Heute Abend in der Eisdiele am Meer - Holly Hepburn - E-Book
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Heute Abend in der Eisdiele am Meer E-Book

Holly Hepburn

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Beschreibung

Eine kleine Eisdiele, große Träume und eine Sommerliebe, die nie vergeht

Ihre Sehnsucht nach den goldgelben Sandstränden Cornwalls hat Gina nie verlassen: Hier hat sie bei ihren Großeltern viele glückliche Sommer verbracht, und hier hat sie ihre erste große Liebe kennen gelernt. Als ihr Großvater sich das Bein bricht und seine berühmte Eisdiele nicht mehr allein führen kann, lässt Gina in London alles stehen und liegen und eilt nach Cornwall – doch kaum trifft sie ein, ist sie bestürzt: Das kleine Kino am Meer, in dessen Foyer die Eisdiele beheimatet ist, ist heruntergekommen, die Gäste bleiben schon lange aus. Gina ist fest entschlossen, Eissalon und Kino zu retten. Ihr Plan: köstliche neue Eissorten zu kreieren, deren fruchtige Süße ein Lächeln in die Gesichter zaubert. Unterstützung bekommt sie von ihrer Jugendliebe Ben, doch als alte Gefühle langsam wieder aufflammen, reist Ginas Verlobter aus London an ...

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HOLLY HEPBURN liebt es, Menschen zum Lächeln zu bringen – und sie liebt ihre Katze Portia. Sie hat in der Marktforschung und als Model gearbeitet, ihr großer Traum war aber schon immer das Schreiben. Nach Um fünf unter den Sternen und Herzklopfen in der kleinen Keksbäckerei ist dies ihr neuer Roman in deutscher Sprache. Holly lebt in der Nähe von London.

Außerdem von Holly Hepburn lieferbar:

Um fünf unter den Sternen. Roman

Herzklopfen in der kleinen Keksbäckerei. Roman

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Holly Hepburn

Roman

Aus dem Englischen von Melike Karamustafa

Die Originalausgabe erschien 2017

unter dem Titel The Picture House by the Sea

bei Simon & Schuster, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2017 der Originalausgabe by Tamsyn Murray

Published by arrangement with Simon & Schuster UK Ltd., London, England

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: bürosüd unter Verwendung von Motiven von bürosüd

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-27568-6V001

www.penguin-verlag.de

Für meine Großmutter Agnes, durch die ich so viele Filmklassiker kennenlernen durfte.

Kapitel Eins

»Sehr geehrte Fahrgäste, in Kürze erreichen wir Bodmin Parkway. Bitte denken Sie beim Verlassen des Zuges an Ihre persönlichen Gegenstände.«

Gina Callaway streckte sich, bevor sie nach ihrem Mantel griff. Die Fahrt von London war schneller vergangen, als sie erwartet hatte.

Kurz bevor sie den Bahnhof Paddington verlassen hatten, war eine gestresst wirkende, junge Mutter mit einem weinenden Baby eingestiegen, dessen Gesicht vor Anstrengung rot angelaufen war, und hatte sich auf den Platz ihr gegenüber fallen lassen. Augenblicklich hatte sich Gina auf stundenlanges Gebrüll während der Fahrt eingestellt. Doch das Baby hatte sich, vom Rattern des Zuges eingelullt, bald beruhigt und die Mutter ihren gequälten Gesichtsausdruck schnell abgelegt, nachdem Gina sie mit einem Tee aus dem Speisewagen überrascht hatte. Sie hatte ein leises Danke gemurmelt, sich ansonsten aber zu keiner Unterhaltung verpflichtet gefühlt. Im Gegenteil, sie hatten die Fahrt in einvernehmlichem Schweigen verbracht und aus dem Fenster gesehen. Die Gleise auf dieser Strecke kamen dem Meer so nahe, dass es fast wirkte, als reisten sie per Boot und nicht mit der Bahn. Nun, als Gina aufstand, um den Zug zu verlassen, tauschten die junge Mutter und sie ein flüchtiges Lächeln – zwei Fremde, die sich vermutlich nie wieder über den Weg laufen würden.

Der Zug hielt, und Gina beförderte ihren Koffer schwungvoll durch die Tür auf den Bahnsteig. Im selben Moment wurde sie von einer Dampfwolke eingehüllt und sah sich irritiert um. Zugegeben, es war ewig her, dass sie das letzte Mal am Bahnhof von Bodmin gewesen war, aber sie war sich sicher, dass der Zug Richtung Penzance normalerweise an Gleis eins hielt. Doch sie stand auf dem Bahnsteig von Gleis zwei, gleich neben einer Gruppe von Tagesausflüglern, die eifrig Fotos von der alten Dampflok schossen, die zwischen Bodmin und Wenford von Bahnsteig drei verkehrte. Sie seufzte. Nun würde sie ihren Koffer die Treppen hinunter und auf der anderen Seite wieder hinauftragen müssen, bevor sie sich ein Taxi zum Haus ihrer Großeltern in Polwhipple nehmen konnte – sofern sie es schaffte, sich einen Weg durch die Scharen von Touristen zu bahnen, welche die ganze Breite des Bahnsteigs einnahmen.

Sie duckte sich unter einer gezückten Kamera hinweg und wich anschließend einer Reihe Stativen und ausgestreckter Smartphones aus, als der alte Zug einen schrillen Pfiff ausstieß. Eine dicke Rauchwolke stieg aus seinem Schornstein und zog, angetrieben vom plötzlich auffrischenden Wind, über den Bahnsteig hinweg.

Gina blinzelte und stöhnte auf, als sie plötzlich ein Stechen im Auge spürte. Abrupt blieb sie stehen und ließ ihren Koffer los, woraufhin ein Mann, der offensichtlich dicht hinter ihr gegangen war, einen Fluch ausstieß.

»Au«, murmelte Gina, während ihr Tränen die Wange hinabliefen, »au, verdammt, das brennt.«

Was war denn das? Sie brauchte einen Spiegel! Sie versuchte vergeblich, nicht zu stark zu blinzeln, um besser sehen zu können, und durchwühlte mit einer Hand ihre Handtasche nach dem kleinen Döschen Kompaktpuder. Doch als sie es endlich gefunden und aufgeklappt hatte, tränten mittlerweile beide Augen so sehr, dass sie kaum etwas in dem winzigen Spiegel erkennen konnte.

»Entschuldigung, kann ich Ihnen helfen?« Die Stimme war tief und männlich, mit dem unverwechselbaren singenden kornischen Unterton.

Gina wandte sich um. Doch alles, was sie erkennen konnte, war ein verschwommenes Durcheinander aus Haaren und Umrissen. »Oh, nein, vielen Dank. Alles bestens. Nur ein Staubkorn, glaube ich.«

»Hier, nehmen Sie das.« Ein kühles Rechteck aus Baumwolle wurde ihr in die Hand gedrückt. »Keine Sorge, es ist sauber.«

Ginas Lid zuckte und sandte einen weiteren stechenden Schmerz durch ihr Auge. »Danke.« Sie hob wieder den kleinen Spiegel, um das tränende Auge mit dem dicken weißen Taschentuch abzutupfen. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Keine Ursache.«

Gina drehte eine Ecke des Taschentuchs zusammen und schob damit vorsichtig das schwarze Körnchen, das sie nun entdeckt hatte, vom Rand ihres unteren Wimpernkranzes. Dann blinzelte sie noch einmal, wodurch weitere Tränen flossen, doch das Stechen ließ nach. »Ich glaube, jetzt ist es raus.«

Nachdem ihr Augapfel sich nicht mehr anfühlte, als würde er von mehreren Nadeln gleichzeitig attackiert, konnte sie den Besitzer des Taschentuchs endlich besser erkennen. Er war groß – etwa 1,85, schätzte sie – und gebräunt. Sein Haar war kurz geschnitten und durchzogen von ausgeblichenen Strähnen, die vermuten ließen, dass er viel Zeit draußen verbrachte. Seine Augen waren blau wie das Meer in Cornwall an einem sonnigen Tag. Kein unangenehmer Anblick, entschied Gina. Wenn ihr Sehvermögen nicht noch immer beeinträchtigt gewesen wäre, hätte sie ihn vielleicht sogar noch ein wenig länger betrachtet.

»Das ist wie Folter, nicht wahr? Selbst ein winzig kleines Sandkorn fühlt sich an, als würde man mit einer Rasierklinge malträtiert«, sagte er mitfühlend. »Sind Sie sicher, dass ich nicht doch einen Blick darauf werfen soll?«

In London hätte Gina seine Hartnäckigkeit als Anmache verstanden, aber in seinem Gesicht spiegelte sich nichts weiter als freundlich gemeinte Sorge. Und sein Dialekt war geradezu entwaffnend – die Weichheit und Wärme und lang gezogenen Vokale. Es war eine ganze Weile her, dass sie in Cornwall gewesen war, und dieser unverwechselbare Summton weckte Erinnerungen an gleißende Sommertage am Strand von Polwhipple und endlos viele Eiswaffeln vom Stand ihres Großvaters direkt an der Promenade. Es fühlte sich beinahe an, als wäre sie wieder fünfzehn.

Gina rief sich innerlich zur Ordnung. Sie war vielleicht zurück in Cornwall, aber von ihrem Teenager-Selbst hatte sie sich inzwischen meilenweit entfernt.

