porträt eines Menschen.

Es ist das wechselnde Porträt eines Menschen in physischer wie in geistiger Hinsicht. Heidegger wuchs heran, ohne jemals groß von Gestalt zu werden, und sein Körperbau wurde im Laufe der Jahre zunehmend gedrungener. Sein Gesicht näherte sich immer mehr dem Oval seiner Mutter an und seine Nase wurde länger, sein Blick war durchdringend und doch auch ausweichend. Er ließ sich einen Schnurrbart wachsen, den er auf ein Quadrat zusammenstutzte, als der Führer das Mode werden ließ. Sein Porträt weist im Lauf der Zeit widersprüchliche Züge auf, seine Persönlichkeit ist keineswegs einheitlich: Erst glaubte er, die katholische Wahrheit zu besitzen, wurde dann aber immer mehr zum Feind Roms; der Freund und Geliebte von Juden und Jüdinnen wollte gegen die „Verjudung“ Deutschlands ankämpfen. Manchmal trägt das Porträt rührende Züge, etwa wenn der Mesnersohn mit seinem Bruder die Glocken seiner Geburtsstadt läutet; oft ist es freilich zweideutig: Er war ein aufmerksamer Leser und ein geschickter Redner, der es auch verstand, seinen Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass er sich für ihn interessierte, ihn bewunderte, ja Freundschaft oder gar Liebe für ihn empfand, und dann war er wieder voller Verachtung, verlogen und egozentrisch. So viel er las und Kontakte pflegte, so wenig neigte er zum Handeln. Im Wesentlichen verbrachte er sein Leben damit, zu reden oder zu schreiben, Vorlesungen zu halten und unterschiedliche philosophische Texte zu verfassen sowie zahllose Briefe. Er fuhr Ski, trieb Wassersport und wanderte gerne. Für seine Söhne hatte er nur wenig Zeit übrig, dafür war seine Liebe zu Frauen umso größer, sehr zum Leidwesen der eigenen. Hegel fand, die Biographie rühre an das Universelle mit Ausnahme dessen, was an ihr nur affektiv, „gemütlich“ 1, ist, wobei es freilich schwierig, wenn nicht ausgeschlossen ist, reinem Affekt zu begegnen; jedes Gefühl erhält seinen Sinn durch eine geistige Konstruktion, die aus einer bestimmten Zeit, einem gesellschaftlichen Umfeld und dem mehr oder weniger einmaligen Bewusstsein eines Individuums hervorgegangen ist. Dies wird sich auch am Beispiel Heideggers zeigen lassen, bis hin zu seiner Sexualität. So führt die Biographie zurück zur Geschichte; sie tut das auf verschlungenen Wegen, die man nicht einfach abschneiden kann, sondern denen es zu folgen gilt.

Die Geschichte ist nirgends festgeschrieben. Sie wird es erst durch den Historiker, der seine Fragen stellt, seine Quellen befragt, seine Methoden anwendet und, indem er sich einer ernsthaften Textproduktion widmet, seine Vorstellungskraft in die engen Mauern des Gewesenen und dessen, was die Spuren der Vergangenheit ihm zu schreiben erlauben, zwängt. Wenn er sich vorstellt, was hätte sein können, so tut er das nur, um das tatsächlich Geschehene besser zu verstehen. Jedes neue Dokument erweitert den engen Raum, in dem er sich bewegt. Jede originelle Fragestellung eröffnet einen bis dahin unvorstellbaren Ausblick auf das, was er sieht. Der Historiker hängt ab von einem Rohmaterial, das er nicht einfach erfinden kann, das er aber mit den Werkzeugen seiner Zeit bearbeitet. Er muss sich damit abfinden, dass sein Werk nur eine mehr oder weniger kurzlebige Momentaufnahme einer ständigen und von einer Vielzahl von Autoren immer wieder neu begonnenen Bemühung ist, der Menschheit ihre Vergangenheit als ein anderes Präsens darzustellen, als Präsens, dessen weiteres Werden ungewiss und das doch bereits vergangen ist. Über Martin Heidegger zu schreiben, zwingt in ganz besonderer Weise zur Bescheidenheit. Dafür gibt es viele unterschiedliche Gründe. Da ist zum einen seine schwierige Sprache, zum anderen der Umfang seiner veröffentlichten Schriften, zu denen ständig neue hinzukommen, die immer neue Aspekte seines Denkens, seines Tuns und seiner Persönlichkeit enthüllen. Zu ihnen zählen etwa die Schwarzen Hefte, die seit einiger Zeit für Aufregung sorgen. Der Halbschatten, in dem der Philosoph bleiben wollte, um so die Rezeption seines Werks steuern zu können, weicht langsam zurück. Er wird nur so lange vorherrschen, wie noch Personen am Leben sind, die ein unmittelbares Interesse an seinem Fortbestehen haben; vielleicht werden seine Erben nach dem Generationenwechsel es wagen, allen Forschern den Zugang zu den Archiven in Marbach zu gewähren, in denen noch als kompromittierend geltende Dokumente lagern.

Ein Buch stiftet oft eine trügerische Kohärenz. Ein Manuskript voller Streichungen und tiefgreifenden Änderungen wirkt plötzlich wie aus einem Guss geformt und in einem Zug hingeschrieben und für das vorliegende gilt das in besonderem Maße. Dieser nunmehr geordnete, umgestaltete und von seinen Ungereimtheiten befreite Palimpsest enthält meine sukzessiven Fragestellungen im Hinblick auf den badischen Philosophen, die seit zwölf Jahren aufeinander folgten, und mit ihnen die Bilder, die wechselten, während das Werk insgesamt voranging. Am Anfang stand meine Verwunderung, dass man sich in den Philosophie-Vorlesungen, die ich in Versailles und mehr noch an der Sorbonne besucht hatte, die nationalistische Geschichtsbetrachtung Martin Heideggers zu eigen machte. Dieser wies seinem Volk, dem „metaphysischen Volk“2, dem „Volk des Dichtens und Denkens“3, die Aufgabe zu, nach dem lateinischen Mittelalter die griechische Philosophie zu neuem Leben zu erwecken. Dieser Gedanke wurde nie in den völkischen Kontext gestellt, dem er angehörte, den des Dritten Reichs, dessen Führer seinerseits vom „Volk der Sänger, Dichter und Denker“4 sprach. Zwar erschien es mir unwahrscheinlich, dass sich in der Heidegger’schen Geschichtsauffassung ganz platt das NS-Regime ausdrücken würde, für noch fraglicher hielt ich es aber, dass es überhaupt keine Verbindung geben sollte. Diese Verbindung aufzuspüren war ein ebenso spannendes wie behutsam anzugehendes Unterfangen, das eine gleichermaßen historische wie philosophische Herangehensweise verlangte. Die Frage nach Heideggers nationaler Zugehörigkeit und Patriotismus interessierte mich auch deswegen, weil sie in meinem Fall einem tiefen Bedürfnis nach Verstehen entsprang, das mit unserer Zeit und meiner Familiengeschichte verbunden ist. Während ein patriotisches Bewusstsein in Frankreich und in Westeuropa heutzutage nichts Selbstverständliches mehr ist, musste ich verstehen, auf welche Weise es in früherer Zeit das heroische Engagement gewöhnlicher Menschen wie etwa meines Großvaters auslöste, der sich als Jugendlicher zur Zeit der deutschen Besatzung dem Widerstand anschloss. Diese schwerwiegende Entscheidung begründete er später mit ein paar Worten von rätselhafter Einfachheit: „Die Deutschen waren in mein Frankreich eingefallen, da konnte ich nicht untätig bleiben.“ Die Beschäftigung mit dem Patriotismus eines Philosophen wie Heidegger hatte demgegenüber einen großen Vorteil. Sie lieferte eine Unmenge an Quellenmaterial, sodass der hartnäckige oder verwegene Historiker hoffen konnte, hier solidere Ergebnisse zu erzielen als im Fall eines einfachen Mannes, der nur wenig Schriftliches hinterlassen hatte.

