Hermann Menge - Paul Olbricht - E-Book

Hermann Menge E-Book

Paul Olbricht

4,9

Beschreibung

Die Biografie über Hermann Menge (1841–1939) ist eine einfache Darstellung seines Lebens, das seinen Verlauf vor allem in seinem Studierzimmer nahm. Ein Leben, das dennoch und vielleicht gerade wegen seiner Bescheidenheit groß und im wahrsten Sinne des Wortes gottgesegnet genannt werden darf. Paul Olbricht zeichnet den Weg nach, wie aus einem weltlichen Sprachwissenschaftler ein biblischer Theologe wird. Denn die letzten 40 Jahre seines Lebens hat er bis zu seinem Tod an seiner Bibelübersetzung gearbeitet. “Es ist kein übertriebenes Lob, wenn man der Menge-Bibel das Zeugnis der besten Bibelübersetzung nächst der Lutherbibel ausstellt.” E. Dicht Die Menge-Bibel gilt bis heute als eine ausgezeichnete Übersetzung. Wer nähere Bekanntschaft mit diesem schlichten Gottesmann schließe möchte, bekommt hier von seinem Kollegen und Schwager einen Einblick in sein Leben und seine Werke. Menge strebte nicht nach Ruhm und Ehre. Wer ihn kennenlernen wolle, sollte sich seiner Meinung nach lieber mit seiner Bibelübersetzung beschäftigen und sich durch die auf diesem Wege gewonnene Kenntnis zu Gott und zum Heiland führen zu lassen — dann besitze man ein Wissen, das wirklichen Wert hat!

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Seitenzahl: 142

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Der Bibelübersetzer Hermann Menge

Sein Leben und sein Schaffen dargestellt von

Dr. Paul Olbricht

Impressum

eBook-Erstellung: 2014 Folgen Verlag, Wensin

Autor: Paul Olbricht

Cover: Eduard Rempel, Düren

Cover-Motiv: Krzysztof Szkurlatowski (12frames.eu)

Lektorat: Julia Mehlfeld, Köln

ISBN: 978-3-944187-11-2

Verlags-Seite: www.folgenverlag.de

Kontakt: [email protected]

Shop: www.ceBooks.de

Der Bibelübersetzer Hermann Menge ist erstmals als Buch 1939 im Furche Verlag, Berlin erschienen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Neuausgabe

Vorwort der Erstausgabe

1. Die Jugend

2. Helmstedt

3. Verlobung

4. Holzminden

5. Schriftstellerische und sonstige wissenschaftliche Betätigung

6. Sangerhausen

7. Als Vorgesetzter

8. Die Familie

9. Wittstock

10. Der Bibelübersetzer

11. Besuch in der Gelehrtenstube

12. Der Lebensabend

Anhang: Bilder

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Vorwort zur Neuausgabe

Kennen Sie Hermann Menge? Wer heute alte Sprachen lernt, dem ist der Namen Hermann Menge vermutlich schon begegnet. Seine Lehr- und Wörterbücher des Lateinischen und Griechischen zählen nach wie vor zu den Standardwerken an Schulen und Universitäten. Vielleicht hat der ein oder andere auch einmal etwas von der „Menge-Bibel“ gehört. Die Bibelübersetzung von Hermann Menge gehörte zeitweise zu den beliebtesten deutschsprachigen Bibelausgaben. Darüber hinaus weiß man aber meist sehr wenig über den 1841 geborenen Gelehrten.

Tatsächlich begann das Leben von Hermann Menge auch nicht vielversprechend. Er war ein kränkliches Kind und wurde von vielen für dumm gehalten. Seine erste Arbeit in Latein bekam er als „umkorrigierbar“ zurück! Doch Menge wandelte sich. Er machte ein ausgezeichnetes Abitur, studierte Altphilologie und Geschichte, wurde zu einem geschätzten Pädagogen, zu einem erfolgreichen Philologen und zu einem glücklichen Familienvater.

Mit knapp 60 Jahren beantragte Professor Dr. Menge seine Versetzung in den Ruhe-stand, ohne zu erahnen, dass sein eigentliches Lebenswerk erst jetzt beginnen sollte. Obwohl Menge äußerlich ein seiner Zeit entsprechend christliches Leben führte und im Rahmen seiner Lehrtätigkeit immer wieder Andachten vorbereitete, blieb ihm das eigentliche Wesen des christlichen Glaubens, und insbesondere die Bibel, eher fremd, unverständlich und dunkel. Das sollte sich bei der Vorbereitung einer Andacht im Herbst 1899 ändern, so dass er die ihm verbleibenden fast 40 Jahre seiner Lebenszeit mit der Übersetzung der Bibel verbrachte.

Hermann Menge liebte seinen Schreibtisch, die Ruhe und das stille Arbeiten über sei-nen Büchern. Auch wenn er die Geselligkeit und Gemeinschaft mit anderen sehr schätzte und sogar ganze Gesellschaften zu unterhalten vermochte, bevorzugte er ein zurückgezogenes Leben. Dementsprechend schwer gestaltet sich die Suche nach Informationen über den Philologen und Bibelübersetzer. Auf Bitten und Drängen schrieb er unter dem Titel „Wie ich zur Übersetzung der Heiligen Schrift gekommen bin“ einen kurzen Bericht darüber, was ihn zu seiner Bibelübersetzung bewogen hat. Darüber hinaus ist die hiermit als eBook erscheinende Neuauflage der von Menges Schwiegersohn verfassten Biografie die einzige Quelle über den Mann, der uns mit seiner Arbeit so bereichert hat.

Menge wollte hinter seinem Werk zurücktreten. Das ist ihm gelungen. Wirft man aber dennoch einen Blick auf den Menschen hinter der bemerkenswerten philologischen Arbeit und hinter der wertvollen Bibelübersetzung, so trifft man wieder auf die Spuren Gottes, der einen kränklichen Rentner zu einer enormen Arbeitsleitung befähigte und den stillen und zurückhaltenden Gelehrten zu einem Verkündiger des göttlichen Wortes machte, dessen Stimme noch heute gehört werden kann.

Johannes Otto

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Vorwort der Erstausgabe

Diese Aufzeichnungen, die ursprünglich allein für die Familie bestimmt waren, haben meinen verstorbenen Mann, den Studienrat Professor Dr. Paul Olbricht, zum Verfasser, der als naher Verwandter des Hauses Menge ebenso wie als Altphilologe die menschlichen und wissenschaftlichen Eigenschaften meines Vaters aus bester Kenntnis beurteilen konnte. Es handelt sich hierbei nicht um eine ausgesprochene Gelehrtenbiografie, vielmehr um die einfache Darstellung des Lebens Hermann Menges, das - fern von großen äußeren Geschehnissen - seinen Verlauf vor allem in der stillen Arbeitsstube nahm. Ein Leben, das dennoch und vielleicht gerade wegen seiner Bescheidenheit groß und im wahrsten Sinne des Wortes gottgesegnet genannt werden darf. Nicht nur, dass es in der langen Geschichte seines Werdens die beiden schönsten Blüten menschlicher Entwicklung hervorbrachte - die Weisheit und die Güte -, es erfuhr durch seine geistliche Erfüllung eine Krönung, wie sie der 92. Psalm ausspricht: »Sie tragen Frucht noch im Greisenalter, sind voller Saft und frischbelaubt, zu verkünden, dass Gott gerecht ist.« So wird dieses Lebensbild den zahlreichen Freunden der Menge-Bibel die nähere Bekanntschaft mit diesem schlichten Gottesmann bringen. Jenen aber, denen - wie es so oft geschieht - die Verbindung hoher Geistesbildung mit einem kindlichen, aber felsenfesten Glauben unmöglich scheint, mag dieses Büchlein als Gegenbeweis ihrer Auffassung dienen.