»Schon in Ordnung«, sagte sie also schlicht und streckte ihm das Taschentuch hin. »Trotzdem danke.«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Warum behalten Sie es nicht? Ein Stück den Bahnsteig hinunter gibt es Toiletten, wo sie ihr Auge auswaschen können, aber die Papierhandtücher aus den Spendern lösen sich allein vom Ansehen auf.« Er musterte sie mit einem schiefen Lächeln, bevor er nachdenklich die Stirn runzelte, als wollte er noch etwas sagen, wüsste aber nicht, wie. Dann schien ihm klar zu werden, dass er sie anstarrte, und er nickte knapp. »Na dann, alles Gute.« Mit einem letzten Blitzen seiner sommerblauen Augen wandte er sich ab und verschwand in einer weiteren Dampfwolke.

»Tschüss«, rief Gina ihm hinterher. »Und noch mal danke.« Eine weitere Sekunde oder zwei blinzelte sie noch in die Wolkenfetzen, halb in der Erwartung, der Mann werde sich daraus rematerialisieren. Dann stopfte sie das Taschentuch in ihre Handtasche und setzte sich wieder in Bewegung.

Es war ein bisschen wie in einem dieser alten Filme, überlegte sie, während sie ihren Koffer hinter sich her über den holprigen Bahnsteig zog: Ein gut aussehender Fremder hilft einer Dame, ein Staubkorn aus dem Auge zu entfernen, während Dampfwolken von einem nebenstehenden Zug über sie hinwegziehen. Mit dem kleinen Unterschied, dass sie – wäre dies tatsächlich ein Film – danach bei einer Tasse Kaffee zusammengesessen hätten, um sich anschließend in eine heiße Affäre zu stürzen, die vermutlich in einem großen Drama geendet hätte.

Gina schüttelte amüsiert den Kopf. An den zahlreichen Samstagvormittagen, die sie im Laufe der Sommer, die sie bei ihren Großeltern zu Besuch gewesen war, im Palace verbracht hatte, dem alten Kino in Polwhipple, hatte sie eine Liebe zum Theatralischen entwickelt, die sie nie wieder wirklich losgelassen hatte. Noch heute tat sie nichts lieber, als es sich mit einer riesigen Tüte Popcorn vor der Leinwand gemütlich zu machen und sich einen Film anzuschauen. Unglücklicherweise eine Leidenschaft, mit der ihr Partner Max nichts anfangen konnte, weswegen sie anstatt mit ihm mit Freunden ins Kino ging. Doch auch die hatten immer seltener Zeit für sie. Die meisten hatten inzwischen eine Familie gegründet und verbrachten die Abende zu Hause. WahrscheinlichgeheichbaldnurnochalleininsKino, dachte Gina leicht verbittert. GenauwieindenaltenZeiten …

In der Bahnhofstoilette roch es nach einer schwachen Mischung aus Zitronen-Lufterfrischer und Kohle. Vorsichtig wusch Gina mit klarem Wasser die letzten Staubkörner aus ihren Augen. Anschließend malte sie den Lidstrich neu, den die Tränen weggewaschen hatten, tuschte ihre Wimpern nach und strich sich die langen schwarzen Haare glatt, bevor sie zurück in die Bahnhofshalle trat.

Draußen stand eine lange Schlange Taxis, die nur auf Kundschaft warteten. Doch in dem Moment, als das durchdringende Pfeifen der Dampflok ein weiteres Mal ertönte, warf Gina einen Blick über die Schulter zu Bahnsteig drei hinüber. Sie zögerte. Sie könnte wie als Jugendliche die historische Eisenbahn bis nach Boscarne Junction nehmen und sich dort von ihrer Großmutter abholen lassen. Von Polwhipple aus war es nur eine kurze Fahrt, und die gesamte Reise würde sie vielleicht sogar weniger Zeit kosten als mit dem Taxi, so vollgestopft wie die Straßen selbst im März zwischen Bodmin und der Küste oft waren. Ein einzelner zockelnder Traktor auf einer schmalen Landstraße konnte den ohnehin schon schleichenden Verkehr leicht in einen kilometerlangen Stau verwandeln. Und es gab noch einen anderen, weniger pragmatischen Grund, die Dampfeisenbahn zu nehmen – vielleicht war ja der galante Fremde an Bord? Es war sehr nett von ihm gewesen, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen – ganz anders als die hektischen Berufspendler, mit denen sie in London jeden Tag in der U-Bahn saß und die so darauf konzentriert waren, möglichst rasch zur Arbeit oder wieder nach Hause zu kommen, dass sie sich kaum die Zeit nahmen, auch nur einmal aufzuschauen. Auf diese Weise bekam sie vielleicht die Chance, sich noch einmal richtig bei ihm zu bedanken.

Sie sah zum Ticketschalter hinüber. Wie viel mochte eine Fahrkarte nach Boscarne inzwischen kosten?

Es ertönte ein weiteres schrilles Pfeifen, und eine Rauchwolke zog über die Eisenbahn hinweg, gefolgt von einem stampfenden Geräusch aus längst vergangenen Zeiten, als sich der Zug an Bahnsteig drei in Bewegung setzte.

Der Verkäufer hinter der Glasscheibe des Schalters beugte sich vor. »Der Nächste fährt um 16:20 Uhr, falls Ihnen das hilft.«

Gina schüttelte den Kopf. »Kein Problem«, sagte sie und schob die Erinnerung an die dicken samtbezogenen Sitze und die Türen aus Walnussholz, welche die Abteile voneinander trennten, energisch beiseite. »Ich nehme einfach ein Taxi.«

»Wohin soll’s gehen?«, erkundigte sich der Fahrer, nachdem er ihren Koffer in den Kofferraum gewuchtet und wieder hinter dem Lenkrad Platz genommen hatte.

»Nach Polwhipple, bitte«, antwortete Gina. »Die alte Molkerei an der Tregarran Street.« Sie überlegte kurz. »Ach nein, einen Moment …«

Wenn sie zuerst im Hotel eincheckte, war die Wahrscheinlichkeit, dass Nonna darauf bestand, Gina bei sich unterzubringen, geringer. So sehr sie ihre Großeltern und die Erinnerung an die Sommer, die sie bei ihnen verbracht hatte, liebte, die beiden konnten ein wenig vereinnahmend sein, und sie war keine fünfzehn mehr, sondern einunddreißig; sie brauchte einen Rückzugsort.

»Könnten Sie mich zum Scarlet Hotel in Mawgan Porth bringen?«

Nickend startete der Fahrer den Wagen und lenkte ihn auf die Straße, während Gina sich in den Sitz zurücksinken ließ und sich fragte, was sie erwartete, wenn sie später zu ihren Großeltern fuhr. Sie waren nach wie vor alles andere als gebrechlich – bis vor Kurzem hatten sich beide bester Gesundheit erfreut –, aber Gina war klar, dass sie das als allzu selbstverständlich betrachtete. War seit ihrem letzten Besuch tatsächlich schon ein ganzes Jahr vergangen? Dabei war es schon damals nur ein kurzes Wochenende gewesen. Sie hatte vorgehabt, schnell wieder hinzufahren, aber die Arbeit hatte sie in Schach gehalten. Da war immer ein neuer Kunde, den es zu gewinnen galt, oder ein weiteres Event zu organisieren. Freiberuflich zu arbeiten bedeutete auch, freie Zeit schwerer vor sich und anderen rechtfertigen zu können, und Cornwall schien so weit entfernt, auch wenn die Zugfahrt hierher gar nicht so lange dauerte. Doch als sie erfahren hatte, dass sich ihr Großvater das Bein gebrochen hatte, war ihr sofort klar gewesen, dass sie herkommen musste.

Ferdie Ferrelli war niemand, der jemals freiwillig um Hilfe gebeten hätte – das verbot ihm sein stolzes italienisches Erbe –, aber seine Frau, Ginas Nonna, war äußerst pragmatisch veranlagt. Sie wusste, dass sie die Molkerei niemals gleichzeitig allein betreiben und genug Eiscreme herstellen konnte, um die Nachfrage ihrer Kunden zu bedienen. Also hatte sie einen Notruf abgesetzt. Und Gina war das einzige Familienmitglied, das nach wie vor in Großbritannien lebte. Also hatte es nur eine Antwort auf den Hilferuf gegeben. Auch wenn das bedeutete, dass Gina eine dreimonatige Arbeitspause würde einlegen müssen.

Abgesehen davon, welche Sorten sie am liebsten mochte, hatte sie so ziemlich alles vergessen, was mit der Produktion von Eiscreme zu tun hatte, und noch weniger Ahnung hatte sie davon, wie man eine Eisdielenfiliale in einem Kino am Meer führte. Trotzdem hatte sie es einfach nicht übers Herz gebracht, Nein zu sagen. Nicht zu ihren heißgeliebten Großeltern, die ihr über Jahre hinweg so viele schöne Polwhipple-Erinnerungen beschert hatten.

Doch all das bedeutete, dass sich nach wie vor diese kleine nagende Sorge in Ginas Magen breitmachte, wie die kommenden Stunden, Tage und Wochen laufen würden. Ferdie würde sich wahnsinnig freuen, sie zu sehen – bis er herausfand, aus welchem Grund sie angereist war. Er war geradezu berühmt dafür, jegliche Hilfe kategorisch abzulehnen, selbst wenn sie von seinem eigen Fleisch und Blut kam. Er hatte sein Geschäft quasi aus dem Nichts aufgebaut, nachdem er in den Fünfzigerjahren aus Italien nach England gekommen war, und führte es seitdem ganz allein – auch wenn Gina den Verdacht hatte, dass ihre Großmutter hinter den Kulissen weit mehr regelte, als ihr Nonno jemals zugeben würde.

