Heiligenholz - Jörg Hauschild - E-Book

Heiligenholz E-Book

Jörg Hauschild

0,0

Beschreibung

Die letzten Tage meiner Freundschaft mit dem Schauspieler Tilo Prückner

Das E-Book Heiligenholz wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Heiligenholz, Jörg Hauschild, Tilo Prückner

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 108

Veröffentlichungsjahr: 2022

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



für Tilo

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1.

Teil

2.

Teil

3.

Teil

4.

Teil

ENDE

Prolog

Friedhof, Tag

Aufblende: Drei Leute stehen an einem Grab, welches mit Blumen geschmückt ist.

Eine Frau, ein Mann und ein Mädchen. Alles aus der Entfernung gefilmt. Keine Gesichter zu erkennen. Die drei Figuren in der Silhouette. Stille über dem Friedhof, nur vielleicht eine Kirchenglocke (Klischee) oder eine Krähe (auch Klischee). Darunter etwas Musik und dann die warme Stimme eines älteren Mannes.

Erzählerstimme: Die Vorhersagen hatten eigentlich einen sommerlichen Tag versprochen. Aber noch lag Dunst über dem Friedhof, konnte man die Frische der Luft schmecken. Die Schleifen der Gebinde und die Blüten der Rosen lagen nass- schwer auf der angehäufelten Erde des Familiengrabes.

Annelie löste das minutenlange Schweigen: »Mama, worum haben sie sich eigentlich gestritten, Papa und Onkel Bruno?«

Anna sah ihre Tochter an, legte den Arm um ihre Schulter, überlegte eine Weile und fand erst mal keine Antwort.

Die Frage, die mir inzwischen durch den Kopf ging, war nicht worum sie sich gestritten hatten, sondern warum. Der Unterschied eines einzelnen Vokals also, das A und O sozusagen.

So, oder so ähnlich hattest Du Dir den Anfang unseres Filmes vorgestellt. Ziemlich bedeutend also! Und ausgerechnet eine Szene auf einem Friedhof – oder eben gerade. Den Mann am Grab solltest Du natürlich spielen und auch dem Erzähler Deine Stimme geben.

Dazu wird es nun leider nicht kommen. Aber die Geschichte von Heiligenholz gibt es ja. Sie ist übrig geblieben. Und weil Du sie nicht mehr erzählen kannst, werde ich es tun.

-

Heiligenholz (en: Hollywood) am Bodensee, das war das Ziel – neunhundert Kilometer von Berlin, zehn – zwölf Autostunden.

Ich folgte der Einladung meines Freundes, endlich. Vor einigen Jahren schon hatte er dort ein Haus erworben, mir immer wieder vom Baufortschritt berichtet und versichert, ich wäre da stets willkommen. Die Entfernung und die Zeit waren oft Hindernisse, jetzt aber war ich unterwegs. Oder eigentlich: Wir waren unterwegs. Jane, meine reizende Freundin, begleitete mich.

Tilo hatte vor, etwas ganz besonderes zu tun: nämlich zu heiraten. Aus diesem Grund hatte er mich vor zwei Wochen angerufen: »Also das Fest wird am Zwanzigsten sein, und da bist Du oder seid Ihr natürlich herzlich eingeladen. Aber hier bin ich schon ab dem Fünften, und da könntest Du, sagen wir mal am Zehnten schon herkommen und wir hätten ein bisschen Zeit füreinander …«

… und auch endlich mal Gelegenheit unsere gemeinsame Filmidee weiter zu entwickeln. Wobei weiterentwickeln zu diesem Zeitpunkt ein recht großes Wort ist, für das was es gerade mal war. Die Idee bestand nämlich zunächst erst einmal darin, überhaupt an einem Drehbuch zu arbeiten. Und jetzt schien sich eine Gelegenheit zu bieten, dem Vorhaben Raum und Zeit zu geben.

»Und worum soll es gehen?«, wollte Jane wissen.