Im Laufe meiner Forschungen gewannen meine Auffassungen an Genauigkeit und Tiefe. Schnell kam ich darauf, dass das Engagement einherging mit dem Patriotismus und dem Nationalismus. Zugleich war es durchaus paradox, denn abgesehen von der kurzen Zeit des Rektorats war Heideggers Bezug zur Politik von Distanz und Verachtung geprägt, es war der eines deutschen Hochschullehrers, der glaubte, eine höhere politische Wahrheit zu besitzen, eine wesentlichere als diejenige, die das tägliche Funktionieren eines modernen Staates bestimmte. Diese Wahrheit wollte er durch Wort und Schrift wirksam werden lassen. Diese drei Arten des Bezugs zum Politischen fasse und denke ich unter dem biographischen Gesichtspunkt zusammen. Und angeregt von meinem Untersuchungsgegenstand selbst, entschied ich mich dafür, das, was ich zu verstehen und nachzuzeichnen versuchte, „politische Existenz“ zu nennen: Heideggers bewusste und unbewusste, seine rationale und zugleich von Affekten, Bildern, Leben erfüllte, kurz seine existentielle Art zu leben, zu handeln und sich seine polis vorzustellen, also seinen Staat, sein Volk, sein Gebiet, den Platz jedes Einzelnen innerhalb dieser politischen Gemeinschaft, und zugleich seinen Blick auf das, was über diesen Rahmen hinausgeht: die anderen Staaten, Europa, die Welt, die Menschheit – und das in einer von der Umwälzung durch die Modernität betroffenen Zeit. „Wurzeln und Kampf“, der Titel meiner Dissertation, der aus immer wiederkehrenden Metaphern Heideggers hervorging, sollte zusammenfassend ausdrücken, was sich mir als Leitmotiv darstellte: ein Leitmotiv von großer Konstanz, weil es so oft vorkam, und zugleich von großer Wandelbarkeit hinsichtlich des Sinns, den ihm der Philosoph im Lauf der 87 Jahre seiner Existenz zuschrieb. Außerdem schien mir, dass sich Deutschland, so wie Heidegger es in seiner politischen Existenz erlebte und imaginierte, sich mithilfe der Proust’schen Theorie der „Welten“ darstellen ließ.

In Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit teilt sich der Ort Combray in zwei unterschiedliche und gegensätzliche Welten: Die Welt von Guermantes, „eine typische Flusslandschaft“5, aber zugleich ein Ort voller Träume, an dem der Graf und die Gräfin von Guermantes wohnen sollen, die der Erzähler allerdings nie zu Gesicht bekommen hat und die seiner Vorstellung nach unmittelbar dem Mittelalter entspringen. Die entgegengesetzte Welt, die von Méséglise, „das schönste Bild einer Ebene“6, über die der Wind weht, „dieser besondere Geist von Combray“7 vermittelt dem Erzähler den Eindruck, sie bringe ihn Gilberte Swann näher, die dort weit draußen wohnt. Diese Privatgeographie der Suche verschmilzt Subjekt und Objekt, Außenwelt und Innenwelt; sie zeigt den vielgestaltigen Rahmen, in dem sich die Figur bewegt, aber nicht minder auch sein affektives wie intellektuelles Inneres und seine Vorstellungswelt, die sich so eng mit den Orten der Außenwelt verbunden haben, dass sie alle miteinander die Gefühle, Vorstellungen und Gedanken, die sie durchdrungen haben, kristallisieren. Die beiden Welten, die von Guermantes und die von Méséglise, die schon in physischer Hinsicht so unterschiedlich sind, werden dies noch mehr durch das subjektive Leben, das sie formt und beseelt, sodass sie am Ende „zwei Wesenheiten“ von einer „Kohärenz“ und „Einheit“ bilden, wie sie „nur den Schöpfungen unseres Geistes“8 zu eigen sind. Ihre wechselseitige Entfernung voneinander wird so radikal, dass sie, „weit über ihre räumliche Entfernung“ hinausgehend, zu „einer Distanz wird, die nicht nur entfernt, sondern trennt und auf eine andere Ebene versetzt“9.

So wie der Erzähler der „Suche nach der verlorenen Zeit“ zwei Orte einander gegenüberstellt, die fast alles sowohl in physischer als auch in gefühlsmäßiger Hinsicht voneinander trennt, machte ich in der persönlichen Geographie Heideggers einen ähnlichen Gegensatz aus, der charakteristisch ist für seine Beziehung zu Deutschland und dessen Entwicklung seinen inneren Werdegang widerspiegelt. Zunächst zeichneten sich für mich zwei „Welten“ ab: zum einen die von Meßkirch, in der sich die starke Beziehung kristallisierte, die Heidegger sein ganzes Leben lang an seine „Heimatstadt“ und über sie hinaus an das Ideal eines tiefreligiösen und in der jahrhundertalten Tradition des ländlichen Ortes verwurzelten Lebens band; zum anderen die Welt von Berlin, die in extremer Weise die Großstadt und Modernität kondensierte, das Zentrum der Krise der modernen Welt mit ihrer Entwurzelung, ihrer Bodenlosigkeit, ja ihrer „Verjudung“, aber zugleich auch der Ort voller Möglichkeiten, an dem man groß Karriere machen konnte, und der Mittelpunkt des politischen Schicksals der deutschen Nation. Diesen beiden hauptsächlichen „Welten“ musste eine dritte hinzugefügt werden: die von Todtnauberg im Schwarzwald. Denn dort ließ er sich 1922 seine „Hütte“ bauen, ein Holzhaus, in dem ein beträchtlicher Teil seiner Arbeiten entstand, sodass er am Ende sein Werk mit diesen Bergen im Badischen identifizierte. Todtnauberg war so etwas wie die Quintessenz dessen, was Meßkirch an Ländlichem und Schwäbisch-Alemannischem an sich hatte. Um in die Welt von Todtnauberg zu gelangen, musste man zunächst in Richtung Meßkirch gehen, lange wandern, bis die Stadt ganz verschwand und sich dem Auge der tröstliche Anblick eines Weilers an einem bewaldeten Mittelgebirgshang darbot. An diesem einfachen und entlegenen Ort, von dem aus er das ausgedehnte deutsche Land überblickte, das vom Lauf der Geschichte erfasst worden war, kehrte der Philosoph zurück zu den Ursprüngen der Existenz und des „Seyns“. Der Philosophenberg von Todtnauberg erhob sich über den Gegensatz von Meßkirch und Berlin, er bildete einen möglichen Bindestrich und zugleich die äußerste intellektuelle Spitze der Welt von Meßkirch. Somit schälten sich drei Welten heraus, die ebenso dem individuellen Werdegang Heideggers wie seinem Bild seines Vaterlands und der Welt entsprachen. Dieses war komplex und kontrastreich, es bestand aus Konflikten, in denen er eine Führungsrolle zu spielen und den Ort zu bestimmen hatte, an dem sich Deutschlands Schicksal entscheiden sollte.