Helene Olbricht, geb. Menge

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1 | Die Jugend

Hermann Menge wurde am 7. Februar 1841 in Seesen geboren, wo sein Vater Registrator am Amtsgericht war. Da er das sechste Kind war - und noch dazu ein überaus schwächliches -, war wohl die Freude über seine Ankunft zunächst nicht sonderlich groß, aber sehr bald schlug die Enttäuschung der Familie dem kleinen Nachkömmling gegenüber in das Gegenteil um.

In seinem dritten Lebensjahr bekam das Kind einen schweren Keuchhusten, der das eine Auge so sehr in Mitleidenschaft zog, dass es durch eine Schwellung lange Zeit völlig verschwunden war. Als es sich endlich wieder auftat, schielte es. Hermann selbst spürte hiervon zwar wenig, obwohl er sich in späteren Jahren, sooft er seiner Kindheit gedachte, als einen Ausbund von Hässlichkeit hinstellte: rothaarig, sommersprossig und schielend. Für seine Eltern und Geschwister war aber diese Verunstaltung seines Gesichts ein großes Herzeleid. Der Rat eines Landchirurgen, von einer Operation abzusehen, sollte sich jedoch in der Folgezeit als durchaus richtig erweisen, denn von Jahr zu Jahr besserte sich das Schielen, bis es schließlich am Ende der Schulzeit völlig verschwunden war. Die geistige Befähigung des Jungen schien den Eltern zunächst wenig verheißungsvoll, ja, seine Mutter antwortete auf die Frage eines Bekannten nach der Veranlagung ihres Sohnes: »Hermann is en guter Junge, aber en büsschen dumm is er!« Und diese Auffassung wurde von der übrigen Familie jahrelang geteilt.

Auch die äußere Entwicklung des Jungen ließ auf keine günstigeren Ergebnisse hoffen, denn er war so dürftig und zierlich, dass er in seinem vierzehnten Lebensjahr unter den Konfirmanden der kleinste war. Dass er fünf Jahre später zu einem baumlangen, wenn auch überaus schmalen Jüngling aufschießen würde, überraschte seine Angehörigen und Bekannten ebenso sehr wie seine spätere geistige Entfaltung.

Hermanns Vater war ein ehrenfester und pflichttreuer Beamter, der - wie in seinem Beruf - auch in der Familie auf strenge Gewissenhaftigkeit und Zucht hielt. Er war zweimal verheiratet. Aus seiner ersten Ehe stammten zwei Töchter, aus seiner zweiten vier Kinder, deren jüngstes Hermann war. Vom Großvater war nur bekannt, dass er bei den braunschweigschen Truppen Offizier gewesen sein sollte, der bei einem der Koalitionskriege durch die Franzosen gefangen genommen wurde und dann nach seiner Rückkehr den Dienst quittierte, um das Schicksal aller anderen entlassenen Offiziere zu teilen: Sie erhielten einen kleinen Posten im Zivildienst des Landes, auf dem sie in kümmerlichster Weise ihr Leben fristeten. So wusste denn Hermann von seinem Großvater nichts weiter, als dass er bis zu seinem Tode als außer Dienst gestellter Offizier irgendwo im braunschweigschen Ländchen Chaussee-Einnehmer gewesen sein sollte.

Hermanns Mutter, eine geborene Schade, deren Vater in Berlin ebenfalls Offizier gewesen war, hatte mit neunzehn Jahren als Waise den verwitweten Gerichtsregistrator Menge geheiratet. Sie war den sechs Kindern eine so liebevolle und gütige Mutter, dass auch die beiden Stieftöchter noch im höchsten Alter ihrer mit dankbarer Anhänglichkeit gedachten. Die bescheidenen Mittel der Familie hielt sie in sparsamster Weise zusammen und suchte sogar neben ihrer ausgedehnten Tätigkeit in Haushalt und Kindererziehung noch durch Schreibarbeiten für das Gericht und für die Kirchenkasse Geld zu verdienen. Sie spann auch fleißig, um für die Akten auf dem Amtsgericht den Heftzwirn herzustellen. Am wenigsten durfte nach ihrer Ansicht an der Ausbildung der Kinder gespart werden, und ihre ständige Redensart war: »Gute Erziehung und Wissen sind die beste Mitgabe für Kinder!« Sie selbst war für ihre Zeit eine überaus gebildete Frau, die mit den ersten Familien in Seesen einen regen und herzlichen Verkehr pflegte.

Das Gehalt, das der Registrator Menge bezog, war selbst für die damalige einfache Zeit nicht eben glänzend: Es betrug monatlich fünfundzwanzig Taler! Umso staunenswerter war es, dass er trotzdem imstande war, allen sechs Kindern eine gediegene Bildung zu teil werden zu lassen, ja, sogar die beiden Söhne auf die Universität zu schicken. Dass sie sich bei ihrem Studium etwas kümmerlich durchschlagen musste, brachte ihnen vielleicht weniger Schaden, als wenn sie im Überfluss hätten schwimmen können. Jedenfalls haben alle sechs Mengekinder ihren Weg durchs Leben gemacht, ausgerüstet mit den besten Gaben, die in einem gesunden Elternhaus gepflegt und Kindern ins Herz gepflanzt werden können: Bescheidenheit, Fleiß, Pflichttreue und Religion.

Ein besonderes Glück war es für die Familie, als Hermanns Mutter unerwartet eine Erbschaft von dreitausend Talern zufiel, die zum Ankauf eines schönen geräumigen Hauses in der Hauptstraße Seesens verwendet wurde. Und hier verlebte Hermann seine eigentliche Kindheit, die sich vor allem in dem herrlichen Garten, der das Haus umgab, abspielte und an der Seite eines kleinen Mädchens, das durch Zufall seine ständige Gefährtin geworden war. Eines Tages hatte nämlich eine junge Frau mit einem dreijährigen Töchterchen bescheiden bei Hermanns Mutter angefragt, ob sie nicht in dem großen Haus eine Wohnstätte für sich bekommen könnte. Sie stammte, wie sie berichtete, aus einer guten Familie, hatte sich aber gegen den Willen ihrer Eltern mit einem Manne verheiratet, dessen Minderwertigkeit sie zu spät erkannte. Nun war sie geschieden und wollte in aller Abgeschiedenheit ihr weiteres Leben verbringen. Da die Frau auf Hermanns Eltern einen guten Eindruck machte, so räumten sie ihr ohne Weiteres eine Stube und zwei Kammern ein und gaben ihr die Erlaubnis, in der Küche mitzukochen. Sie hatten diesen Entschluss auch niemals zu bereuen, denn sehr bald gehörten die beiden Fremden vollständig mit zur Familie, und durch nichts wurde die harmonische Hausgemeinschaft mit ihnen jemals gestört.

Hermann aber liebte das kleine Mädchen wie eine Schwester, zumal seine eigenen schon verheiratet waren oder sich in jenem Alter befanden, wo ihre Neigungen sich Tanz, Theaterspielen und Ausflügen mit Herren zuwandten. Kam es einmal vor, dass er sich mit seiner unzertrennlichen Freundin zankte, dann erklärte er ihr rundweg: »So, nun heirate ich dich eben später nicht!«, worauf sie dann weinend zu ihrer Mutter lief: »Mutter, er will mich nicht heiraten, er will mich nicht heiraten!« Und sie blieb untröstlich, bis er sich wieder umstimmen ließ.

