Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Helga erinnert sich an ihre Kindheit, die sie in Swinemünde auf der Ostseeinsel Usedom verbracht hat. Nachdem sie ihre Heimatstadt verlassen musste, lebt sie mit ihren Eltern und Geschwistern im Nachbarort Korswandt. Als junges Mädchen arbeitet sie in einem Hotel des Ostseebads Ahlbeck, lernt als Haushaltshilfe einer Arztfamilie die Kleinstadt Penig in Sachsen kennen, betreut in Lübeck eine Zeit lang die Kinder ihres plötzlich verwitweten Onkels und kehrt schließlich wieder nach Korswandt zurück.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 95
Veröffentlichungsjahr: 2016
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Swinemünde auf dem Nordostzipfel der Ostseeinsel Usedom in Pommern, Metropole des Kreises Usedom-Wollin, Anfang der 1930er Jahre
Strandleben um 1930 in dem zweitältesten Seebad an der Ostseeküste. Den Namen Swinemünde erhielt der Ort 1743, das Stadtrecht 1765. Seit 1824 ist die Stadt Seebad und hatte 1829 ungefähr 4000 Einwohner.
Die Hafeneinfahrt und der knapp 65 Meter hohe Leuchtturm in Ostswine auf der Nachbarinsel Wollin etwa 1930. Der Turm wurde 1857 erbaut und bekam 1903 mit einer Klinkerverblendung seine heutige Form.
Der Konzertplatz von Swinemünde in den 1930er Jahren. Die Stadt hatte 1876 einen Anschluss an die Eisenbahnstrecke Berlin–Stralsund erhalten; das Ostseebad beherbergte 1913 über 40000 und 1938 circa 50000 Badegäste.
Am Ersten Mai 1931 erblickte ich in Swinemünde das Licht der Welt. Nach damaligem Brauch hat meine Mutter mit Hilfe einer Hebamme zu Hause entbunden. Ich bekam die Vornamen Helga Liesel, weil Helga gerade Mode war und meine Patentante Luise, die jüngere Schwester meiner Mutter, alle nur als Liesel kannten. Klein und zierlich, mit einem Puppengesicht, war ich sofort Papas Liebling und wurde Püppi genannt.
Bruder Horst bei Mama Gertrud und Püppi Helga bei Papa Hans auf dem Arm, Juli 1934
Meine Mutter hieß mit Mädchennamen Gertrud Hienzsch und war in der Altstadt von Dresden aufgewachsen. Sie hatte vier Geschwister: Käthe, Luise, Fritz und Karl. Ihre Mutter, meine Oma Minna, war eine geborene Möckel. Da sie früh ihren Mann, Karl Hienzsch, verloren hatte, musste sie die fünf Kinder alleine durchbringen. Aber Oma Minna liebte Kinder und hat außer ihren eigenen noch viele Pflegekinder großgezogen. Dafür bekam sie später das Mutterverdienstkreuz.
Minna Hienzsch, geborene Möckel
Von links: Luise, Minna, Gertrud, Fritz, Kurt und Käthe
Karl Hienzsch
Mama hätte gerne einen Beruf erlernt, aber als sie fünfzehn Jahre alt war, schickte ihre Mutter sie als Hausmädchen zu einem Zahnarzt Geld verdienen, denn sie brauchte natürlich jeden Groschen. Die Töchter reicher Leute konnten auf die hohe Schule gehen oder sogar studieren, während Mädchen aus „einfachen“ Verhältnissen bei solchen Herrschaften in Stellung gingen; das war zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts so üblich.
Anfang der zwanziger Jahre suchten Swinemünder Hotels Personal für den Saisonbetrieb; entsprechende Annoncen standen auch in Dresdener Zeitungen. Als Luise davon erfuhr, überredete sie ihre Schwester Gertrud, sich gemeinsam bei einem Hotel zu bewerben. Die beiden wurden angenommen. So ist meine Mutter nach Swinemünde gekommen.
Nach der Arbeit bummelte Liesel mit anderen Mädchen öfter durch die Stadt, während ihre schüchterne Schwester zu Hause saß. Als die Mädchen wieder mal unterwegs waren, bändelte eine Gruppe junger Männer mit den Damen an. Die Pärchen hatten sich schnell gefunden, nur einer der Burschen war ohne Partnerin geblieben. Doch Luise wusste Rat, sie ging rasch nach Hause und kam mit ihrer Schwester Gertrud zurück. Der betreffende junge Mann hieß Hans Diebitz.
Gertrud Hienzsch im Alter von achtzehn Jahren
Hans Diebitz, etwa zwanzig Jahre alt
Hans und Gertrud trafen sich nun häufiger, fanden Gefallen aneinander und wollten künftig zusammen durchs Leben gehen. Aber in Swinemünde fanden sie keine Bleibe, darum zogen sie nach Dresden. Dort stellte sich bald Nachwuchs ein, meine ältere Schwester Ingeborg kam auf die Welt. Aber mein Vater hatte in Dresden große Sehnsucht nach der Ostsee und als in einem Haus seines Vaters eine Wohnung frei wurde, kehrten meine Eltern nach Swinemünde zurück. Nicht lange nach der Rückkehr brachte der Storch meinen älteren Bruder Horst.