Die Untersuchung der Vorstellungs- und Gedankenwelt des Philosophen bedurfte eines unmittelbaren Zugangs zu den Texten, ohne die mitunter anfechtbaren Interpretationen, die ihrer Übertragung ins Französische zu Grunde lagen. Die ideologische Rekontextualisierung erforderte es zugleich, dass man sich auf die Texte aus dem Umfeld verlassen konnte, die den Kanon der NS-Ideologie bilden, allen voran Mein Kampf und der Mythus des 20. Jahrhunderts. Die auf Französisch vorliegenden Ausgaben dieser Werke erlauben aber kein wissenschaftliches Arbeiten. So wird das Wort „völkisch“ in Hitlers Hauptwerk mit „raciste“, also „rassistisch“ übersetzt. Dadurch gehen die anderen Bedeutungen des Begriffs, nämlich „national“, „ethnisch“ und „volkstümlich“ verloren und es kommt zur Verwechslung mit dem Wort „rassistisch“, das den Glauben an den unterschiedlichen Wert der verschiedenen menschlichen Rassen bezeichnet. Ich habe daher auf die Originaltexte zurückgegriffen und sie gegebenenfalls neu übersetzt, wenn mir das notwendig erschien. Es ging mir vor allem um Genauigkeit und ich habe mich davor gehütet, den Text zu schönen oder überzuinterpretieren.

Im Anschluss an die Untersuchung der politischen Existenz Martin Heideggers habe ich mich dazu entschlossen, im vorliegenden Werk vor allem auf das wechselhafte Schicksal des Philosophen einzugehen, um so das Zusammenwirken der verschiedenen sozialen Determinismen aufzuzeigen, aber auch seinen Glauben an eine den Lauf der Welt bestimmende Vorsehung sowie die verschiedenen Bestimmungen und Ziele, die er sich selbst im Laufe seines Lebens setzte. Seine Schicksale unterliegen inneren und äußeren Zwecken und sie sind wechselhaft. Erst im Nachhinein ist der Lauf eines Lebens linear, weil dann ein schnelles Urteil die Macht des Zufalls und den Kampf entgegengesetzter Kräfte beiseitelässt. Drei „Schicksale“ waren es, die aufeinander folgten und sich nicht miteinander vertrugen: zunächst der Katholizismus seiner Jugend bis zum Ersten Weltkrieg, dann sein Streben nach Revolution auf politischem wie intellektuellem Gebiet, und schließlich der Nationalsozialismus, in dem er seit 1930 den Weg sah, den Deutschland einschlagen musste, um diese philosophische Revolution zu verwirklichen; am Ende dann, nach dem Sturz des Regimes, erlitt er vor allem das Schicksal, das er selbst gewählt hatte, und das gilt bis zum heutigen Tag, denn seine Rezeption lässt sich schwerlich trennen von seiner politischen Orientierung: War Heidegger der Prophet des Seinsdenkens oder der braune Rektor? Freund der Juden oder verbohrter Antisemit?

Ich hatte zunächst die Absicht, mein Forschungsinteresse nicht auf den Nationalsozialismus zu fokussieren und meine Dissertation nur bis zum Jahr 1933 gehen zu lassen. Die Aufgabe, die ich mir stellte, war auch so groß genug und es schien mir geraten, lieber Neues zu bislang weniger untersuchten Aspekten beizusteuern. Mit dem Unterfangen einer Biographie Heideggers über den Tod hinaus musste ich freilich dem Nationalsozialismus meine besondere Aufmerksamkeit widmen. Ich tat das in der Überzeugung, die auch heute noch die meine ist: Für alle oder zumindest fast alle steht außer Frage, dass der Philosoph Nationalsozialist war, denn selbst François Fédier, der Wortführer der orthodoxen französischen Heideggerianer, räumt ein, dass sein Meister intellektuell einem „nationalen Sozialismus“10 anhing, den er freilich geflissentlich vom gewöhnlichen Nationalsozialismus unterscheidet. Die Frage, um die heute eher gestritten wird, ist die der Dauer: Beschränkte sie sich auf die Zeit des Rektorats und lässt sie sich damit schnell als Zeitraum von ein paar Monaten abtun11 oder erstreckte sie sich vielmehr bis an sein Lebensende? Und wie soll man seinen Rücktritt als Rektor interpretieren?

Seit ich mit dieser Forschung begonnen habe, scheint mir das entscheidende historische Problem nicht die Frage zu sein, ob Heidegger Nationalsozialist war. Wichtiger ist die Frage, was der Nationalsozialismus des Philosophen über den Nationalsozialismus generell aussagt. Heidegger ist insbesondere deswegen interessant, weil sich an seinem scheinbar paradoxen Beispiel aufzeigen lässt, mit welchen Mitteln und mit welcher Kraft die NSDAP Menschen an sich binden konnte: Wie konnte ein so subtiler und anspruchsvoller Philosoph sich von einer populistischen und intellektfeindlichen Bewegung, die sich an die intellektuelle Plebs und nicht an seinesgleichen wandte, in den Bann geschlagen werden? Die Erklärung mithilfe der wirtschaftlichen und sozialen Krise von 1929 mit ihren für Deutschland destabilisierenden Folgen hilft nicht weiter bei einem Philosophen, der oft wenig Sinn für die näheren Lebensumstände seiner Zeitgenossen hatte, der sich auf seine Grundsatzfragen konzentrierte und der aufgrund seiner beneidenswerten Position als Professor die Einschränkungen, die Verzweiflung und auch die Wut vieler materiell schlechter gestellter Zeitgenossen nicht kannte. Die Erklärung muss also auf dem Gebiet liegen, das allein ihn interessierte, auf dem der Kultur. Heidegger stellte als Person das Gegenteil dessen dar, was Hitler als Zielgruppe vorschwebte. Dies wird in Mein Kampf in aller Klarheit und mit allem Nachdruck dargelegt: Die Propaganda „hat sich ewig nur an die Masse zu richten“ und nicht an „die wissenschaftliche Intelligenz“12; als vorwiegend gesprochene Sprache hat sich „die Rede eines Staatsmannes zu seinem Volk […] nicht zu messen nach dem Eindruck, den sie bei einem Universitätsprofessor hinterlässt, sondern an der Wirkung, die sie auf das Volk ausübt“13. Aufgrund der Tatsache, dass die „breite Masse eines Volkes weder aus Professoren noch aus Diplomaten (besteht)“14 und auch „nicht aus Philosophen“15, geht der Führer davon aus, dass das „geringe abstrakte Wissen, das sie besitzt“, es erforderlich macht, sich an ihre Gefühle zu wenden, denn „dort ruht ihre entweder positive oder negative Einstellung“16. Dazu ist in Mein Kampf auch zu lesen: „Die Aufnahmefähigkeit der großen Masse ist nur sehr beschränkt, das Verständnis klein, dafür jedoch die Vergeßlichkeit groß.“ Von daher sei es wichtig, sich „auf nur sehr wenige Punkte zu beschränken und diese schlagwortartig so lange zu verwerten, bis auch bestimmt der Letzte unter einem solchen Worte das Gewollte sich vorzustellen vermag.“17

