Heimat Kinderheim - Michael-Alexander Lauter - E-Book

Heimat Kinderheim E-Book

Michael-Alexander Lauter

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Beschreibung

In Zügen und per Fahrrad begibt sich Sascha auf die Suche zu den Orten, die er als Kind erlebt hat. Dabei erscheinen die Erinnerungen wie Splitter eines Spiegels, in die er schaut. Manchmal sind sie trüb, dann wieder kristallklar. Er ist aus unterschiedlichen Gründen in Heime gekommen. In seiner Kindheit musste seine alleinerziehende Mutter die Existenz der Familie sichern, später fuhr sie mit ihrem Ehemann zur Aufbauhilfe in die Volksdemokratische Republik Korea, und schließlich erkrankte sie an Tbc und kam selbst in eine Heilstätte. Stets war sie dabei gezwungen, sich von ihren Kindern trennen. So verbrachte Sascha viele Jahre in Kinderheimen. Bitterfeld, Pretzsch, Dresden-Pillnitz, Dorfhain, das waren die Stationen seiner Kindheit. Stets musste er sich neuen Bedingungen anpassen. Besonders sein letzter Aufenthalt im Kinderheim Dorfhain eröffnete einen neuen Abschnitt in seinem Leben. So etwas prägt.

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Seitenzahl: 150

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nachdruck oder Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Verlages gestattet. Verwendung oder Verbreitung durch unautorisierte Dritte in allen gedruckten, audiovisuellen und akustischen Medien ist untersagt. Die Textrechte verbleiben beim Autor, dessen Einverständnis zur Veröffentlichung hier vorliegt. Für Satz- und Druckfehler keine Haftung.

 

 

 

Impressum

 

Michael-Alexander Lauter

»Heimat Kinderheim«

 

edition winterwork | Carl-Zeiss-Str. 3 | 04451 Borsdorf

[email protected]

www.edition-winterwork.de

© 2025 edition winterwork

 

Alle Rechte vorbehalten.

Satz: edition winterwork

Umschlag: edition winterwork

 

Druck/E-BOOK: winterwork Borsdorf

ISBN Druck 978-3-98913-172-9

ISBN E-BOOK 978-3-98913-186-6

Michael-Alexander Lauter

 

 

Heimat Kinderheim

 

 

 

 

 

 

 

 

 

edition winterwork

Anmerkung des Verlages

 

Dieses Buch verwendet vereinzelt zeitgebundene Begriffe, um die Authentizität zu wahren.

Auf eine Modernisierung der Sprache wird aus diesem Grund verzichtet, jedoch distanzieren sich Autor und Verlag ausdrücklich von Diskriminierung und Rassismus.

Heimat Kinderheim

Ich sitze auf dem Querbahnsteig im Leipziger Hauptbahnhof bei einer Tasse Milchkaffee. Im Blick habe ich mein Fahrrad, das ich angeschlossen habe. Ich nehme sonst nie Zucker zu Kaffee oder Tee. Bei Milchkaffee kann ich nicht anders, da bin ich wieder ganz Kind. So lasse ich den Zucker auf den Löffel rieseln und tauche ihn vorsichtig in den Milchschaum. Nur ganz wenig Kaffee durchtränkt den Zucker. Dann beschaue ich mir das Werk, bevor ich den Löffel in den Mund schiebe und nur noch genieße.

Ich warte auf die S-Bahn nach Bitterfeld, denn ich fahre zum wiederholten Mal in die Stadt, in der alles begann. Nicht nur wurde ich dort geboren, auch meine Odyssee durch die Kinderheime in der DDR begann an diesem Ort. Als ich 2010 erstmals nach Bitterfeld fuhr, war ich voller Zweifel: Lohnt es sich, nach so vielen Jahren nach alten Spuren meiner Kindheit zu suchen? Und werde ich überhaupt noch welche finden? Aber ich musste es tun.

In der jüngsten Vergangenheit wurde viel über den Aufenthalt in Heimen in den Zeitungen, im Rundfunk und im Fernsehen berichtet. Besonders zwei Heime in der DDR standen im Fokus. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob es nur diese beiden waren. Jedoch spielten sie in meinem Leben eine Rolle: der Jugendwerkhof in Torgau und das Kinderheim in Pretzsch an der Elbe.