Wir wohnten in der Neuen Straße. Nicht weit von unserm Haus stand ein E-Werk, in dem mein Vater als Elektriker arbeitete. Unsere Wohnung lag im Dachgeschoss eines Zweifamilienhauses, hinter dem sich ein langer, stellenweise schmaler Hof hinzog. An dessen Ende stand links ein Wohngebäude mit einer Waschküche und rechts ein hoher Birnbaum, der jedes Jahr schöne große Birnen trug und Opa Ottos ganzer Stolz war. Die Birnen habe ich immer sehr gerne gegessen. Durch eine Pforte am hintersten Ende des Hofes konnte man auf die Krausestraße gelangen.
Links neben unserm Haus war ein Holztor, das führte zum Hof, auf dem auch das Gebäude stand, in dem Opa Otto mit Oma Frieda, geborene Lindengrün, wohnte. Opa war Zimmermann und arbeitete als Polier auf dem Bau; gleich am Haus hatte er eine große Werkstatt.
Unser Haus 1959, kurz vor dem Abriss, links das Holztor
Wenn man die Wohnung betrat, kam man zuerst in die Küche. Im Wohnzimmer hatte mein Großvater einen Platz am Fenster, von dem er auf den Hof blicken konnte. Hier hat er immer an einem kleinen Tisch gesessen und Zeitung gelesen. Oma Frieda kaufte oft Zeitschriften, die mir sehr gefielen. Aber wenn ich in den Heften blätterte, sagte sie: „Da brauchst du gar nicht reinkucken, da kommen doch keine Küken raus.“
Frieda Diebitz, geborene Lindengrün, genannt Oma Mutti
Sie hatte es nicht gerne, wenn wir Oma zu ihr sagten, weil ihr zweiter Sohn Heinz noch zur Schule ging. Er war achtzehn Jahre jünger als sein Bruder Hans, mein Vater. So kam es, dass wir mit der Zeit alle Oma Mutti zu ihr sagten. Jungs hatte sie besonders gern, darum wohnte mein Bruder Horst nebenan bei seinen Großeltern. Um die Haushaltskasse aufzubessern, ging Oma Mutti öfter bei anderen Leuten saubermachen.
Otto Diebitz
Unter uns im Erdgeschoss wohnte auf der rechten Seite Frau Schütt, eine kleine, sehr freundliche Person. Sie arbeitete zu Hause als Weißnäherin und hatte ein Kohlebügeleisen. Mit dem kam sie öfter auf den Hof und schwenkte es hin und her, dass die Funken nur so stoben. Wie sie mit dem schweren Bügeleisen umging, fand ich ganz toll.
Etwa so ein Kohleplätteisen hatte Oma Schütt. Das war ein stabiles Gerät aus Gusseisen. Wenn man bügeln wollte, klappte man den Deckel auf und füllte das Eisen mit Kohlenglut. Das Hin- und Herschwenken war vorgeschrieben, um die nötige Luftzufuhr zu gewährleisten.
Als ich laufen lernte, wurde meine Schwester Ruth geboren. Sie war, obwohl anderthalb Jahre jünger, bald fast so groß wie ich. Mit ihr spielte ich gerne. Wir konnten einen Tanz: „Hänsel, komm tanz mit mir“, den haben wir auf dem Hof Frau Schütt vorgeführt und dazu gesungen:
Hänsel, komm und tanz mit mir,
beide Hände reich ich dir,
einmal hin, einmal her,
rundherum, das ist nicht schwer.
Ei, das hast du fein gemacht,
ei, das hätt ich nicht gedacht.
Einmal hin, einmal her,
rundherum, das ist nicht schwer.
Danach hat Oma Schütt uns in ihre Küche eingeladen und uns Kakao serviert. Ich war aber ungeschickt und habe gekleckert.
Unten links wohnte Familie Köller, Mama, Papa und sieben Kinder. Rosemarie war meine Freundin. Köllers Kinder mussten Zeitungen austragen. Einmal hat Rosi mich gefragt, ob ich mitkomme. Als wir losgingen, war draußen noch alles nass vom Regen. Ich hatte gerade neue Hausschuhe bekommen und bin mit den Schuhen munter über die Pfützen gesprungen.
Auf unserm Hof war immer was los. Nicht nur der Diebitz- und Köhler-Nachwuchs traf sich hier, sondern auch viele Rangen aus der Nachbarschaft. Wir waren eine lustige Truppe. „Grün, grün, grün sind alle meine Kleider“ oder „Herr Fischer, wie tief ist das Wasser?“ haben wir gerne gespielt. Auch das Seilspringen war beliebt. Zwei Kinder schwangen das Seil und das dritte sprang jedes Mal in die Höhe, wenn es über den Boden sauste. Dabei wurde laut gezählt. Wer am Ende die meisten Sprünge hatte, war Sieger. Wir spielten aber auch oft mit dem Ball. Meistens am Giebel des Nachbarhauses neben dem Holztor. Doch davon waren unsere Nachbarn nicht sehr erbaut.