Ferdie Ferrelli war noch nie leicht zu überzeugen gewesen, und was sein geliebtes Gelato anging, war er ganz besonders in seinen Gewohnheiten festgefahren. Gina würde all ihren Charme und ihre Entschiedenheit an den Tag legen müssen, um ihn davon zu überzeugen, dass sie in der Lage war, seinen Job zu machen.

Kapitel Zwei

»Gina! Bella mia!«

Auf der Schwelle des hübschen grauen Steinhauses, in dem sie seit mehr als fünfzig Jahren lebten und hinter dem sich eine Reihe niedriger Nebengebäude duckte, schloss Elena Ferrelli ihre Enkelin in eine feste Umarmung. »Es ist so schön, dich zu sehen. Bist du etwa gewachsen?«

Lächelnd vergrub Gina das Gesicht in den pechschwarzen Haaren ihrer Großmutter. Niemand sprach ihren Namen auf die Weise aus, wie es ihre Nonna tat – der italienische Akzent, den sie nie abgelegt hatte, verlieh ihm etwas Elegantes, beinahe Exotisches.

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Nonna. Das mit dem Wachsen hat sich inzwischen allerdings erledigt, außer du sprichst von meinen Hüften.«

Elena trat einen Schritt zurück, um Gina von Kopf bis Fuß zu mustern, während sie an ihrem Mantel zupfte. »Natürlich nicht. Du bist ja nur Haut und Knochen. Nimmst du dir in der Stadt jemals Zeit, richtig zu essen?« Sie rümpfte missbilligend die Nase und schüttelte den Kopf. »Egal, jetzt bist du hier, und ich kann mich um dich kümmern. Du wirst schon sehen, bald haben wir ein wenig Fleisch auf deine Rippen bekommen.«

Gina lachte. Nonna konnte sagen, was sie wollte, entgegen ihrer Predigten war sie selbst eine äußerst schlanke Frau über siebzig, die es ganz normal fand, sich in den Sommermonaten in hautengen Outfits zum Strand-Yoga unter die Surfer zu mischen. Aber sie liebte es eben auch zu kochen und erwartete aus Respekt von denen, die sie ernährte, nicht weniger, als dass sie ihren Teller leer aßen.

»Komm bloß nicht auf falsche Gedanken«, sagte Gina, während sie ihrer Großmutter zärtlich den Arm tätschelte. »Ich bin zum Arbeiten hier, erinnerst du dich?«

»Trotzdem musst du was essen«, erwiderte Elena unbeeindruckt. »Aber jetzt komm erst mal rein und begrüß Nonno. Er hat schlechte Laune und ist furchtbar grantig, aber du wirst es schaffen, ein Lächeln in sein grimmiges altes Gesicht zu zaubern.«

Ein nervöses Flattern machte sich in Ginas Magen breit. Wir würde ihr Großvater die Neuigkeiten aufnehmen, dass sie hergekommen war, um mehr oder weniger sein Geschäft zu übernehmen?

Elena runzelte die Stirn. »Wo sind deine Koffer? Du hast doch sicherlich nicht all deine Sachen für die nächsten drei Monate in der kleinen Handtasche da?«

Gina holte tief Luft. Bevor sie sich Ferdie stellte, musste sie noch durch ein anderes Minenfeld hindurch.

»Ich habe mir ein Hotel genommen«, sagte sie, während sie sich innerlich wappnete. »Ich weiß, dass der ursprünglich Plan war, dass ich bei euch wohne. Aber du hast genug damit zu tun, dich um Nonno zu kümmern, und so erschien es mir am vernünftigsten. So treten wir uns nicht gegenseitig auf die Füße.«

Und ich habe einen Ort, an den ich flüchten kann, wenn mich deine gutgemeinte Einmischung in mein Leben wahnsinnig macht, fügte sie stumm hinzu.

Doch es spielte keine Rolle, dass sie den Gedanken nicht laut ausgesprochen hatte. Elena schien trotzdem tödlich beleidigt. »Ein Hotel? Wie konntest du? Meine Enkelin übernachtet in einem Hotel, wenn es hier ein wunderbares Bett für sie gibt. Die Leute werden glauben, dass böses Blut zwischen uns geflossen ist.«

Gina schluckte ein genervtes Stöhnen hinunter. Sie hätte wissen müssen, dass sich ihre Nonna vor allem Gedanken darum machte, was ihre Freunde und Nachbarn davon halten würden.

»Das werden sie nicht tun. Natürlich nicht.«

»Und wie soll ich mich um dich kümmern, wenn du nicht hier bist?«, fuhr Elena entrüstet fort. »Dann hättest du genauso gut in London bleiben können.«

»Es ist doch nur für ein paar Tage«, versuchte Gina, ihre Großmutter zu beruhigen. »Abgesehen davon tue ich mir damit etwas Gutes – ein kleines Geschenk an mich selbst. Es gibt ein Spa, ein Schwimmbad und Whirlpools auf den Klippen, von denen man aufs Meer schauen kann.«

Elena stieß ein zartes Schnauben aus. »Klingt gefährlich.« Sie bedachte Gina mit einem strengen Blick, dann seufzte sie. »Aber wahrscheinlich wird es nicht schaden, wenn du anschließend sowieso bei uns wohnst.«

Gina zögerte. Ihr Plan war, sich nach einem passenden Ferienhaus umzusehen, sobald sie richtig angekommen war. Aber es war nicht nötig, das jetzt zu erwähnen.

»Danke, Nonna.«

»Mhm«, murmelte Elena, während sie durch den Flur vorausging. »Wer weiß, was dein Großvater zu alldem sagen wird.«

Ferdie Ferrelli saß in seinem Lieblingssessel und las seine Gazzetta dello Sport. Das Bein in Gips ruhte auf einem Hocker. Als Gina hereinkam, hob er den Kopf, und das Gesicht mit dem olivfarbenen Teint wurde von einem Lächeln erhellt. »Gina! Was für eine Überraschung!«

Als er die Hände nach seinen Krücken ausstreckte, beeilte sich Gina, ihm zuvorzukommen. »Bitte bleib sitzen, Nonno«, sagte sie und beugte sich hinunter, um ihn zu umarmen. »Ich habe gehört, du hast eine Schlacht ehrenvoll verloren.«

»Es war ziemlich unehrenhaft«, knurrte Ferdie und verzog angewidert den Mund. »Ich bin beim Streichen der Fensterbänke von der Leiter abgerutscht. Mein eigener Fehler.«

Gina schüttelte den Kopf. Sie wusste, es hatte keinen Sinn, ihn darauf hinzuweisen, dass es keine gute Idee gewesen war, überhaupt auf eine Leiter zu steigen. Ferdie war achtundsiebzig, aber in seinem Kopf noch keine dreißig, und er kümmerte sich gern selbst um alles. Jemand anderen dafür zu bezahlen, sein Haus zu streichen, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen.

»Es war ein Unfall«, sagte Gina mit einem Lächeln. »Selbst dir kann so was mal passieren.«

Er schien seiner Enkelin nicht zuzustimmen. »Es war dumm«, knurrte er nur. »Aber genug von mir. Was bringt dich her? Deine Nonna und ich dachten schon, dass du vergessen hast, wo wir wohnen.«

Elena trat einen Schritt vor. »Wie wäre es erst mal mit einem Kaffee? Gina kommt direkt vom Bahnhof, und du weißt, was für Spülwasser sie in den Zügen servieren.«

Gina lächelte. Der Cappuccino ihrer Großmutter war ein einziger Traum: stark und cremig, mit der perfekten Menge an Milchschaum, und ihr Espresso hätte das nationale Stromversorgungsnetz am Laufen halten können.

»Das wäre wunderbar, danke.«

»Gerne«, sagte Elena. »Und vielleicht kann ich dich mit ein paar frisch gebackenen Biscotti locken. Am besten wir fangen gleich damit an, unseren Plan in die Tat umzusetzen.«

»Nonna will mich mästen«, fügte Gina erklärend hinzu und ließ sich auf das butterweiche Ledersofa plumpsen, während ihr Großmutter den Raum verließ.

»Das sollte sie auch«, bemerkte Ferdie. »Solange du aussiehst wie eine Stabheuschrecke, wirst du deinen jungen Mann niemals dazu bringen, dir einen Antrag zu machen.«

Da hätten wir es also, dachte Gina, halb amüsiert, halb resigniert. Wenn sich bis zu diesem Zeitpunkt noch irgendjemand wunderte, warum sie sich ein Hotel genommen hatte – spätestens jetzt durfte es klar sein.