Heidegger sah im Nationalsozialismus das Instrument zur Durchführung seiner eigenen Revolution. Es galt für ihn, tabula rasa zu machen mit der bisherigen Kultur, um so dem neuen Regime einen philosophischen Gehalt zu geben. Er hing dem Nationalsozialismus freilich auch aus weiteren Gründen an. Dies zeigt sich nicht nur bei der Untersuchung der zentralen Elemente seines Diskurses, seiner Absichten und seiner Selbstbilder, sondern auch bei der Betrachtung von Randerscheinungen, die hie und da auftreten, und die an Interesse gewinnen, sobald man sie mit den kulturhistorischen Darstellungen des Aufstiegs des Nationalsozialismus in Beziehung setzt. Eine entscheidende Frage, auf die ich eine Antwort gesucht habe, ist die, inwiefern sich die Entwicklung Heideggers hin zum Nationalsozialismus mithilfe der „Brutalisierungstheorie“ von George Lachmann Mosse erklären lässt. Mosse hat sie als Konsequenz des „Mythos Kriegserfahrung“18 nach Ende des Ersten Weltkriegs aufgefasst. Dem müsste man die „Angst vor [der] selbstbeschworenen Apokalypse“19 hinzufügen, die eine Folge der schwerwiegenden Bedrohungen der unmittelbaren Nachkriegszeit war, in der Deutschland die Vernichtung durch Frankreich, die Juden oder den Kommunismus befürchtete, was nach einer dem Ausmaß der Gefahr angemessenen Antwort verlangte. Solchen Fragestellungen sind auf ihre je eigene Weise neben Christian Ingrao auch Michael Wildt20 und Thomas Weber21 nachgegangen.

Die Machtergreifung lässt die Frage nach den kulturellen und politischen Gründen, aus denen Heidegger zum NS-Anhänger wurde, fortbestehen, ja sie wirft sogar neue auf, und zwar solche unterschiedlichster Art, die es allesamt verdienen, dass man sich ihnen widmet. Das Regime hatte noch kaum seine ersten Grundlagen geschaffen, als es schon in Heidegger die Lust, sich zu engagieren, weckte. Ist dies ein Zeichen dafür, dass der Basis eine gewisse Freiheit gelassen wurde, die NS-Politik und -Weltanschauung mit zu erfinden? Was wusste der Philosoph von der kriminellen Politik, die das Regime großenteils heimlich betrieb? Kann man davon ausgehen, dass der Sturz des Regimes ihn dazu brachte, sich vom Nationalsozialismus zu lösen, oder hat er am Ende nie wirklich mit ihm gebrochen? Zur Frage nach Heideggers Nazitum gehört auch die seiner Beziehung zu „den Juden“. Wer jüdische Eltern oder Großeltern hatte, wurden von den Nationalsozialisten, unabhängig davon, ob er selbst praktizierte oder nicht, als in rassischer Hinsicht asiatisch und als volksfremd betrachtet – und was von dieser rings um ihn herrschenden Feindseligkeit übernahm der Philosoph für sich selbst?

Welche Fragen ich auch an die Vergangenheit richten mochte, ein Prinzip hielt ich unabänderlich aufrecht: Ich hatte mich an die strengen Regeln der historischen Methode zu halten, und dies nicht nur bei der Quellenkritik, sondern auch bei Betrachtung der vielfältigen und widersprüchlichen Faktoren der unterschiedlichen Temporalitäten des Individuums und der Epoche sowie beim Nachdenken über die möglichen Brüche und Kontinuitäten einer reichen Existenz in einem höchst sprunghaften Jahrhundert, und natürlich an die Unvoreingenommenheit des Historikers gegenüber seinem Gegenstand. Man spricht gerne von Objektivität und doch erfordert es das Studium von Menschen und Gesellschaften vergangener Zeit, dass man ihnen etwas vom eigenen Menschsein abgibt, um ihnen Leben zu verleihen. Sine ira et studio22, wie es Tacitus verlangt, bedeutet, nicht Partei zu ergreifen. Das Gegenteil ist nötig: positive oder negative Affekte, die dem Verstand, der die Vergangenheit um ihrer selbst willen erfassen möchte, ihr Gesetz aufzwingen möchten, gilt es nachdrücklich zu unterdrücken. Der Historiker lehnt jegliches Tribunal ab, das ihn dazu bringen möchte, gegen diejenigen auszusagen, die unglücklicherweise seinen Zeitgenossen missfallen, und nichts Menschliches ist ihm fremd, bis hin zum Stolz, zur Verblendung, zur Lüge, zur Gewalt. Er weiß, dass er nicht von Natur aus frei von all diesen üblen Einstellungen ist. Nur indem er postuliert, dass diese Fremden, die in die Zeit geworfen wurden, deren Geschichte er schreibt, Menschen sind wie er, und indem er sich den ungemütlichen Gedanken zu eigen macht, dass er unter den gleichen Umständen möglicherweise genauso gehandelt und gedacht hätte wie diejenigen, die sein moderner Blick am liebsten zum Teufel schickte, wird er das Ziel seiner Untersuchung erreichen: nämlich das Licht der Kultur, des systematischen Zweifels und des historischen Denkens zu verbreiten und so nicht nur dem Vergnügen und der Belehrung seines Lesers zu dienen, sondern der Sache der Menschheit, die nach Frieden und Vernunft verlangt.

