Heimito von Doderer - Lutz-W. Wolff - E-Book

Heimito von Doderer E-Book

Lutz-W. Wolff

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Beschreibung

Heimito von Doderer (1896-1966), zeitlebens ein Außenseiter, ein Mann der «bewußten Debauche» und der subtilen psychologischen Wahrnehmung, ist ein Kronzeuge der österreichischen Selbstfindung. Getrieben von den widerstreitenden Kräften, die auf die Erste Republik einwirkten, vollzog er Mitte der 1930er Jahre eine schmerzliche politische Wende und legte schließlich mit der «Strudlhofstiege» die Fundamente für das «übernationale Nationalbewußtsein Österreichs». Die unvergleichliche Aura Wiens, die er in seinen Romanen bewahrt hat, kennzeichnet das Lebensgefühl des bürgerlichen Großstadtbewohners im 20. Jahrhundert.   Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Seitenzahl: 212

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Lutz-W. Wolff

Heimito von Doderer

 

 

 

Über dieses Buch

Heimito von Doderer (1896–1966), zeitlebens ein Außenseiter, ein Mann der «bewußten Debauche» und der subtilen psychologischen Wahrnehmung, ist ein Kronzeuge der österreichischen Selbstfindung. Getrieben von den widerstreitenden Kräften, die auf die Erste Republik einwirkten, vollzog er Mitte der 1930er-Jahre eine schmerzliche politische Wende und legte schließlich mit der «Strudlhofstiege» die Fundamente für das «übernationale Nationalbewußtsein Österreichs». Die unvergleichliche Aura Wiens, die er in seinen Romanen bewahrt hat, kennzeichnet das Lebensgefühl des bürgerlichen Großstadtbewohners im 20. Jahrhundert.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Vita

Lutz-W. Wolff wurde 1943 in Berlin geboren, wo er heute wieder lebt. Er studierte in Frankfurt am Main, Bonn und Tübingen und promovierte 1969 mit einer Arbeit über Heimito von Doderer («Wiedereroberte Außenwelt»). Er war von 1969 bis 2010 Lektor, Redakteur und Verlagsleiter in München, Frankfurt, London und Köln und übersetzte unter anderem Werke von Kurt Vonnegut, F. Scott Fitzgerald, Oscar Wilde, Jack London und George Orwell. 

Impressum

rowohlts monographien

begründet von Kurt Kusenberg

herausgegeben von Uwe Naumann

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juli 2023

Copyright © 1996 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Für das E-Book wurde die Bibliographie aktualisiert, Stand: Juli 2023

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten

Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier

Covergestaltung any.way, Hamburg

Coverabbildung ullstein bild – brandstaetter images (Heimito von Doderer im Café Hawelka, Wien 1963. Foto von Franz Hubmann)

ISBN 978-3-644-01779-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Das Stammhaus (1896–1920)

«Es bestehen Anhaltspunkte für die Vermutung, daß er nichts dagegen gehabt hätte, als österreichischster Dichter Österreichs bezeichnet zu werden», hat Friedrich Torberg gesagt.[1]Seine Augen standen etwas schräg und die Backenknochen waren irgendwie magyarisch oder zigeunerisch.[2] Er war stolz auf seine entfernte Verwandtschaft mit Nikolaus Lenau und verbrachte sechzig seiner siebzig Lebensjahre in Wien. Seiner Herkunft nach war Franz Carl Heimito Ritter von Doderer allerdings eher ein Deutscher und hat sich – ganz bescheiden – auch erst in späten Jahren als gelernten Österreicher bezeichnet.[3]

Sein Großvater war der Architekt Karl Wilhelm Doderer (1825–1900) aus Heilbronn am Neckar, der Bauten für das k.u.k. Militär geschaffen, 1853 die österreichische Generalstochter Maria von Greisinger geheiratet und seit 1866 an der Technischen Hochschule Wien gelehrt hatte und 1877 vom Kaiser mit dem erblichen Adel belohnt worden war. Doderers Vater, der in Znaim geborene Oberbaurat Wilhelm von Doderer (1854–1932), hatte sich als Ingenieur schon bewährt, als er 1881 die Tochter seines Chefs, des kgl. bayrischen Baurats Heinrich von Hügel, heiratete und sich 1891–1895 beim Bau des für das Deutsche Reich strategisch so wichtigen Kaiser-Wilhelm-Kanals auszeichnete. 1896, mit 42 Jahren, schickte er sich an, als Prinzipal der Wiener Bauunternehmung Doderer & Göhl & Sager in der dynamisch sich entwickelnden Donaumonarchie zum schwerreichen Manne zu werden.