»Keine Ahnung.«

»Hat er nichts gesagt?«

»Na Tilo hat auch keine Ahnung. Es gibt noch keinen Plan, ausser eben den, sich was auszudenken. Und das wollen wir jetzt machen.«

»So so …«

Sie dachte eine kleine Weile nach und fragte schließlich: »Und warum?«

»Ach na ja, wenn man sein halbes Leben lang dabei mitgewirkt hat, anderer Leute Projekte umzusetzen, kommt vielleicht irgenwann mal der Punkt, an dem man weiss wie es geht und wo man dann auch mal seine eigenen Ideen lebendig werden lassen will …«

»Ja, aber dazu müsste man ja schon mal eine Idee haben, und du sagst, ihr wisst noch gar nicht, was es werden soll.«

»Na sagen wir mal so: es gibt einen bunten Strauß von Ideen, aber wir haben uns noch nicht für eine bestimmte Blume entschieden.«

»Und was sind deine Lieblingsblumen?«

»Ich mag so kleine krasse Konstruktionen. Der Tod und das Mädchen zum Beispiel.«

»Ja, kenn ich, krass! Und Tilo?«

»Ich denke, dass für ihn auch eine Rolle spielt, was er für eine Rolle spielt.«

Jane lachte: »Dieses Wortspiel hast du dir doch nicht gerade ausgedacht, oder?«

»Natürlich nicht, ist mir beim Schreiben eingefallen, fand ich lustig. Na es ist in diesem (Film-) Geschäft ja so, dass man recht schnell irgendwie einsortiert wird. In das, was die Leute in einem sehen, wofür man angeblich steht, was man verkörpert. Man ist plötzlich sowas wie eine Marke, eine Hausnummer. Und das ist dann das, was man machen kann, wofür man auch gerne gebucht wird. Aber darüber hinaus kann es schwierig sein. Da heißt es eigentlich immer: Bei dir läuft es doch gut, du bist doch der und der, warum willst du denn jetzt was anderes machen? Andere wären froh wenn …

Ja und Tilo hat ja schon unglaublich viel gespielt, sehr erfolgreich und er ist sehr beliebt, aber möglicherweise waren die Rollen, in denen er sich gerne gesehen hätte, nicht, oder auch nur zu selten dabei? Oder vielleicht fehlte eben das eine ganz große Ding?«

»Und ihr meint, ihr macht jetzt eben dieses ganz große Ding und die Welt da draußen wartet nun ausgerechnet auf einen Film von euch?«, versuchte Jane mich aufzuziehen.

»Das passt schon. Der letzte Film, an dem ich mitgeschrieben hab, hat es immerhin bis nach Cannes geschafft.«

Dumpfes rhythmisches Poltern begleitete die Fahrt durch die deutschen Ostgebiete. Vom Betonkrebs zerfressene Autobahn. In den zweitausender Jahren hatte sich die A9 verwandelt: Von der zweispurigen Plattenautobahn aus Adolfs Zeiten zu einer Sechsstreifenpiste mit einheitlichen Tankstellen und Parkplatzklos. Kaum fünfzehn Jahre später rumpelte es aber wieder. Einst waren es die Dehnungsfugen, heute sind die Flickstellen der Betonkrebsschäden dafür verantwortlich. Früher oder später wird die Straßendecke komplett abgetragen und erneuert werden müssen. Eine schicksalhafte Vermischung der Elemente im Beton sei die Ursache für dessen Zersetzung über die Zeit. Angeblich waren die neuen Bauherren davor gewarnt worden, aber wer weiß das schon so genau. Für die ausführenden Gewerke ist die gute Eigenschaft des Betonkrebses, dass er erst Jahre nach Ablauf der Gewährleistungspflicht in Erscheinung tritt und so keine Haftung zulässt – ein erneutes Geschäft aber ermöglicht.

Wir konnten uns leider nur eine Woche freinehmen. Ich hatte noch ein bisschen was zu arbeiten und Jane ja auch ihre Kinder.

»Das ist besser als nichts«, meinte Tilo. »Aber wenn wir ein bissel reden wollen, dann wäre es schon das Beste, wenn ihr gleich ab dem Zehnten herkommt. Weil die Tage direkt vor der Hochzeit muss ich mich noch um alles kümmern und kann mich dann nicht richtig konzentrieren.«

Das hieß also: entweder Hochzeit oder Drehbuch. Ich entschied mich für die Arbeit, war mir aber nicht ganz sicher, ob das nicht etwas unhöflich sei. »Ach nein. Ich freu mich wenn Du herkommst. Die Hochzeit feiern wir nach, und an dem Tag bin ich sowieso nur am herumrennen und hab für niemanden richtig Zeit.«

Die Fahrt zog sich unendlich. Aber ich verbrachte die Zeit ja mit meiner charmanten Freundin, welche die überirdische Macht besaß, Stunden, je nachdem, ob sie sich besser oder schlechter anfühlten, nach Belieben verlängern oder verkürzen zu können.

