Heimat-Lust - Natalia Wörner - E-Book

Heimat-Lust E-Book

Natalia Wörner

4,7
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Endlich Heimkommen

18 Jahre alt ist Natalia Wörner, als sie ihre schwäbische Heimat verlässt. Sie bricht auf, um der Enge zu entfliehen. In Paris, Mailand, New York und Berlin macht sie Karriere als Model und Schauspielerin. Sie dreht mit international renommierten Regisseuren, erhält zahlreiche Auszeichnungen und wird von Ken Follett als attraktivste Frau bezeichnet, die ihm je begegnet sei. Was kann da noch passieren? Richtig: die Auseinandersetzung mit der Heimat. Schließlich muss man wissen, woher man kommt, um zu entscheiden, wohin man will. Dazu ist jetzt die richtige Zeit: Natalia Wörner nimmt uns mit zu ihrer persönlichen Heimkehr ins »Ländle«, illustriert durch bisher unveröffentlichtes privates Fotomaterial.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 253

Bewertungen
4,7 (16 Bewertungen)
11
5
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



1. Auflage

Originalausgabe

© 2015 Riemann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Ute Heek

Umschlaggestaltung: herzblut 02 GmbH, Martina Baldauf, unter Verwendung eines Fotos von © Christian Schoppe

Bildredaktion: Tanja Zielezniak

Umschlagabbildung: Laif (Christian Schoppe)

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering nach einem Entwurf von herzblut 02 GmbH, Martina Baldauf

ISBN 978-3-641-15884-2

www.riemann-verlag.de

DIESES BUCH WIDME ICH

MEINEM SOHN JACOB

UND MEINEN ELTERN

SUSANNE UND NORBERT

ICH WILL WISSEN, WONACH DU DICH SO SEHR SEHNST, DASS ES DIR WEHTUT.

ICH WILL WISSEN, WAS DICH IN DEINEM INNEREN HÄLT, WENN ALLES ANDERE WEGBRICHT.

Peter Bearwalks Alvares

HOME IS NOT A TANGIBLE PLACE. HOME IS NOT AN APARTMENT OR HOUSE WITH A COMFORTABLE COUCH AND TELEVISION AND REFRIGERATOR THAT IS FILLED WITH FOOD AND A DWELLING ONE IS SAFE IN.

THIS DOES NOT EXIST. THIS KIND OF SAFETY DOES NOT EXIST. IT MAY EXIST FOR SOME BUT SHORT AMOUNT OF TIME BUT NOT FOREVER.

HOME IS INSIDE YOU. HOME IS KNOWING WHO YOU ARE.

HOME IS THE DOME THAT HOVERS OVER YOU AND THE PEOPLE YOU LOVE AND WHO LOVE YOU BACK.

John Lurie

INHALTSVERZEICHNIS

PROLOG

DIE SAUERBRUNNENSTADT

DAS VIER-GENERATIONEN-FÜNF-FRAUEN-HAUS

DIE FRAU AUS KIEW

AUF DEM RÜCKEN DER PFERDE

GRENZEN ÜBERWINDEN

DER KLANG VON HEIMAT

DER KINDERHIMMEL

MATAS PUPPEN

DIE BLEIERNE ZEIT

DIE HEIMAT LIEBEN UND VERLASSEN

DIE STADT DER LIEBE

DER GROSSE APFEL

STRANGER THAN PARADISE

BEGEGNUNG IM AUFZUG

IM WESTEN STEHEN DIE FEINDE DICHT

UM DIE 30

UND… ACTION!

IN ALLER FREUNDSCHAFT

HAIE UND WÖLFE

DIE WELLE

HILFE ZUR SELBSTHILFE

FÜR DIE KINDER

DIE KIRCHE BLEIBT IM DORF

IN DIPLOMATISCHER MISSION

DIE KIRCHE BLEIBT ZWAR IM DORF, DOCH SIE ÖFFNET SICH

EPILOG

DANKSAGUNG

PROLOG

Heimat ist der Ort, den man mit eigenen guten Geschichten besetzt hat.