Ich lebte und arbeitete längere Zeit in Torgau. Da war der Jugendwerkhof immer präsent. Ich wusste jedoch nicht genau, was dort vor sich ging. Doch ich habe Mütter und Väter kennengelernt, die mit ihren Kindern nicht zurechtkamen. Sie drohten dann damit, sie in den Jugendwerkhof zu stecken.

Was genau dort vorging, erfuhr ich erst nach 1990. Trotzdem wusste man, dass dort Jugendliche untergebracht waren, die besonders schwierig zu erziehen waren. Oder sie hatten etwas auf dem Kerbholz und wurden deshalb verurteilt. Mehr wussten nur wenige, tatsächlich nur diejenigen, die Zugang hinter die Mauern hatten. Der Torgauer Jugendwerkhof war das einzige geschlossene Erziehungsheim in der DDR.

Ich bin in verschiedenen Kinderheimen aufgewachsen. Diese Erlebnisse prägten mein Bild von ihnen. Und sie stimmen so gar nicht mit dem überein, was ich nach 1990 vom Jugendwerkhof Torgau erfuhr. Zu dem, was vom Kinderheim in Pretzsch berichtet wurde, kann ich nicht viel sagen. Ich besuchte es im Vorschulalter, die Erinnerungen daran sind leider spärlich.

Ich schaue zur Bahnhofsuhr und stelle fest, ich habe noch Zeit. Ich löffele den Milchschaum aus der Tasse und beobachte das hektische Treiben auf dem Bahnhof. Da hasten Leute zu ihren Zügen, andere fast umrempelnd. Weitere laufen gemächlich zum Einkaufen. Kinder greinen und rennen zwischen den Erwachsenen hin und her.

Es ist schon eigenartig: Erzähle ich jemandem davon, dass ich meine Kindheit in vier Kinderheimen verbrachte, ernte ich stets bedauernde Blicke. Das wundert und ärgert mich. Sind denn Kinderheime die Hölle? Für manche hat es sich tatsächlich so angefühlt. Dennoch ist die Frage so einfach nicht zu beantworten. Wie ist das mit Himmel und Hölle? Ist man vom Himmel in die Hölle gekommen oder von der Hölle in die Hölle? Oder gar von der Hölle in den Himmel? Jeder, der in einem Heim war, muss sich diese Fragen selbst beantworten. Jede Geschichte, die erzählt oder aufgeschrieben wird, fällt anders aus. Man kann sie nicht gegeneinander abwägen. Alle sind wichtig, auch meine.

Jetzt muss ich mich aber sputen. Ich schnappe mir das Rad und schaffe es gerade so. Schon rollt die Bahn los. Ich ergattere noch einen Platz am Fenster. Die Fahrt wird nicht lange dauern, in fünfunddreißig Minuten werde ich in Bitterfeld sein. Diese Stadt ist nicht mehr so dreckig und schwarz wie vor 1990. Eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt mit all den Problemen, mit denen sich viele Kleinstädte herumschlagen müssen: Halbierung der Einwohnerzahl, Wegfall von Arbeitsplätzen, Überalterung, hohe Pro-Kopf-Verschuldung der Kommune. Ich fahre trotzdem gerne hierher, ist es doch die Stadt, in der alles auf den Weg gebracht wurde: Die Begegnung zweier Liebenden. Die Trennung meiner Mutter von meinem Vater, einem russischen Offizier. Meine Geburt. Das erste Kinderheim. Die Suche nach meiner Herkunft.

Ich schaue aus dem Fenster. Abgeerntete Felder, der Mais steht noch, hier und da gepflügter Acker, bereitet für die nächste Aussaat. Die Felder werden abgelöst von kurzen Waldstücken. Dazwischen kleine Dörfer, schnell erreicht der Zug Delitzsch.