Sie holte einmal tief Luft. »Ich möchte gar nicht, dass er mir einen Antrag macht, Nonno. Es ist alles gut so, wie es ist.«

Ferdie betrachtete sie missbilligend. »Natürlich, ich vergesse immer wieder, dass ihr jungen Paare nichts für die heilige Ehe übrig habt. Heutzutage dreht sich alles um Speeddating und darum, von einem Bett ins nächste zu hüpfen.«

Sie hob die Augenbrauen. »Wohl kaum. Max und ich sind seit mehr als zwei Jahren zusammen. Wir sehen einfach keinen Grund, warum wir heiraten sollten.«

»Dann liebt ihr euch also nicht.«

»Doch, das tun wir«, beharrte Gina. Sie merkte selbst, wie defensiv sie klang. Sie wollte nicht wieder die gleiche Diskussion mit ihren Großeltern führen wie bei ihrem letzten Besuch. Und beim vorletzten. Nicht, solange sie wusste, dass sie schon bald einen sehr viel wichtigeren Kampf auszutragen hatten. Deswegen fügte sie ein wenig sanfter hinzu: »Wir lieben uns.« Ein Bild von ihrem scharfsinnigen, immer durchgestylten Freund tauchte vor ihrem inneren Auge auf. »Aber das müssen wir niemandem beweisen.«

Er musterte sie aufmerksam. »Und trotzdem bist du allein hergekommen.«

Sie zögerte. Max war ein äußerst ehrgeiziger und erfolgreicher Bauträger, der in einige der ikonischsten neuen Gebäude investiert hatte, die am Ufer der Londoner Themse geradezu wie Pilze aus dem Boden schossen. Er war kein Freiberufler wie Gina, was bedeutete, dass er nicht einfach von einem Moment auf den anderen alles stehen und liegen lassen konnte, um nach Cornwall zu fliegen, schon gar nicht, um dort drei Monate zu bleiben.

»Max ist sehr beschäftigt«, sagte sie vorsichtig. »Er lässt euch aber ganz herzlich grüßen.«

»Aha«, murmelte Ferdie. »Er erinnert sich wahrscheinlich nicht mal mehr, wie wir aussehen. Wie lange ist es her, dass er mit dir hier war? Ein Jahr?«

Eher zwei, dachte Gina, sprach den Satz aber wohlweislich nicht aus. Sie hatten sich erst ein paar Monate gekannt, als sie mit ihm nach Cornwall gefahren war, um sich den Segen für ihre Beziehung von den Großeltern zu holen. Und natürlich hatte er sie mit seinem Charme um den Finger gewickelt, genau wie Gina selbst. Doch trotz zahlreicher darauf folgender Einladungen hatte er Gina bei keinem weiteren ihrer Besuche begleitet. Ein weiterer Grund, aus dem es ihr so schwerfiel, nach Cornwall zu reisen – immer gab es da eine wichtige Party oder ein Essen mit Geschäftspartnern, bei dem Max auf keinen Fall fehlen durfte. Mit ihrer Beziehung und all den Verpflichtungen, die mit ihrem eigenen Job einhergingen, war sie selbst selten dazu gekommen, ihre Großeltern auch nur anzurufen.

»So was in der Richtung«, antwortete sie also vage. »Aber ich bin mir sicher, dass er mich besuchen kommt, sobald ich …« Sie brach mitten im Satz ab, während sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, Nonno zu erklären, warum sie hier war – dafür brauchte sie die Unterstützung ihrer Großmutter. Aber ein rascher Blick in Ferdies Gesicht verriet ihr, dass es zu spät war, einen Rückzieher zu machen.

»Dich besuchen?«, fragte er mit einem Stirnrunzeln. »Warum sollte er dich hier besuchen, wenn ihr in London fast nebeneinander wohnt?«

Gina wappnete sich innerlich und machte den Rücken gerade. »Ich werde ein paar Monate in Polwhipple bleiben.«

Ihr Großvater starrte sie an, die buschigen weißen Brauen so dicht über den tiefbraunen Augen zusammengezogen, dass sie wie zusammengewachsen wirkten. »Warum? Stimmt etwas nicht? Hast du deine Arbeit verloren, geht es darum?«

»Nein, nichts in die Richtung.« Gina begann nervös auf dem Sofa hin und her zu rutschen. Es gab kein Zurück mehr. »Nonna und ich dachten, dass …« Sie hielt inne, als die Wohnzimmertür aufschwang.

»Da wären wir«, sagte Elena, ein Tablett mit dampfenden Kaffeetassen und einem Teller mit Keksen in den Händen.

»Gina hat gerade erzählt, dass sie ein paar Monate bleiben wird«, sagte Ferdie, als seine Frau das Tablett auf dem niedrigen Couchtisch abstellte und sich setzte.

»Ich weiß.« Sie reichte ihm eine Tasse. »Es wird ihr guttun. Es wird uns allen guttun.«

Ferdie sah zwischen ihr und seiner Enkelin hin und her. »Was soll das heißen?«

Mit einem vielsagenden Blick schob Elena den Teller mit dem Gebäck in Ginas Richtung. »Komm schon, Ferdie, ist das nicht offensichtlich? Sie ist hergekommen, um dir mit dem Geschäft zu helfen.«

Gina brachte ein Lächeln zustande. »Genau. Wir dachten, ich könnte dich ein wenig entlasten, bis es deinem Bein wieder besser geht.«

»Ich brauche keine Hilfe«, sagte Ferdie, dessen Miene sich mit jeder Sekunde mehr verdüstert hatte. »Und vor allem keine von Menschen, die diese Hilfe hinter meinem Rücken organisieren.«

»Niemand tut irgendetwas hinter deinem Rücken, du alter Sturkopf«, sagte Elena und trank einen Schluck Kaffee. »Falls du es vergessen haben solltest, dein Bein wird von sechs Metallstiften zusammengehalten. Es braucht Zeit zu heilen. Haben sie dir im Krankenhaus nicht gesagt, dass du dich ausruhen sollst?«

Ferdie schnaubte abfällig. »Ärzte … was wissen die denn schon? Ich habe Arbeit zu erledigen und kann nicht den ganzen Tag faul herumliegen. Meine Gelati stellen sich nicht von selbst her, falls euch das entgangen sein sollte.«

»Dann lass mich dir helfen«, sagte Gina und beugte sich vor. »Genauso wie als kleines Mädchen.« Nicht dass er sie damals viel mehr hätte machen lassen, als einen Löffel in die cremige Masse zu stecken, bevor sie in den Gefrierschrank wanderte – aber auch die kleinste Hilfe war besser als nichts.

»Dein Lager leert sich langsam«, ergänzte Elena. »Bald ist Ostern, und das Wetter wird besser. Was dann? Möchtest du riskieren, die Restaurants – deine Kunden – zu enttäuschen, nur weil dir dein Stolz verbietet, Hilfe von deiner eigenen Familie anzunehmen?«

»Das Lager ist voll genug.« Ferdie starrte seine Frau an. »Zumindest, um uns über die nächsten Wochen zu bringen.«

Elenas Augen blitzten zornig auf. »Ich weiß sehr genau, wie unsere Vorräte aussehen. Zwölf Eimer Himbeere, zehn Vanille, elf Schokolade und acht Honig. Erdbeere, Salzkaramell und Schoko-Minze sind aus, ausgerechnet die Sorten, die für die Restaurants und die Eisdiele am wichtigsten sind.« Sie lehnte sich zurück und trank einen weiteren Schluck Kaffee. »Du brauchst Ginas Hilfe, ob es dir gefällt oder nicht. Und du solltest ihr Angebot lieber schnell annehmen, bevor sie ihre Meinung ändert und nach London zurückfährt, weil sie glaubt, dass du sie nicht hierhaben willst.«

Der letzte Satz wird ihn umstimmen, dachte Gina, während sie heimlich das beinahe machiavellistische Genie ihrer Großmutter bewunderte.

Nonno sah noch immer wütend aus, aber sie sah ihm an, dass er wankte.

»Wir könnten endlich einmal mehr Zeit miteinander verbringen«, sagte sie und riss bittend die Augen auf. »Bis Juni habe ich keine weiteren Termine.«

Was folgte, war ein langes Schweigen. Ginas Instinkt riet ihr, dass sie ihn weiter überzeugen sollte, aber sie beschloss, sich an Nonna ein Beispiel zu nehmen, ihren Kaffee zu trinken und abzuwarten.

Schließlich stieß Ferdie ein kurzes verärgertes Schnauben aus. »Wahrscheinlich kann ein wenig Hilfe nicht schaden.«

Gina widerstand dem Drang, laut loszujubeln, als Elena nickte. »Nein, natürlich nicht.«

»Du musst ganz genau das tun, was ich sage«, fuhr er mit einem vielsagenden Blick auf Gina fort. »Meine Rezepte überdauern inzwischen sechzig Jahre, sie müssen exakt befolgt werden. Ferrelli’s Gelato ist wie eine Arie von Puccini – sie braucht keine Verbesserung und vor allem niemanden, der daran herumpfuscht. Mein Eis ist perfekt, so wie es ist.«

Dieses Mal verkniff sich Gina das Lächeln nicht. Solange sie denken konnte, stellte Ferrelli’s die gleichen Eissorten her, auch wenn nach einer heimlichen Aktion von Elena letztes Weihnachten aus Karamell gesalzenes Karamell geworden war. Gina hatte ihnen eine Packung schicken lassen, worauf Elena sie umgehend gebeten hatte, fünf weitere zu besorgen, damit sie Ferdie damit überzeugen konnte, seine Rezeptur zu ändern. Es war sofort zu ihrer bestverkauften Sorte geworden.

»Kein Herumpfuschen«, versprach sie erleichtert, jetzt, da die Schlacht gewonnen schien.

Elena beugte sich mit dem Teller Biscotti in der Hand zu ihr vor. »Vielleicht ein ganz kleines bisschen«, raunte sie ihr mit einem verschmitzten Grinsen zu. »Seit Jahren versuche ich ihn dazu zu bringen, ein Rezept für Tiramisu zu entwickeln, aber bisher hat er sich geweigert. Jetzt kannst du es für mich machen!«

Gina warf einen Blick zu ihrem Großvater hinüber, dessen Gesichtsausdruck entschlossener wirkte als je zuvor, dann wieder zu ihrer Nonna, und ihr rutschte das Herz in die Hose. Sie hatte sich getäuscht. Die Schlacht war noch lange nicht gewonnen. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte sie gerade erst begonnen – und sie befand sich genau zwischen den Fronten.