Abgesehen von diesem intellektuellen Ethos, auf dem die strenge historische Methodik gründet, drängen mich auch meine eigene Vergangenheit und meine Veranlagung nicht dazu, Heidegger an den Pranger zu stellen. Ich tauge weder zum Polemiker noch zum gläubigen Jünger. Ich neige im Unterschied zu vielen weder zur Skandalisierung noch zur Apologie, im Zweifelsfall aber eher zum Lob als zum Tadel. Als ehemaliger Schüler des orthodoxen Heideggerianers Gérard Guest war ich drauf und dran, mich von der Erzählung verführen zu lassen, die von einem Rektor und Führer der Universität Freiburg berichtet, der dann zum Widerständler geworden sein soll. Doch die Forschung ist ein Abenteuer, das unter einem strahlenden Himmel beginnen und im Sturm enden kann. Das ist es, was mir mit den wechselnden Schicksalen Heideggers widerfuhr, wobei ich am Ende viel Energie benötigte, um gegen eine Wut und einen Ekel anzukämpfen, die fast die Oberhand gewonnen hätten. Es war ein Leichtes, über den Meister aus Freiburg zu arbeiten, solange er ein katholischer und dann ein revolutionärer Philosoph war, auch wenn ich nie ganz vergaß, dass er Nationalsozialist gewesen war; sobald mir aber klar wurde, in welchem Ausmaß seine Radikalität sich mit der des Nationalsozialismus vereinte, konnte in mir der Wille aufkommen, ihn zumindest moralisch zur Hinrichtung auf dem Scheiterhaufen zu verurteilen. Sollte man am Ende Heidegger verbrennen oder zumindest seine Werke aus den philosophischen Bibliotheken entfernen? Die Geschichte kam mir abermals zu Hilfe und zeigte mir, dass man nicht allzu leichtfertig seinem Nachbarn die Züchtigungsrute verabreichen sollte, während es vielleicht doch einen Grund gab, selbst Asche auf sein eigenes Haupt zu streuen. Heidegger, Deutscher und Nationalsozialist, bildet noch weniger als andere eine Ausnahme von einem bestürzenden Sachverhalt: Der Nationalsozialismus ist in einem europäischen Kontext23 entstanden und er ist in politischer wie ideologischer Hinsicht ein europäisches Phänomen geblieben.24 Seine Spezifizität besteht vor allem in seiner extremen Radikalität. Heidegger, der sich als abendländischer Denker empfand, war in gleichem Maße eine europäische und internationale wie deutsche Persönlichkeit von historischem Rang. Er war dies aufgrund des Katholizismus seiner Jugend, seines späteren Bildungswegs, seiner Interessen, seiner Beziehungen, seiner Rezeption und aller weiteren Elemente, die auf die eine oder andere Weise sein Leben prägten. Wie viele andere Rechtsintellektuelle in Deutschland – und übrigens auch in anderen europäischen Ländern – wünschte er sich eine Revolution herbei,25 die ihn selbst zum Teil einer größeren Bewegung werden ließe. Deren Kernpunkte waren die Ablehnung des Liberalismus und eine ambivalente Haltung gegenüber einer Moderne, wie sie spätestens Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte,26 in einer Zeit tiefgehender politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Umwälzungen.27 Statt von „Konservativer Revolution“28 würde ich hier lieber von der „Revolution von rechts“29, bzw. von der „revolutionären Rechten“, sprechen. Dies scheint mir eine neutralere und klarere, aufgrund des Gegensatzes zur gemäßigten und zur konservativen Rechten auch leichter handhabbare Begrifflichkeit zu sein.

Als Philosoph von Weltrang verdient es Heidegger, dass man ihn zum einen wegen seines Denkens studiert, zum anderen aber auch deswegen, weil man an seinem Beispiel seine Zeit besser verstehen lernt. Anknüpfend an Jérôme Grondeux bin ich davon überzeugt, dass die „Geschichte sich auch für das interessieren muss, was gesagt wird, für die Ursprünge einer Denkweise, ihre Hauptthemen, ihre relative Originalität, die Art, wie sie sich mit der Praxis verbindet“30. Ich mache mir auch die Devise von Johann Chapoutot zu eigen: So wie es gilt, die Ideen der Nationalsozialisten „ernst zu nehmen“31, so muss man auch die politischen Ideen Heideggers ernst nehmen. Das aber bedeutet, dass man das auch mit all den Quellen macht, die so viele Exegeten schamhaft oder aufgrund ihrer Kopflastigkeit übergehen. Auch wenn der Philosoph einen Brief schreibt oder einen Gelegenheitstext, dann ist es nicht ein anderer, der da denkt; und was er schreibt, ist mehr oder weniger Ausdruck seiner tiefen Überzeugungen. Heidegger entzieht sich oft dem Zugriff von Philosophen, weil diese es hochmütig ablehnen, sich mit dem „privaten“ oder „nicht philosophischen“ Menschen zu befassen. Und trotz der verdienstvollen Arbeiten meiner Vorgänger wie Bernd Martin32, Domenico Losurdo33 und vor allem Hugo Ott34 scheint Heidegger sich auch der Geschichte zu entziehen. Sollte es diesem Buch dagegen gelingen, sein Publikum zu unterhalten und Heidegger endgültig zu einem Gegenstand der Geschichtsschreibung zu machen, dann war meine Mühe nicht vergebens. Sehen wir uns also an, wie es kam, dass ein katholisches Schicksal zu einem revolutionären und schließlich einem nationalsozialistischen wurde.

TEIL 1

Ein katholisches Schicksal(1889–1918)

Kapitel 1:

Eine katholische Kindheit in einer südwestdeutschen Kleinstadt (1889–1903)

Die glückliche Kindheit eines Kleinbürgers vom Lande

Unsere Geschichte beginnt Ende des 19. Jahrhunderts am östlichen Rand des Großherzogtums Baden, einer Grenzregion, die durch das kleine Fürstentum Hohenzollern vom großen Königreich Württemberg getrennt und von Enklaven durchsetzt war. Dieser Landstrich, der sich im Süden zum Bodensee hin öffnet und der im Norden von den erodierten Bergen der Schwäbischen Alb abgeschlossen wird, bietet das Bild einer ländlichen, von Tälern zerfurchten und von Waldstücken durchtupften Landschaft, durch die das Flüsschen Ablach fließt. Auf einem Berg liegt dort das Städtchen Meßkirch, erkennbar an seiner hoch aufragenden Kirche mit ihrem kupfergedeckten Turm, der schon aus der Ferne den Blick des Reisenden auf sich zieht. Dieser Anblick könnte wie aus der Zeit gefallen erscheinen, hätte die Moderne das Gebiet nicht schon in Gestalt einer Eisenbahnlinie und mithilfe des Telegrafen fest mit der Außenwelt verbunden.