»Wie alt ist Tilo jetzt eigentlich?«

»Neunundsiebzig«, antwortete ich.

Komischerweise war ich bisher nur ein einziges mal zu Tilos Geburtstag. Das ist schon über zehn Jahre her.

»Und wie lange kennt ihr euch schon?«

»Na ja, das ist unterschiedlich«, überlegte ich.

»Wie unterschiedlich?«

»Also ich kenne Tilo seit zweitausendvier und er mich so zweitausendundsechs.«

Jane schaute verwundert.

»Tilo hat mal bei einem Film von uns eine kleine Rolle gespielt.« Mit uns meinte ich die Filmcrew, mit der ich inzwischen einige Filme gemacht habe.

»Und wenn ich so wochenlang an einem Film herumschneide, lernt man seine Schauspieler ja irgendwie kennen. Man erfährt, wie sie reden, wie sie sich bewegen, so ihre Eigenarten. Man sieht, ob sie Humor haben und überhaupt, ob es coole Typen sind oder bisschen eingebildet vielleicht. Du merkst, wie sie arbeiten. Sind sie gut vorbereitet? Können sie ihren Text? Wie gehen sie mit den Fehlern ihrer Kollegen um? Na, so ganz viel jedenfalls.

Bei Dokumentarfilmprojekten ist es noch ein bisschen extremer, weil die Protagonisten da natürlich auch viel persönliches preisgeben.

Und wenn man sich dann mal trifft, auf einer Premierenfeier zum Beispiel, ist es immer eine ganz merkwürdige Diskrepanz: Weil gefühlt, kenn ich den Typen doch irgenwie ganz gut, und der hat mich noch nie in seinem Leben gesehen.«

»Aber bist du nicht auch beim Drehen dabei?«, fragte Jane.

»Normalerweise nicht, vielleicht mal so als Settourist, aber nicht in dem Sinne, dass man viel miteinander zu tun hat.«

Wir hatten auch einmal darüber gesprochen, Tilo und ich, als wir uns später wirklich kennenlernten. Und tatsächlich, Tilo konnte sich an unsere erste Begegnung nicht erinnern.

»Und wie hat er dich dann kennengelernt?«

»Tilo hat selber mal einen Film gemacht, also mit das Drehbuch geschrieben und auch produziert und gespielt natürlich sowieso, und er brauchte so eine Art dramaturgische Beratung. Irgendwie ist er da auf mich gekommen. Aber eben nicht, weil wir uns kannten, sondern ich wurde ihm von irgendwem empfohlen.«

»Was war das für ein Film?«

»Ich wollte diese Geschichte eigentlich ein bisschen später im Buch erzählen …«

»Kein Problem.«

Für die zweite Maiwoche blieb das Wetter deutlich unter seinen Möglichkeiten. Hinter dem Thüringer Wald prasselte Regen heftig auf die Windschutzscheibe. Die Wischblätter hatten mächtig zu tun, den Blick auf vorausfahrende Autos einigermaßen freizuhalten. Viel weiter konnte man sowieso nicht sehen.

In solch einer Situation hat man kaum noch das Gefühl, sich durch eine Landschaft zu bewegen, sondern könnte meinen, in einer überdimensionalen Autowaschanlage festzustecken.

Bei der Reiseplanung hatte ich noch die Idee, vielleicht in Ulm Kaffee zu trinken und einen kleinen Stadtspaziergang zu unternehmen. Zur Auffrischung der Kräfte und der Erweiterung der Ortskundigkeit. Aber es stellte sich heraus, dass wir schon Sorge haben mussten, nicht erst im Mondlicht das Ziel zu erreichen. Gerade die letzten Kilometer, wo die Autobahn endet und man sich über Landstraßen vorwärts bewegt, waren noch einmal eine Herausforderung. Zumal mein Navigationsgerät, nicht mehr den neuesten Anforderungen entsprechend, mich an der einen oder anderen Stelle in die Irre zu führen versuchte.