Kapitel Drei

Um kurz nach acht kehrte Gina, den Bauch voll mit Nonnas Steinpilzrisotto, ins Hotel zurück.

Eine Weile stand sie auf dem Balkon, lauschte dem Rauschen des Atlantiks, der in schäumenden Wellen gegen die Klippen des Strandes unterhalb des Hotels krachte, und ließ den Wind durch ihre langen dunklen Haare streichen. Die Luft war beinahe so beißend kalt, dass ihr der Atem stockte, doch sie fühlte sich gleichzeitig so frisch und sauber an, dass Gina nicht genug davon bekam, obwohl sie inzwischen bibberte. Als sie den Blick Richtung Himmel hob, sah sie den Mond zwischen den dicken Wolken am Himmel schimmern. Sein schwacher Schein tanzte auf den Wellenkämmen.

Gina stieß einen langen, tiefen Seufzer aus. Es war einige Zeit her, dass sie sich London so fern gefühlt hatte, und das in mehr als einer Hinsicht.

Das Vibrieren ihres Handys unterbrach ihre Gedanken. Als sie einen Blick darauf warf, sah sie Max’ Namen auf dem Display aufleuchten. Sie drehte sich um, zog die gläsernen Schiebetüren auf und schlüpfte zurück in das großzügige Schlafzimmer.

»Hallo Max, alles in Ordnung?«

»Ja, klar. Ich dachte, ich melde mich mal, um sicherzugehen, dass dich der wilde Ferdie nicht bei lebendigem Leib verschlungen hat.«

Gina lachte. »Er ist nicht wild. Na ja, vielleicht ein kleines bisschen, aber du weißt ja: Hunde die bellen, beißen nicht.«

»Ich weiß«, antwortete Max trocken. »Ich habe ihn kennengelernt, erinnerst du dich? Und von dem Treffen habe ich gerade erst angefangen, mich zu erholen. Manchmal habe ich immer noch Albträume, in denen er vorkommt.« Seine Stimme klang warm, und Gina wusste, dass er lächelte. »Und, wie ist das Hotel? Genauso toll, wie es sich angehört hat?«

Gina sah sich in ihrem luxuriösen Zimmer mit dem Kingsize-Bett, der Samt-Chaiselongue und den gediegenen Lampenschirmen um. »Es ist perfekt. Die Whirlpools habe ich mir noch nicht angesehen, aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass ich sie nach der heutigen Unterhaltung mit meinen Großeltern gut gebrauchen kann.« Dann lieferte sie Max eine Zusammenfassung zu Ferdies Reaktion auf ihr Hilfsangebot.

Nachdem sie geendet hatte, stieß Max ein ungläubiges Lachen aus. »Man könnte meinen, du hättest ihm eine feindliche Übernahme angedroht, anstatt ihm die Rettung aus einer potenziell katastrophalen Sackgasse anzubieten«, sagte er. »Im Ernst, im Umgang mit deiner Familie braucht man mindestens ein UN-Friedensmissions-Zertifikat.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Gina, auch wenn sie insgeheim zugeben musste, dass er nicht ganz falsch lag. Einer der Gründe, aus denen sie die Bitte ihrer Großmutter nicht hatte abschlagen können, war die Tatsache, dass Ginas Mutter in der Vergangenheit so schrecklich mit Nonno aneinandergeraten war, dass sie und Ginas Vater auf einen anderen Kontinent gezogen waren, um ihm aus dem Weg zu gehen. »Streit gibt es in jeder Familie.«

»Mhm«, murmelte er. »Und, wie sieht der Plan jetzt aus?«

Gina griff nach ihrem Glas mit Prosecco. »Morgen früh muss ich als Erstes die Restaurants kontaktieren, um die Wogen zu glätten, die durch Nonnos Unfall eventuell entstanden sind. Außerdem muss ich der Ferrelli’s-Filiale im Palace Lichtspielhaus einen Besuch abstatten und mit Gorran Dew, dem Besitzer, sprechen. Damit ich weiß, was in den nächsten Wochen an Vorräten benötigt wird. Und …«

»Das kann unmöglich sein richtiger Name sein«, unterbrach sie Max. »Klingt wie eine exotische Frucht.«

Sie rief sich das Gesicht des Kinobetreibers in Erinnerung, der sie immer an eine rotwangige Ausgabe von Doc Brown aus Zurück in die Zukunft erinnerte. »Sein Vor- und Nachname haben beide Tradition in Cornwall. Der Stammbaum der Dews in Polwhipple reicht Jahrhunderte zurück. Und an Gorran ist definitiv nichts Exotisches. ›Exzentrisch‹ wäre wohl die richtigere Wortwahl.« Lächelnd schüttelte sie den Kopf, während sie sich vorstellte, wie Gorran über der Lobby des altehrwürdigen Kinos im Art-déco-Stil mit seinem Plüschteppich in Weinrot und dem üppigen goldverzierten Dekor präsidierte. »Ich freue mich darauf, dem Kino mal wieder einen Besuch abzustatten. Um genau zu sein, wird das eine richtige Reise in die Vergangenheit. Ich frage mich, ob es immer noch möglich ist, sich durch den Notausgang reinzuschleichen, um die Vorstellung umsonst anzusehen.«

»Wann bist du das letzte Mal dort gewesen?«

»Vor Jahren. Als Teenager habe ich ganze Sommer dort verbracht. Da war dieser eine Surfer, mit dem ich viel herumhing, und Nonno hat uns mit Tonnen von Eiscreme versorgt, damit wir keinen Unsinn anstellen.«

»Hat es funktioniert?«

Sie lachte. »Nicht wirklich. Ich war Bonnie und Ben Clyde. Er war derjenige, der mir den Trick mit dem Notausgang gezeigt hat.«

Gina hielt inne, als plötzlich ein Bild des fünfzehnjährigen Ben Pascoe in ihrem Kopf auftauchte. Verstrubbelte blonde Haare und Sonnencreme im Gesicht hatte er grinsend am Strand gestanden. Sommer auf Sommer war er ihr bester Freund gewesen, und während ihres letzten Besuchs hatte es sogar ein oder zwei Momente gegeben, in denen sie sich gefragt hatte, ob da eventuell mehr zwischen ihnen war. Aber es war nichts weiter dabei herausgekommen.

Sie spürte, wie ihre Wangen bei der Erinnerung warm wurden. »Wahnsinn, es ist Jahre her, dass ich an ihn gedacht habe.«

»Lebt er noch in Polwhipple?« Max klang jetzt neugierig.

»Keine Ahnung«, antwortete Gina und schob das Bild von Ben energisch beiseite. »Ich denke eher nicht. Sonst hätten ihn meine Großeltern mit Sicherheit irgendwann mal erwähnt. In dieser Stadt geschieht nichts, ohne dass die beiden etwas davon mitbekommen. Aber jetzt genug von meiner bescheidenen kriminellen Vergangenheit. Wie war dein Tag?«

Sie hörte zu, während Max ihr von den Meetings berichtete, die er gehabt hatte, und von dem neuen Vertrag über fünfundzwanzig Luxuswohnungen in Battersea mit Blick über die Themse, den er unterzeichnet hatte.

»Kling, als seist du beschäftigt.«

»Bin ich. Aber nicht beschäftigt genug, um dich nicht zu vermissen.«

»Ha, ich wette, dir ist kaum aufgefallen, dass ich nicht in London bin.«

»Doch, das ist es«, sagte Max leise.

Gina stellte sich vor, wie er auf der Kante seines tadellos gemachten Bettes saß, und auf einmal spürte sie eine plötzliche Welle von Heimweh über sich hinwegrollen. »Es sind nur drei Monate. Im Ernst, ich werde schneller zurück sein, als du denkst.«

»Ich weiß.« Er seufzte tief. »Aber das bedeutet nicht, dass du mir nicht fehlen wirst.«

Seine Worte erfüllten sie mit einer bittersüßen Wärme. Es kam selten vor, dass Max seine wahren Gefühle für sie so offen eingestand – auch wenn sie nie daran zweifelte, was er für sie empfand. Es würde nicht leicht sein, so lange von ihm und ihrem Leben in London getrennt zu sein, aber sie würde genug zu tun haben, um gar nicht erst Heimweh zu bekommen – genau wie Max, auch wenn sie es durchaus genoss, dass er sie vermisste.

Den ganzen restlichen Abend musste sie an ihn denken: während sie ein Bad in der freistehenden Wanne nahm, und auch, während sie sich die Haare abtrocknete und anschließend gedankenverloren durch die zahlreichen TV-Kanäle zappte auf der Suche nach etwas, das sie ablenkte. Der einzig passable Film war An Affair to Remember. Gina schlüpfte zwischen die kühlen Laken und versuchte zunächst, nicht zu weinen an der Stelle, als Cary Grant klar wird, warum Deborah Kerr ihn versetzt hat. Dann aber gab sie es auf und schluchzte lauthals, ohne sich darum zu kümmern, dass ihr Nase vermutlich knallrot war und ihre Augen geschwollen waren.

Als der Film vorbei war, trocknete sie sich das Gesicht und machte sich bettfertig. Ich wünschte, Max wäre hier, dachte sie, während sie im Dunkeln lag und sich vom Rauschen des Meeres langsam in den Schlaf lullen ließ. Und dann, gerade als ihr endgültig die Augen zugefallen waren, tauchte ein weiterer Name in ihrem Kopf auf.