Das schöne und enge Verhältnis zwischen den beiden hielt an, bis Hermann auf die Universität ging. Da bekam er eines Tages die unerwartete Nachricht, dass sich das sechzehnjährige Mädchen mit einem Pastor in Seesen verlobt hatte. Dieser war später Generalsuperintendent in Blankenburg am Harz, und die Mutter begleitete ihre Tochter dorthin und erlebte noch die Freude an fünf Enkelkindern. Hermanns Jugendfreundin verlegte aber als alte Frau - nachdem ihr Mann gestorben war - ihren Wohnsitz nach Goslar, und dort sollte sie dem früheren Gefährten wieder begegnen. Freilich unter traurigen Umständen, denn sie war völlig gelähmt und ganz auf fremde Hilfe angewiesen. Hermann besuchte sie in ihrer Trübsal oft, saß an ihrem Rollstuhl und erzählte mit ihr von den längstvergangenen Zeiten in Seesen.

Doch zurück zur Kindheit! Nachdem Hermann vier Jahre die Bürgerschule besucht hatte, trat er 1851 in die Seesener »Jacobsonschule« ein, die im Jahre 1801 zunächst als »Höhere Judenschule« gegründet war, bald aber auch von Schülern anderer Religionsbekenntnisse besucht wurde. Sie war damals eine Art Realschule, der die beiden oberen Klassen fehlten, auf der aber auch Gelegenheit gegeben wurde, Griechisch und Latein zu lernen. Das Hauptgewicht wurde auf den deutschen Unterricht gelegt und bei diesem vor allem auf das gute Aufsagen von Gedichten. Hierin brachte es Hermann zu einer gewissen Meisterschaft, ebenso wie in den Gesangsvorträgen, die an den öffentlichen Vortragsabenden der Schule, die unter Beisein der Eltern regelmäßig veranstaltet wurden, zur Darbietung kamen. Überhaupt war für ihn diese Zeit der sorgloseste und schönste Abschnitt seiner Jugend, nach dem er, als er 1856 auf das Gymnasium in Braunschweig überging, oft genug schmerzliches Heimweh hatte.

»Nach welcher Klasse gedenkst du denn zu kommen?«, fragte ihn der Direktor des Braunschweiger Gymnasiums nach der Aufnahmeprüfung. »Nach Untersekunda!«, antwortete zuversichtlich der Prüfling, denn er war mit einem sehr guten Abgangszeugnis aus Seesen hergekommen. »Aber wie soll das denn möglich sein? Du kannst ja doch überhaupt nichts!« Trotz dieser wenig ermutigenden Erklärung nahm man ihn schließlich doch in die Untersekunda auf, um wenigstens einen Versuch zu machen. Er wurde auf den letzten Platz der untersten Bank verwiesen und war nicht wenig erstaunt, hier den Namen seines Bruders Emil mit kräftigen Messerschnitten in den Holzsitz eingegraben zu finden. Emil hatte also vor mehreren Jahren denselben Platz geziert.

Geradezu niederschmetternd war für Hermann der Ausfall der ersten lateinischen Klassenarbeit! Er bekam sein Erzeugnis als »sub censura«, »unkorrigierbar« zurück und war auch im Griechischen so schlecht ausgerüstet, dass er bei seinem Klassenlehrer Nachhilfestunden nehmen musste. Jetzt erst sollte sich zeigen, ob seine Mutter mit ihrem Urteil, dass er »en büsschen dumm« sei, recht gehabt hatte oder nicht. Nein, sie hatte sich - im Gegensatz zu so vielen Müttern, die ihren Kindern die hervorragendsten Eigenschaften andichten - in einem schweren Irrtum befunden! Denn Hermann bekundete nicht nur ein geradezu glänzendes Gedächtnis, mit dem er alles in der Klasse Behandelte, besonders die Vorübersetzungen aus den alten Schriftstellern, sicher behielt, sondern er offenbarte auch eine erstaunliche Begabung für die Erlernung fremder Sprachen. Daher das erfreuliche Ergebnis, dass er schon ein halbes Jahr nach seiner zu Ostern erfolgten Aufnahme ins Gymnasium als Primus in die Obersekunda versetzt wurde.

Noch vier Jahre nach diesem ersten Erfolg musste er auf dem Gymnasium zubringen, weil damals alle höheren Schulen in Braunschweig für jeden Schüler drei volle Jahre in der Prima vorgesehen hatten. Michaelis 1860 legte er ein ausgezeichnetes Abiturientenexamen ab und erhielt in sein Abgangszeugnis die besondere Empfehlung: »Wir bitten, den Menge nach Möglichkeit zu unterstützen; er ist der Unterstützung ebenso würdig wie bedürftig.« Tatsächlich konnte er von Hause aus nur notdürftig unterhalten werden und deshalb war es ihm auch nicht möglich, seine Kleidung auf einer einwandfreien Höhe zu halten - im Gegenteil. Hierfür hatte er dann vonseiten seiner Klassenkameraden mancherlei Hohn und Spott zu ertragen, bis es ihm eines Tages gelang, die Achtung seiner Mitschüler durch eine besondere Leistung zu gewinnen. Er musste bei seinem Deutschlehrer »Des Sängers Fluch« vortragen, was er mit einem so großartigen Schwung tat, dass er damit den bisherigen Matador auf diesem Gebiet - einen dreiundzwanzigjährigen Schauspieler, der mit in seiner Klasse saß - völlig in den Schatten stellte. Von da an hatte er sich bei den Kameraden durchgesetzt. Auch der Lehrer war so begeistert, dass er ihn bei der nächsten öffentlichen Schulfeier vortragen ließ. So hatte denn die Seesener Schule doch wenigstens an dem bescheidenen Baume ihrer Weisheit eine wertvolle Frucht gezeitigt, die Hermann nun zunutze kam!

Im Übrigen spielte sich sein Leben in Braunschweig im Hause einer Witwe ab, die mit ihrer Nichte einen kleinen Butter- und Käseladen betrieb und ihn für einhundertzwanzig Taler im Jahre in Kost und Wohnung genommen hatte. Der Aufwand war also für die Eltern erschwinglich, wenn auch drückend genug. Seltsam berührte es den Jungen, dass er im Hause dieser Witwe Miche niemals eine religiöse Anregung empfing, ja, dass Bedürfnisse dieser Art bei beiden Frauen überhaupt nicht bestanden und dass ihnen selbst der Zauber des Weihnachtsfestes mit dem Lichterbaum völlig unbekannt war. Und doch waren sie wahrhaft gute Menschen - überdies auch große Blumenfreunde, die Hermann dazu anhielten, in den Holzkästen vor den Fenstern allerlei Pflanzen auszusäen. Noch im hohen Alter erinnerte er sich mit herzlicher Freude seiner schönen Balsaminen vor Frau Miches Fenster. Das stille und bescheidene Leben bei dieser trefflichen Kostmutter wurde nur einmal auf ein Jahr unterbrochen, als Hermann in das Haus eines Rechtsanwalts übersiedelte, der zur Miterziehung seines Sohnes einen zuverlässigen Schüler umsonst zu sich nehmen wollte. Der Direktor des Gymnasiums hatte ihm den jungen Menge empfohlen, und dieser nahm voller Freude das Angebot an. Er fühlte sich in dem wohlhabenden Haus überaus glücklich, zumal sein Verhältnis zu den Kindern ein sehr freundschaftliches war und er auch mit dem sehr eigenartigen und launischen Rechtsanwalt, von dem die Leute sagten, dass er seine Frau regelrecht »ins Grab geärgert« habe, gut auskam.

Nach einem Jahr nahm die Herrlichkeit ein plötzliches und überraschendes Ende, denn bei Hermanns Eltern lief ein Brief des Anwalts ein, dass es ihrem Sohne nicht mehr bei ihm gefalle und sie ihn wieder fortholen möchten. Die Eltern waren sprachlos - am meisten aber Hermann selbst, der niemals irgendwelche Andeutungen gemacht hatte, dass es ihm etwa in seiner augenblicklichen Lage nicht mehr zusage, im Gegenteil. Natürlich kehrte er umgehend in die kleine Behausung der Witwe Miche zurück und zerbrach sich den Kopf, was für Gründe den Rechtsanwalt zu seinem Entschluss bestimmt haben könnten. Eine Antwort bekam er hierauf niemals, obwohl der Sohn des Betreffenden bereits wenige Stunden nach seiner Rückkehr zu Frau Miche erschien, um im Namen seines Vaters darum zu bitten, Hermann möchte doch wenigstens jeden Sonntag bei ihnen sein und mit ihnen essen. Und der gutmütige Hermann versprach das denn auch.