»Na sagt mal, ihr wart ja ewig unterwegs.«

»Wir haben uns ein bisschen verfahren«, gestand ich.

»Jetzt ist schon dunkel, dann schaut ihr euch den Garten morgen an. Ihr habt doch bestimmt Hunger. Kommt rein.«

Das Haus war viel größer, als ich es mir vorgestellt hatte. Es war eigentlich mal ein Bauernhaus. Aber es muss wohl ein Großbauer gewesen sein. Es besaß zwei Etagen und darüber ein ausgebautes Dachgeschoss und darüber noch einen Boden. Die Fenster vom Wohnzimmer im Erdgeschoss waren bis zum Fußboden vergrößert worden und führten in den Garten – ein bisschen italienischer Landhausstil.

Es machte mir Schwierigkeiten, in den verschiedenen Räumen sicher zu sagen, ob die Aussicht jetzt den Norden, Süden oder Westen zeigte.

Das Haus strahlte eine behagliche Wärme aus. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass alles vor ein paar Monaten noch eine Baustelle gewesen war, hätte ich es nicht geglaubt. Die Instandsetzung ist mit so viel Liebe und einem Sinn, den man nicht mit Ästhetik oder Geschmack beschreiben kann, sondern mit einer Art unauffälliger Ehrlichkeit vollzogen worden. Man dachte, hier sei es schon immer so und niemals anders gewesen.

»Wisst ihr, das ist auch größtenteils wirklich altes Zeug. Die Bodenfliesen im Flur hier sind zum Beispiel von einer Kapelle irgendwo aus England.« Tilo lachte: »Also, das hat mir der Händler erzählt – keine Ahnung, ob das stimmt. Aber wie auch immer, auf jeden Fall sind das keine neuen Baumaterialien auf alt gemacht, sondern original, irgendwoher, wo was abgerissen wurde. Das ist natürlich auch bissel schwierig, die richtigen Mengen zu bekommen und es kostet auch eine Kleinigkeit. Deswegen muss ich ja auch noch so viel arbeiten gehen, in meinem Alter!«

Ich erinnerte mich, dass wir uns mal in Potsdam getroffen hatten. Da waren wir in einem Laden, in dem sie so alten Elektrokram verkaufen: Lampen, Fassungen, Schalter und solche Sachen. Und so etwas entdeckte ich hier wieder.

Tilo zeigte uns eine umfangreiche Dokumentation der Baumaßnahmen. Nur mit dem fotografierten Blick auf nackte Ziegelwände, Holzbalken, Bauschutt und leeren Fenstern konnte man erkennen, dass der Jetzt-Zustand ein erst jetzt geschaffener war.

»Das meiste ist abbezahlt aber eben noch nicht ganz«, sagte er. »Ich hoffe, dass ich das noch schaffe. Aber später muss es dann sowieso verkauft werden. Es ist unwahrscheinlich, dass meine Kinder sich gegenseitig auszahlen können. Und wenn ich dann verheitatet bin, isses ja auch nochmal ein bissel anders.«

Wir saßen in der Küche an einem quadratischen Tisch aus dunklem Holz und nahmen noch ein kleines Abendmahl bestehend aus Brot, Käse und Wurst zu uns. Tilo entkorkte eine Flasche Wein.

»Jetzt esst mal bissel was.«

Auf dem Fensterbrett stand eine Fotografie, von einem Mann mit markantem Gesicht. Tilo nahm das Foto in die Hand. »Ja, das isser, der Manfred.«

Ich kannte ihn persönlich nicht, nur vom Erzählen. Er hatte auch was mit Film zu tun. Sie waren über viele Jahre befreundet. Nun ergab aber das traurige Schicksal, dass dieser Freund nach einem langen Krankheitsverlauf aus der Welt gegangen war.

Die beiden hatte im letzten Jahr zusammen auf eigene Kosten eine kleine Serie produziert. Ein ziemlich, sagen wir mal politisch unkorrektes Projekt, was man leicht daran erkannte, dass zum Beispiel mehrfach das Wort Neger darin vorkam.