Ben Pascoe.

Ich muss Nonna unbedingt fragen, ob er noch in der Gegend lebt.

Ein müdes Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie in den Schlaf abdriftete.

Ginas Hotel lag etwas mehr als anderthalb Meilen vom Strand in Polwhipple entfernt. In London war sie es gewohnt, schon für weitaus kürzere Strecken die U-Bahn zu nehmen, aber in Cornwall waren die Optionen an öffentlichen Verkehrsmitteln deutlich limitiert. Für eine Fahrt, die nicht länger als vier Minuten dauern konnte, kam es ihr nicht richtig vor, ein Taxi zu nehmen, schon gar nicht an einem sonnigen Frühlingstag wie diesem. Und einen Bus von Mawgan Porth nach Polwhipple gab es nicht. Darüber hinaus war die Distanz durchaus zu Fuß zu bewältigen – laut Google konnte sie den South West Coast Path an den Klippen entlang nehmen.

Entschlossen, die Sonne und den Ausblick zu genießen, zog Gina ihren Regenmantel und die brandneuen Wanderschuhe an und zog los.

Die Brise am Rand der Klippen war stärker, als sie vermutet hatte, aber der Ausblick war es wert. Das Meer glitzerte im Vormittagslicht noch tiefblauer, als sie es in Erinnerung hatte, und der Himmel schien um jeden Preis mithalten zu wollen. Möwen kreisten über ihrem Kopf und kreischten in den Wind.

Gina blieb stehen und ließ sich vom Wind die Haare ins Gesicht wehen. »Ich habe das Gefühl, wir befinden uns nicht mehr in Kansas«, murmelte sie mit einem zufriedenen Lächeln – sie fühlte sich tatsächlich ein wenig wie Dorothy aus Der Zauberer von Oz, die plötzlich in einem wundersamen, fremden Land gelandet war.

Während sie weiterspazierte, schoss sie Foto um Foto mit ihrer Handykamera und nahm sich vor, die besten Bilder später auf ihrem beruflichen Instagram-Account hochzuladen. Nur weil sie sich gerade nicht in London aufhielt, war sie ja nicht völlig abgeschnitten von der Außenwelt, und sie brauchte Kunden, sobald Nonno wieder auf den Beinen war.

Polwhipple hatte sich kein bisschen verändert. Es war ein verschlafenes kleines Städtchen am Meer, eingebettet in eine felsige Bucht mit einem goldenen Strand und einer Promenade mit einer Reihe sowohl reizender als auch schrulliger Läden, die ihrer wundervollen Lage nie wirklich gerecht wurden. Das Juwel in Polwhipples Krone war immer das Palace gewesen, dessen geschwungene Art-déco-Fassade über die anderen Geschäfte am Strand hinausragte. Gina konnte es bereits sehen, bevor sie die Promenade, die sich den gesamten Strand entlangzog, erreichte. Und unter den riesigen roten Lettern The Palace leuchtete das Schaufenster von Ferrelli’s Eiscreme in allen Regenbogenfarben. Es war beinahe, als wäre die Zeit stehen geblieben.

Doch als sie näher kam, runzelte Gina irritiert die Stirn. Das Palace hatte sich verändert. Nun war zu erkennen, dass sich der weiße Anstrich der Fassade gelblich verfärbt hatte und an vielen Stellen abblätterte, und mehrere der vielen Glühbirnen, die den Schriftzug bei Nacht erleuchteten, fehlten oder waren zerbrochen. Die Reihe rechteckiger Schaukästen, in denen normalerweise Filmplakate hingen, die das laufende Programm bewarben, waren leer. Gina wurde es schwer ums Herz. Wie es schien, waren die letzten Jahre nicht spurlos am Palace vorbeigegangen. Was genau trieb Gorran Dew da? Der einzige Lichtblick war das Ferrelli’s. Hinter dem gläsernen Schiebefenster reihte sich eine cremige pastellfarbene Eiscreme-Welle an die nächste. Ein Turm knuspriger, goldener Eiswaffeln lehnte sich wie betrunken auf der Theke zu einer Seite, neben Gläsern mit kunterbunten Streuseln standen eine Reihe Flaschen mit Schokoladensirup. Und über all diesen Köstlichkeiten ragte Manda auf, die, seit Gina denken konnte, für ihren Großvater arbeitete.

»Gina!«, rief die ältere Frau und schob das Glasfenster zur Theke auf, bevor sie ihre blau-weiße Schürze glattzog. »Ich wusste gar nicht, dass du in der Stadt bist.«

Gina lächelte. Manda musste Ende fünfzig sein, und ihre Bestimmung im Leben schien darin zu bestehen, Polwhipples Bevölkerung mit Ferrelli’s Eiscreme zu versorgen. »Sie ist wegen des Jobs gekommen und wegen der Eiscreme geblieben«, hatte Ferdie Gina erklärt, als sie ihn einmal danach gefragt hatte, wie er es schaffte, seine Mitarbeiterin jahrelang zu halten.

»Ich bin erst gestern angekommen«, sagte sie zu Manda. »Und ich werde ein paar Monate bleiben. So lange, bis Nonno sich erholt hat.«

Manda hob überrascht die Augenbrauen. »Ach, wirklich? Und was hält Ferdie von dem Plan?«

»Er hat es eingesehen«, antwortete Gina mit einem vielsagenden Blick auf die Auslage hinter der schrägen Glasscheibe. »Selbst er kommt gegen das Argument leerer Gefriertruhen nicht an.«

Manda griff nach einem Eisportionierer. »Was darf ich dir geben? Erdbeer? Schokolade? Beides?«

Gina lief augenblicklich das Wasser im Mund zusammen, dennoch schüttelte sie den Kopf. »Es ist noch ein bisschen früh für mich. Eigentlich bin ich hier, um mit Gorran zu sprechen. Ist er schon da?«

»Er ist da«, sagte Manda und verzog die Lippen zu einem missbilligenden, schmalen Strich. »Für was auch immer es gut sein soll.«

»Oh«, murmelte Gina. »Gibt es ein Problem?«

»Das wirst du dann schon selbst sehen«, antwortete Manda kryptisch. »Die Tür ist auf.« Sie wandte den Kopf in Richtung einer gläsernen Doppeltür mit silberfarbener Einfassung zu ihrer Linken.

Mit einem unguten Gefühl nickte Gina ihr zum Abschied zu und betrat anschließend das Foyer.

Falls das überhaupt möglich war, wurde das Ausmaß des vernachlässigten Zustands, in dem sich das Kino befand, hier noch deutlicher. Die weißen Wände wirkten trüb und müde. Die goldenen Verzierungen, welche Säulen und Decke zierten, blätterten ab. Und eine der silberfarbenen Flügeltüren, die in den Kinosaal führten, schien nur noch lose in den Angeln zu hängen und war mit Absperrband beklebt. Der wunderschöne rot-goldene Teppich, den Gina so liebte, bedeckte noch immer den Boden, aber er war schmuddelig und an mehreren Stellen durchgewetzt. Einige der Glühbirnen in dem Kristallleuchter an der Decke mussten ausgetauscht werden, die wenigen übrig gebliebenen verströmten nur gedämpftes Licht. Und die Bar, die sich über eine komplette Wandseite erstreckte und an der früher mal die Art elegante Cocktails ausgeschenkt worden war, von denen Gina als Teenager nur hatte träumen können, war leer. Der gesamte Ort wirkte so ungeliebt und verlassen, dass Gina gegen die Tränen ankämpfen musste.

»Traurig, nicht wahr?«

Manda lehnte im Rahmen der Hintertür des Ferrelli’s. Auch zum Foyer hin gab es eine Theke, doch heute war sie leer. Vermutlich wurde dort nur dann Eis verkauft, wenn ein Film gezeigt wurde, was Ginas Eindruck nach bestimmt nur noch äußerst selten der Fall war.

»Wie konnte das passieren?«, fragte sie und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. »Das hier war mal so was wie eine Goldmine. Wie kann es so schnell verfallen sein?«

Manda verschränkte die Arme vor der Brust. »Das musst du Mr. Drew fragen. Das Eis verkauft sich nach wie vor gut – wir brauchen keine Filme, um die Werbetrommel für unsere Marke zu rühren.«

Gina sah sich noch einmal um. »Wie oft gibt es denn überhaupt noch Vorstellungen? Läuft heute Abend ein Film?«

Manda blickte nachdenklich zur Decke. »Am Donnerstag? Nein. Normalerweise zeigt er am Wochenende den ein oder anderen Film, aber du fragst ihn besser selbst, was morgen gespielt wird. Oder du wartest, bis er das Plakat raushängt.«

»Dann wirbt er also immerhin noch für die Filme«, stellte Gina erleichtert fest.

»Na ja, ich habe zwar Plakat gesagt«, fügte Manda hinzu, »aber im Grunde ist es ein einfaches Blatt mit dem Namen des Films und der Uhrzeit drauf. Ist ziemlich lange her, dass hier ein richtiges Filmposter hing.«

Gina ließ die Schultern hängen. Warum hatten ihr Nonna und Nonno nicht erzählt, in welchem schlechten Zustand sich das Palace befand? So führte man kein Geschäft. Erst recht keins, dass darauf angewiesen war, Besucher mit seinem äußeren Erscheinungsbild anzulocken. Das Kino brauchte Stammgäste und eine funktionierende Mund-zu-Mund-Propaganda anstelle von unregelmäßigen Spielzeiten und billigem DINA-A4-Papier. Wenn sie ihre eigenen Events auf diese Weise managen würde, wäre sie innerhalb einer Woche pleite.