Im Herbst 1860 bezog Hermann die Universität Göttingen, die damals für Braunschweig »die Landesuniversität« war. Er studierte in der Hauptsache alte Sprachen und Geschichte.

Über Überfluss an Geld konnte er nicht klagen, aber abgesehen von dem, was sein Vater ihm geben konnte, fanden sich für ihn - wahrscheinlich auf die Empfehlung in seinem Abgangszeugnis hin - allerlei Unterstützungen, Freitische und Stipendien. Auch Privatstunden boten sich ihm hier und da. Not brauchte er also nicht zu leiden, ja, er konnte sogar drei Semester lang der nicht schlagenden Burschenschaft Hercynia angehören, bis diese aufflog, weil viele Aktiven Göttingen verließen, ohne dass sich Nachwuchs für die Verbindung fand.

Hermann genoss das frohe und unbeschwerte Studentenleben in vollen Zügen, obwohl für ihn an erster Stelle von Anfang an die Arbeit stand, die er seinem Studium widmete. Bereits im sechsten Semester promovierte er zum Dr. phil. und schon im nächsten Sommer - 1864 - bestand er das Staatsexamen. Von den damaligen Göttinger Professoren war es vor allem der Hofrat Ernst von Loitzsch, der ihm wohlwollte und der ihm zum geistigen Führer wurde. Besonders im philologischen Seminar hatte der Hofrat das gediegene Wissen und Streben Hermanns schätzen gelernt, und so sagte er ihm denn bei seinem Abschied von der Universität: »Menge, folgen Sie mir! Ich bringe Sie an jeden Ort, wohin Sie wollen. Sie sollen einmal sehn, was Sie für eine Karriere machen!«

Als Hermann von diesen Plänen des Hofrats seiner Mutter erzählte, entsetzte sie sich bei dem Gedanken, dass ihr Jüngster nun vielleicht sehr weit von ihr fortkommen könnte, und beschwor ihn, doch ja im Braunschweiger Land zu bleiben. Diese Wünsche und Bitten seiner Mutter teilte Hermann dann bei der nächsten Gelegenheit dem Hofrat mit und bekam die ironische Antwort: »Ach ja, Sie sind aus Braunschweig! Da können Sie natürlich nicht über die Grenzen des Herzogtums blicken!« Damit war die Gunst des einflussreichen Herrn verscherzt, denn es bedeutete für ihn eine tiefe Enttäuschung, dass sein wohlgemeinter Plan mit Hermann bei dessen Familie auf Ablehnung gestoßen war.

Die Staatsprüfung der Braunschweiger Landeskinder, die in Göttingen studiert hatten, fand damals in Braunschweig statt, und zwar vor einer staatlichen Prüfungskommission, deren Vorsitzender der Abt Hille in Wolfenbüttel war. Zugleich bekleidete dieser auch das Unterrichtsministerium für Braunschweig, sodass ihm das ganze höhere Schulwesen des Herzogtums unterstand und somit auch die Besetzung der Stellen aller höheren Lehranstalten. Diese für sämtliche Kandidaten des höheren Schulwesens in Braunschweig höchst wichtige Persönlichkeit hatte bereits von den Göttinger Professoren von der Begabung des jungen Menge gehört und war dann auch bei der persönlichen Bekanntschaft mit ihm in seinen Erwartungen in keiner Weise enttäuscht. Ja, er wurde für die Zukunft Hermanns besonderer Gönner und somit in gewisser Weise sein Schicksal. Als der Kandidat Menge nach Beendigung seiner Staatsprüfung, die glänzend ausfiel - die mündliche Prüfung hatte von vormittags neun bis zwei Uhr nachmittags gedauert -, voller Glück in seiner unendlichen Länge und Magerkeit, mit hohem Hut und fliegenden Frackschößen aus dem Prüfungslokal über den Kohlmarkt eilte, standen dort zwei Handwerksburschen, von denen der eine beim Anblick der wunderlichen Gestalt dem andern zurief: »Mensch, guck' dich emol das Fasson an!« Bei dem damals in Braunschweig herrschenden Lehrermangel konnte Hermann auf eine baldige Anstellung rechnen, und diese Erwartungen sollten sich sogar schneller erfüllen, als er selbst gedacht hatte. Bald nach dem Examen richtete der Abt Hille an ihn die Anfrage, ob er nicht Lust habe, im Herzogtum Braunschweig eine Stelle zu übernehmen. Obwohl Hermann wusste, dass sein Vater den Wunsch hatte, ihn erst einmal auf einige Monate nach Paris zu schicken, antwortete er doch dem Abt mit einem freudigen »Ja«. Aber als ihm dieser hierauf eröffnete, ihn an das Gymnasium in Helmstedt schicken zu wollen, suchte er sofort, die Sache rückgängig zu machen. Denn gerade die Helmstedter Schule war damals wegen der Person ihres Direktors im ganzen Lande geradezu verrufen. Dieser sei - so hieß es - ein Mann voller Bosheit und Falschheit, dessen Gesinnung ebenso verächtlich und abstoßend sei wie sein vom Veitstanz1 entstelltes Gesicht. Er ließe seine Frau und seine nicht weniger als dreizehn Kinder fast verhungern und führe stattdessen außer seinem Hause ganz offenkundig ein lasterhaftes und verschwenderisches Leben. Und ausgerechnet diesem höchst zweifelhaften Jugenderzieher sollte Hermann nun unterstellt werden, um sich unter ihm seine ersten unterrichtlichen Sporen zu verdienen! Dass es überhaupt möglich war, einen so minderwertigen Menschen unangefochten in dem verantwortungsvollen Amt eines Schulleiters zu belassen, war allein durch die Verlotterung der damaligen öffentlichen staatlichen Verhältnisse in Braunschweig zu erklären.

Jedenfalls sträubte sich Hermann mit Händen und Füßen gegen das Helmstedter Angebot, aber der Abt ließ nicht locker und verstand durch allerlei Versprechungen, so auf seinen Beistand und dergleichen, alle Einwendungen zu übertäuben, bis der andere schließlich - wenn auch mit Zittern und Zagen - seinen Widerstand aufgab. Mit den Worten: »Nun also gut, halten Sie sich zu Michaelis bereit« schieden beide voneinander - der Abt heilsfroh, für die berüchtigte Schule in Helmstedt eine tüchtige Lehrkraft gewonnen zu haben, Hermann dagegen voll schwerster Sorgen den kommenden Dingen gegenüber.

Und nicht nur das Bangen vor dem neuen Direktor bedrückte seine Seele, sondern auch die zweifelnde Frage, ob er denn überhaupt den an ihn neu gestellten Anforderungen einigermaßen werde genügen können. Denn der Abt hatte ihm gleich eröffnet, dass er an der Helmstedter Schule zwei schwierige Aufgaben übernehmen müsse; zunächst einmal den Unterricht im Hebräischen! Hermann entgegnete, dass dies unmöglich sei, da er weder auf der Schule noch auf der Universität so viel Hebräisch gelernt habe, dass er darin etwa unterrichten könnte. Aber der Abt erklärte mit größter Seelenruhe: »Tun Sie es nur getrost! Wir übernehmen die Verantwortung!« Auf die zweite Zumutung: »Sie müssen außerdem in Helmstedt in drei Klassen den Religionsunterricht übernehmen!« antwortete aber Hermann ganz außer sich: »Nein, das tue ich auf keinen Fall! Dabei bleibe ich!« Doch auch in dieser Frage gelang es den Überredungskünsten des Abts, seinen Widerstand zu brechen. Das erreichte er vor allem mit der wiederholten Versicherung: »Wir übernehmen allein die Verantwortung, und wir werden Ihnen in allen Schwierigkeiten, in die Sie geraten sollten, allezeit hilfreich zur Seite stehn!«

1Veitstanz (älterer Bezeichnung für Chorea major), auch als Huntingtonsche Chorea oder Huntington-Krankheit bezeichnet ist eine bis heute unheilbare vererbliche Erkrankung des Gehirns.

