Heimlich anders - Gianmarc Cavelti - E-Book

Heimlich anders E-Book

Gianmarc Cavelti

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Beschreibung

Ein Kind, das früh spürt, dass es anders ist. Ein Jugendlicher, der sich nach Zugehörigkeit sehnt, während ihn die eigene Identität in einen unlösbaren Konflikt stürzt. Dieses Buch erzählt von einer Kindheit und Jugend in der ländlichen Schweiz der 80er- und 90er-Jahre – und davon, wie es sich anfühlt, wenn das vermeintlich Normale unerreichbar scheint. Es geht um die Unsicherheit der ersten Freundschaften, das bittersüße Gift unerwiderter Gefühle und die schmerzhafte Erfahrung, wenn Nähe zur Unerträglichkeit wird. Zwischen Fußballplätzen, Schulausflügen und langen Sommernächten entfaltet sich eine Geschichte, die mal leichtfüßig und voller Witz ist, dann wieder mit brutaler Wucht trifft. In leuchtenden Episoden schildert der Autor den Zauber scheinbar unbedeutender Momente: ein gemeinsam durchwachter Sommerabend, eine Berührung, die viel zu lange nachhallt, ein Blick, der eine Welt zum Einsturz bringt. Doch hinter den Erinnerungen lauert die dunkle Ahnung, dass all das Glück nur geliehen ist. Was tun, wenn das eigene Begehren nicht sein darf? Wenn Scham sich tief ins eigene Selbst einfrisst? Mit einer Sprache, die ebenso präzise wie poetisch ist, mit Humor, Melancholie und einer berührenden Offenheit erzählt das Buch von einem Ringen, das viele kennen – aber nur wenige auszusprechen wagen. Es ist eine Geschichte über das Wachsen und Scheitern, über rauschhafte Höhenflüge und unerträgliche Abstürze. Ein Buch, das nachhallt. Ein Buch, das bleibt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 154

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Danksagung
Vorwort
Kapitelübersicht
1. Mit Adriano hinter dem Kindergarten
2. Das Rösslein Hü
3. Fast ertrunken in der Reuss
4. Bei Doktor Hermann
5. Rutschen hinter dem Spielplatz
6. Übernachten mit Cousin Nils
7. Skirennen im TV
8. Musik und Lichter in der Luft
9. Die unendliche Geschichte
10. Sommertage in der Badi
11. Geld klauen aus Papis Hose
12. Meine Kung Fu-Slippers
13. «Rechte oder linke Hand?»
14. Schulsilvester
15. Ronja Räubertochter
16. Der Armbruch
17. Der schwule Nathanael
18. Der erste Fez
19. Schweißgeruch am blauen Turn-T-Shirt
20. Klassenlager im Tessin
21. Die Gipsmaske
22. Zum ersten Mal im Eishockey-Stadion
23. Im Schwimmbad Röhrliberg
24. Skiferien in Frutigen
25. Prüfung Schmetterlinge
26. Europark mit voller Blase
27. Faaker See
28. De Stärn vo Bethlehem
29. Unihockey und die Stunde davor
30. Ein folgenschweres Outing
31. Maria Funke und das Skilager
32. Manfred Bloch
33. Mit Papi zur Fußball WM nach Italien
34. «Schiedsrichter, Achtung!»
35. Petra Blattmann
Nachwort

Heimlich anders

Meine schwule Kindheit im Knonauer Amt der 80er

Gianmarc Cavelti

Autobiografische Erzählungen

© Gianmarc Cavelti

1. Auflage Mai 2025

Impressum:

© 2025 Gianmarc Cavelti

Das Cover zeigt den Kirchturm der reformierten Kirche Obfelden sowie ein Kinderfoto des Autors. Gestaltung: Gianmarc Cavelti

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

Vigeli Caplazi, Mettenfeld 25, 5642 Mühlau, Switzerland. Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Michel, meine erste große Liebe. Mein Herz brennt noch immer, wenn ich an dich denke.

Chrigi, es tut mir so unendlich leid. Ich finde keine Worte dafür, wie sehr.

Wir haben uns in diesem Leben verpasst, gerade, als wir uns gefunden hatten.