Gina kniff die Augen zusammen. Hatte Manda nicht gesagt, dass die Eisdiele trotzdem gut lief? Vielleicht war ihren Großeltern deswegen gar nicht in den Sinn gekommen, ihr vom Schicksal des Palace zu erzählen. Strenggenommen war das Ganze schließlich dann nicht ihr Problem. Für sie und Gina war allein wichtig, wie die Verkäufe im Ferrelli’s liefen.

»Wo kann ich Gorran finden?«

»Vielleicht im Büro. Oder im Vorführraum«, sagte Manda und deutete auf eine schmale Tür an der Seite. »Viel Glück.«

Die Tür führte in einen schmalen Korridor, an dessen Ende sich eine kurze Treppe befand.

»Gorran?«, rief Gina, als sie die Stufen hinaufstieg. »Mr. Drew? Sind Sie hier?«

Am Ende der Treppe kamen mehrere Türen in Sicht, die im Gegensatz zu den aufwendig verzierten im Foyer schlicht weiß waren.

Gina klopfte an die erste und lauschte, ob aus dem dahinterliegenden Raum irgendwelche Geräusche drangen. »Hallo? Ist jemand hier?«

Keine Antwort. Sie ging zur nächsten Tür und klopfte wieder. Diesmal lauter. »Hallo?«

Sie vernahm ein Rascheln, gefolgt von Schritten, dann wurde die Tür geöffnet.

Vor ihr stand Gorran Dew. Die weißen Haare standen ihm noch wilder vom Kopf ab, als Gina es in Erinnerung gehabt hatte.

»Ja? Wie kann ich Ihnen helfen?«

Sein kariertes Hemd war zerknittert, die eine Hälfte des Kragens nach innen gedreht, und seine letzte Rasur musste einige Tage her sein. Gina musste sich beherrschen, nicht zurückzuweichen.

»Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich, Mr. Dew. Ich bin Gina Callaway, Ferdie Ferrellis Enkelin.«

Gorrans blaue Augen blitzten auf. Er streckte die Hand aus und begann, Ginas Arm enthusiastisch auf und ab zu schütteln. »Natürlich! Du hast dich ein klein wenig verändert, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.« Er ließ ihre Hand los, trat einen Schritt zurück und bat sie mit einer ausholenden Geste einzutreten. »Möchtest du nicht reinkommen? Und sag bitte Gorran zu mir.«

Gina spähte an ihm vorbei. Der Raum sah aus wie ein Büro. Auf einem Schreibtisch stapelten sich Ordner und Papiere, mehrere braune Kartons standen scheinbar willkürlich auf dem Fußboden verteilt.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Danke.«

Es gab lediglich eine Sitzgelegenheit, die nicht turmhoch mit Unterlagen bedeckt war, ein Schreibtischstuhl aus Leder mit Rollen. Gorran bedeutete ihr, darauf Platz zu nehmen, bevor er einen schwankenden Stapel Papier, der vor allem aus Rechnungen und Quittungen zu bestehen schien, von einem niedrigen Sofa auf den Boden beförderte. Der Stapel fiel um und riss einen weiteren mit sich. Gina versuchte, nicht zusammenzuzucken.

»Also«, sagte Gorran und bedachte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Was kann ich für dich tun?«

Gina räusperte sich. »Wie du sicher weißt, wird mein Großvater wegen seines gebrochenen Beins mindestens einen Monat lang ausfallen. Bis er sich wieder erholt hat, übernehme ich die Zügel.«

Gorran nickte. »Eine gute Idee. In seinem Alter sollte Ferdie es sowieso ein wenig langsamer angehen lassen und nicht jede Stunde, die der Herr uns gibt, arbeiten.« Er leckte sich nervös über die Lippen. »Nicht dass ich ihm das jemals ins Gesicht sagen würde. Natürlich nicht.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Gina, um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck bemüht. »Sehr weise von dir. Wie dem auch sei, ich dachte, es wäre gut, wenn wir uns über deinen Spielplan unterhalten, damit ich eine ungefähre Vorstellung habe, wie viel Eiscreme wir in den kommenden Monaten für das Ferrelli’s benötigen.«

»Eine weitere gute Idee.« Gorran sah beeindruckt aus. »Was genau musst du wissen?«

»Vielleicht fangen wir einfach mit diesem Wochenende an. Manda hat mir erzählt, dass du morgen einen Film zeigst.«

»Richtig. Freitags und samstags kommen die meisten Leute. Manchmal sind es … Ich weiß nicht genau, aber bestimmt um die zwanzig Kunden.«

Gina hätte beinahe laut aufgestöhnt. Es war also noch schlimmer, als sie erwartet hatte. »Welcher Film läuft morgen Abend?«

Offensichtlich voller Vorfreude rieb er die Hände aneinander. »Oh, ein Klassiker. Ein kaum bekanntes schwedisches Juwel. Betrachtungen einer Taube über das Dasein.«

»Einer … Einer Taube?«, wiederholte Gina ungläubig. »Hast du gerade gesagt, Betrachtungen einer Taube über das Dasein?«

»Stimmt genau«, bestätigte Gorran. »Das Ganze wird in einer Serie von Tableaus gezeigt, sodass man jede einzelne Szene individuell in sich aufnehmen kann.«

Gina blinzelte. »Das heißt, niemand bewegt sich?«

»Die Hintergrundkommentare sind auf Schwedisch, aber es gibt natürlich Untertitel.« Gorran kicherte. »Es ist brillant, ehrlich. Ich bin mir sicher, dass wir morgen eine Menge Besucher haben werden.«

Sie starrte ihn fassungslos an. »Bestimmt«, sagte sie in der Hoffnung, weniger schwach zu klingen, als sie sich fühlte. »Und was wird am Samstag gezeigt?«

Gorran seufzte. »Leider hab ich den anderen Indie-Film, den ich im Auge hatte, nicht bekommen, deswegen habe ich einen aus dem Archiv ausgesucht. Hast du schon mal von Footloose gehört?«

Gina richtete sich auf. Das klang schon ein wenig vielversprechender. »Natürlich, ein großartiger Film. Kevin Bacon bringt jede Leinwand zum Strahlen.«

Er schürzte zweifelnd die Lippen. »Nicht gerade das, was ich einen Klassiker nennen würde, aber ich gehe davon aus, dass trotzdem ein paar Leute kommen werden.« Er zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Was soll man machen?

Unfähig, sich eine Antwort abzuringen, die nicht vor Sarkasmus triefte, hielt Gina lieber den Mund und ließ stattdessen den Blick durch das chaotische Büro, über die welligen gelben Notizzettel an der Pinnwand und die halb vollen Kaffeebecher auf dem Schreibtisch wandern. »Arbeitet außer dir noch jemand im Kino?«

»Ja. Da wäre zum einen Tash, die den Projektor im Vorführraum bedient, und Bruno kümmert sich um den Ticketverkauf. Du hast wahrscheinlich gesehen, dass die Bar geschlossen ist – leider konnten wir die Kosten nicht mehr stemmen. Alkohol ist teuer, und niemand schien mehr an einem Drink interessiert zu sein.«

Gina dachte an die hell erleuchtete Bar, um die sich früher die Besucher gedrängt hatten, und schluckte ein Seufzen hinunter. Nach zwei Stunden schwedischem Tauben-Drama würde sie definitiv einen starken Drink brauchen. Aber das Kino war nicht ihr Geschäft, ermahnte sie sich. Alles, was für sie zählte, war die Eiscreme.

»Es wäre hilfreich, wenn ich einen Programmplan für die nächsten Monate bekommen könnte. Ist das möglich?«

Gorran rieb sich das stoppelige Kinn. »Könnte ich vermutlich zusammenstellen. Die Filme können sich im Nachhinein allerdings noch ändern, je nachdem, was ich bekomme. Wäre das ein Problem?«

Eine der wichtigsten Fähigkeiten, die Gina im Laufe ihrer Selbstständigkeit gelernt hatte, war zu wissen, wann man sich zurücknehmen musste. »Lass uns ein Wochenende nach dem anderen angehen«, schlug sie vor und zwang sich zu einem Lächeln. »Und vielleicht sollte ich einfach mal selbst vorbeikommen, um zu sehen, wie es so läuft. Um welche Uhrzeit startet Footloose am Samstag?«

»Das kommt darauf an, wann Tash sagt, dass sie anfangen will«, sagte Gorran mit einem ermutigenden Lächeln. »Weißt du was, am besten schaust du einfach am Samstagnachmittag rein und siehst auf dem Poster nach, das ich dann schnell raushänge.«

Kapitel Vier

Manda bestand darauf, das Gina eine doppelte Portion Erdbeere nahm. »Du siehst aus, als könntest du den Zucker gebrauchen.« Sie schüttelte besorgt den Kopf. »Viele Leute, die mit Gorran gesprochen haben, machen anschließend genau das gleiche Gesicht wie du jetzt gerade.«

»Danke«, sagte Gina, während sie zusah, wie Manda Eiscreme in eine Waffel türmte, anschließend bunte Streusel darüberstreute und das Ganze mit einer Karamellstange garnierte.