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2 | Helmstedt

Bevor der Herbst 1864 herankam und mit ihm die Übersiedlung nach Helmstedt, konnte Hermann noch acht schöne Ferienwochen im Seesener Elternhaus verleben. Zu seiner Verwunderung bekam er keinen amtlichen Bescheid über den Antritt seiner Stelle und schrieb daher in diesem Sinne an den Abt Hille. Die umgehende Antwort auf sein Schreiben beleuchtet wiederum in drastischer Weise die Nachlässigkeit, die damals in den Beamtenstuben des Herzogtums Braunschweig herrschte - sie lautete: »Ihre Angelegenheit resp. Berufung nach Helmstedt ist ganz in Vergessenheit geraten, reisen Sie sofort ab!« Hermann wollte daraufhin noch am selben Tag von Seesen scheiden, aber sein Vater redete ihm zu, sich Zeit zu lassen, denn: »Eine Übereilung ist unter den obwaltenden Umständen durchaus unangebracht!« So reiste er denn erst am folgenden Tag. Nach seiner Ankunft in dem bescheidenen Städtchen begab er sich zunächst auf die Wohnungssuche und dann im Abenddämmern ins Direktorhaus, um sich dem gefürchteten Manne vorzustellen. Er bekam aber den Bescheid, dass der Herr Direktor ausgegangen sei und erst in der Nacht heimkehren werde. Am nächsten Vormittag machte er nochmals den Versuch, seinen Vorgesetzten zu erreichen. Da dieser jedoch noch im Bette lag, wurde ihm nur durch ein Mädchen der Stundenplan ausgehändigt. Mit diesem in der Tasche ging er nun ins Gymnasium, wo er nach dem Plan eine Stunde Religion in Quarta zu geben hatte. Da der Morgen aber so gut wie vorüber war, schickte er die Schüler nach Hause und kehrte ebenfalls in seine Wohnung zurück. Kaum war er dort angelangt, als auch schon der Schuldiener gelaufen kam: der Doktor Menge solle sofort zum Direktor kommen! Offenbar hatte jener die Schule sehr bald nach Hermanns Weggang betreten und sich überzeugt, dass die Quarta mit ihrem neuen Lehrer ausgeflogen war. Daher fiel dann der erste Empfang bei seinem Vorgesetzten für Hermann derart aus, dass er sich in gröbster Weise angeschrien hörte: »Was fällt Ihnen denn eigentlich ein? Sie wollen sich hier wohl als Herr aufspielen? So eine Unverschämtheit ist mir denn doch noch nicht vorgekommen!«

Nach dieser wenig ermutigenden Begrüßung suchte der Angegriffene seine Handlungsweise ruhig und sachlich zu erklären, wobei er auch hervorhob, dass er sich ja doch auf die Stunde überhaupt nicht hätte vorbereiten können - und da verebbte der Zorn des Empörten allmählich und schlug unerwartet ins Gegenteil um: Er lud in größter Liebenswürdigkeit den vorher Beschimpften zu einem Glase Wein ein.

Damit schien zwischen den beiden ein dauerhafter Friede gesichert. In der Tat wurde der junge Lehrer in der Folgezeit immer wieder aufs Herzlichste in die mit Töchtern reich gesegnete Familie seines Direktors eingeladen. Doch eines Tages schlug der Wind plötzlich um, ohne dass der in Ungnade Gefallene zunächst von dem Grund dafür auch nur die leiseste Ahnung gehabt hätte - der sollte ihm erst später klar werben. Bei aller Gelehrsamkeit, die Hermann in Göttingen mit bestem Erfolg in sich aufgenommen hatte, fehlte ihm jede Spur von Selbstbewusstsein - ja, er neigte zu der bedrückenden Annahme, dass er im Grunde eigentlich gar nichts wisse, und suchte darum diesen vermeintlichen Mangel durch einen wahren Bienenfleiß auszugleichen. Er arbeitete täglich vierzehn Stunden, wobei er sich für jede einzelne Lehrstunde sorgfältig vorbereitete, und zwar so, dass er schriftlich die Darbietung des Stoffes festlegte, sodass jeder Entwurf gewissermaßen ein »Frage- und Antwortspiel« darstellte. Dieser Übung blieb er auch in späteren Jahren treu. Aus ihr ist - wie an späterer Stelle näher ausgeführt werden soll - sein »Repetitorium der lateinischen Syntax und Stilistik« hervorgegangen, das als »die Krone« seiner zahlreichen philologischen Werke angesprochen werden kann. Freilich hätte aller auf die Vorbereitung verwandte Fleiß dem jungen Lehrer nicht viel genützt, wenn er darüber hinaus nicht jene für den Jugenderzieher wichtigste Eigenschaft besessen hätte: die Fähigkeit zu lehren! Dass sie verborgen in ihm lag, hatte er selbst bis dahin nicht geahnt - nun, als er zu unterrichten begann, sprudelte es wie frisches Quellwasser, das aus der geheimen Erdtiefe mit übermächtigem Druck tritt, aus ihm hervor. Nicht nur die Freude am Unterricht war da, sondern zugleich auch ein warmes und tiefes Verstehen für die Seele der jungen Menschenkinder, für ihre Freuden und Leiden, ihre Vorzüge und Schwächen. Die Jugend ihrerseits, die ja ein überaus feines Gefühl dafür hat, wie sich ein Lehrer zu ihr einstellt, wusste sehr bald, dass es ihr Dr. Menge von Herzen gut mit ihr meinte und ihr Bestes wollte. Sie empfand dankbar seine wahrhaft väterliche Güte und vergalt sie ihm mit Liebe und guter Führung - ja, sie ging geradezu durchs Feuer für ihn. Um nichts hatte sich Hermann mehr Sorge gemacht als um den Unterricht in Hebräisch, den er auf Wunsch des Abts Hille in der Prima zu erteilen hatte. Als er zum ersten Mal vor die Primaner trat, redete er sie mit den Worten an: »Meine jungen Freunde! Ich habe den Auftrag, Ihnen hebräischen Unterricht zu erteilen, und habe dabei das Bewusstsein, selbst nichts Ordentliches davon zu wissen. Ich bin also so ziemlich in der gleichen Lage wie Sie! Was wir aber noch nicht können, das lässt sich lernen. Ich muss es lernen, und Sie sollen es lernen! Da wollen wir uns zusammentun und uns in gemeinsamer Arbeit die Kenntnisse aneignen, die von uns verlangt werden. Als Freunde wollen wir einander helfen!« Dass der junge Lehrer durch diese Worte die Herzen seiner Schüler im Augenblick für sich gewann, war allzu natürlich.

So hatte er von dieser ersten Stunde an gerade an dem von ihm so gefürchteten hebräischen Unterricht die größte Freude.