Giovanni di Lorenzo

Zwischen Heimatfrust und Heimatlust liegen drei Buchstaben und 30 Jahre. Im Alter von 18 verließ ich meinen Geburtsort Bad Cannstatt, ältester Stadtbezirk Stuttgarts, der Hauptstadt von Baden-Württemberg, wo alle schwäbisch schwätzen, clever sind und geizig, wie viele Leute glauben. Es war Zeit zu gehen, denn Heimat fühlte sich eng an: nach den Folgen der Selbstmorde der RAF im Hochsicherheitsgefängnis Stammheim und den Nachwehen um einen Exministerpräsidenten Hans Filbinger, der noch immer seine Nazivergangenheit leugnete. Die Amerikaner versteckten ihre Atomraketen vom Typ Pershing II in schwäbischen Wäldern, und Hunderttausende gingen dagegen auf die Straße, bildeten Menschenketten, die von Stuttgart nach Ulm reichten, denn sie hatten eine andere Vorstellung von Friedenspolitik, doch vergebens. Auch an Stuttgarts Schulen brodelte es. Alle Jahre wieder legte man mir nahe zu gehen, oder ich ging von selbst. Heimat war eine öde Welt, die sich eingekapselt hatte, und nichts deutete darauf hin, dass sich jemals etwas ändern sollte.

Dabei hatte ich von meiner Familie gelernt, welch gefährdetes Gut Heimat ist, zerbrechlich wie ein rohes Ei, im Handumdrehen in eine Trümmerwüste verwandelt. Die Heimat des einen ist das Feindesland des anderen, darin sah ich keinen Sinn. Mein Blick ging vom Großen aufs Kleine. Wir im Süden hatten über Hunderte von Jahren unseren Nachbarn drüben in Frankreich gefürchtet und diese uns; daraus war Krieg um Krieg entstanden, in denen die eigene Scholle verteidigt werden musste, der Glaube und der Nationalstolz. Der Feind überm Rhein, die Wacht am Rhein, alles im Namen der Heimat. Wo war der Unterschied, wenn wir Cannstatter gegen die aus Zuffenhausen pöbelten, weil die einen katholisch, die anderen protestantisch waren? Sich einzubilden, eine Heimat zu besitzen, verführt zum Irrtum, lautete meine Rede. Aus dieser engen Welt wollte ich mich hinauskatapultieren, wollte mein Leben gestalten, nicht verwalten, zwar ohne Plan und Ziel, doch mit Neugier und Abenteuerlust. Lässt man seinen Füßen freien Lauf, kann alles passieren. Und diese Füße wollten weg, weit, weit weg. So geschah es auch: Ich fand Arbeit in Europa, Amerika, Asien, bezog Wohnungen in Paris, New York, Hamburg, Berlin. 30 Jahre lang war ich unterwegs, und sagte sich doch Heimweh an, trat ich dem Gefühl entschlossen entgegen. Das ist nur die Brücke von irgendwo nach nirgendwo – das Leben taugt dem Nomaden, nicht dem Sesshaften.

Dann klingelte das Telefon. Die Regisseurin Ulrike Grote war dran. Ulrike ist zwar in Bremen geboren, war aber bald mit ihren Eltern in die Goldstadt Pforzheim gezogen. Sie ist eine dieser »Kandelschwaben«, wie wir die Leute nennen, die auf der ehemaligen Grenzlinie zwischen Württemberg und Baden zu Hause sind. Ein Multitalent: Regisseurin, Schauspielerin, Drehbuchautorin. Sie gewann den Studenten-Oskar für ihren Film »Der Ausreißer«. Zwei Jahre zuvor hatten wir gemeinsam in meiner Krimireihe »Unter anderen Umständen« die Folge »Böse Mädchen« gedreht. Ulrike spielte die Mörderin, die ihre Töchter vor einem übergriffigen Vater schützt. Das war harter Tobak, und so saßen wir abends am Filmset, schwätzten schwäbisch und hatten große Lust nach einem humorvollen Ausgleich. Wir waren uns einig, in unserem Landstrich fehlte eigentlich nur eines. Der Beweis, dass wir Schwaben auch Komödie können. Und nicht in den Keller steigen, um zu lachen. Dann hörte ich eine Weile nichts mehr von ihr. Jetzt sagte sie: »Das Drehbuch ist fertig.« Eine Komödie, wie angekündigt. Eine ganz besondere Komödie. Die ganz und gar in unserer Heimat spielen soll, von unserer Heimat erzählen wird, geradezu verwurzelt war mit unserer Heimat. Programmatisch war schon der Titel: »Die Kirche bleibt im Dorf.«