Da ist nur noch Schmerz. Und eine verblasste Erinnerung an ein Gefühl der bedingungslosen Freude und Liebe.

Und Dominik, dir vergebe ich.

Danksagung

Dankbarkeit ist wie ein Licht, das erst im Rückblick seinen vollen Schein entfaltet. Und während ich diese Zeilen schreibe, wird mir bewusst, wie viele Menschen dazu beigetragen haben, dass ich heute hier sitze und diese Geschichte erzähle.

Zuerst danke ich meinen Eltern. Sie waren nicht fehlerlos – wie könnte es auch anders sein? Doch ihre Liebe war stets da, manchmal leise, gelegentlich laut, aber immer spürbar. Sie haben sich für mich eingesetzt, auf eine Weise, die nicht immer perfekt, aber immer voller Herz und Überzeugung war. Sie haben mir Werte mitgegeben, die mich wie ein Kompass durch mein Leben geführt haben. Sie haben mich unterstützt, ermutigt und mich in Momenten gehalten, in denen ich selbst nicht wusste, wie ich weitermachen sollte. Dafür und für ihre wahrhaftige Liebe bin ich ihnen unendlich dankbar.

Mein Dank gilt auch meinen Freunden und Weggefährten aus der Schulzeit. Wir haben uns aneinander gerieben, miteinander gelacht, gestritten und geträumt. Ihr habt mir gezeigt, wie viel Halt in Gemeinschaft steckt – und dass Freundschaft eine stille Kraft sein kann, die trägt, oft ohne dass man es merkt. Selbst heute, viele Jahre später, sehe ich in euch jene Menschen, die mir damals Freude und Orientierung gaben – einfach, weil ihr da wart.

Ich möchte auch meine Lehrer würdigen, und damit meine ich nicht nur jene, die vor einer Tafel standen. Einige von ihnen haben mir Dinge beigebracht, die in keinem Schulbuch stehen, und dafür bin ich dankbar.

Schließlich danke ich rückblickend auch den Menschen, die mir beigebracht haben, dass auch das Scheitern wichtig ist – oder mir dieses überhaupt erst ermöglicht haben. Denn ohne zu stolpern, lernt man nicht, aufzustehen. Ohne Zweifel gibt es keine Klarheit. Und ohne Herausforderungen wachsen wir nicht.

Ihr alle habt auf eure Weise etwas in mein Leben gebracht, das hier, zwischen diesen Zeilen, weiterlebt. Dieses Buch ist nicht nur meine Geschichte – es ist auch ein Mosaik aus den Menschen, die mich geprägt haben.

Ohne euch alle gäbe es diese Seiten nicht. Und wenn doch, dann wären sie leer.

Von Herzen: Danke.

Vorwort

Es gibt Momente im Leben, die uns so sehr prägen, dass sie sich in unser Innerstes eingraben – manchmal wie zarte Spuren, manchmal wie tiefe Risse. Diese Momente formen uns, erzählen uns von uns selbst und werden zu Wegweisern in der komplexen Landkarte unserer Erinnerungen.

Dieses Buch ist eine Sammlung solcher Augenblicke, eine Reise durch die Fragmente meiner Kindheit und Jugend. Es erzählt von erster Liebe und unerfüllter Sehnsucht, von Freundschaften und Abschieden, von inneren Kämpfen und jener schmerzhaften Suche nach Identität, die uns alle irgendwann eingeholt hat.

Aber vor allem erzählt es von den Menschen, die meinen Weg gekreuzt haben – von denen, die mir Licht waren, und denen, die mich in Schatten zurückließen. Es sind Geschichten über Begegnungen, die mich verändert haben, und über die unausgesprochenen Worte, die noch immer in der Luft hängen.

Ich schreibe nicht, um Antworten zu finden, sondern um die Fragen festzuhalten. Vielleicht erkennen Sie in ihnen auch Ihre Eigenen.

Dieses Buch ist nicht perfekt. Es ist nicht glatt oder poliert. Aber es ist wahrhaftig. Und vielleicht liegt genau darin seine Kraft.

Ich lade Sie ein, einzutauchen – in meine Erinnerungen, meine Gefühle, mein Leben. Vielleicht finden Sie darin ein Stück Ihres Eigenen.