Schließlich besaß er auch noch eine weitere wichtige Fähigkeit zum Lehren: die Gabe, den Unterrichtsstoff klar und einfach seinen Schülern beizubringen. Mit freudiger Willigkeit ließen sie sich von ihm führen und dankten ihm sein Mühen durch gute Leistungen. Für die Hebung des allzu geringen Selbstvertrauens Hermanns war es von Bedeutung, dass eines Tages in der Religionsstunde völlig unerwartet der Abt Hille erschien. Im ersten Schrecken über diesen Besuch verstummte der mit Feuereifer Unterrichtende sofort, fand aber nach der freundlichen Aufforderung des Abts, ruhig an der abgebrochenen Stelle fortzufahren, seine Sprache wieder. Die Stunde nahm einen flotten und anregenden Verlauf, sodass ihm der Abt zum Schluss wohlwollend auf die Schulter klopfte: »Einen solchen Religionsunterricht habe ich bis jetzt noch in keiner Klasse erlebt!« Diese Anerkennung war für Hermann ein gutes Gegengewicht zu den Bosheiten, die ihm sein Direktor immer wieder zufügte und die ihn auf die Dauer mehr und mehr belasteten, zumal er sich - wie schon erwähnt - den völligen Gesinnungsumschwung dieses Herrn in keiner Weise zu erklären wusste. Erst seine Schwester Auguste, die nach dem Tode ihres Mannes, Pastor Körner, nach Helmstedt gezogen war, um ihrem Bruder Hermann den Haushalt zu führen, durchschaute die inneren Zusammenhänge. Natürlich hatte der Direktor gehofft, den neuen Lehrer als Schwiegersohn für eine seiner zahlreichen Töchter gewinnen zu können. Da nun sein Untergebener in dieser Richtung nicht die geringsten Anstalten machte, entlud er das ganze Füllhorn seiner Enttäuschung über dessen unschuldigem Haupte.

Für Hermann war es auch sonst ein großer Gewinn, dass er nicht nur durch seine Schwester eine behagliche Häuslichkeit, sondern zugleich an ihr eine treue und mitfühlende Seele gefunden hatte, der er zu jeder Stunde sein oft schwer bekümmertes Herz ausschütten konnte.

In welcher Weise er durch seinen Vorgesetzten schikaniert wurde, mag nur ein Beispiel beleuchten. Nach altem Brauch wurde am Schluss jeden Schuljahrs eine öffentliche Prüfung sämtlicher Klassen vorgenommen, zu der die angesehenen Bürger der Stadt und die Angehörigen der Schüler feierlich eingeladen wurden. Für jeden Lehrer war es dabei Ehrensache, möglichst gut mit seiner Klasse abzuschneiden.

Dass der Dr. Menge damals von allen Lehrern der Anstalt der erfolgreichste war, stand außer Zweifel - um so bitterer war es daher für ihn, als der Direktor vor versammelter Lehrerschaft erklärte, dass keine der Klassen, in denen Herr Menge unterrichte, so gefördert sei, dass sie in einer öffentlichen Prüfung bestehen könne. Aus diesem Grunde käme die Frage, welche Klasse Dr. Menge vorführen solle, überhaupt nicht in Betracht: Keine sei dazu fähig!

Diese Ehrenkränkung empfand Menge als so ungeheuerlich, dass ihm die Worte versagten. Aber zu seiner Rechtfertigung kam ihm das Schicksal selbst zu Hilfe, denn in der Nacht vor der besagten Prüfung erkrankte jener Lehrer, der Hermanns Quinta vorführen sollte, so schwer, dass nun der eigentliche Klassenlehrer einspringen musste. Und zwar musste er seine Schüler über eine Stunde in Latein prüfen, während der Direktor für die übrigen Prüfungen von jeher nur zwanzig Minuten festsetzte. Er hatte offenbar die Hoffnung, die Quinta werde auf eine so lange Zeit nicht vorbereitet sein, der Stoff werde ausgehen und ihr Lehrer schließlich arg bloßgestellt dastehen.

Aber der Mann hatte sich verrechnet! Bis zum Schluss verlief der Unterricht geradezu glänzend. Alle Jungen zeigten nicht nur tüchtige Kenntnisse, sondern beteiligten sich mit einer so freudigen Lebhaftigkeit an der Sache, dass sämtliche Zuhörer in höchstem Maße befriedigt waren. Selbst der Direktor konnte wohl oder übel zum Schluss seinen Beifall nicht versagen: »Jungens, das habt ihr gut gemacht! Ihr seid alle versetzungsfähig!« Aber für den jungen Lehrer Menge fand er kein Wort der Anerkennung. Ja, der offensichtliche Sieg Hermanns steigerte die schikanöse Gesinnung seines Vorgesetzten gegen ihn um ein weiteres, sodass er sich schließlich gezwungen sah, den einzig richtigen Weg zu gehen, den er im Grunde von Anfang an hätte einschlagen müssen: Er fuhr nach Wolfenbüttel zum Abt Hille und schüttete diesem sein übervolles und gequältes Herz aus. Der väterliche Freund erklärte ihm sofort: »Sie sind heute zum letzten Mal in Helmstedt in die Schule gegangen, ich versetze Sie umgehend an das Gymnasium in Holzminden, wo gerade eine Stelle frei ist!« Wer hätte beglückter sein können als Hermann! Aber er war es nur insofern, als er nicht wieder nach Helmstedt zurück brauchte, denn das Wort »Holzminden« hatte für ihn keineswegs einen guten Klang, da auch über den dortigen Anstaltsleiter üble Gerüchte im Land umgingen. Er sollte ein höchst eigenartiger, verschlossener und hinterhältiger Mann sein, sodass durchaus zu fürchten war, vom Regen in die Traufe zu kommen. Hermann äußerte diese Bedenken dem Abt gegenüber, aber sie wurden wiederum - wie bei der Helmstedter Berufung - zerstreut und in die Versicherung der jederzeitigen Hilfe umgekehrt. So fand dann die Leidenszeit in Helmstedt ihren Abschluss. Von den vielerlei Erfahrungen, die Hermann in ihr gemacht hatte, war jedenfalls die bedeutungsvollste die, dass ihm sein Lehrerfolg das richtige und notwendige Maß an Selbstvertrauen eingebracht hatte, was für die neuen, schweren Aufgaben, die seiner in Holzminden warteten, unbedingt nötig war. Auch das hatte er einsehen gelernt, dass ein junger Mann nur so lange das begehrte Einladungsobjekt für die Familien einer kleinen Stadt ist, als die Hoffnung besteht, mit ihm durch eine der »fälligen« Töchter verwandtschaftlich verbunden zu werden, und dass dieser förmliche Wettstreit in dem Augenblick erlischt, sich gar in Feindseligkeit kehrt, wo der Betreffende jenen Absichten zuwiderhandelt und sich womöglich mit einem auswärtigen Mädchen verlobt. In der Tat hatte Hermann voller Harmlosigkeit bereits von dem Mieten einer kleinen Wohnung in Helmstedt gesprochen, da er einen eigenen Hausstand gründen wolle - nun, da er nach Holzminden kam, war er glücklich, seine junge Frau nicht den Strömungen enttäuschter und gehässiger Helmstedter Mütter und Töchter aussetzen zu müssen.

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3 | Verlobung

Schon als Student hatte Hermann des Öfteren von Göttingen aus seine Schwester Dorette besucht, die mit dem Oberförster Steigerthal in Golmbach bei Stadtoldendorf in Braunschweig verheiratet war. Das waren dann immer für alle Beteiligten Festtage gewesen, wenn der muntere Studiosus in der Oberförsterei einkehrte; und manches Fässchen Bier aus der Allersheimer Brauerei musste herbeigeschafft werden, damit er und sein lebensfroher Schwager keinen Durst litten.