Das Städtchen aus mittelalterlicher Zeit hatte zwar seine Stadtmauer verloren, wohl aber seine engen verwinkelten Straßenzüge bewahrt und seine ganz unterschiedlichen Häuser mit Fassaden mal aus sichtbarem Fachwerk, mal bloß verputzt oder aber bunt bemalt, gekrönt von steilen hohen Giebeln, die auf die Vorübergehenden herabblickten; weiter unten ließen die vielen kleinen Fenster nur blasses Licht herein, denn die Enge der Gassen trotzte dem Licht. Nur an wenigen Stellen öffnete sich Meßkirch: in der Oberstadt am Kirchplatz, unten am Marktplatz sowie am jüngeren und größeren Adlerplatz am Rand der Altstadt.

In diesem „karge[n] Land“1, 600 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, mit seinen beträchtlichen Temperaturschwankungen, wie sie für ein deutlich kontinentales Klima typisch sind, lebten die Einwohner im Wesentlichen von einer landwirtschaftlichen Mischkultur mit einem starken Anteil von Schaf- und Rinderhaltung. Meßkirch begnügte sich nicht damit, sich bequem im Takt des allgemeinen Wirtschaftswachstums in Deutschland zu entwickeln, sondern es marschierte vorneweg. Eine große Brauerei, die Brauerei Stärk, lieferte auch in weit entfernte Gegenden2 und trug so zum allgemeinen Wohlstand und Stolz bei; vor allem aber zeichnete sich die Viehzucht aus: So exportierte allein Oberbaden in der ersten Hälfte des Jahres 1890 5990 Stück Vieh, von denen die Hälfte aus dem Bezirk Meßkirch kam, was einem Wert von 1,5 Millionen Mark entsprach.3

Die Honoratioren stellten gerne ihren Erfolg zur Schau, indem sie Zylinder trugen und Zigarre rauchten, während ihre Gemahlinnen und Töchter weite Kleider über ihren Korsetts trugen, wie es in der Großstadt Mode war; sie wohnten in stattlichen Häusern und frönten gerne dem städtischen Ritual der Promenade im Schlosspark. Nachts zeigte sich Meßkirch vollends von seiner hochmodernen Seite, denn elektrische Laternen erhellten als künstliche Sterne die Nacht dieses städtischen Mikrokosmos inmitten des weiten dunklen Landes; diese moderne Magie versetzte so manchen Bewohner in helle Begeisterung: „Gestern war es recht belustigend am heiterhellen Tage die elektrischen Glühlampen mehrere Stunden leuchten zu sehen. Der Grund hiervon war, dass die Regulierung des Stroms durch die Akkumulatoren vorgenommen wurde. Die Anschlüsse an der Straßenbeleuchtung mehren sich von Tag zu Tag und man hört recht lobende Anerkennung über das schöne, gleichmäßig und ruhig leuchtende Licht. Seit gestern Abend ist auch die Kunz’sche Bürstenfabrik mit elektrischer Beleuchtung versehen.“4

Dieses Meßkirch mit seinem Umfeld aus Ackerland und Wald, das von vielen Bewohnern bewirtschaftet wurde, mit seinen Ochsenkarren, die inmitten von gackernden Hühnern durch die Straßen fuhren, war ein ausgesprochen ländlicher Ort; mit ihrem Bahnhof und ihrem Rathaus, ihren Kirchtürmen und Schulen sowie mit ihren Bürgern hatte die Kleinstadt aber auch ihre urbanen Züge. In diesem zugleich modernen und traditionellen Ort kam am 26. September 1889 Martin Heidegger als ältester Sohn des ländlich-katholischen Kleinbürgerpaars Friedrich (1851–1924) und Johanna Heidegger, geb. Kempf (1858–1927), zur Welt. Der Vater war Küfer und Mesner, die Mutter Hausfrau; der kleine Martin bekam bald eine Schwester, Marie (1891–1956), und einen Bruder, Friedrich, genannt Fritz (1894–1980), die den Kirchplatz mit ihren Stimmen und Spielen belebten. Den größten Teil dieser Jahre verbrachten die Heideggers im Mesnerhaus, das wie so viele andere im alten Zentrum von Meßkirch aus einem zweistöckigen Giebel bestand, der auf einem unscheinbaren Hochparterre ruhte und dessen vier schmale und dicht nebeneinanderliegende Fenster den Blick auf das historische und katholische Herzstück der Stadt freigaben.

Der Vater, Friedrich Heidegger war „ein großer Schweiger“5. Die Beziehung seiner drei Kinder zu ihm kam zu einem erheblichen Teil ohne Sprache aus, sie bestand aus Respekt und stummer Zuneigung. Jahrzehnte später erinnert Martin Heidegger sich an den „Weg, den ich vor mehr als sechzig Jahren oft gegangen bin, wenn ich als kleiner Bub, wohlausgerüstet mit den Ermahnungen der Mutter, mein blaues Wägelchen hinter mir herziehend, den Mesnervater in seiner Werkstatt aufsuchte. Sie war damals zu ebener Erde im linken Flügel des Gebäudes der Notkirche untergebracht“, und er betont, dass „das Andenken an diesen Weg“ ihn immer noch „bewegt“6. Heideggers Vater war eine mysteriöse und anrührende Person; er war einer, zu dem man ging, an den man dachte und zu dessen Füßen man spielte, ohne viele Worte zu verlieren. Da es ihm nicht an Aufträgen mangelte, verbrachte Friedrich Heidegger Tag für Tag außer sonntags zehn Stunden in seiner Werkstatt: „Geküfert wurden Standen, Zuber, Kübel, große Jauchefässer sowie goldgelb glitzernde eichene Most- und Weinfässer“7. Der junge Martin, der oft mit Hammer und Hobel hantierte, half „seinem Vater bei der Küferarbeit und trieb die Reifen um die Fässer […], daß die Hammerschläge durch die kleinen, krummen Gassen drangen“8. Die Holzreste eigneten sich bestens für kindliche Beschäftigungen und so hat das älteste der Heidegger-Kinder „viel gebastelt“9. „Aus der Eichenrinde aber schnitten die Buben ihre Schiffe, die mit Ruderbank und Steuer ausgerüstet, im Mettenbach oder im Schulbrunnen schwammen.“10

Seit der Geburt von Fritz hatte Martin einen Spielkameraden. Trotz des deutlich spürbaren Altersunterschieds von fünf Jahren hielten die beiden Jungen fest zusammen, wobei Martin als der ältere natürlich dominierte. Ihre Spiele und körperlichen Betätigungen entsprachen ihrem bescheidenen ländlichen Umfeld. Sie spielten viel im Freien mit einfachen Spielsachen: Bällen, Kugeln oder Schlittschuhen, je nach Jahreszeit: „Zwischen Frühjahr und Herbst standen neben dem Kügelespielen auf dem Marktbrückle die Fang- und Ballspiele aller Art im Mittelpunkt unserer Freizeit, und zwar meistens auf dem weiten Platz zwischen Kirche und Schloß, im Hofgarten und beim alten Schulhaus […] bis hinaus zum Mettenbach“11. Mit zunehmendem Alter und der entsprechenden Selbstsicherheit nahmen die Spiele der Jungen sportlichere Züge an: „Die Freude am Sport hat Deine Jugendjahre mitgeprägt“12, schrieb Fritz anlässlich des 80. Geburtstags seines Bruders. Martin fand Gefallen an unterschiedlichen Disziplinen, die ihm auch allesamt lagen: „Du warst ein gewandter Turner am Reck und am Barren, im Sommer ein guter Schwimmer und im Winter ein flotter Schlittschuhläufer auf dem Eisweiher drunten neben der Hegelemühle“13.