»Ond? Bisch dabei?«, fragte Ulrike. Natürlich sagte ich zu. Was eine Entscheidung mit Folgen war. Eine davon ist, dass ich hier sitze und schreibe. Um Ihnen zu erzählen, wie nach 30 Jahren aus Heimatfrust Heimatlust wurde.

Ausgerechnet eine Kirche, die im Dorf bleiben sollte, sorgte für die Wandlung. Doch da sind wir schon mittendrin in der Geschichte …

DIE SAUERBRUNNENSTADT

Heimat ist unsere Sprache und ein Kulturkreis, in dem ich mich verstanden fühle.

Frank-Walter Steinmeier

Ich kam an einem Donnerstag zur Welt, am 7. September 1967, in der Sankt-Anna-Klinik von Bad Cannstatt, der alten württembergischen Sauerbrunnenstadt mit ihren 19 Mineralquellen, in denen schon die Römer badeten. Vor den Resten der Stadtmauer floss der Neckar, in dem meine Großmutter Johanna in jungen Jahren gerne geschwommen war. Flussaufwärts bei Untertürkheim sprang sie ins Wasser und kraulte mit kräftigen Zügen zurück. Damals, so erzählte sie mir später, kam es ihr vor, als könnte man inmitten von Auen und kleinen Flussinseln noch die Reime von Schiller, Hölderlin und Schubart vernehmen, die den Fluss auf ihre Weise besungen haben. Anders als Donau und Rhein, die meine Heimat stets mit dem fernen Meer vor Augen durcheilen, nimmt sich der Neckar Zeit. Er schlängelt sich durchs Land, lässt bis hinab zu seinen Ufern vollmundige Weine gedeihen, gibt stolzen Städten einen Namen: Rottweil am Neckar, Horb am Neckar, Rottenburg am Neckar, Tübingen am Neckar, Cannstatt am Neckar, Marbach am Neckar, Heidelberg am Neckar. Nur Stuttgart liegt nicht am Neckar. Stuttgart liegt am Nesenbach, einem seichten Rinnsal, das man vor lauter schlechtem Gewissen vergraben hat. Verbuddelt, wie man hierzulande sagt, denn das tut man gerne. Über vieles, was nicht ansehnlich ist, zumindest in den Augen der Leute, die das Sagen haben, wird Erde gehäuft. Egal, ob es sich um politische Skandale oder Bahnhöfe handelt.

Der Nesenbach entspringt den Honigwiesen in Vaihingen, aber das war’s dann auch schon mit der Herrlichkeit. Die restlichen 13 Kilometer seines Lebens verbringt die ehemalige Lebensader Stuttgarts in unterirdischen Rohren und mündet von dort direkt in die Kläranlage von Mühlhausen. Wir in Cannstatt beobachteten dieses Verbuddeln stets voller Misstrauen. 1905 wurden wir eingemeindet, doch in den Augen vieler hätte es anders herum sein müssen. Schließlich wurde Cannstatt bereits im Jahr 700 urkundlich erwähnt, da tat sich auf der anderen Seite des Neckars noch lange nichts. Erst 200 Jahre später gründete Herzog Liudolf von Schwaben im sumpfigen Talkessel eine Pferdezucht, den Stuotengarten, das spätere Stuttgart. Auch sonst hatte man in Cannstatt die Nase vorn. Im 18. und 19. Jahrhundert stieg man zu einem der beliebtesten Kurorte Europas auf, in dem es sich russische Fürsten, amerikanische Wirtschaftsbosse, französische Dichter und englische Lords gut gehen ließen. In den Privatschulen tummelten sich damals schon Kinder aus 20 Nationen, während draußen Württembergs erste Eisenbahn verkehrte und sich das Antlitz der Erde änderte, als Gottlieb Daimler das Auto erfand. Der geniale Konstrukteur fuhr mit dem ersten Motorrad der Welt durch mein Städtle und mit dem ersten Motorboot über den Neckar. Die weltweit erste motorisierte Straßenbahn verkehrte zwischen dem Kursaal und dem Wilhelmsplatz, gleich um die Ecke meines Geburtshauses, und wem das alles nicht genügte, für den erhob sich eines der weltweit ersten Luftschiffe vom Cannstatter Seelberg hoch in die Lüfte. Da war das ehemalige Pferdegestüt Stuttgart längst Residenz geworden, und damit wichtig. Das hatte ein Herzog namens Eberhard im Bart eingefädelt, zu dessen Hochzeit mit Barbara Gonzaga von Mantua 14.000 Gäste gekommen waren, die aßen und tranken, als ob es kein Morgen gäbe. So viel dazu, dass Schwaben knausrig sind. Gibt es etwas zu feiern, drehen wir den Cent nicht um.