Kapitelübersicht

1. Mit Adriano hinter dem Kindergarten 2. Das Rösslein Hü 3. Fast ertrunken in der Reuss 4. Bei Doktor Hermann 5. Rutschen hinter dem Spielplatz 6. Übernachten mit Cousin Nils 7. Skirennen im TV 8. Musik und Lichter in der Luft 9. Die unendliche Geschichte 10. Sommertage in der Badi 11. Geld klauen aus Papis Hose 12. Meine Kung Fu-Slippers 13. «Rechte oder linke Hand?» 14. Schulsilvester 15. Ronja Räubertochter 16. Der Armbruch 17. Der schwule Nathanael 18. Der erste Fez 19. Schweißgeruch am blauen Turn-T-Shirt 20. Klassenlager im Tessin 21. Die Gipsmaske 22. Zum ersten Mal im Eishockey-Stadion 23. Im Schwimmbad Röhrliberg 24. Skiferien in Frutigen 25. Prüfung Schmetterlinge 26. Europark mit voller Blase 27. Faaker See 28. De Stärn vo Betlehem 29. Unihockey und die Stunde davor 30. Ein folgenschweres Outing 31. Maria Funke und das Skilager 32. Manfred Bloch 33. Mit Papi zur Fußball WM nach Italien 34. «Schiedsrichter, Achtung!» 35. Petra Blattmann

1. Mit Adriano hinter dem Kindergarten

1979, Kindergarten, 5 Jahre alt

An meine Kindergartenzeit habe ich nur noch wenige Erinnerungen. Kein Wunder – sie liegt über 45 Jahre zurück, beinahe ein halbes Jahrhundert. Doch ein paar Eindrücke sind geblieben: Ich erinnere mich an die flache, einstöckige und sehr einfach gehaltene Anlage ohne Keller oder Überbau. Ebenso an den großen Eingangsbereich des Kindergartens Räsch, die vier Türen zu den weitläufigen Aufenthaltsräumen und den jeweiligen Umkleidestationen vor den verschiedenen Eingangstüren. Und ich erinnere mich tatsächlich noch an die riesige Werkbank im Entree, wo wir kleinen Knöpfe gebastelt und mit dem Laubsägeli gesägt haben.

Mein Kindergartenraum lag ganz hinten links.

Darin befand sich eine Puppenecke, in der ich viel gespielt habe, eine Wand voller Instrumente, ein kleiner Einkaufsladen mit Spielzeugkasse und Spielzeugessen in Form von Karotten, Broten oder Bananen – und ein abschließbarer Raum. In diesen sperrte unsere Kindergartenlehrerin – wie hieß sie doch gleich? Frau Fiechter, vielleicht? – den kleinen Franz Döbeli ein, wenn er mal wieder randalierte. Ihr Gesicht sehe ich noch ganz klar vor mir, liebevoll und nachsichtig, aber bei ihrem Namen bin ich mir nicht mehr sicher.

Was Franz’ Wutanfälle auslöste, weiß ich nicht mehr. Vielleicht kamen sie einfach aus dem Nichts? Jedenfalls sprang er regelmäßig an Frau Fiechter hoch und biss sie in Hände und Arme. Sie hatte sich nicht anders zu helfen gewusst, als den Wildgewordenen wegzusperren.

Vor dem Kindergartengebäude erstreckte sich ein kleiner Spielplatz: Ein eisernes Klettergerüst ragte wie ein stiller Wächter in die Höhe, flankiert von ein paar schlichten Schaukeln. Und hinter dem Kindergarten verlief ein schmaler Pfad, knapp zwei Meter breit, an den das hohe Maisfeld grenzte. Als Kindergärtner erschien mir dieses endlos; seine hohen, dichten Stängel schienen bis in den Himmel zu reichen, wie eine grüne Wand, die die Welt dahinter verbarg.

Die Rückseite des Gebäudes war fensterlos. Dort hinten, als handelte es sich um ein ganz anderes Universum, war bloß diese enge Schneise zwischen Mais und Kindergartengebäude. Keine Häuser, kein Leben – nur ein Gefühl der völligen Abgeschiedenheit, als ob man für den Rest der Welt unsichtbar wäre.