Die Kinder spielten lange unter der Obhut ihrer Mutter: „Ihr Reich [das der Jungen, Anm. d. Übs.] umgrenzten Auge und Hand der Mutter. Es war, als hütete ihre ungesprochene Sorge alles Wesen.“ Die liebenswerte und liebevolle Johanna Heidegger tritt im „Feldweg“ als eine Art Schutzengel in Erscheinung, unter dessen Flügel die Kinder friedlich dahinlebten, von „Weltfahrten der Spiele“ träumten – und „jene Fahrten des Spieles wußten noch nichts von Wanderungen, auf denen alle Ufer zurückbleiben“14. Dieses sorglose Leben fand in dem eng begrenzten und abgeschlossenen Schutzraum des Elternhauses und seiner unmittelbaren Umgebung statt, dessen belebendes Element und zugleich Hüterin die Mutter war.

Auch wenn Johanna Heidegger auf dem Doppelporträt mit ihrem Mann sehr ernst wirken mag, so war der ihr eigene erfinderische Stolz durchaus vereinbar mit einer Art Grundfröhlichkeit. Wie oft erklärte sie, schreibt der jüngere Bruder, „das Leben sei so schön eingerichtet, dass man sich immer auf etwas freuen dürfe“. „Kontaktfreudig“, nennt sie Fritz. Sie liebte „sinnvolle Gespräche und gesellige Unterhaltung; sie verschmähte auch nicht ein Schwätzerle mit ihresgleichen“. Kurz, Heideggers Mutter war das freundliche Pendant zu ihrem Mann. Mit einem Küfer und Mesner als Oberhaupt gehörte die Familie zu den einfachen Leuten, hatte aber in der ganzen Zeit, die Martin in Meßkirch verbrachte, keine materiellen Sorgen. Fritz sollte später schreiben: „In materieller Hinsicht waren die Eltern weder arm noch reich; sie waren kleinbürgerlich wohlhabend; es herrschte weder Not noch Üppigkeit.“ Mit ihren bescheidenen Einkünften und ihrer festen bürgerlichen Moral gehörten die Heideggers einem sparsamen Milieu an, in dem Leben bedeutet, auf sein Geld aufzupassen – und das aus mehreren Gründen: um seiner Familie und sich selbst eine sicherere Existenz zu ermöglichen und um sich dank einer umsichtigen Lebensführung eines ordentlichen Hausstands zu erfreuen: „[…] das Zeitwort ‚sparen‘ wurde großgeschrieben; blankes Geld, rar wie echte Perlen, war für viele Leute das ‚Herz aller Dinge‘“15. Das Porträt der Eltern spricht die gleiche Sprache: Zu dieser Zeit, in der die Fotografie noch nicht vollständig demokratisiert war, sondern gerade erst an die Stelle der teureren Malerei getreten war, posieren Johanna und Friedrich Heidegger im Sonntagsstaat und nehmen dabei eine würdevolle, strenge, ja steife Haltung an, die im Einklang steht mit ihrer kleinbürgerlichen Kleidung, dem schwarzen Anzug und der Fliege des Vaters, dem großen dunklen Kleid der Mutter, das sie ausnahmsweise anstelle der sonst üblichen Schürze angezogen hat. Darin drückt sich eine allem Luxus abholde Schlichtheit aus, zugleich aber die Zugehörigkeit zum ehrbaren Stand des Bürgertums. Schwarz war zu dieser Zeit, vor allem für Männer, die bürgerliche Farbe – oder Nichtfarbe – schlechthin, in der sich ehrbare Strenge und Anstand ausdrückten. Frauen konnten dagegen – sofern ihre Ehemänner über die entsprechenden Mittel verfügten – innerhalb der Grenzen des Schicklichen aus einer breiteren Palette an Farben, Formen und Motiven auswählen. An diesem Doppelporträt lässt sich zugleich in Abgrenzung zu einer wohlhabenderen und ausgabefreudigeren Bourgeoisie ablesen, wie wichtig für die Heideggers Werte wie Sparsamkeit und Gewinnstreben waren. Diese waren die Grundpfeiler einer guten Haushaltsführung und eines allmählichen sozialen Aufstiegs, ganz im Einklang mit einem geschäftigen europäischen Bürgertum, wie es sich in den Worten Adolphe Thiers’ ausdrückt: „Der Vater war Land- oder Industriearbeiter, Matrose. Wenn er fleißig und sparsam war, wird der Sohn Landbesitzer, Eigentümer eines Industriebetriebs oder Kapitän. Der Enkel wird Bankier, Notar, Arzt, Anwalt oder vielleicht gar Staatschef werden. Ein Aufstieg von Generation zu Generation.“16

Die sozialen Unterschiede waren „unheimlich groß“, erinnert sich Fritz Heidegger. Seine Familie zählte nicht zur Oberschicht, jedenfalls nicht in Bezug auf ihren materiellen Reichtum, der damals wie heute zu einem wesentlichen Teil die soziale Stellung einer Person, einer Familie oder eines ganzen Milieus ausmacht. Derartige Unterschiede drückten sich auch räumlich aus und begünstigten so eine reale Segregation: So versperrte eine unsichtbare Mauer Friedrich Heidegger und seinen Söhnen den Zugang zum Gasthaus „Zum Löwen“. Obwohl er als Mesner eine zentrale Position innerhalb der katholischen Gemeinde, der die meisten Einwohner von Meßkirch angehörten, einnahm, war der Vater von Martin und Fritz eben doch kein „Herr“, weil er weder „wohlhabend“ noch „Akademiker“ noch gar „ein ‚von und zu‘“17 war.