Verena und Natalia in Bad Cannstatt, 1967

© Privatarchiv Natalia Wörner

So wurde ich in einen geschichtsträchtigen Ort hineingeworfen, der mir Tradition und Heimatgefühl für ein Leben umgeben von alten Mauern hätte schenken können. Doch da war noch meine Familie, zusammengewürfelt aus aller Herren Länder, vom Schicksal gebeutelt, doch immer mutig und tollkühn, um sich nicht unterkriegen zu lassen. Später wurde mir klar, wie sehr sie dem Land ähnelt. Dieses Baden-Württemberg, das stets ein Durchzugsland gewesen ist, ein melting pot würden die Amerikaner sagen, ein Gaisburger Marsch die Schwaben. Daher ist auf diesem Boden nichts lachhafter als Fremdenhass. Schlägt man das große Buch der schwäbischen Geschichte auf, gefiel es hier den Kelten, den Römern, den Alemannen, den Staufern und Zähringern, den Habsburgern und Franken. Italienische Gastarbeiter kamen bereits im 18. Jahrhundert über die Alpen, und auch sie hinterließen mehr als Schlösser und Eisenbahnviadukte. Auch die Schwaben selbst zog es hinaus in die Welt: die Donauschwaben bis ins Banat, die Schwarzwälder Uhrenträger durch ganz Europa. Wer nach Schwabens Grenzen sucht, wird keine finden, denn seine Dialekte spricht man in Württemberg, Baden, Bayern, dem Elsass, der Schweiz, in Liechtenstein, am Vorarlberg bis nach Tirol. Deshalb tat man sich hier schwer, so etwas wie ein Land zu gründen. Preußen und Österreich waren längst Superstaaten in Europa, als das heutige Baden-Württemberg noch immer ein Flickenteppich aus Miniländern, Reichsstädten und Klosterbesitzungen war. Wollte man von Schiltach im Schwarzwald am Fluss Kinzig entlang nach Kehl reisen, eine Strecke von 70 Kilometern, durchquerte man die stattliche Anzahl von acht verschiedenen Ländern: Schiltach war württembergisch, das zehn Kilometer entfernte Wolfach gehörte bereits zum Hause Fürstenberg. Als Nächstes kam der Reisende in die Herrschaft Geroldseck, dann durch die Reichsstadt Zell am Harmesbach, anschließend durch die Reichsstadt Gengenbach. Dann betrat er die österreichische Landvogtei Ortenau, während kurz vor der Mündung in den Rhein das Örtchen Willstädt hanauisch war. Kehl wiederum war badisch. Zwischen all den Regentschaften gab es Grenzen, Zölle, Aus- und Einfuhrbestimmungen. Wie fühlte sich Heimat an, wenn man gleich hinter der eigenen Stadtmauer Ausland betrat? Mit dieser Historie in den Genen entwickelt man keinen überbordenden Nationalstolz.