Was wird mich diesmal in Bitterfeld erwarten? Ich will die Reise zu den Kinderheimen hier beginnen. Sie waren lange mein Zuhause, als Kind und als Jugendlicher. Natürlich bin ich auch in einer Familie groß geworden, jedoch nur fünf Jahre lang. Auch das stimmt nicht so genau. Meinen großen Bruder Dieter kannte ich nur als Besuch. Meine Mutter musste nach dem Krieg ihre beiden Söhne allein durchbringen. Dann kam ich noch hinzu. Schließlich lernte sie Kurt Holzmüller kennen. Irgendwann bildeten wir zu viert eine Familie: Mama, Onkel Kurt, mein Bruder Wolf und ich. Waren wir jemals eine richtige, harmonische Familie? Wenn, dann nur für kurze Zeit, bevor sie endgültig zerfiel.

Lange Zeit erlebte ich die Kindheit in Heimen. Wenn das Zuhause etwas ist, was durch Pflegefamilie und Kinderheime geprägt ist, was macht das mit einem Kind? Wie soll ich das wissen. Für mich war das der Alltag, etwas ganz Gewöhnliches. Ungewöhnlich Gewöhnliches, wie ich heute weiß. Heim: Es bezeichnet das Haus, in das man gehört. Wohin man gehört, ist dort nicht die Heimat? Kinderheime als Heimat?

Wieder schaue ich aus dem Fenster und sehe einen Roten Milan seine Kreise ziehen. Er hebt sich deutlich vor den dahinziehenden weißen Wolken ab. Ich erkenne ihn an seinem gegabelten Schwanz. Ob ich mich mit meinem Suchen auch so im Kreis bewege wie der da oben? Aber nein, ich habe schon viele Puzzleteile gesammelt; es wird Zeit, sie zusammenzufügen. Ein Blick in meine Unterlagen reicht, und ich begebe mich auf die Zeitreise.

 

Saschas Mutter bekam 1949 Arbeit bei der Wismut AG. Ihre Söhne konnte sie nicht mitnehmen. Dieter mit seinen 13 Jahren brachte sie zu seinem Vater nach Berlin-Staaken, der acht Jahre alte Wolf kam ins Kinderheim nach Bitterfeld.

Den kleinen Sascha, zwei Jahre alt, nahm Helene, so hieß seine Mutter, mit nach Johanngeorgenstadt ins Barackenlager. Dort waren die Frauen und Männer untergebracht, die im Uranbergwerk arbeiteten. Kinder durften dahin nicht mitgenommen werden. Warum? Vermutlich gab es keine Kindergärten, aber vielleicht befürchteten die Verantwortlichen gesundheitliche Schäden für die Kinder.

Das ging eine Weile gut. Dann aber bekamen die Vorgesetzten in der Wismut Wind davon, dass Saschas Mutter ihn illegal in ihrer Wohnbaracke untergebracht hatte. Wie sie ihm später erzählte, wurde sie zur Rede gestellt und musste sich entscheiden: die Arbeit verlieren oder ihn woanders unterbringen. Was konnte sie tun, sie brauchte doch Geld! Schweren Herzens entschied sie sich für die Arbeit. Da hatte sie bereits ihre neue Liebe kennengelernt, was ihr diesen Entschluss erleichterte.

In Johanngeorgenstadt konnte ihr Jüngster also nicht bleiben. Aber wohin mit ihm? Seine Mutter suchte verzweifelt nach einer Lösung. Dann fiel ihr ihre Freundin Anna Schuster in Bitterfeld ein. Bei ihr wollte sie nachfragen. So fuhr sie am nächsten Wochenende mit ihrem Jungen zu ihrer Freundin. Sascha selbst war noch zu jung, um sich später daran zu erinnern. Er kannte diese Geschichten nur aus ihren Erzählungen. Sie hatte Glück, Frau Schuster würde ihn aufnehmen. Sie hatte keine Arbeit und musste sich und ihre zwei Töchter – eine kurz vor dem Schulanfang – durch die schweren Jahre bringen. Zusätzliches Geld konnte sie also gut gebrauchen. In der Wismut verdiente Helene mehr als anderswo. Die beiden Frauen einigten sich schnell. So kam Sascha zur Familie Schuster.