Unmittelbar neben der Oberförsterei lag das schöne Gut des Landwirts Hoffmeister. Beide Gärten stießen aneinander und waren nur durch einen Zaun getrennt. So konnte es nicht fehlen, dass der Student bald mit der Hoffmeisterschen Familie bekannt wurde, oder, richtiger gesagt, sich bekannt zu machen wusste, da ihm gleich bei seinem ersten Besuch in Golmbach sein Schwager gesagt hatte: »Da nebenan ist ein hübsches Mädchen, die Marie, die wird dir gefallen!«

Das war natürlich verlockend genug! Die Bekanntschaft mit ihr war um so leichter herzustellen, als dem Steigerthalschen Hause ein junges Mädchen, Gustel, als Stütze der Hausfrau angehörte, das mit der Marie Hoffmeister eng befreundet war. So machte denn Hermann sehr bald im Nachbarhause Besuch und wurde freundlich aufgenommen. Und was der Schwager vorausgesagt hatte, trat ein: Hermann fand an dem heiteren und lebhaften Wesen des in jeder Beziehung anziehenden jungen Mädchens ein großes Gefallen, und bei jedem seiner Besuche in Golmbach gab es ein fröhliches Zusammensein mit ihm.

Da der Student Menge ein prächtiger Unterhalter war, der voller Witz und lustiger Einfälle steckte, konnte sich auch Marie seinem gewinnenden Wesen nicht entziehen. So geschah jedenfalls auch von ihrer Seite nichts, was etwa ein Treffen im Garten verhindert hätte, wobei beide - getrennt durch den missgünstigen Gartenzaun - manche Stunde in angeregtem Gespräch miteinander verbrachten. Auch Spaziergänge wurden im Verein mit anderen Bekannten unternommen, bei denen Hermann und Marie eine glückliche Gemeinschaft für sich bildeten - die auch von den anderen bereits als solche gewürdigt wurde, ohne dass es zu einer entscheidenden Aussprache zwischen ihnen gekommen wäre.

Hermanns Gesundheit war zu dieser Zeit bei seinem übermäßigen Längenwachstum nicht die beste - ja, ein Göttinger Arzt hatte ihm nur »noch wenige Lebensjahre« in Aussicht gestellt, nicht ahnend, dass der hochgeschossene, schmalbrüstige Patient noch weit über das biblische Alter hinaus eine unerschütterliche Lebenskraft bewahren würde! Auch seine Mutter machte sich damals die schwersten Sorgen um sein leibliches Wohl, das infolge der angespannten Arbeit bis in die Nächte hinein und bei dem Mangel an Spaziergängen während der Helmstedter Zeit sehr gelitten hatte. Deshalb wünschte sie nichts dringender, als dass er bald eine Lebensgefährtin finde, die ihn in liebevoller Weise hegte und pflegte. So schlug sie ihm denn vor, Marie Hoffmeister zur Frau zu nehmen, da sie durch Steigerthals nur Gutes von ihr gehört hatte - und dieser Rat konnte Hermann nur gefallen, denn er selbst hatte schon oft genug denselben Gedanken erwogen. Bei seinem nächsten Besuch in Seesen musste er jedoch feststellen, dass seine Mutter inzwischen anderen Sinnes geworden war und von einer sofortigen Werbung um Marie nichts mehr wissen wollte. Dies war eine bittere Enttäuschung für ihn, aber - der damaligen Zeit entsprechend - fügte er sich als gehorsamer Sohn dem mütterlichen Wunsche und fuhr nicht, wie er es vorher beabsichtigt hatte, zur Brautwerbung nach Golmbach.

Statt dessen fuhr seine Mutter selbst hin, um die Bekanntschaft des fraglichen Mädchens persönlich zu machen und ihre Eignung für ihren Hermann mit kritischen Augen und Ohren zu prüfen. Dieses Examen bestand Marie Hoffmeister sozusagen mit Auszeichnung. Nun gab es für Hermann kein Zaudern mehr.

In den Michaelisferien 1866 traf er in Golmbach ein. Und als er an einem schönen Sonntagnachmittag am Fenster der Oberförsterei stand, sah er zu seinem Entzücken die hübsche Marie im strahlenden Glanze der Herbstsonne zu »den Eichen« wandern, einem kleinen, auf naher Anhöhe gelegenen Wäldchen. Beflügelten Schrittes eilte er ihr nach, und der Schwager Steigerthal sah die beiden Gestalten - vom Hochsitz eines Bodenfensters aus - hinter den Bäumen untertauchen.

Am gleichen Abend stellte sich Hermann der Mutter Hoffmeister als Schwiegersohn vor, und die Mitfreude schlug bei ihr wie auch in der Oberförsterei hohe Wellen. Der einzige Schatten, der auf dem Glück der jungen Brautleute lag, war das Fehlen von Maries Vater, der ein halbes Jahr vorher gestorben war.

Dieser Heinrich Hoffmeister war ein prächtiger, angesehener und allgemein beliebter Mann gewesen, der im Verein mit seiner Frau das Gut zu hoher Blüte gebracht hatte und einer der begütertsten Landwirte der Gegend war. Viele Jahre hindurch war er Mitglied des Braunschweiger Landtags gewesen, bis er in den besten Mannesjahren von einer tückischen Krankheit, einer Schlundverengung, dahingerafft wurde. Leider gab seine überaus tüchtige Frau viel zu früh das Gut an ihren Sohn Robert ab, unter dessen Händen - er war ebenso träge wie gleichgültig - es mit den Jahren verfiel, bis es, nachdem Jahrhunderte lang die Hoffmeisters darauf gesessen, in fremden Besitz überging.

So herzlich Maries Mutter zunächst den neuen Schwiegersohn aufnahm und so ungetrübt ihr Verhältnis zu ihm bis in ihr hohes Alter blieb, so kamen ihr doch sehr bald nach der Verlobung ernste Bedenken, ob diese Verbindung für ihre einzige Tochter ein wirkliches Glück bedeute. Dass Hermann, rein äußerlich betrachtet, mit seinem damals noch recht kümmerlichen Gehalt, keine besonders glänzende Heirat für Marie war, fiel dabei weniger ins Gewicht als die Sorge um seinen leidenden Gesundheitszustand und die Vorstellung, dass sich ein reines Landkind wie ihre Tochter ganz gewiss nur sehr schwer in städtische Verhältnisse werde einleben können. Das Brautpaar selbst verlebte - unbeschwert von solchen Gedanken - Tag des reinen Glücks in Golmbach, und erst nach seiner Rückkehr nach Helmstedt kam Hermann sein schlechter körperlicher Zustand zu Bewusstsein. Dieser hatte sich so verschlimmert, dass er sich, wenn er aus der Schule kam, jedes Mal vor Kraftlosigkeit zunächst ins Bett legen musste, sodass die Klatschbasen im Städtchen bereits davon sprachen, dass »der arme junge Doktor die Schwindsucht habe«. Da drängte sich ihm in schlaflosen Nächten immer wieder die Frage auf, ob er es vor Gott und den Menschen und nicht zuletzt vor sich selbst verantworten könne, ein blühendes, gesundes Menschenkind an sich zu binden, wenn er selber doch hinfällig und krank war. Diese Gedanken quälten ihn schließlich derart, dass er den Entschluss fasste, so oder so dem elenden Zustand ein Ende zu machen.