DAS VIER-GENERATIONEN-FÜNF-FRAUEN-HAUS

Meine Heimat hab ich früh gelernt mitzunehmen. Den Schatz meiner Herkunft in mir zu speichern als Tankstelle bei notwendigen Infusionen, um in der Fremde das aufkommende Fremdsein zu beruhigen. Es sind Bilder, Gerüche, Klänge aus der Kindheit, die nach wie vor meine Seele nähren: Ein leicht gewellter, tiefgrüner Bergsee, der hämmernde Frühlingsbotenruf des Spechts, das nach Honig duftende Löwenzahnmeer hilft im Alltagsdschungel immer.

Herbert Knaup

Meine ersten Kindheitserinnerungen spielen nicht rund um das Schloss Rosenstein oder den Tierpark Wilhelma, auch nicht um die Weinberge oder den Neckar – wenn ich tief in meinem Gedächtnis stöbere, sehe ich eine Strandbar in Spanien. Davor ein weiter Platz, sonnenbeschienen und menschenleer. Es muss in Palamós gewesen sein, damals der Sehnsuchtsort meiner Eltern. Ich war knapp drei Jahre alt, saß neben meiner Schwester Verena, mein Blick schweifte umher, und da sah ich ihn: Ein Papagei hockte oben im Gebälk der Bar. Er hatte ein grünes Gefieder mit gelben Streifen und schaute direkt zu mir herab. Dann sagte er: »Wer hat von meinem Bier getrunken?« Ich erinnere mich, wie aufgeregt ich wurde. Schon wiederholte er: »Wer hat von meinem Bier getrunken?«, und erst jetzt merkte ich, es war gar nicht der Vogel, der da sprach, sondern mein Vater, mit verstellter Stimme in perfektem Papageisch: »Wer hat von meinem Bier getrunken?«

»Ich!«, antwortete ich laut und deutlich. »Ich war’s!«

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte man selten etwas von mir gehört. Ich sprach wenig, und wenn ich es doch tat, klang es leise und verhalten. Doch in diesem Moment kam mein »Ich« klar und mit Verve. War es ein Vorbote auf das, was kommen sollte? Ich würde noch viel »Ich« benötigen, um in einem Haushalt, in dem das Matriarchat herrschte, wahrgenommen zu werden. Bald schon sollte ein Kater namens Charlie der einzige männliche Mitbewohner sein.

Damals, in Andalusien, zelebrierten meine Eltern noch Gemeinsamkeit, obwohl ihre flammende Liebe bereits am Erlöschen war und die Trennung unausweichlich. Sie hatten sich wenige Jahre davor an der Technischen Hochschule Stuttgart kennengelernt, wo beide Architektur studierten. Es war im Jahr 1961 gewesen, in der Zeit, als eine der dreistesten Lügen der deutschen Geschichte kursierte: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten«, hatte der Staatsratsvorsitzende der DDR, Walter Ulbricht, auf die Frage der Journalistin Annamarie Doherr geantwortet. Zwei Monate später war die Täuschung enttarnt worden, mit direkten Folgen für das Leben meines Vaters. Ein Jahr zuvor hatte man ihn zur Bundeswehr einberufen, die es gerade mal fünf Jahre gab. Der deutschen Wiederbewaffnung waren enorme innenpolitische Auseinandersetzungen vorausgegangen, doch die kommunistische Gefahr aus dem Osten schien Kanzler Konrad Adenauer groß genug, um die Sache durchzusetzen. Mit den ersten 101 freiwilligen Bundeswehrsoldaten, die am 12. November 1955 vereidigt wurden, ließ sich die Heimat allerdings nicht verteidigen. Rasch wurden ganze Jahrgänge eingezogen, darunter der meines Vaters. Damit war es aber nicht getan: Als Ulbricht die Mauer errichten ließ und am Berliner Checkpoint Charlie Kampfpanzer der amerikanischen und sowjetischen Armee aufeinander zurollten, wurden diese Jahrgänge »zwangsweiterverpflichtet«. Ein Wort, das es nur in der deutschen Sprache geben kann. Zwangsweiterverpflichtung. In der Konfrontation des Kalten Krieges war sie noch das kleinste Opfer, das ein Mann für seine Heimat bringen konnte. Genauso hätte er das auch gesehen, erklärte mir mein Vater später. »Die Wehrdienstverweigerung war ein Kanon der Lügen. Das fand ich völlig schäbig.«

So wurde er von heute auf morgen vom Artilleristen zum Fallschirmjäger umfunktioniert, spezialisiert auf Gefangenenverhöre, und nach Altenstadt bei Schongau abkommandiert, in den Wahlkreis des späteren bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß. Dabei war er längst an der Technischen Universität eingeschrieben und sollte sich eigentlich mit Städtebau statt Städtezerstörung beschäftigen.

»Am Ende sorgte die Uni dafür, dass ich aus der Bundeswehr rauskam«, erzählte er. »Wie genau sie das angestellt haben, weiß ich nicht. Doch gab es auch Kräfte, die gegen ein Deutschland unter Waffen waren.«

Damit geschah, was niemals geschehen wäre, hätten sich die Militärs durchgesetzt. »Am ersten Tag an der Uni stand ich vor einer Tafel«, erinnerte sich mein Vater. »Dahinter sah ich zwei Füße. Ich habe gleich gewusst, wem die gehörten. Diese Füße hatte ich in Cannstatt gesehen, in der König-Karl-Straße, immer in Bewegung, immer eilig. Es waren die deiner Mutter.«

Füße, die den freien Lauf suchten, Füße, die wegwollten. Die wurden dann an mich vererbt, doch davon war jetzt noch keine Rede. Erst kam es zu einer heißen Romanze mitten im Kalten Krieg, zu Flammen, die aufloderten und alles in Licht tauchten, sogar eine gemeinsame Zukunft. Ein paar Monate später folgte die Hochzeit, weil sich meine Schwester Verena ankündigte. Dass meine Mutter anschließend durchs Vordiplom rasselte, hatte mit anderen Dingen zu tun. Sie lag mit einem Assistenten der Universität über Fragen der Baukonstruktion im Streit, und das war seine Art, ihr zu zeigen, wo d’ Barthel d’ Moschd holt, wie man so etwas im Schwäbischen sagt. Auch ein Erbe, das ich in die Wiege gelegt bekam. Nie klein beizugeben, wenn es um die Sache geht, auch wenn die Konsequenzen bedeutend sind.

Als meine Mutter mit mir aus Sankt-Anna entlassen wurde, kehrte sie in die Kreuznacher Straße zurück, was seit Langem und bis heute der Wohnsitz unserer Familie ist. Um die Ecke lag der Cannstatter Kurpark, der sich zwischen Daimlerstraße und Banatstraße erstreckt. In meiner Kindheit war mir natürlich nicht bewusst, welch ein Privileg es in der Großstadt bedeutet, einen viele Quadratkilometer großen Park direkt vor der Haustür zu haben. Lange Jahre war er mein Abenteuerspielplatz, den ich als Anführerin meiner Bande von Nachbarskindern tagtäglich durchstreifte. Unser Hauptquartier war eine Höhle hinter Thermalbad und Kursaal, mitten im Park gelegen. Von dort war man in wenigen Schritten bei der Konzertmuschel, eine der wenigen, die noch ganz aus Holz gebaut ist. Sonntagmittags fanden hier Jazzkonzerte statt. Ich pilgerte mit meinem Vater hin und genoss die Zeit, die wir miteinander verbringen konnten. Da hatte sich die Trennung meiner Eltern bereits vollzogen, Vater war ausgezogen, hatte auf der anderen Seite des Kurparks eine Wohnung gefunden, wo sich auch sein Architekturbüro befand. Er war weder aus den Augen noch aus dem Sinn, denn offenbar war die Anziehungskraft der Familie groß genug, um ihn nicht in die Welt zu entlassen. Das kam ein paar Jahre später, als er die alte Heimat verließ, Cannstatt, Stuttgart, Baden-Württemberg, um an anderen Orten sein Glück zu finden.