 

Frau Schuster

Mittlerweile ist der Zug in Bitterfeld angekommen. Zuerst will ich das Haus von Frau Schuster aufsuchen. Vom Bahnhof fahre ich die Walther-Rathenow-Straße entlang zur Mittelstraße. Bewusst wähle ich diesen Weg. Er führt an den beiden Gebäuden vorbei, in denen einst die sowjetische Kommandantur untergebracht war. Der Ort, an dem sich meine Eltern kennenlernten. Dann fahre ich zur Puschkin­straße, überquere die Leine. Hier halte ich an und erinnere mich. Das Kinderheim befand sich in der Nähe der Leine.

Das ist aber heute nicht mein Ziel. Ich biege in die Friesenstraße ab und erreiche die Guts-Muths-Straße. Dort steht mein Geburtshaus. Natürlich erinnere ich mich nicht. Trotzdem berührt es mich, als ich das Fenster der Kemenate sehe, in der meine Brüder schliefen. Aber ich muss noch ein Stück weiter. Nur noch wenig erinnert an die damalige Zeit. Erst als der jetzige Eigentümer mir bei meinem vormaligen Besuch alte Fotos zeigte, konnte ich die alten Gemäuer erahnen. Ich stehe am Zaun des Grundstücks und sehe in die Richtung, aus der meine Mutter und ich gekommen sein müssen.

 

Es war Anfang Februar, nass und kühl. Sascha lief neben seiner Mama. Er war ängstlich und neugierig zugleich. Sie erzählte ihm, wohin sie gehen würden. Sascha hörte ihr gerne zu. Er liebte ihren Tonfall und häufig gab Mama etwas Lustiges preis. Heute jedoch schien es um etwas sehr Ernstes zu gehen. Sascha war ein aufgewecktes Kind, aber er musste alles erklärt bekommen. Wenn er etwas verstanden hatte, dann war es gut. Heute bekam er mit, dass er nicht mehr bei Mama bleiben konnte. Sie musste arbeiten, allerdings in einem anderen Ort, in Johanngeorgenstadt. Doch der war weit weg und Mama sagte, sie könne ihn nicht mitnehmen. Deshalb bringe sie ihn zu ihrer Freundin Anna, bei der solle er jetzt bleiben.

Mama wollte es ihm leicht machen und erinnerte ihn daran, dass er ihre Freundin doch kenne. Sie habe zwei Töchter, eine älter und eine so alt wie er. Sie haben doch so gern mit ihm zusammen gespielt, damals, als sie bei Tante Anna waren. Sie freuten sich sicherlich schon auf ihn.

Trotzdem war Sascha traurig. Er hielt Mamas Hand fester als sonst. Sie ahnte, wie ihrem Jungen zumute sein musste. Deshalb beteuerte sie, dass sie ihn besuchen werde, so oft sie könne. Dann würden sie etwas zusammen unternehmen. Auch gemeinsam mit Wolf. „Du wirst sehen, was wir alles Schönes erleben werden. Wolf wohnt doch hier in Bitterfeld, im Kinderheim.“ Sascha sah sie fragend an. „Er lebt dort mit vielen Kindern zusammen. Es geht ihm gut.“ Sascha hörte zu und das Wort „Kinderheim“, das er noch nicht kannte, bekam einen warmen Klang. Trotzdem ängstigte er sich. Aber Mamas Stimme beruhigte ihn.

Obwohl sie bemüht war, ihm nicht zu zeigen, wie schwer ihr die Trennung fiel, spürte er es. Dennoch versuchte sie seine Neugier zu wecken, wusste sie doch, wie unternehmungslustig er war.

Sie liefen einen Feldweg entlang. Links und rechts Häuschen mit Flachdach, ebenerdig, die extra für Umsiedler erbaut worden waren. Dann standen sie vor einem Lattenzaun mit einem Tor. Sie gingen über einen Hof. Nebeneinander, Hand in Hand. Schließlich standen sie vor einer Holztür mit einem kleinen vergitterten Fenster. Erst öffnete sich das Fenster. Worte wurden gewechselt. Dann die Tür.