Bevor ich Abc-Schützin wurde, hatte ich noch zwei Brüderchen bekommen. Manfred war inzwischen fast zwei Jahre alt und weinte oft, weil er immer etwas kränkelte. Hans-Otto krabbelte im Alter von kaum sechs Monaten noch auf allen Vieren herum.
Dann war es so weit: meine Einschulung stand kurz bevor. „In die Schultüte kommen Holz und Kohlen!“, sagte mein Vater und machte dabei ein todernstes Gesicht. Doch als ich schließlich Ostern 1937 meine Schultüte im Arm hielt, waren da Süßigkeiten drin und oben drauf lag ein schöner bunter Ball.
Es gab in unsrer Gegend eine Jungen- und eine Mädchenschule. Wir waren vielleicht vierzig Schülerinnen in der Klasse und saßen zu dritt oder viert in einer Bank. Zu jedem Platz gehörte ein in die Bank eingelassenes Tintenfass mit Deckel.
Im ersten Jahr schrieben wir aber mit dem Griffel auf der Schiefertafel. Die linierte Seite war für Buchstaben, die karierte für Zahlen vorgesehen. An einer Seite der Tafel war ein Schwamm angebunden, mit dem wischte man alles wieder ab, was man geschrieben hatte. Die Schiefergriffel wurden im Griffelkasten aufbewahrt, Tafel, Griffelkasten und einige Schulbücher im Ranzen.
Zuerst lernten wir die deutsche Schrift, mit dem langen, spitzen Sause-S und dem runden Schluss-S, später die lateinische, in der es nur noch ein S gab. Schreiben fand ich schön, die Buchstaben habe ich geradezu gemalt, doch die Wörter schrieb ich oft falsch. Es hat lange gedauert, bis ich mir die richtige Schreibweise merken konnte.
Die Diebitz-Kinder, von links: Ruth, Helga, Horst und Ingeborg – meistens Inge genannt – mit dem kleinen Manfred, um 1937
So ähnlich sah meine Schiefertafel aus
Am ersten Schultag kam ein junger Mann in die Klasse, der uns fotografieren sollte. Wir stellten uns nacheinander alle im Schulhof vor eine Mauer, an der eine bunte Decke hing, und der Mann machte von jedem Mädchen ein Foto. Die Bilder hat er einzeln an die Eltern verkauft. So bin ich zu dem Foto vom ersten Schultag gekommen.
Eine sehr gute Schülerin in meiner Klasse wurde von der Lehrerin oft gelobt. Das gefiel einigen Mädchen nicht und sie wollten ihr eins auswischen. Mich fragten sie auch, ob ich mitmache. Für solche Sachen war ich eigentlich viel zu schüchtern, hatte aber nicht den Mut, nein zu sagen.
Auf dem Heimweg haben wir das Mädchen verfolgt und gehänselt. Doch darüber hat sich die Mutter der Schülerin bei der Lehrerin beschwert. Bald nach der Hänselei mussten wir zum Beginn der Stunde aufstehen und bekamen vor der ganzen Klasse einen Tadel.
Eine Zeit lang begann der Unterricht erst um neun Uhr. Ich war aber schon früh auf den Beinen und hatte Langeweile. Also lief ich in den nahen Park zu einer Gaststätte, neben der ein kleines Karussell stand, das man selbst anschieben musste. Dort drehte ich einige Runden und vergaß darüber die Schule.
Als ich wieder nach Hause kam, war meine Mutter außer sich; wenn sie in Wut geriet, was nicht oft vorkam, riss sie ihre blauen Augen weit auf. Sie fuhr mich so hart an, dass ich gleich in die Ecke flog. Dann hielt sie mir den Ranzen hin und sagte: „Jetzt aber flott!“ Ich rannte los. Die erste Stunde hatte längst begonnen. In der Schule war es ganz still. Vorsichtig öffnete ich die Tür zum Klassenraum und schlich mich leise auf meinen Platz.
Mein Bruder Manfred war oft krank, er ist nie so richtig auf die Beine gekommen. Meistens hat ihn meine Mutter auf dem Arm getragen. Manchmal war sie ganz verzweifelt. Als sein Zustand immer schlechter wurde, ist er ins Krankenhaus gekommen. Doch auch dort konnte ihm niemand helfen. Es hieß, sein Herz sei zu groß. Schließlich ist Manfred noch vor seinem dritten Geburtstag gestorben. Wir waren alle sehr traurig.
Die Zeit verging und ich freute mich schon auf die Sommerferien. Doch als ich mein Zeugnis bekam, war es vorbei mit der Freude. Ich musste die erste Klasse wiederholen. Darüber war ich sehr betrübt und traute mich nicht nach Hause. Weinend stand ich am Hoftor. Zum Glück kam Opa Otto vorbei, er tröstete mich und brachte mich hoch zu meiner Mutter.