So wurde das Haus meiner Kindheit und Jugend zum Haus der Frauen, bar aller männlichen Mitbewohner, sieht man von dem Kater Charlie ab, der kastriert nicht mehr zum Machotum taugte. Ich wuchs also im Matriarchat auf, in einem Reich der Frauen, voller weiblicher Werte, weiblichen Glücks und weiblicher Ängste. Einige Jahre lang erlebte ich diese besondere Lebensform sogar im Viergenerationenhaus. Unten im Erdgeschoss residierte Uroma Moni, einen Stock darüber Großmutter Mata, Monis Schwiegertochter, zusammen mit meiner Mutter und uns beiden Schwestern. Das Sagen hatte Uroma Moni. Sie war die Königin des Hauses, bis ich mit zunehmendem Alter ihre Alleinherrschaft anfocht. Ohne es zu ahnen, stachelte sie mich dazu an, weil sie das Potenzial in mir spürte, Grenzen zu überschreiten. Das wollte sie fördern, auf ihre Weise, indem sie mich herausforderte. So hatte sie selbst gelernt zu leben: sich allen Aufgaben mit Hurra zu stellen. Und von denen hatte es für sie genug gegeben.

DIE FRAU AUS KIEW

Heimat bedeutet für mich Freundschaft und ein schönes Zuhause. Dieses Zuhause ist in meinem Herz.

Jacob Lee Seeliger, neun Jahre

Mein Auftritt im ZDF-Dreiteiler »Tannbach« ist kurz: Zum Ende des Zweiten Weltkriegs rücken Amerikaner ins Dorf Tannbach ein, dessen Name frei erfunden ist, doch an ein reales Vorbild angelehnt wurde, dem Ort Mödlareuth zwischen Bayern und Thüringen. Die Gemeinde wurde 41 Jahre durch die innerdeutsche Grenze geteilt, was ihr den Namen »Little Berlin« eintrug. In »Tannbach« spiele ich die Gräfin Caroline von Striesow, deren Mann Georg an der Front desertiert ist und sich verborgen hält. Als das rauskommt, weigere ich mich, sein Versteck preiszugeben, worauf mich ein noch immer vom Endsieg überzeugter Nazi hinrichten lässt.

Nach meinem Filmtod wird erzählt, was in Geschichtsbüchern lückenhaft abgedeckt ist. Die Amerikaner ziehen ab, dafür kommen Russen. Sie vergewaltigen Frauen, erschießen Einwohner, etablieren ihr politisches System. Dann wechseln auf beiden Seiten der neuen Grenze Altnazis flugs die Uniform, schlüpfen nahtlos in neue Ämter. Bei der Aktion »Ungeziefer« werden Menschen ohne Rücksicht zwangsumgesiedelt, Familien auseinandergerissen. Von einem menschlichen Sozialismus, auf den nach dem Sündenfall des Tausendjährigen Reiches viele ihre Hoffnung setzten, ist nichts zu spüren. In diesem Film geht es um Schuld, Sühne und Heimat, drei Begriffe, die nicht voneinander zu trennen sind. Die Heimat der Menschen von Tannbach wird durch die Grenze zwischen den deutschen Staaten geteilt: Auf der einen Seite herrscht von nun an der Kommunismus, auf der anderen Seite der Kapitalismus, hier Ostblock, dort Westen. Selten ist ein Heimatkonflikt eindringlicher gezeigt worden und die Hilflosigkeit derer, mit diesem Schicksal fertig zu werden. Für mich war es nicht leicht, die Rolle der Gräfin an der Seite von Heiner Lauterbach als Georg zu spielen, da eine persönliche Erinnerung geweckt wurde. Auch der Vater meiner Mutter hieß Georg. Er fiel zum Ende des Zweiten Weltkriegs auf rätselhafte Art und Weise, und Gerüchte und Wahrheit vermischten sich in den Erzählungen über ihn. Wahrscheinlich wurde er von rumänischen Widerstandskämpfern getötet, doch niemand weiß Genaues. Damit setzte ich mich während der Dreharbeiten auseinander und gleichzeitig mit der Frage, was Heimat an dieser willkürlich gezogenen deutsch-deutschen Grenze bedeutete.