Nicht dazu passen wollte allenfalls das Haus der Familie im III. Wiener Bezirk (Stammgasse 12), wo es zur Donau hin dunkle Straßen und eine wenig anziehende, plumpe Prostitution gab. Der Grund war einfach: Das Haus hatte 1882 sein Vater Karl Wilhelm erbaut, zusammen mit Max von Ferstel, dem Sohn des Architekten Heinrich von Ferstel. Dieses düstere Stadthaus, ursprünglich am grünen Rande des Praters gelegen, jedoch bald von nichts weniger als freundlichen Gassen der wachsenden Stadt allseitig eingemauert, hatte vier Stockwerke; deren unterstes bewohnte bis zu ihrem Ableben die Großmutter des Hauses, eine Architektens-Witwe. Der erste Stock enthielt nur Gesellschaftsräume und das Arbeitszimmer des Vaters; der zweite Stock die Schlafzimmer. Vom dritten Stock genügt es auszusagen, daß er von einer verwandten Architektenfamilie bewohnt war. Architekten über Architekten, denn der Vater Renés war ursprünglich auch ein Architekt gewesen, bevor er angefangen hatte, Eisenbahnen zu bauen. Der Chef der Familie im dritten Stock aber war mit der Schwester von Renés Mutter verheiratet […]. Eine schon recht weitgehende Verquickung von Genealogie und Baukunst bei gesteigertem und zum Teile sogar höchstgesteigertem Selbstbewußtsein.[4]

Nach der Einweihung des Nord-Ostsee-Kanals und der Rückkehr der Familie aus Schleswig-Holstein im Jahre 1895 war Wilhelm von Doderer mit der Regulierung des Wienflusses und dem Trassenbau für die Stadtbahn beschäftigt. Um die Bauarbeiten besser überwachen zu können, hatte er das kleine Laudon’sche Forsthaus in Hadersdorf-Weidlingau gemietet, und hier wurde am 5. September 1896 der jüngste Sohn, Franz Carl Heimito, geboren. Seine Konfession bestimmte – wie damals üblich – die aus einer rein protestantischen Familie stammende Mutter, und so wurde er am 24. Oktober evangelisch getauft, während sein Vater, trotz seiner ganz überwiegend protestantischen Vorfahren, um der Generalstochter willen katholisch getauft worden war.

Doderers Geburtsjahr bezeichnet politisch das Ende der liberalen Wiener «Ringstraßenzeit», in der auf dem Gelände der alten Stadtbefestigungen große öffentliche Gebäude im «historischen» Stil (darunter durch Doderers Großonkel, den Architekten Heinrich von Ferstel, die Universität und die Votivkirche) errichtet worden waren. Fortan regierte der tatkräftige christlich-soziale, aber auch notorisch antisemitische Bürgermeister Dr. Karl Lueger.

Als Doderer zur Welt kam, hatte seine Mutter, Wilhelmine Louise (geb. von Hügel, 1862–1946), seinem Vater schon fünf andere Kinder geschenkt: Ilse (1882–1979), Almuth (1884–1978), Immo (1886–1975), Helga (1887–1927) und Astri (1893–1989). Dass auf dem jüngsten, dem zweiten Sohn, große Hoffnungen ruhten, versteht sich. Daran änderte auch der merkwürdige, vom spanischen «Jaime» abgeleitete Kosename «Heimito» nichts, den seine Mutter bei einem Urlaub in San Sebastián gehört haben soll. Zwar überließ man den Kleinen alsbald einer slowakischen Amme, was dazu führte, dass Heimito zunächst nur «böhmakeln» lernte, aber bei der weiteren Ausbildung wurde an nichts gespart. Im Alter von sieben und von acht Jahren ließ man den hübschen Knaben mit den auffällig großen, wachen Augen porträtieren, einmal im Aquarell und einmal in Marmor – aus vermutlich patriotischen Gründen im flotten Matrosenanzug. Mit zehn gab es Ferien auf Norderney in Begleitung der Eltern. In der Staatsoper hatte man eine Loge[5], erster Rang Nr. 12.

Von 1902 bis 1906 besuchte Doderer die fortschrittlich geführte «Übungsschule der k.k. Lehrerbildungsanstalt» und danach das humanistische Staatsgymnasium, beide im gleichen Gebäudekomplex zwischen Kundmann- und Rasumofskygasse im III. Bezirk. Privat erhielt er Unterricht in Englisch und Französisch und lernte obendrein Cello. Weil er trotz hervorragender Gedächtnisleistungen und manchmal überraschender Kenntnisse, mit denen er Lehrer wie Freunde der Eltern verblüffte, wegen einer gewissen Arroganz und Aufsässigkeit nur ein mittelmäßiger Schüler war, gab man ihm einen Hauslehrer bei: Albrecht Reif, der starke homosexuelle Neigungen hatte und sich offenbar sehr bemühte, den jungen Mann zu verführen.[6]

Der Vater war mit großen Projekten beschäftigt, dem Bau der Tauern- und der Karawankenbahn (1901–1909) etwa, die nicht nur wirtschaftlich bedeutsam waren, sondern auch die Verbindung nach Bosnien, zu den Adriahäfen und zum Suezkanal sichern sollten. Dort tobten seine Mineure in den vorgetriebenen Stollen […]: da brach das Wasser ein, dort mußte der Fels durch Futtermauern gestützt, hier wieder gesprengt werden. Und so sprang er aus dem Wagen, voll Begier seinem Ziel und seinem Werk entgegen, die schönen Schultern aufwerfend, und wie ein edles Pferd voll nervöser Kraft und das Antlitz so gespannt von Gedanken, daß es zornig aussah: dieser Promethiden-Sohn eines neuen österreichischen Zeitalters. Und er wollte leidenschaftlich, daß dort die Züge fahren sollten, […] ein Knabentraum kältesten Feuers […].[7] Ein willensstarker Mann, dieser Vater. Er besaß wie manche nach außen gerichtete Personen von mächtiger Energie, Arbeitskraft und Erwerbsfähigkeit […] so etwas wie eine starke Raumverdrängung auch in seelischer Hinsicht, ein Anbranden gegen den anderen Menschen und ein Übergreifen auf ihn.[8] Die Mutter, so schien es Doderer lange, war eine Kreatur ihres Mannes, den sie anbetete, und zwar kritiklos[9]. Dass sie alle künstlerischen Bemühungen ihrer Kinder bedingungslos unterstützte, lernte er allerdings später (in den dreißiger Jahren) schätzen. Die von ihr geschriebenen Dramen waren die Hauptattraktion des «Stammhaus-Theaters», bei dem Familienmitglieder und Freunde mitspielen durften. 1903 erbauten die Eltern den «Riegelhof» in Prein an der Rax, der für den sportbegeisterten Doderer und seine Schwester Astri zum ewigen Ferienparadies werden sollte.

Sechs Tage vor Doderers Reifeprüfung am 4. Juli 1914 fielen in Sarajevo die Schüsse auf den österreichischen Thronfolger, die den Ersten Weltkrieg auslösten. Für Doderer, der sich einigermaßen zufällig fürs Jurastudium entschieden hatte, brachte der Kriegsausbruch das Ende der ersten Jugend. Im April 1915 ging er als «Einjährig-Freiwilliger» zum 3. Dragonerregiment in der Breitenseer Kaserne, wohnte aber, wie es damals noch üblich war, zusammen mit Kameraden in einem Privatquartier außerhalb der Kaserne.[10] Nach der Grundausbildung kam er im Juli 1915 an die Reserveoffiziersschule der k.u.k. Kavallerie in der Nähe des slowakischen Dorfes Holič, wo er den Einjährigfreiwilligen Ulanen Ernst Pentlarz kennenlernte, den kleinen E.P. aus der Strudlhofstiege. Zum ersten Mal hatten er und Stangeler im Jahre 1915 miteinander gesprochen, in einem niedrigen Hause am Eingang eines slowakischen Dorfes, an welchem Hause man, sommers vom Exerzierplatz kommend, fast immer in schwerem Durste vorüberritt. […] E.P. stand am Fenster, weil seine Eskadron um etwa eine halbe Stunde früher einzurücken pflegte als jene, in der René ritt und die nun im Schritt vorüberkam. Stangeler, der am linken Flügel einer Reihe mit Vieren eingeteilt war, dankte für den Gruß und winkte aus dem Sattel. E.P. verzog das Gesicht zu einem kleinen Lächeln. Das Weiße seiner Augen war nicht ganz rein, in diesem mandelförmigen Schnitt stand eine Trübung, die seltsamerweise ein Element seiner Anmut ausmachte.[11] Es folgten die damals schon unvermeidliche infanteristische Zusatzausbildung in Bruck an der Leitha und im Herbst 1915 die Rückkehr nach Wien. Mitte Januar 1916 ging Doderer an die südostgalizische Front ab, über die Anfang Juni die «Brussilow-Offensive» hereinbrechen sollte.

Mochte Doderer sich als Sproß aus besserem, adligem Hause auch zur Kavallerie gemeldet haben, in russische Gefangenschaft geriet er, zusammen mit 270000 anderen Österreichern, zu Fuß. Vermutlich im Schützengraben irgendwo außerhalb des galizischen Dorfes Olesza wurde Doderers Einheit (die XX. Kompanie des Infanterieregiments 57) am Nachmittag des 12. Juli 1916 von der 3. turkestanischen Schützendivision überrannt. Sein unverwundetes Hervorgehen aus dem Geschosshagel und den Massenkämpfen hat er noch Jahrzehnte später als Wunder empfunden.[12]

Die Gefangenschaft war für die Offiziere zunächst recht kommod. Im Abteil IV. Klasse ging es mit der Transsibirischen Eisenbahn über Samara, Ufa, Omsk, Irkutsk und Tschita nach Krasnaja Rjetschka bei Chabarowsk, nur zweihundert Kilometer entfernt vom Pazifik. Dabei erlebte Doderer eine doppelte Überraschung: Er traf nicht nur seinen Kameraden Hans von Woynarowicz aus der Infanterieausbildung wieder, sondern auch Albert Reif. Dieser höchst unwahrscheinliche Zufall bildete einen der Impulse, die Zeit der Gefangenschaft später erzählerisch zu gestalten. Das Leben in den Baracken des Lagers war vielseitig. Man lebte hier, wie’s einem grad paßte, schlief lang oder stand zeitig auf, und die Russen waren die letzten, die irgendwen störten […]. Es gab philosophische, es gab literarische Zirkel, aber […] nicht alle befanden sich nur in einer Wartezeit […]. Es gab nicht wenige unter den Gefangenen hier, welche diese Zeit in einem viel allgemeineren Sinne für eine wertvolle hielten […]: und eben deshalb, weil man allem und jedem entrückt war […].[13]

Für Doderer führte die «Entrückung» zum Schreiben, zur primären Wahl, welche die Gesinnung meines Lebens fortan bestimmte[14]. Begonnen hatte es schon in der Heimat. Am 21. Juni 1916 sei es gewesen, hat er später behauptet, bei seinem ersten und einzigen Fronturlaub auf dem «Riegelhof». Da habe er zum ersten Mal auf einem Blatt Papier ganz genau beschrieben, was er bemerkte: Zimmer, Sessel, Tisch, Beleuchtung, Geruch, das einfallende Licht, meine Gefühle, vom Zustand meiner Leibeshöhle bis zu meinen Assoziationen[15]. Extrema oder Anatomie des Augenblicks hat Doderer später solche Studien genannt. Sie sind die kleinsten Bauteile seiner Erzählkunst.

Es hat auch anderes gegeben. So heißt es 1923: Ich sah meine Aufzeichnungen von der Front durch – mit Entsetzen! Welche Pose, welch’ ein schneidiger Jargon, welches Wichtigtun mit kriegerischen Dingen – ach, genug; mir graut. […] Ich will dieses Zeug übrigens alles vernichten. Pfui![16] Auch die (ohne Doderers Wissen) überlieferten sibirischen Texte sind weniger bescheiden und realitätsnah, als Doderer später wahrhaben wollte. Sie enthalten Visionen und Träume, wollen grotesk anekdotisch, märchen- und gleichnishaft klingen. Von den Studien nach der Natur und den Innenaufnahmen, Außenaufnahmen, an die sich Doderer später erinnert, sind nur vier überliefert: Schneeschmelze im Hof, Holzschnitttexte, Dilettanten der Armut und Das Caféhaus. Dennoch sind Techniken und Motive erkennbar, die später zum Hauptwerk gehören. Faszinierend besonders, dass schon achttausend Kilometer und dreißig Jahre von der Strudlhofstiege entfernt ein Text entstanden ist, der mit den Worten beginnt: Eine halbe Stunde, nachdem Stangeler seine Matura überstanden hatte, ging er von der Hauptallee im Prater über die Stiegen zum Bootsplatz hinunter […].[17]

Im Herbst 1917 war die Idylle zu Ende. In der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober wurde das Winterpalais in Petersburg gestürmt […]. Das war der Sieg der kommunistischen […] Revolution.[18] Fünf Monate später wurde in Brest-Litowsk der Separatfrieden zwischen den Mittelmächten und der jungen Sowjetunion unterzeichnet. Damit schien die Heimkehr der Kriegsgefangenen in greifbare Nähe gerückt. Die Bolschewisten hatten kein Interesse daran, sie im Land zu behalten, hofften vielleicht sogar, sie könnten im Westen zu Propagandisten der Revolution werden. Zusammen mit vielen anderen erreichte Doderer im Frühsommer 1918 das heutige Nowosibirsk. Aber das Unglück wollte, daß die trefflich ausgerüsteten und bewaffneten Militärtransporte der tschechischen Legion, jener aus österreichischen Überläufern schon im Herbst 1914 formierten Truppe […] allüberall verteilt standen auf der riesigen Bahnstrecke […]. Diese Leute nun, deren Lage bedenklich war, wurden von den reaktionären Kreisen in den ostrussischen und sibirischen Städten, den «Weißen» benutzt, um plötzlich längs der ganzen riesigen Strecke von Wladiwostock bis an die Wolga, durch Putsch die Macht in ihre Hand zu bringen.[19] Die Gefangenen verblieben im Machtbereich Admiral Koltschaks. Statt in die Heimat kam Doderer im Frühjahr 1919 in ein großes Lager bei Krasnojarsk.

Trotzdem ging es ihm relativ gut. Mit neunzehn war er in Gefangenschaft geraten, jetzt war er zweiundzwanzig. Die Zeit war – wenn auch durch den tobenden Bürgerkrieg in Rußland gefährlich – für uns doch glücklich und reizvoll. […] Es war hell und licht und prickelnd von Zukunft, das Lager lag hoch, der sibirische Sommer ist heiß und lind zugleich, die Luft würzig von der Steppe. Wir sprangen aus Krieg, Leiden, Zusammenbruch der Heimat und Rechtlosigkeit an die sonnige Oberfläche empor wie Forellen.[20] Doderer las, schrieb, versuchte mit Gelegenheitsarbeiten ein bisschen Geld zu verdienen, trieb Sport. Das Einzige, was seine Lebensfreude ernsthaft beeinträchtigte, waren starke neuralgische Schmerzen, die er zum ersten Mal zur Zeit seiner Einrückung im Jahre 1915 kennengelernt hatte und die sich jetzt gelegentlich zu hartnäckigen Attacken auswuchsen, die sich über zehn bis zwölf Tage erstreckten.[21] Aber diese Schmerzen traten nur im Winter auf, im Sommer war das Leben leicht. Ich war ein dummer Rüpel, aber mit meinen zweiundzwanzig Jahren ein literarischer Schwerarbeiter, von einem Fanatismus, der mir heute wild und roh erscheint. Ich warf alles Fertige sofort weg, es sollte nur Übungs-Stoff sein. […] Es gab mehrere Fußballmannschaften im Lager […]. Ich spielte rechts Verteidigung (damals sagte man noch «back»). Ich war beliebt. Der Ruf «Hoppauf, Heimito!» oder «Heimito! Schuß!» wurde, im brüllenden Tone, oft gehört.[22] Und natürlich gewann der junge Mann Freunde. Zu ihnen gehörten der zehn Jahre ältere Dipl. Ing. Leutnant Rudolf Haybach (1886–1983), die Maler Erwin Lang (1886–1962) und Hans Eggenberger, A. Kunft, Ernst und Egon von Scharmitzer und Hans von Woynarowicz. Aus ihren Zeugnissen ist erkennbar, dass er eine starke Ausstrahlung hatte. So schreibt Ernst von Scharmitzer: «Mit einigem Staunen nahm ich wahr, daß mein Freund [Woynarowicz] in Doderer förmlich ein höheres Wesen sah. […] Wann immer er etwas abzugeben hatte, gab er es mit innerster Befriedigung an Doderer weiter. Wichtig, so sagte er, der Opfernde, wichtig allein sei, daß Doderer gesund nach Haus komme: er sei ein großer Dichter.»[23]

Was seine Umgebung auch hier besonders beeindruckte, war Doderers enorme Gedächtnis-Begabung. So wird berichtet, er habe zum Beispiel eine eben gelesene Erzählung Scharmitzers ohne Manuskript wortgetreu wiederholt.[24] Zwar gab es auch in Krasnojarsk ein vielfältiges Lagerleben: sechs Kaffeehäuser, zum Teile sehr behaglich, ein Theater, Bibliotheken[25], aber Doderers Geldmittel waren erschöpft. Er meldete sich, zusammen mit seinen türkischen Zimmerkameraden, zum Holzfällen. Während ihrer Abwesenheit kam es zu einem schrecklichen Massaker: Sechshundert junge russische Rekruten oben in den Kasernen beim Gorodok hatten gemeutert, die Stadt angegriffen, mit den Tschechen gefochten […]. Diese sechshundert Mann waren überwältigt worden, hatten sich auf Gnade ergeben, wurden alle hingerichtet, sechshundert Mann, auf einer Wiese geschlachtet wie Vieh. […] Neun ungarische Offiziere aus dem Lager hat man auch erschossen, im Verdacht der Anstiftung.[26] Doderer kehrte erst nach diesen Ereignissen ins Lager zurück, aber von nun an herrschte die Angst. Mit den zurückflutenden «weißen» Truppen kamen im Herbst und Winter 1919 Elend und Krankheit nach Krasnojarsk. Tausende starben am Flecktyphus.

Im Februar 1920 wurde Koltschak erschossen, und im Frühsommer war Doderer zwölfhundert Kilometer weiter westlich beim Ernteeinsatz in der Nähe von Petropawlowsk. Inzwischen hatte er freilich beschlossen, sein Schicksal in eigene Hände zu nehmen. Zusammen mit einigen Kameraden und mit Wissen des Gruppenführers Leutnant Haybach flüchtete er zu Fuß durchs nördliche Kasachstan Richtung Westen. Über die Einzelheiten dieser abenteuerlichen Reise ist wenig bekannt. Man vermutet, dass er schließlich als blinder Passagier mit der Eisenbahn nach Petrograd und von dort in einem Völkerbundstransport über Stettin nach Hamburg gelangte. Am 14. August 1920 war er wieder in Wien. Ich stand in einem englischen Soldaten-Rock, den man mir zu Stettin nach der Landung meiner Zerlumptheit wegen gegeben hatte, vor dem Elternhause, in welches mich die inzwischen neubestallte Hausmeisterin, die mich nicht kannte, kaum hat hineinlassen wollen.[27]

Ein trauriger Filou (1920–1925)

Wovon soll ich leben – eine glatte Frage, die Antwort, sofortige Antwort verlangt![1] Mit knapp vierundzwanzig Jahren war Doderer 1920 ein Kriegsheimkehrer ohne Ausbildung, bürgerlichen Beruf oder eigenes Einkommen. Es begann für ihn eine achtjährige, unfreiwillige «zweite Jugend» in materieller Abhängigkeit von den Eltern, die ihm in der Stammgasse Unterkunft, Nahrung und finanzielle Unterstützung gewährten.

Gleich als Erstes hatte er ihnen mitgeteilt, er wolle jetzt Schriftsteller werden. Ich bleibe bei der Stange, bleibe beim Handwerk – mitsamt meinen tiefen Zweifeln […], weil ich nicht anders kann.[2] Fortan war sein Leben bedingt von dem Erreichen eines für absolut richtig erkannten Zieles, und das führte naturgemäß zu Grausamkeiten gegen die Umwelt – und gegen die eigene Person.[3] Der Vater, dessen Vermögen durch den politischen Zusammenbruch erheblich geschrumpft war, verlangte zumindest einen akademischen Abschluss. So begann Doderer noch im Herbst mit dem Studium. Er wählte Geschichte und Psychologie, zwei Wissenschaften, die sich mit dem Leben unmittelbar beschäftigen. Dies wäre eine entsprechende Ausbildung für einen Prosa-Erzähler.[4] Und er beschließt, ein Tagebuch zu führen in der Meinung, daß ein solches fortlaufendes «Journal» für mich notwendig ist[5]. Unter wechselnden Titeln und in wechselnder Funktion wird es ihn sechsundvierzig Jahre lang bis zum Tode begleiten.

Das Land, in das er heimgekehrt war, hatte sich dramatisch verändert. Das ehemals kaiserliche Wien war Hauptstadt einer Republik geworden. Galizien, Schlesien, Böhmen und Mähren, Dalmatien, Istrien, Teile von Kärnten, Tirol und der Steiermark waren verlorengegangen. Die im November 1918 ausgerufene «Republik Deutsch-Österreich» wurde mit dem Friedensvertrag von Saint-Germain gezwungen, sich in «Republik Österreich» umzubenennen. Sie umfasste nur noch ein Viertel der Fläche der alten Monarchie und ein Fünftel der Einwohner. Der von allen Parteien befürwortete Anschluss an Deutschland wurde von den Alliierten verboten. Im Land herrschten Arbeitslosigkeit, Hunger und Not. Mehrfach kam es zu kommunistischen Aufstandsversuchen mit Verletzten und Toten, und auch nach deren Niederschlagung rissen die Demonstrationen nicht ab. Man erinnert den ersten Dezember 1921 in Wien als einen Tag, an dem der Morgen für die mühselige Menschenmasse heraufgekommen war wie allemal, der Vormittag noch in Gleisen ablief; gegen Abend aber brachen Wut und Verzweiflung durch dünngewetzte, dem Druck nicht mehr gewachsene Umhegungen der Ordnung und des gewohnten Zwanges […]. Geheul und Getrappel füllten die Straße bis an die Dachkanten, eine Sturmflut von Menschen fegte herein. Wie die Schläge der Artillerie in den Lärm des Gefechtes, so fielen hier die knallenden und klirrenden Explosionen der eingedroschenen Scheiben von allen Ecken und Enden her in den Krawall. Dass der in relativer Abgeschirmtheit lebende Doderer gänzlich unberührt von den Stürmen der Zeit blieb, ist nicht wahrscheinlich. Aber die Massen, die einen Manès Sperber oder Elias Canetti so faszinieren sollten, lehnte Doderer ab. Dieses Auf-die-Straße-Gehen fand er sinnlos und albern. Er verabscheute die neuen sozialistischen Mätzchen in der Industrie, Betriebsräte und das ganze Massengezappel[6] und verharrte in einem Elitebewusstsein, das seinen konkreten Lebensumständen in keiner Weise entsprach. Denn weder besaß er die Mittel, um seiner starken Neigung zu Luxus, Weltleben und Herrentum in entsprechender Weise zu frönen, noch war er Dichter auf eigene Kosten und Gefahr, wie er sich das wünschte. Am Familientische sitzend, empfinde ich zu meiner größten Qual die Unnützlichkeit und Dubiosität meiner Existenz.[7]

Die Schriftstellerei war zunächst mehr Pose als Haltung, und auch der «junge Mann aus gutem Hause» war nur ein Trugbild: Da ist der erste Stock in meinem Elternhause, ein feiner Duft aus den Havanna-Kistchen meines Vaters und vom Leder der Clubfauteuils. Ich lebte damals clandestin: ich verbarg mich, ich log, ich stahl – vor allem Bücher «aus der zweiten Reihe» in der Bibliothek des Vaters.[8] Denn der junge Mann brauchte Geld, um sich zum Beispiel ein Zimmer in einem Stundenhotel leisten zu können, und das kostete mit Trinkgeldern für einmal fast 300 Kronen – auch wenn das Mädchen «umsonst» war.[9] Indes, er war ein trauriger Filou. Es fehlte ihm die Leichtigkeit, es fehlte ihm das Vergnügen an seinen eigenen Affären und Arrangements. Es fehlte ihm auch in allen Sachen das Vergnügen am Lügen.[10]

Die politischen Parteien, die zur Lösung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten unfähig waren, flüchteten sich in den Hass. Ihre Zielscheibe wurden die Juden. Die in vieler Hinsicht durchaus liberale, multikulturelle Monarchie hatte zwei Millionen Einwohner jüdischen Glaubens gehabt, davon über hunderttausend in Wien, die weitestgehend assimiliert waren. Aus Angst vor dem Nationalismus der Polen, Ukrainer und Russen flohen nach 1918 etwa dreißigtausend galizische Juden nach Wien – und wurden hier zum Anlass einer zügellosen Agitation, besonders der «Christlichsozialen»: «Die auch im neuen Staat hervortretende Korruption und Herrschaft jüdischer Kreise zwingt die Christlichsoziale Partei, das deutschösterreichische Volk zum schärfsten Abwehrkampf gegen die jüdische Gefahr aufzurufen», hieß es in ihrem Programm.[11]

Für Doderer, der als Protestant und Nachkomme deutscher Einwanderer zu einer noch kleineren Minderheit gehörte, ging von seinen jüdischen Mitschülern und Offizierskameraden ein eigentümlicher Reiz aus. «Beträchtlicher freund-feindlicher Bezug bestand u.a. […] zu Jaroslav F., einem aus Böhmen stammenden Juden, in den letzten Gymnasialjahren enthusiastischer Lobpreiser altösterreichischen Absolutismus»[12], und der kleine E.P., der Freund aus den Wochen der Reiteroffiziersausbildung, war ebenfalls jüdischer Abkunft. Von der aufgeklärten Offenheit des jüdischen Bürgertums fühlte sich Doderer angezogen und herausgefordert zugleich, es faszinierten ihn aber auch antisemitische Theorien, wie sie von Otto Weininger in die Welt gesetzt worden waren, und die Vorherrschaft jüdischer Intellektueller und jüdischen Kapitals bei der Presse war ihm apriori verdächtig. Sich dort als freier Mitarbeiter bewerben zu müssen, erschien ihm als Demütigung. Mir war nicht recht angenehm zu Mut, heißt es im Januar 1921, ich hatte diesen Besuch auch schon ein paar Tage hinausgeschoben – irgend etwas in mir sträubte sich doch sehr voreingenommen dagegen … Herr Elbogen … Herr Hirschfeld … Herr Wolff … Aber er verstand sich zu arrangieren. Und gegen den vulgären Antisemitismus verwahrte er sich: Von einer «jüdischen Gefahr» oder dergl. zu reden ist […] lächerlich […].[13]

 

Der kleine E.P., mit bürgerlichem Namen Ernst Pentlarz, hatte Doderer nach seiner Rückkehr aus Sibirien begeistert begrüßt. Was war das für ein Wiedersehen! Er hat mir, nachdem er erfahren, daß ich wieder im Lande sei, ein Telegramm von 14 Zeilen gesandt, auf die Villa meiner Eltern, um mich zu begrüßen.[14] Alsbald besuchte Doderer den Freund in der Wiener Porzellangasse, wo dieser von seinen Eltern eine Wohnung geerbt hatte.

Doderer wollte weg aus dem «Stammhaus». Ich habe Angst. Seit meiner Rückkehr aus Sibirien klebe ich jetzt da. Immer habe ich nach der gerade entgegengesetzten Seite der Stadt wollen …[15] Die entgegengesetzte Seite der Stadt, das waren die Universität und der dahinterliegende IX. Bezirk, die Währingerstraße und die nach rechts zum Alsergrund abfallenden Gassen. Mit Beginn des Studiums verlagerte sich Doderers Leben immer stärker in diese Gegend. Zahlreiche Anziehungspunkte gab es hier: die Porzellangasse 44 mit der Wohnung des kleinen E.P., die Beethovengasse 4, wo der Privatdozent Hermann Swoboda wohnte, die Universitätsinstitute in der Währingerstraße, wo Doderer die Vorlesungen des Psychotherapeuten und nachmaligen Thomas-von-Aquin-Übersetzers Rudolf Allers besuchte, das Haus «Zum blauen Einhorn» in der Liechtensteinstr. 74, in dem 1823 der Dichter Nikolaus Lenau gewohnt hatte (dessen Mutter Therese von Maygraber eine von Doderers Ururgroßmüttern war).[16]

Unter den akademischen Lehrern Doderers hat Hermann Swoboda (1870–1963) mit seiner abseitigen Periodizitätslehre (Wiederkehr von Siebenjahresrhythmen etc.) eine fatale Rolle gespielt. Swoboda war Patient von Sigmund Freud gewesen, der beiläufig einen Lieblingsgedanken von Wilhelm Fließ mit ihm erörterte: das Prinzip der Bisexualität. Swoboda sprach darüber mit seinem Freund Otto Weininger, der «sich an die Stirn faßte und nach Hause eilte, um sein Buch niederzuschreiben»[17]