Licht drang in den dunkleren Flur. In der Tür stand eine hagere, ausgemergelte Frau mit spitzer Nase. Anna Schuster. Hinter ihrem Rock ein junges Mädchen, dahinter das größere. Ein breites Lächeln, Mama und Frau Schuster begrüßten sich. Auch Sascha wurde begrüßt. „Ich bin Tante Anna“, sagte eine freundliche Stimme. „Du warst ja schon mal bei uns.“ Dann gingen sie in die Wohnung, ihm wurde sein Bett gezeigt. Die Mädchen teilten sich ihr Zimmer mit ihm.

Mama hatte es mit einem Mal sehr eilig. Sie müsse zurück zum Zug, den dürfe sie nicht verpassen. Sascha nickte nur, sagen konnte er nichts. Nachdem sie ihn gedrückt und ihm einem Kuss auf seine Schnute gegeben hatte, verließ sie wortlos das Zimmer.

Die Mädchen zeigten Sascha die Wohnung. Noch vor dem Essen. Sie gingen mit ihm auch in das Schlafzimmer von Frau Schuster. Dort stand eine Kommode mit dreiteiligem Spiegel. Schaute er hinein und schwenkte die Seitenteile zur Mitte, so vervielfachte sich sein Gesicht. Das gefiel ihm sehr gut. Dann war auf der Kommode noch eine Glasplatte. Darauf lagen allerlei Gegenstände, die er nicht kannte. Alles eckig, bernsteinfarben, leuchtend. Eine Schale, Flaschen und Fläschchen mit Glasstöpseln. Und ein kristallener Pumpsprüher für das Parfüm. Und dann noch eine Spieldose. Eines der Mädchen setzte sie in Gang. Eine unbekannte Melodie erklang und eine kleine Tänzerin bewegte sich im Kreis. Immer und immer wieder bat Sascha, sie noch einmal zu spielen. Bis die Kinder zum Essen gerufen wurden.

Frau Schuster lebte mit ihren Töchtern allein. Ihren Mann hatte der Krieg ihr entrissen. Entweder war er tot, in Gefangenschaft oder einfach nicht mehr angekommen. Niemand wusste es zu dieser Zeit.

Sascha hatte es gut bei ihr. Trotz ihres strengen Regimes ging sie mit den Kindern immer freundlich um. Sie machte keine Unterschiede. Er empfand sich nie als zurückgesetzt gegenüber Frau Schusters eigenen Kindern. Die Mädchen spielten häufig mit Sascha. Ab und zu neckten sie ihn und trieben ihren Schabernack mit ihm. Es störte ihn jedoch nicht. Es war eher die Abwechslung in einem ansonsten tristen Alltag.

Mama schickte regelmäßig Pakete mit Lebensmitteln, Süßigkeiten und selbstgestrickten Sachen. Sie waren ausschließlich für ihren Prinzen. Sie war sehr eifersüchtig und zugleich besorgt, dass er auch alles erhielt. Regelmäßig wurde er dazu ausgefragt. Das war ihm peinlich. Die Familie war arm. Wie sollte er da etwas allein essen? Oder ganz heimlich?

Ostern 1951. Mama schickte ein Osterpaket. Sascha freute sich über den schönen Papposterhasen, der mit Süßigkeiten gefüllt war. Um an sie heranzukommen, musste er den Kopf des Hasen abnehmen. Den Inhalt teilte er freigiebig mit den Mädchen. Ob ihn Frau Schuster dazu animiert hatte, kann heute mit Bestimmtheit keiner mehr sagen. Jedenfalls fühlte er sich gut, weil alle etwas davon abbekamen. Wenige Tage nach Ostern kam Mama zu Besuch. Und fragte wieder, ob er alles erhalten habe. Sie bekam mit, dass geteilt worden war. Es gab einen riesigen Krach. Mama bezichtigte Frau Schuster, ihm Sachen aus dem Paket vorenthalten und ihre Kinder bevorzugt versorgt zu haben. Es kam zum Bruch zwischen den Freundinnen. Sascha aber empfand es als ungerecht.

 

Ich habe mich, ohne es zu bemerken, an den Zaun angelehnt. Verwundert blicke ich auf, bevor ich bis zur Gartentür weitergehe. Gerne würde ich noch einmal hineingehen, doch auf mein Klingeln rührt sich nichts. Es ist Mittagszeit, sicherlich sind die Leute auf Arbeit.