In Mödlareuth und anderen Orten nahe der Mauer und des Todesstreifens prallten zwei verschiedene Lebensentwürfe aufeinander. Mir fiel eine Geschichte ein, die sich im Mittleren Schwarzwald zugetragen haben soll. Lange Zeit gehörte dieser Landstrich zu Österreich, wurde dann von Napoleon dem Königreich Württemberg zugeschlagen und kam nach einem Gebietstausch zum Herzogtum Baden. In einem Bauernhaus auf der wechselvollen Grenze änderte sich dadurch von Generation zu Generation die Konfession. Mal war man katholisch, mal evangelisch, dann wieder katholisch. Wenn Heimat nicht nur bedeutet, an einem Ort zu leben, sondern die Möglichkeit bietet, diesen zu gestalten, wirft Mödlareuth und der Schwarzwaldhof die Frage auf, welchen Einfluss wir überhaupt nehmen.

Ich erinnerte mich an die Erzählungen von Uroma Moni, die Ähnliches 2000 Kilometer weiter östlich in Kiew erlebte. Oder sollte ich Kyjiw schreiben, wie es in der Ukraine üblich ist, oder die russische Schreibweise Kijew verwenden, schließlich gilt diese Stadt seit der Zeit der Kiewer Rus als Mutter aller russischen Städte? Manche, die über Kiew berichten, ziehen die polnische Orthografie vor, weil die Stadt am Dnjepr im Mittelalter das Zentrum des Vielvölkerstaates Polen-Litauen war, in dem eine außergewöhnliche Religionsfreiheit herrschte, der viele noch heute nachtrauern. Heimatgefühl beginnt damit, welcher Sprache wir uns bedienen. Für Uroma Moni war das eine zentrale Frage: Ihr Vater, ein bedeutender Kaufmann namens Kommerell aus Tübingen, war 1879 mit seiner Frau nach Kiew ausgewandert. Dort gründeten sie einen großbürgerlichen russisch-schwäbischen Haushalt, in dem die Sprache stets Stimmungen unterworfen war.

Ähnliches sollte ich Jahrzehnte später selbst erleben. Stritt sich meine Großmutter mit meiner Mutter, wechselten die beiden vom Deutschen ins Französische, schließlich sollten meine Schwester und ich nicht mitkriegen, welche Laus ihnen über die Leber gelaufen war. So wurde Französisch für mich zur Sprache des Streits. Erst in der Zeit, als ich selbst in Paris lebte, lernte ich sie auch als Sprache der Liebe kennen.

In Kiew begann Moni mit der Arbeit an einem kulinarisch-sinnlichen Kochbuch, das zum Schrecken ihrer Nachkommen werden sollte. Niemand von uns verstand es, ihre blumigen Andeutungen uralter Kochrezepte in handfeste Anweisungen umzudeuten. Russische und deutsche Worte wechselten sich munter ab, bei den Mengenangaben war abwechselnd von Gramm und Kilos die Rede, dann wieder von Pud und Berkowitz.

Als Moni Cannstatt längst zu ihrer neuen Heimat auserkoren hatte, wanderte das Kochbuch von einem Regal zum anderen, wurde immer wieder hervorgekramt und kopfschüttelnd zurückgestellt, bis es irgendwann auf geheimnisvolle Weise verschwand, und damit die Erinnerung an eine Heimat, die keiner von uns kannte. Wie Moni nach Deutschland gekommen war, darüber sprach sie nur ungern. Ihre älteren Schwestern Klara und Susanne hatten Ukrainer geheiratet, was sie unter Stalins Diktatur verdächtig machte. Zusammen mit dem Vater wurden sie 1915 nach Sibirien verschleppt, wo sich die Spur der Frauen verlor. Der Vater kam drei Jahre später durch einen glücklichen Umstand frei und floh mit Moni in den Westen. Zunächst verschlug es die beiden nach Friedrichshafen am Bodensee, damals schon eine bedeutende Industriestadt mit dem Luftschiffbau von Ferdinand von Zeppelin, der Luftfahrzeug-Motorenfabrik von Wilhelm Maybachs ältestem Sohn Karl, der Zahnradfabrik und den Dornier-Werken. Hier hatte Moni keinesfalls vor, das Leben einer Dulderin zu führen. Ihren langen Zopf schnitt sie ab, noch bevor sie ihren Mann kennenlernte, der den Namen Felix trug, ihm jedoch wenig Ehre zu machen verstand, da er alles andere als »vom Glück begünstigt« war.