Und genau dort, scheinbar mitten im Nirgendwo, machte ich meine erste bewusste sexuelle Erfahrung. Ermöglicht durch den Italienerjungen Adriano Giardino.

Die Italiener bildeten damals die größte Ausländergruppe in der Schweiz und hatten einen etwas verruchten Ruf. Sie galten als anders, oft laut und gewalttätig – man nahm sich vor ihnen in Acht. Einige machten diesem Ruf auch alle Ehre, wie Donato Plea zum Beispiel. Er und seine Brüder verprügelten andere Kinder und warfen sie anschließend in die stacheligen Hagebuttensträucher, die sich entlang der steilen Straße vom Kindergarten zur Kirche am linken Wegrand rankten. Die Sträucher, mit ihren dornigen Ästen, schienen wie darauf zu lauern, das nächste Kind zu verschlingen. Zum Glück blieb mir diese Erfahrung erspart.

Aber zurück zu Adriano.

Der Junge war sanftmütig und stellte keine Gefahr für mich dar. Ich erinnere mich noch gut an sein gewelltes, schwarzes Haar und die dicken Brillengläser, die seine Augen unheimlich vergrößerten. Und an seinen kleinen Penis, der in meiner Erinnerung gar nicht mal so klein war. Adriano führte mich das eine oder andere Mal auf den schmalen Pfad hinter den Kindergarten, wo er mich anwies, meine Hosen herunterzulassen. Ich folgte seiner Instruktion, ohne mir viel dabei zu denken. Außerdem befanden wir uns ja in einer Art Zwischenwelt und niemand wäre deshalb dazu in der Lage, das seltsame Treiben zu beobachten.

So betrachteten wir dann eingehend die Körperstellen des jeweils anderen, die normalerweise verborgen blieben. Und als das Erforschen und Betrachten ein Ende gefunden hatte, wollte Adriano, dass wir unsere Körper und im Speziellen gewisse Körperteile unter der Gürtellinie fest aneinanderdrückten. Und das war‘s dann auch schon.

Wie Adriano auf diese faszinierende Idee gekommen war, darüber kann ich nur spekulieren. Da war ein um viele Jahre älterer Bruder ... Vielleicht hatte Adriano Zugriff auf dessen verbotenen Videokassetten? Oder jene des Vaters? Ich weiß es nicht. Wir wiederholten das Ganze jedenfalls mehrfach und es lief immer genau gleich und völlig harmlos ab. Ohne Zwang, ohne komische Gefühle – nichts dergleichen. Ich erinnere mich noch daran, wie Adriano einmal bei uns klingelte und er, als meine Mutter die Tür öffnete, ganz unbedarft fragte: „Kommt Gianmarc raus zum Vögeln?“

Wie meine Mutter darauf reagierte, das weiß ich nicht mehr. Vermutlich einen Moment irritiert, dachte sich dann aber wohl nichts weiter dabei. Den Kontakt zu meinem italienischen Kindergartenfreund hat sie mir deswegen jedenfalls nicht verboten.

Adriano tötete übrigens in einer Nacht-und-Nebel-Aktion unsere beiden Zwergkaninchen in ihren vergitterten Holzkisten auf unserem Gartensitzplatz. Wahrscheinlich nicht aus Boshaftigkeit. Er wollte sie vermutlich waschen und sprühte sie deshalb mit Rasierschaum ein. Die Tiere verendeten kurz darauf elendiglich. Woran genau, weiß ich nicht – vielleicht sind sie erstickt?

2. Das Rösslein Hü

1981, 2. Klasse, 7 Jahre alt

Als ich noch die Primarschule besuchte, zumindest während der ersten Jahre, war auch der Samstag noch ein regulärer Schultag, jedoch nur vormittags und spürbar entspannter als unter der Woche. Ganz besonders in Erinnerung geblieben ist mir die letzte Stunde vor dem Wochenende, in der Frau Glatzer uns jeweils aus einem dicken, richtigen Buch vorgelesen hatte. Ab der zweiten Klasse ließ sie uns in die Abenteuer des Rösslein Hü eintauchen, später dann in die Welt des Räuber Hotzenplotz und schließlich konfrontierte sie uns in der dritten Klasse auch noch mit der düsteren Welt von Krabat.