Ob Mama damals recht hatte? Sie behauptete es immer. Ich weiß es nicht. Es muss noch etwas anderes eine Rolle gespielt haben. Vielleicht kam auch das Geld für meinen Aufenthalt bei Frau Schuster nicht immer pünktlich an.

Ich radle weiter in Richtung Strengbach, wo vermutlich einst das Kinderheim stand. Ach, was hatte meine Mutter alles unternommen. Sie musste mich nach dem Streit mit Frau Schuster innerhalb kürzester Zeit in einem Kinderheim unterbringen. Das in Bitterfeld kannte sie. Dort war schon mein Bruder Wolf untergekommen. Wahrscheinlich war sie, wie es ihre Art war, einfach auf das Jugendamt gegangen und hatte das Problem dargestellt. Sie konnte sicherlich auf den Geschwisterbonus hoffen. Schließlich hatte sie Erfolg und der Arbeit in der Wismut stand nichts mehr im Wege.

An einer Brücke halte ich an und beobachte den ruhigen Fluss des Wassers. Bin ich hier schon an der richtigen Stelle? Noch bin ich mir nicht sicher, heute aber drängt die Zeit und ich muss wieder zurück.

Kinderheim Bitterfeld

In den nächsten Tagen sehe ich meine Unterlagen durch. Ich habe alle Archive angeschrieben und umfangreiche Dokumente als Kopien über meine Heimaufenthalte erhalten. Vom Kinderheim in Bitterfeld allerdings nur eines, dazu einige Fotos. Bei dem Dokument handelt es sich um eine Liste der Sachen, die ich von Bitterfeld nach Pretzsch mitgenommen hatte. Darauf ist der Name des Heims vermerkt: „Martha Brautzsch“. Ich will wissen, wer diese Frau war, und werde fündig. Martha Brautzsch wurde von den Nazis wegen kommunistischen Widerstands inhaftiert. Nach 1945 engagierte sie sich für die Frauenbewegung und war zuletzt Vorsitzende des antifaschistischen Frauenausschusses der Provinz Sachsen. 1946 wurden sie und ihr Fahrer ermordet. Damals war angenommen worden, dass faschistische Kräfte schuld an ihrem Tod waren. Nach neuesten Forschungen war es jedoch ein marodierender Sowjetsoldat.

Wie das Kinderheim zu diesem Namen kam, kann ich nicht herausfinden. Eine Adresse finde ich in den Unterlagen nicht. Dafür eine alte Ansichtskarte mit der Gaststätte „Kühler Morgen“. Die Gaststätte gibt es heute nicht mehr. Dort hat einst auch das Kinderheim gestanden, auf ebendiesem Gelände. Wo aber befand sich die Gaststätte? Auf der Ansichtskarte ein erster Hinweis: „am Strengbach“. Aber wo war das? Es gibt diesen kleinen Bach mit Namen „Strengbach“, aber auch eine Straße „Am Strengbach“. Rätselraten macht hier keinen Sinn. Ich suche weiter, schließlich hilft mir ein Facebook-Freund. Er schickt mir den Ausschnitt eines historischen Stadtplanes. Jetzt hält mich nichts mehr, noch am Nachmittag desselben Tages fahre ich nach Bitterfeld und finde den Ort.

Vom Kinderheim oder der Gaststätte keine Spur. Dafür entdecke ich einen großen Flachbau, eine radiologische Praxis, daneben einen großen Parkplatz mit Tiefgarage, umgeben von mehrgeschossigen Wohnhäusern. Ich suche nach stummen Zeugen aus meiner Zeit. Da ist eine Reihe alter Linden, die könnten damals schon gestanden haben. Dann an der Niemegker Straße sehr alte Platanen und an einem kleinen Fluss eine Eiche, etwa drei Meter Stammumfang. Erst hier, an ihrer Seite, spüre ich, ich bin am richtigen Ort. Was mich da so sicher macht? Es sind der Baum, die Windung des Flusses, das Uferprofil, die Bilder, die in mir aufsteigen, und eben das Gefühl der Vertrautheit: Hier warst du einmal. Ich gebe mich ganz diesem Gefühl hin, das tatsächlich nur Sekunden andauert.