Trotz der offensichtlichen sozialen Unterschiede waren die kleinen Heideggers in der Schule Kinder wie alle anderen, denn viele ihrer Schulkameraden kamen aus Handwerkerfamilien mit ähnlichen Einkünften: Eine Untersuchung des „Vereins für Socialpolitik“18 aus dem Jahr 1896 zur Lage des Handwerks, insbesondere von Schmieden, Wagnern und Sattlern, also Berufen, die dem eines Küfers ähnelten, macht deutlich, dass von den 130 untersuchten selbstständigen Handwerkern die meisten, nämlich 83, der unteren Steuerklasse mit einem zu versteuernden Einkommen von 500 bis 2000 Mark angehörten. Zu ihnen zählten mit 960 Mark im Jahr 1903 auch die Heideggers.19 500 Mark jährlich entfielen auf die Tätigkeit als Mesner und die Familie verfügte über Grundbesitz im Wert von 2000 Mark.20

Für Kultur gab es in einem so bescheidenen Milieu kaum Platz. So hat Martin offenbar kein Instrument erlernt, während die weltliche Musik in der bürgerlichen Kultur aufgrund jahrhundertelanger Tradition breiten Raum einnahm. Sie war die Gesellschaftskunst schlechthin. Feiern im kleinsten Familien- oder Freundeskreis wie festliche Empfänge konnten von der sublimen Tonfülle eines Soloklaviers begleitet werden, oder aber Familie und Gäste fanden sich zu einem kammermusikalischen Konzert mit Klavier, Gesang und Saiteninstrumenten in stimmungsvoller Gemeinsamkeit zusammen. Ein Klavier war aber teuer und die Klavierstunden nicht minder, und so kam es wohl, dass bei den Heideggers kein Instrument zu finden war. Das ist aber vermutlich auch kulturbedingt: Als Mesnersohn und Chorknabe sang der kleine Martin zwangsläufig während der Gottesdienste. Diese spezifisch katholische Kultur unterschied die Heideggers von den zahlreichen bürgerlicheren Familien auch und gerade von Meßkirch, wo die oft wenig religiösen Honoratioren sich mehr der Musik ergaben: Die drei Lehrer Müller, Tschmugel und Reiser bildeten ein Streichertrio und in einem Sängerkreis des von Reiser geleiteten Männerchors fanden sich Großbauern, Industrielle und Stadträte zusammen.21

Ähnliches gilt für das Lesen. Auch wenn sie sichtlich begabt waren, hatten die Heidegger-Kinder nichts von „Wunderkindern“22 an sich, die sich ganz dem Intellekt gewidmet und ihre Zeit mit Lesen und dem Weiterträumen der von ihnen gelesenen Bücher verbracht hätten. Heideggers einzige ausdrückliche Bemerkungen zu diesem Thema beziehen sich auf die Stunden, in denen der Mesnersohn „stundenlang […] auf dem Dachboden der Kirche in den alten verstaubten Büchern gramte u. sich als König fühlte bei den vielen Büchern, die er nicht verstand, deren jedes er aber kannte u. ehrfürchtig liebte“23. Es dürfte sich dabei um theologische oder sonstige gelehrte Werke gehandelt haben, vermutlich zum Teil auf Lateinisch und unverständlich für ein Kind, wie es der künftige Philosoph war. Gleichwohl mag man in ihnen Vorboten einer künftigen Öffnung sehen. Aber in einer Zeit, in der Bücher noch verhältnismäßig selten und teuer waren, gab es in Meßkirch auch außerhalb der Kirche Gelegenheiten, sich günstig Zugang zu Büchern zu verschaffen, nämlich die beiden Lesezirkel, die „Kasinogesellschaft“ und die „Bürgermuseumgesellschaft“, die beide ihre Bücher verliehen.

Die kleinen Heideggers waren gleichwohl durchaus mit Büchern vertraut, auch außerhalb der Schule. So spielten sie Indianer „nach Karl May“24 (1842–1912). In diesen Spielen drückte sich ein Hang zum Exotismus aus, der sie mitten in die Weiten Amerikas an die Grenzen der Zivilisation, fern der Täler ihres heimischen Heubergs, versetzte. Mit Old Shatterhand, dem Ich-Erzähler und Sprachrohr des Autors, ließen die jungen Leser ihre deutsche Heimat hinter sich und machten sich auf in den fernen Wilden Westen. Der Zauber des Lesens und die Volkskultur, wie sie von Zeitungen und der Kolportage-Literatur verbreitet wurde, ermöglichte es auch Landkindern, die keine Gelegenheit hatten, so weitgereisten Menschen zu begegnen, diesen Teil der Welt mit seinen Mustangs, Büffeln und Bären wie mit seinen Einwohnern zu erkunden. Dies waren entweder frustrierte und brutale Amerikaner oder aber Indianer, die zwar eine andere Hautfarbe und andere Sitten hatten, eine andere Sprache sprachen, gleichwohl aber vollwertige Menschen waren, denen zu begegnen ebenso verführerisch wie gefährlich war.

Meßkirchs Öffnung zur Welt bestand vor allem aus der Zeitungslektüre. Das einschlägige Angebot bestand zum einen aus dem 1872 gegründeten Oberbadischen Grenzboten, zum anderen aus dem katholischen Heuberger Volksblatt (seit 1898). Mit einem Preis von 1 Mark pro Trimester für den Grenzboten und 1,15 Mark für die Meßkircher Ausgabe des Volksblatts waren beide für viele ortsansässige Handwerkerfamilien durchaus erschwinglich, sodass sie praktisch alle Einwohner erreichten. Diese kauften entweder selbst diese Zeitungen oder aber sie lasen die Ausgabe, die ihnen Bekannte überließen, wie das seinerzeit üblich war. Friedrich Heidegger, dessen Küfer-Werkstatt gleich neben dem Heuberger Volksblatt lag, dessen kämpferischem Katholizismus er zudem nahestand, hatte daher einen besonders leichten Zugang zu seiner Informationsquelle. Beide Zeitungen stützten sich auf Agenturmeldungen ebenso wie auf die Berichte großer Zeitungen und räumten den Nachrichten aus dem Ausland ebenso viel Platz ein wie den Berichten aus der Gegend und dem ganzen Reich.

Trotz der Zeitungslektüre blieb der geistige wie physische Horizont der Heideggers im Wesentlichen auf das Städtchen und seine Umgebung beschränkt. Die Eltern, die keine weiterführende Schule besucht hatten, verfügten nur über eine geringe Allgemeinbildung, kannten keine Fremdsprache. Sie verreisten nie, gingen in der Regel zu Fuß und nahmen für Besuche oder Besorgungen auch mehrstündige Fußmärsche in Kauf. Ein Beleg dafür ist etwa ein Brief Martin Heideggers aus der Zeit, als er bei Stetten am kalten Markt nördlich von Meßkirch Wehrübungen leistete. Dort ist nachzulesen, dass seine Mutter und seine Schwester Marie viereinhalb Stunden liefen, um ihn zu besuchen, mit dem Rückweg am gleichen Tag also neun Stunden.25 Abgesehen vom Gehen, das nur die Abnutzung der Schuhe kostete, hatten die Heideggers nicht die Mittel und anscheinend auch gar nicht die Absicht, weit zu verreisen. Ein derartiges Vorhaben hätte wohl sogar ihrer Auffassung von guter Haushaltsführung widersprochen, wäre ihnen wie eine verschwenderische Extravaganz vorgekommen, als Vergeudung von Familieneigentum, das dem Prinzip vernünftiger Sparsamkeit, das sie hochhielten, widersprochen hätte. Die Beschränkung des Horizonts der Heideggers war nicht zuletzt dadurch be