»Und untersteh dich, bezahlen zu wollen«, warnte sie, als Gina automatisch in ihre Handtasche griff, um nach ihrem Portemonnaie zu suchen. »Sieh es als Training. Solange man das Produkt nicht probiert hat, kann man es auch nicht verkaufen.« Sie tätschelte ihren runden Bauch. »Zumindest erzähle ich das immer meinem Mann.«

Gina lächelte. »Verstanden.«

Als sie an den Streuseln leckte, explodierte die Süße auf ihrer Zunge, doch der Erdbeergeschmack darunter war fast schon herb. Ihre Geschmacksnerven reagierten mit purer Begeisterung. Sie leckte noch einmal an dem Eis. »Ich hatte ganz vergessen, wie gut es ist!«

Manda nickte. »Deswegen müssen wir uns auch nicht allzu viele Sorgen machen, was Gorran Dew tut – solange es genug ist, dass das Palace nicht endgültig schließt. Dein Großvater ist ein Eiscreme-Genie, und jeder hier weiß das.«

Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und ließ den feuchten Sand, den die Flut hinterlassen hatte, schimmern. Auf einmal verspürte Gin das unbändige Bedürfnis danach, einen Spaziergang entlang der Küste zu machen.

Sie schenkte Manda ein weiteres Lächeln. »Es war schön, dich wiederzusehen. In den nächsten Monaten werden wir uns ganz sicher häufig begegnen.«

Am Ende der Strandpromenade führte ein gewundener Pfad hinunter zum Strand, doch Gina entschied sich für die schmale Steintreppe nicht weit entfernt vom Kino. Der kurze Fußmarsch führte sie am Mermaid’s Tail Inn mit seinem hübsch dekorierten Biergarten, der um diese Tageszeit noch leer war, und am Ocean Pearl Bookshop vorbei – zwei von Ginas Lieblingsorten in Polwhipple, als sie noch ein Teenager gewesen war. Daneben befand sich allerdings ein Laden, den sie noch nicht kannte, und sie blieb einen Moment stehen, um die bunte Auslage zu betrachten. Die Schaufensterpuppen sahen aus, als wären sie geradewegs von der Leinwand des Palace hereinspaziert: Eine trug ein Minikleid in der Mode der Sechziger und dazu kniehohe Stiefel, eine andere einen Pelzmantel und -hut, von denen Gina inständig hoffte, dass sie nicht echt waren, und die dritte ein Teekleid und einen schicken Glockenhut, der eingehüllt in die Dampfwolke der historischen Eisenbahn in Bodmin Parkway kein bisschen aus der Zeit gefallen gewirkt hätte. Sie sah zu dem grau-rosafarbenen Schild über dem Schaufenster hinauf: Carrie’s Speicher. Sie musste lächeln. Wer hätte gedachte, dass es im verschlafenen Polwhipple mal eine Vintage-Boutique geben würde?

Sie riss sich von dem netten Schaufenster los, überquerte die Straße und stieg die steilen Stufen hinunter. Der Strand war, abgesehen von einem Mann, der mit seinem aufgedrehten Labrador durch die flachen Pfützen tollte, völlig verlassen. Weiter draußen konnte Gina die Silhouette eines Surfers erkennen, der auf den Wellenkämmen ritt. Der Strand in Polwhipple war sehr viel ruhiger als der bekannte Surfspot ein Stück die Küste hinunter in Newquay und weniger protzig als der berühmte Fistral Beach.

Sie fand ein Fleckchen trockenen Sand und setzte sich einen Moment, um – nicht ohne Neid – den Surfer zu beobachten, der sein Board geschickt in der Luft drehte. Sie hatte surfen lernen wollen, seit sie vor Jahren Ben zum ersten Mal auf den Wellen hatte reiten sehen. Schon damals hatte sie gefunden, dass es unglaublich cool aussah, und das tat sie noch heute.

Das Eis hatte sie fast aufgegessen. Sie hob das Hörnchen, um an der Spitze zu knabbern und den letzten cremigen Rest herauszusaugen. Dann aß sie die knusprige, mit Erdbeerstreuseln überzogene Waffel, bevor sie zufrieden seufzte. Sie musste aufpassen, wie viel sie aß, entschied sie, während sie sich die Lippen leckte – sonst würde sie zehn Kilo schwerer nach London zurückkehren, als sie es verlassen hatte, vor allem wenn Nonna ihren Plan durchzog.

Der Surfer war inzwischen näher gekommen. Das Board unter dem Arm pflügte er durch das seichte Wasser. Als er dem Mann mit dem Labrador begegnete, beugte er sich hinab, um den Hund zu streicheln, bevor er ein paar Worte mit dessen Besitzer wechselte. Es musste jemand sein, der hier lebte und viel surfen ging.

Sie beobachtete, wie der Surfer das Wasser von seinem Board schüttelte und dann seinen Weg zum Strand hinauf fortsetzte. Er war groß und hatte die typische Surferstatur. Keine Überraschung angesichts seiner Fähigkeiten, die darauf schließen ließen, dass er den Sport regelmäßig betrieb. Seine nasses Haar glänzte braun, doch sie ahnte, dass es in trockenem Zustand eher blond war. Mit seinem kantigen Kinn und den ausgeprägten Wangenknochen sah er ausnehmend gut aus.

Und dann begegnete sie seinem Blick und spürte, wie die Erkenntnis sie durchzuckte. Sie kannte ihn! Der Surfer war der Mann vom Bahnsteig, der ihr am Tag zuvor mit seinem Taschentuch ausgeholfen hatte.

Er blieb stehen, den Blick fest auf sie gerichtet, und Gina war klar, dass er sie ebenfalls erkannt hatte. Dann setzte er sich wieder in Bewegung. Diesmal ging er gezielt in ihre Richtung.

Gina stand auf. »So sieht man sich wieder«, rief sie ihm entgegen, als sie davon ausgehen konnte, dass er sie hörte.

»Wie geht’s dem Auge?«, erkundigte er sich. »Es sieht besser aus.«

Sie lächelte. »Komplett genesen. Vielen Dank, dass Sie sich meiner angenommen haben. Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch mal wiedersehen, deswegen habe ich auch leider Ihr Taschentuch nicht dabei. Tut mir leid.«

Er tat ihre Entschuldigung mit einer wegwerfenden Geste ab. »Kein Problem. Um ehrlich zu sein, hätte ich gerade sowieso keine Möglichkeit, es irgendwo hinzustecken.«

Unwillkürlich ließ Gina den Blick über den eng sitzenden, nassen Neoprenanzug und die definierten Muskeln darunter gleiten. Hastig zwang sie sich, ihm wieder in die Augen zu schauen, während sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Das sehe ich.«

Kurz breitete sich Stille zwischen ihnen aus, bevor der Surfer fragte: »Sie sind hier, um Urlaub zu machen?«

Gina legte den Kopf schräg, die Stirn leicht gerunzelt. Jetzt, da sie ihn aus der Nähe betrachtete, hatte er etwas Vertrautes an sich, das nichts mit ihrer Begegnung am Vortag zu tun hatte. »Nein«, sagte sie langsam. »Ich besuche meine Familie. Als Jugendliche war ich häufig hier, und …«

Er riss die blauen Augen auf. »Gina? Du bist es, oder?«

Sie musterte ihn misstrauisch. »Ja, das bin ich. Kennen wir uns?«

Sein ganzes Gesicht strahlte, als er das Board mit der Spitze in den Sand rammte. »Ich dachte gestern schon, dass ich dich irgendwoher kenne. Ich bin’s, Ben. Ben Pascoe. Wir waren befreundet. Das ist natürlich Jahre her. Erinnerst du dich nicht?«

Und auf einmal fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, und sie konnte den Jungen in ihm sehen, mit dem sie als Jugendliche so viel Zeit verbracht hatte. »Oh mein Gott! Ich hatte keine Ahnung, dass du immer noch hier lebst.«

Er streckte die Hand aus, um ihre zu schütteln. »Nach der Schule bin ich viel gereist und habe eine Weile in Australien gearbeitet, aber seit diesem Jahr bin ich zurück, um mir hier mein eigenes Geschäft aufzubauen.«

Seine Finger waren warm und feucht und ein klein wenig rau. Gina war überwältigt. Ben Pascoe. All die Sommer lang waren sie unzertrennlich gewesen. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihm zufällig über den Weg lief, und dann auch noch ausgerechnet auf einem Bahnsteig in Bodmin Parkway? Noch einmal glitt ihr Blick über sein Gesicht. Es war so eindeutig Ben! Wie konnte es sein, dass sie ihn nicht bereits am Bahnhof wiedererkannt hatte? Aber natürlich war da die Tatsache gewesen, dass sie was im Auge gehabt und kaum etwas gesehen hatte …

»Wie geht es deinen Großeltern?«, erkundigte sich Ben und ließ ihre Hand los. »Wie es aussieht, laufen die Geschäfte im Ferrelli’s nach wie vor gut.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Ortes.

Gina lächelte. »Das ist der Grund, warum ich hier bin. Nonno hat sich das Bein gebrochen, und ich helfe aus.«

Ein Funkeln trat in Bens Augen. »Dann bleibst du ein paar Wochen?«

»Ein paar Monate«, korrigierte sie. »Um zu lernen, wie man Eiscreme herstellt, und natürlich, um den berühmten Sonnenschein in Cornwall zu genießen. Bevor ich dann irgendwann zurück in die reale Welt nach London muss.«

»Verstehe. Ich habe das mit der realen Welt auch mal ausprobiert. Hat mir nicht besonders gut gefallen.«