Frau Glatzer war eine Lehrerin der alten Schule. In meinen Augen war sie damals schon greisenhaft – sicher um die 60 –, groß und hager, mit graumelierten Locken und einem gezeichneten Gesicht, das vor Falten strotzte. Ihr klarer Blick hatte jedoch einen wachen und strengen Ausdruck, der sich manchmal auch ins zärtliche und liebevolle wandelte.

Wenn sie laut wurde, was selten vorkam, schien ihre Stimme die Wände zum Beben zu bringen, ging durch Mark und Bein. Ich erinnere mich auch an die eingebundenen Hefte, die wir mit endlosen Reihen von schön geschriebenen Zahlen und Buchstaben füllen mussten. Wenn Frau Glatzer mit unserer Arbeit zufrieden war, belohnte sie uns mit einem runden Aufkleber auf der Seite – meist verziert mit bunten Schmetterlingen oder fröhlichen Marienkäfern. Ich freute mich immer riesig, wenn ich einen solchen Sticker entdeckte, denn es war mir sehr wichtig, in Frau Glatzers Gunst zu stehen.

Und sie war eine begnadete Vorleserin.

Jeden Samstag in der letzten Stunde vor dem Mittag versammelten wir uns im Sitzkreis um unsere Lehrerin herum, gespannt auf das nächste Kapitel aus dem dicken Wälzer. In freudiger Erwartung wurde es mucksmäuschenstill im Klassenzimmer, während sie das Buch aufschlug und tief Luft holte. Dabei bekam sie immer diesen entspannten, fast magischen Ausdruck im Gesicht, als hätte sie die Geschichte selber miterlebt und berichtete aus ihrer Erinnerung heraus.

Es sind nun über 40 Jahre vergangen, doch ich höre noch immer ihre Stimme in meinem Kopf, und wie sie mit ruhiger, fesselnder Betonung erzählte: „Tag um Tag verging, und es kam kein Schiff. Und Hü wurde immer trauriger. Es arbeitete zwar, was es konnte, und versuchte oft ein fröhliches Gesicht zu machen. Aber der Eselstreiber merkte bald, dass dem Rösslein etwas fehlte…“

In solchen Momenten hatte das ganze Klassenzimmer den Atem angehalten, als wären wir alle selbst Teil der Erzählung, die Frau Glatzer so lebendig vor uns ausbreitete.

Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte kennen. Es geht um ein kleines, hölzernes Schaukelpferd namens Rösslein hü. Ursprünglich war es das geliebte Spielzeug von John und seinem Cousin Ned. Doch wie so oft im richtigen Leben, verliert das einfache Spielzeug an Bedeutung, wenn die Jungen älter werden. Schließlich wird es weggegeben, aber Rösslein Hü hat etwas Besonderes: Es hat ein eigenes Leben, wenn niemand zuschaut. So beginnt es eine abenteuerliche Reise auf der Suche nach einem richtigen Zuhause. Unterwegs begegnet es verschiedenen Menschen, erlebt Gefahren und Abenteuer, und trotz aller Herausforderungen bleibt der Wunsch nach einem Ort, an den es wirklich hingehört, bestehen.

Eine Episode blieb mir im Gedächtnis haften: Das Rösslein Hü geriet in eine gefährliche Situation und musste plötzlich rasend schnell fahren. Seine hölzernen Räder wurden so heiß, dass sie zu glühen begannen und schließlich sogar Feuer fingen. Funken sprühten, und es sah aus, als würde das Rösslein Hü durch Flammen reiten. Und in diesem Moment hatte es fürchterliche Angst, zu sterben. Und wir, die ganze Klasse, fühlten diese Angst mit. Mir standen die Tränen in den Augen bei der Vorstellung, dass das kleine Pferdchen sterben könnte. Selbst Tobias Hamann, der damals schon selbstbewusst auftrat und niemanden aus dem ganzen Schulhaus fürchtete, verzog höchst verdächtig das Gesicht und zitterte mit den Lippen.

Ich habe ihn erlebt, den Zauber des Vorlesens.

Zu Hause blieb er mir verwehrt – Mami hatte mit vier Kindern genug Wichtigeres zu tun, als sich in Geschichten für den Nachwuchs zu verlieren. Doch das Geschenk erreichte mich trotzdem. Durch Frau Glatzer, der Riesin meiner Kindheit.