So fuhr er denn zu einem Professor nach Berlin, dessen Ruf als bedeutendster Arzt für innere Krankheiten weit und breit rühmend verkündet wurde. Von seinem Urteil wollte es Hermann abhängig machen, ob er seiner Braut das Jawort zurückgeben müsste oder ob er an eine baldige Heirat denken dürfe. In einen behaglichen Reisepelz gehüllt, den ihm sein Hauswirt freundlich geliehen hatte, suchte er die Wohnung des Professors auf, um aus seinem Munde den Schicksalsspruch über sein Leben zu empfangen. Alles, was er sagen wollte, hatte er vorher fein säuberlich auf ein Stück Papier aufgezeichnet, damit der Arzt schon vor der Untersuchung über alles Wissenswerte unterrichtet wäre. Dieser las sich dann auch den Krankheitsbericht sorgfältig durch und nahm danach eine lange und gründliche Untersuchung vor. Nach ihrer Beendigung sprach er die erlösenden Worte: »Menschenskind, Sie haben ja einen Prachtleib! Aber was haben Sie daraus gemacht? Einen Schandleib! Und zwar durch Ihre unverständige und schädliche Lebensweise! Eine besondere Kur brauche ich Ihnen nicht zu verschreiben - aber regelmäßig spazieren gehen müssen Sie, täglich kräftig Ihre Lungen voll frische Luft pumpen! Mit einem Wort - Sie müssen gesünder leben!«

Nach dieser beglückenden Eröffnung stellte Hermann die Frage, die ihm am meisten auf der Seele brannte: »Und darf ich heiraten?« - »Heiraten Sie getrost! Je eher, je besser!« Mit dem Gefühl, sein Leben neu geschenkt bekommen zu haben, kehrte Hermann nach Helmstedt zurück, um ein paar Wochen später die Weihnachtsferien bei seiner Braut in Golmbach zu verleben. Diese, von dem erfreulichen Ergebnis der Berliner Untersuchung natürlich längst in Kenntnis gesetzt, erwartete ihren Verlobten voll unbeschreiblicher Freude. Bis in ihr Innerstes erschrak sie aber, als ihr ein elender und kranker Mann entgegentrat, der die gute Auskunft des Arztes geradezu Lügen zu strafen schien. Zu der bisherigen Schwäche hatte sich nämlich bei Hermann noch eine Erkrankung des Magens gesellt, sodass er so gut wie nichts essen konnte. Trotz alledem verlebte er mit Marie so köstliche Weihnachtstage, dass er sich ihrer noch im höchsten Greisenalter mit wahrer Herzensfreude erinnerte.

Die Hochzeit wurde bereits für die kommenden Osterferien vorgesehen, denn der Rat des Professors sollte nun so schnell wie möglich befolgt werden. Was gab es da alles zu besprechen, zu bedenken, zu erwägen! Tausenderlei nichtige Dinge wurden auf einmal zu Wichtigkeiten, die nur der verstehen kann, der sich selbst schon in der gleichen beglückenden Lage befunden hat. Am Schluss der Ferien schied das Brautpaar in der frohen Gewissheit, dass dies der letzte Abschied sei und dass bei der nächsten Abreise das junge Fräulein Hoffmeister als Frau Dr. Menge nach Helmstedt mitfahren werde.

Aber alles Sorgen und Besorgen, Überlegen und Vorbereiten sollte am Ende doch zwecklos sein, denn die Versetzung Hermanns nach Holzminden schob die geplante Heirat bis auf Weiteres hinaus. Zunächst war in der neuen Stadt keine Wohnung vorhanden, dann traten dort an Hermann so neue und schwierige Aufgaben heran, dass tatsächlich für ein junges Eheglück keine Zeit übrig geblieben wäre. So wurde denn die Hochzeit bis in den Herbst verschoben - bis dahin würde Hermann genügend Zeit haben, sich in die neuen Berufspflichten und Verhältnisse einzuarbeiten. Am 8. Oktober 1867 fand die Trauung in Golmbach statt. Es war eine überaus großartige Hochzeitsfeier, bei der die beiderseitigen zahlreichen Verwandten fast vollzählig vertreten waren. Unter ihnen befand sich auch ein junges Mädchen, Alwine Grüneberg, die in altbraunschweiger Tracht entzückende Vorführungen zum Besten gab. Da ihr Schicksal für alle Zeiten in Hermanns Leben eine tiefe Spur hinterließ, soll es nicht übergangen werden.

Alwinens Vater besaß in Braunschweig eine gut gehende Buchhandlung und einen Buchverlag. Hermann war bei dieser Familie während seiner Gymnasiastenzeit oft zu Gast gewesen und hatte auf den Wunsch der Mutter der elfjährigen Alwine Klavierstunden gegeben. Auch als Student kehrte er noch oft in dem Grünebergschen Hause ein und war mit den beiden Töchtern herzlich befreundet, ohne zu ahnen, dass Alwine seit ihrer Kindheit eine tiefe Neigung für ihn gefasst hatte, die sie scheu verborgen hielt. Dies erfuhr er erst nach ihrem Tod.

Während seiner ersten Ehejahre in Holzminden besuchte das junge Mädchen ihn und seine Frau öfters, bis es bald nach seinem zwanzigsten Lebensjahr von einer unheilvollen Krankheit, der Knochentuberkulose, befallen wurde, deren erste Anzeichen zuerst hinter dem Ohr auftraten. Die Ärzte hofften, dem Übel durch einen operativen Eingriff Halt gebieten zu können, und die Patientin sollte zu diesem Zweck chloroformiert werden. Aber das Chloroform versagte bei ihr; so wurde sie - an Händen und Füßen gebunden - bei vollem Bewusstsein operiert. Zweieinhalb Stunden dauerte die furchtbare Arbeit! Zunächst schien sie auch Erfolg zu haben, aber sehr bald brach die Krankheit von Neuem an einer anderen Stelle des Körpers aus, bald an mehreren. Das liebreizende Mädchen, das durch sein heiteres Wesen alle bezaubert hatte, ging einer Leidenszeit entgegen, wie sie entsetzlicher nicht gedacht werden konnte. Sie kam zum Liegen, hatte ständig die qualvollsten Schmerzen auszuhallen - und dieses Martyrium dauerte zehn Jahre!

Von Kindheit an war Alwine fromm gewesen, aber jetzt unter den körperlichen Leiden brach ihr Glaube mehr als einmal zusammen, und oft hörten ihre Angehörigen die bittere Klage aus ihrem Munde: »Was habe ich denn dem lieben Gott getan, dass er mich so grausam quält?« Aber doch klammerte sie sich immer neu an die Liebe des Vaters im Himmel und an seine tröstenden Worte: »Was ich jetzt tue, das weißt du nicht, du wirst es aber hernach erfahren«. Und auch in der letzten Todesnot hat sie ihrem Glauben die Treue gehalten - da hörten alle Schmerzen plötzlich auf, und sie bat ihren Vater, sie aus dem Bett zu heben, denn sie wolle auf seinem Schoß sterben. Der Vater erfüllte ihre Bitte. Während er sie in seinen Armen hielt, schilderte sie ihm ihr Glück, dass sie nun die Erde verlassen und in den Himmel gehen dürfe. Ihr Glaube, so sagte sie, habe nun alle Anfechtungen überwunden und sie zu vollem Frieden gebracht. So ist sie mit Lob und Dank gegen Gott und den Heiland an der Brust ihres Vaters verschieden.

Hermann bewahrte ihr Andenken sein ganzes Leben hindurch mit tiefer Rührung und Bewunderung in seinem Herzen.

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4 | Holzminden

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5 | Schriftstellerische und sonstige wissenschaftliche Betätigung

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6 | Sangerhausen

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7 | Als Vorgesetzter

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8 | Die Familie

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9 | Wittstock

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10 | Der Bibelübersetzer

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11 | Besuch in der Gelehrtenstube

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12 | Der Lebensabend

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Anhang: Bilder

Hermann Menge im 26. Lebensjahr (1866)

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Hermann Menge im 96. Lebensjahr. Gemälde von Ludwig Kochhanau (München)

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Hermann Menge in seinem Arbeitszimmer

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Dieses Buch ist aus dem echten Anliegen ent­standen, zu ver­ste­hen, was in Bezug auf Musik im christlichen Leben und Wan­del vor Gott wohlge­fäl­lig ist und ob die Bibel wie auch die Kirchengeschichte hierzu hil­fre­iche Hin­weise gibt, um diese Frage zu klären. Möge der Leser aus diesem Grund das vor­liegende Buch in erster Linie als Denkanstoß denn als Antwort auf alle Fra­gen betrachten.