3. Fast ertrunken in der Reuss

Sommer 1982, 2. Klasse, 8 Jahre alt

Ich war in der zweiten, vielleicht auch schon in der dritten Klasse, als wir an jenem späten Sommertag planten, mit dem Gummiboot einen Ausflug auf der Reuss zu unternehmen. Mein Vater, mein drei Jahre älterer Bruder Oliver, Onkel Walter – der Mann meiner Patentante (Gotte, wie wir in der Schweiz sagen) – und ich.

Mami und meine Gotte, die jüngere Schwester meiner Mutter, damit der Verwandtschaftsgrad auch grad geklärt wäre, fuhren uns auf irgendeinem Feldweg zu einem Ort oberhalb von Gisikon-Root. Dort kannte mein Vater eine Stelle an der Reuss, die er für ideal hielt, um unsere Flussfahrt zu starten.

Drei Dinge sind mir von diesem Tag hauptsächlich im Gedächtnis geblieben:

Erstens, Mamis Drama. Sie machte ein Riesentheater, weil ich unbedingt ohne Schwimmhilfe – in der Schweiz auch liebevoll Flügeli genannt – aufs Boot wollte. Schließlich konnte ich schon schwimmen, und das mit einer Sicherheit, die mich glauben ließ, ich wäre der nächste Michael Phelps. Klar, dass ich nicht der einzige in dem Boot sein wollte, der wie ein Kleinkind in Flügeli da saß. Aber Mami setzte sich durch – wie meistens – und rang meinem Vater das Versprechen ab, dass er persönlich dafür sorgen würde, dass die Schwimmhilfen während der ganzen Fahrt schön brav an meinen Ärmchen bleiben würden.

Zweitens war da Onkel Walter. Mit seiner Holzpfeife im Mundwinkel und einem teuren Fotoapparat um den Hals sah er aus, als wäre er auf dem Weg zu einer Safari – nur in Badehosen. Das war das erste Mal, dass ich ihn in solch luftigem Outfit sah.

Und drittens, die Reuss selbst. Normalerweise ein gemütlicher Fluss, zeigte sie sich an diesem Tag von ihrer wilden Seite. Die braunen Wassermassen schäumten und wirbelten in gefährlichen Strudeln, als hätten sie es auf uns abgesehen. Ganz anders, als wir auch schon mal auf der Reuss unterwegs waren – damals weiter unten, irgendwo bei Sins oder Mühlau. Doch in der Zwischenzeit hatte ein heftiges Gewitter gewütet, und der Regen hatte den Fluss in ein wütendes Blubbermonster verwandelt.

„Achtung bei den Brückenpfeilern!“ – diese Worte schallen mir noch heute in den Ohren. Das ist wohl die vierte Erinnerung an jenen Tag kurz vor Root. Wenige hundert Meter nach dem Einstieg würden wir die massive, mehrspurige Brücke erreichen, die wir immer überquerten, wenn es zu den Großeltern nach Adligenswil ging.

Mir war mulmig, um es vorsichtig auszudrücken. Papi hatte mir genau erklärt, was zu tun wäre, falls unser Boot gegen einen Brückenpfeiler krachen sollte. Ich müsse dann aufpassen, nicht in den tödlichen Strudel hinter dem Pfeiler zu geraten. Falls es mich doch erwischte, sollte ich mich mutig bis auf den Grund des Flusses ziehen lassen. Wenn meine Füße dann endlich auf festem Boden stünden, müsste ich mich mit aller Kraft abstoßen. Nur so, meinte er, könnte ich vielleicht mit dem Leben davonkommen. Dass wir es gar nicht bis zur Brücke schaffen sollten, konnte ich zu diesem Zeitpunkt natürlich gar nicht wissen.

Wir wasserten also ein. Während Onkel Walter wie ein Pascha hinten im Boot thronte und seine Arme lässig über die Ränder baumeln ließ, stand mein Vater zuerst knietief, dann brusttief im ziehenden Fluss. Dann stieß er uns mitsamt dem Gummiboot vom Ufer ab, hechtete hinterher und robbte ins Boot hinein.

Dann ging alles plötzlich ganz schnell: