Um fünf unter den Sternen - Holly Hepburn - E-Book
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Um fünf unter den Sternen E-Book

Holly Hepburn

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Beschreibung

600 Seiten zum Verlieben

Die Schwestern Nessie und Sam könnten unterschiedlicher nicht sein, doch eines haben sie gemeinsam: ein hoch kompliziertes Liebesleben. Als sie ein romantisches kleines Pub auf dem Land erben, kommt die Chance auf einen Neuanfang für beide wie gerufen. Doch der verläuft anders als gedacht – das Gebäude ist heruntergekommen und verschuldet, und dann sind da noch die naseweisen Dorfbewohner, die schon ganz eigene Pläne für die Neueröffnung geschmiedet haben. Doch Nessie und Sam sind fest entschlossen, das Pub zu retten und es wieder zum Mittelpunkt des Dorfes zu machen. Zum Glück gibt es da noch Joss, den charmanten Kellner, und Owen, den gut aussehenden Schmied von gegenüber …

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Seitenzahl: 595

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HOLLY HEPBURN liebt es, Menschen zum Lächeln zu bringen – und sie liebt ihre Katze Portia. Sie hat in der Marktforschung und als Model gearbeitet, ihr großer Traum war aber schon immer das Schreiben. Sie lebt in der Nähe von London.

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Holly Hepburn

Roman

Aus dem Englischen von Cathrin Claußen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel A Year at the Star and Sixpence bei Simon & Schuster UK Ltd., London.

Die deutschsprachige Ausgabe erschien 2018 vorab im eBook in fünf Teilen (Schneeglöckchen unter den Sternen, Herzklopfen unter den Sternen, Sommerträume unter den Sternen, Herbstzauber unter den Sternen, Ein Weihnachtsbaum unter den Sternen) im Penguin Verlag.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen

von Penguin Books Limited und werden

hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2016 by Tamsyn Murray

Published by arrangement with SIMON & SCHUSTER UK LTD., LONDON, ENGLAND

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Penguin Verlag,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: www.buerosued.de

Covermotiv: www.buerosued.de

Redaktion: Lisa Wolf

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-23448-5 V002

www.penguin-verlag.de

Für Pauline und Francis, denn ich glaube, ich habe mich nie bei euch bedankt.

Mrs. Vanessa Blake

23 Westmoreland Avenue

Godalming

Surrey

GU7 8PB

20. August 2015

Sehr geehrte Mrs. Blake,

der Grund meines Schreibens betrifft den Nachlass Ihres Vaters, des hochwohlgeborenen Andrew Chapman. Als Vollstrecker seines Testaments ist es meine Pflicht, Sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass Sie und Ihre Schwester, Miss Samantha Chapman, die einzigen Erben von Mr. Chapmans Vermögen sind, bestehend aus der Immobilie in der Sixpence Lane, Little Monkham, Shropshire, SY6 2XY, und dem sich darin befindenden Pub, dem Star and Sixpence.

Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie schnellstmöglich mit mir Kontakt aufnehmen und mir mitteilen könnten, ob Sie das Erbe antreten wollen, sodass schnellstmöglich die nötigen Formalitäten eingeleitet werden können.

Hochachtungsvoll,

Quentin Harris

Harris und Taylor Rechtsanwälte

Kapitel eins

Nessie blinzelte durch die Windschutzscheibe in die nächtliche Dunkelheit, gegen die nicht einmal das Fernlicht viel ausrichten konnte. »Bist du sicher, dass es die nächste links abgeht?«

Vom Beifahrersitz ertönte ein kurzer Seufzer. »Das sagt jedenfalls das Navi, auch wenn wir so weit weg von der verdammten Zivilisation sind, dass es wahrscheinlich genauso verloren ist wie wir.« Samantha klopfte versuchsweise auf das Gerät und stierte dann wieder auf das Display. »In fünfzig Metern links abbiegen.«

Nessie trat auf die Bremse und hielt vergeblich Ausschau nach einer Lücke zwischen den dunklen Bäumen. »Da ist aber gar keine Straße, glaube ich.«

»Du bist doch diejenige, die schon mal hier war«, giftete Sam. »Ich dachte, du kennst den Weg?«

Ja, schon, wollte Nessie erklären, nur letztes Mal war helllichter Tag, und ich hatte einen Anwaltsgehilfen, der mich gelotst hat, statt einer Schwester, die mich für vollkommen orientierungslos hält und immer direkt auf hundertachtzig ist.

Das alles behielt sie jedoch für sich. Sie verkniff es sich auch, ihre Schwester darauf hinzuweisen, dass sie, wenn Sam zur verabredeten Zeit fertig gewesen wäre, nicht erst im Dunkeln hier angekommen wären. Stattdessen konzentrierte Nessie sich darauf, die Abbiegung zu finden, von der Sam steif und fest behauptete, sie würde gleich kommen.

Ein paar Sekunden später war da wirklich etwas: eine Lücke, mehr ein Trampelpfad als eine Straße, mit einer rot-weiß gestreiften Schranke davor, verschlossen mit einer schweren Kette. Sie hielt an. »Ich bin ziemlich sicher, dass wir hier falsch sind.«

Sam schnaubte irritiert und riss das Navigationsgerät aus seiner Halterung an der Windschutzscheibe. »Himmel nochmal, dann muss die Postleitzahl falsch sein«, fauchte sie und klopfte entnervt auf das Display. »Hast du sie überprüft, bevor du sie eingegeben hast?«

Nessie wusste, dass sie das getan hatte; sie hatte sich die Papiere des Anwalts mehrmals durchgelesen, um sich wirklich sicher zu sein – auch dass sie diese ganze Geschichte mit dem Erbe nicht nur geträumt hatte. Aber als sie nun mit Sams Wutausbruch konfrontiert war, zweifelte sie doch an sich. Sie starrte auf ihre Hände, die verkrampft und zittrig auf dem Steuer lagen. »Ich dachte, das hätte ich. Aber vielleicht hab ich mich vertippt.«

Sam atmete langsam aus. »Nein, tut mir leid. Ich wollte nicht so ausflippen, die letzten Wochen waren einfach hart, weißt du …« Ihr Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln, und sie hielt das Navi in die Höhe. »Hier draußen gibt es eh kein Signal. Wir könnten auch in der Nähe von Luxemburg statt von Little Monking sein, wenn es nach diesem Teil hier ginge.«

Trotz ihrer Anspannung lächelte Nessie zurück. »Monkham, nicht Monking. So steht es jedenfalls in diesem Grundbuch, das wahrscheinlich noch aus dem Mittelalter stammt.«

»Arsch der Welt würde besser passen«, murmelte Sam und ließ das Navi in ihren Schoß fallen. »Und jetzt? Kommt dir hier irgendwas bekannt vor?«

Nessie sah sich um und versuchte, sich die Straße bei Tageslicht vorzustellen. Denk nach, befahl sie sich. Was kam nach der Humpback-Brücke? Eine Kreuzung? Ein Kreisverkehr? »Hinter der nächsten Kurve müsste, glaube ich, eine Abzweigung sein«, sagte sie langsam, in der Hoffnung, dass ihre Erinnerung ihr keinen Streich spielte. »Ich meine, da sind wir links abgebogen.«

Sam lehnte sich im Sitz zurück. »Lass es uns herausfinden.«

Nessie holte tief Luft, legte den Gang ein und fuhr wieder los. »Und, wie ist es dort?«, fragte Sam. »Sind wir vollkommen übergeschnappt, dass wir das machen?«

Nessie sah das Star and Sixpence vor sich, wie es oben auf der makellosen Dorfwiese von Little Monkham thronte und sein schwarz-weißes Fachwerk hell in der Wintersonne leuchtete. »Ich hab’s dir ja schon gesagt, es ist alt, wurde um 1600 gebaut, glaube ich.«

Sam verzog das Gesicht. »Igitt, alt. Bitte sag mir, dass es zumindest eine Dusche und Zentralheizung hat?« Sie warf einen Blick auf das Navi und schauderte. »Und WLAN?«

Nessie dachte an die tropfende Duschbrause über der angeschlagenen Emaillebadewanne in der oben gelegenen Wohnung und an den riesigen gemauerten Kamin, der das Zentrum des mit Holzbalken durchzogenen Barraums des Pubs bildete. Sie nickte. »Dusche und Heizung gibt es, obwohl beides eine kleine Auffrischung nötig hätte – das gilt für das ganze Haus, um ehrlich zu sein. Es würde mich sehr wundern, wenn es dort WLAN gäbe, aber das ist ja leicht einzurichten, wenn wir es wollen.« Für einen kurzen Moment zögerte sie, dann sagte sie es doch: »Eigentlich dachte ich, du könntest vielleicht eine kleine Pause vom Internet vertragen.«

Sam war still, als sie um die Kurve fuhren, und nicht zum ersten Mal fragte Nessie sich, was wohl passiert wäre, wenn ihr Vater, mit dem sie seit über zwanzig Jahren nicht gesprochen hatten, ihnen dieses Pub nicht hinterlassen hätte. Was sie anging, wahrscheinlich nichts – sie wäre immer noch mit Patrick zusammen, gefangen im starren Alltagstrott dieser Ehe. Aber bei Sam sah das ganz anders aus; die Flucht aus London war sozusagen ihr letzter Ausweg.

Am Straßenrand kam ein Schild in Sicht. »Little Monkham, ein Kilometer«, rief Sam triumphierend. »Wer braucht schon Technik?«

Nessie wusste nicht, ob sie das Navi oder das Internet oder beides meinte, doch es erinnerte sie wieder daran, dass zumindest einer der Gründe, weshalb sie nach Little Monkham zogen, war, dass sie sich verstecken wollten. Denn wo konnte man besser seine Wunden lecken, als an einem Ort, an dem einen niemand fand?

»Genau«, antwortete Nessie und lenkte das Auto über die Straße, die zum Dorf führte. »Vielleicht hat es auch etwas für sich, mal vom richtigen Weg abzukommen.«

Die Dorfwiese wurde von den Straßenlaternen in bernsteinfarbenes Licht getaucht, als sie Little Monkham erreichten. Ein Mann ging mit seinem Hund am Kriegsdenkmal vorbei, hielt an und tippte sich grüßend an den Hut, als sie vorbeifuhren. Nessie hob etwas unsicher die Hand, während Sam ihn einfach nur anstarrte.

»Wir sind wieder zurück in den Fünfzigern, oder?«, sagte Sam. »Steht da hinten eine alte blaue Telefonzelle, oder ist das die Zeitmaschine?«

»Ich nehme an, es wird wohl eine Telefonzelle sein«, antwortete Nessie nachsichtig. »Nicht alle haben ein Handy.«

Sam hob die Augenbrauen. »Aber Festnetzanschlüsse wird es hier doch geben? Die werden doch nicht alle hier anstehen, um das öffentliche Telefon zu benutzen?«

Nessie lachte. »Wer weiß. Guck mal, da ist das Pub.«

Das Star and Sixpence lag am Ende einer Wiese, beleuchtet von einer einzelnen altmodischen Straßenlampe, die direkt vor der Tür stand. An einem hölzernen Mast hing ein sanft im Wind schaukelndes Schild, auf dem neben einem leuchtenden Stern ein silbernes Sixpencestück prangte. Die Fenster wirkten wie dunkle Löcher in den weiß gestrichenen Wänden, und darüber hing das Dach, als wäre es den Kampf gegen die Schwerkraft müde.

Sam schauderte. »Sieht nicht sehr einladend aus.«

Nessie hielt auf dem Parkplatz und zog die Handbremse an. »Das wird es schon, wenn wir erst mal Licht angemacht haben. Komm.«

Erst als sie drin waren und den Lichtschalter gefunden hatten, fiel Nessie ein, dass der Strom womöglich gar nicht mehr angeschlossen war. »Oh«, sagte sie und kam sich wie eine Idiotin vor. »Ist wohl abgestellt.«

Sam stellte die Taschenlampe auf ihrem Handy an. »Vielleicht ist nur die Sicherung rausgesprungen. Das ist in meiner Wohnung früher auch öfter passiert. Wo ist der Sicherungskasten, was meinst du?«

Nessie dachte an ihre kurze Besichtigungstour mit dem Anwaltsgehilfen, der ausgesehen hatte, als wäre er gerade erst dreizehn geworden. »Weiß ich nicht. Es gibt einen Keller. Vielleicht ist er da unten?«

Ihre Schwester rümpfte angewidert die Nase. »Na toll. Und wie komme ich zu diesem Keller?«

Die Fenster waren klein und ließen nur wenig Licht von der einzelnen Straßenlaterne hinein. Sams Telefon beleuchtete ihr Gesicht und den Boden, wenn sie es nach unten richtete, aber viel mehr auch nicht. Überall lauerten Schatten und dunkle Flecken.

»Äh … ich glaube hinter der Bar«, sagte Nessie und versuchte, das pulsierende Unbehagen zu ignorieren, das zwischen ihren Schulterblättern hinaufkroch. »Da gibt es eine Tür und eine Treppe. Warte, ich zeig’s dir.«

Aber Sam war schon losgelaufen, der Lichtkegel von ihrem Telefon hüpfte durch die Dunkelheit. »Kein Problem, ich finde es schon.«

»Sei vorsichtig!«, rief Nessie. Soweit sie sich erinnerte, waren die Kellerstufen eng und abgetreten – man konnte leicht hinfallen. Nessie wartete und tastete in ihrer Tasche nach ihrem eigenen Telefon, so einem Prepaid-Handy, das sie gekauft hatte, als sie Patrick verlassen hatte. Es war billig und aus Plastik und hatte definitiv keine Taschenlampe. Man konnte damit noch nicht einmal online gehen. Aber es reichte, um Sam wenn nötig zu kontaktieren. Wen sollte sie auch sonst anrufen? Ihre Freunde hatten sich als seine Freunde entpuppt, aber zumindest war es so leichter, alle Verbindungen zu kappen und neu anzufangen.

Um sie herum breitete sich Stille aus. Die Dunkelheit lastete schwer auf Nessie, ihre Gedanken begannen zu rasen. Ein unbekannter Ort mitten in der Nacht … fingen so nicht die meisten Horrorfilme an? Niemand sonst war hier, aber dennoch – sie konnte ihre Einbildungskraft nicht im Zaum halten. Du bist fünfunddreißig Jahre alt, sagte sie sich, nicht fünf – zu alt, um Angst im Dunkeln zu haben. Es machte absolut keinen Unterschied. Sie war drauf und dran, sich auf die Suche nach Sam zu machen, als ein Lichtstrahl durch das Fenster am Eingang des Pubs fiel. Die Tür ging auf, und eine massige Silhouette füllte den Rahmen beinahe vollkommen aus.

Nessie unterdrückte einen Schrei. »Wer ist da?«, rief sie, während sie zurücktrat und das Zittern in ihrer Stimme verfluchte. Ihr Bein stieß an etwas Hartes, und sie griff danach, um sich zu verteidigen: Wahrscheinlich ein Tisch, dachte sie, nicht gerade etwas, mit dem man werfen kann.

Der Strahl einer Taschenlampe streifte ihr Gesicht, blendete sie kurz, leuchtete dann nach oben und offenbarte das Gesicht eines Mannes mit üppiger schwarzer Lockenmähne. »Hallo«, sagte er. »Sie müssen die neue Besitzerin sein.«

Nessie krallte ihre Finger in den Tisch. Dumme Gans, er ist kein verrückter Psychopath. Trotzdem schlug ihr Herz weiter wie wild in ihrer Brust.

»So ist es«, sagte sie, so ruhig sie konnte. »Ich bin Nessie Blake. Und wer sind Sie?«

»Owen Rhys«, sagte er mit trällerndem Akzent. »Aus der Schmiede nebenan. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

Ihre verkrampften Schultern entspannten sich etwas, als sie sich an ihren Besuch von vor ein paar Wochen zurückerinnerte – es gab ein großes Gebäude nebenan, mit einem Garten und einem Cottage etwas abseits, ein Anblick wie auf einer Postkarte. Das war bestimmt die Schmiede.

»Ich wollte Sie eigentlich begrüßen, wir hatten nur angenommen, dass Sie viel früher kommen«, sagte Owen. Nessie war erleichtert, als sie bemerkte, dass er sich nicht von der Tür wegbewegt hatte, sondern auf eine Einladung zu warten schien, bevor er näher kam.

»Wir … wir wurden aufgehalten«, erklärte sie. »Tut mir leid, wenn Sie gewartet haben.«

»Kein Problem«, sagte der Mann leichthin. »Ich wohne in dem Cottage neben der Schmiede. Mein kleiner Sohn Luke hat nach Ihnen Ausschau gehalten, seit es dunkel wurde.«

Nessie nickte, dann wurde ihr klar, dass er diese Bewegung gar nicht sehen konnte. »Schön.«

Stille hing zwischen ihnen. »Also, soll ich reinkommen und das Licht anstellen? Ich glaube, die Sicherung ist rausgesprungen. Die Elektrik ist schon ein bisschen in die Jahre gekommen, es braucht nicht viel, um sie lahmzulegen.«

»Eigentlich …«, fing Nessie an, doch dann wurde sie von einem Triumphschrei unterbrochen. Plötzlich war der Raum von kränklich gelbem Licht erfüllt. »Meine Schwester Sam«, sagte Nessie blinzelnd. »Scheint, als hätte sie den Stromkasten gefunden.«

Sie blinzelte noch ein paarmal, bis sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten. Owen Rhys war sicher mindestens einen Meter achtzig groß, hatte pechschwarze Locken, die ihm wirr in die Stirn fielen, und dunkle Augen, mit denen er sie eingehend musterte. Er sah tatsächlich aus wie ein Schmied, fand sie, auch wenn sie nicht sicher war, wie sie darauf kam, denn bisher hatte sie noch keinen persönlich kennengelernt. Er stand im Türrahmen, etwas geduckt unter dem dicken Holztürsturz, die Taschenlampe in der einen und einen mit einem blau-weiß karierten Tuch bedeckten Korb in der anderen Hand.

»Du siehst … Sie sehen aus wie Ihr Vater«, sagte Owen und machte die Taschenlampe aus. »Dieselben Augen. Tut mir leid, übrigens – Ihr Verlust. Er hatte großen Anteil an unserem Dorfleben, also Andrew hatte das.«

Nessie schluckte ein unfreiwillig höhnisches Schnauben herunter und verwandelte es in ein Husten. Grüne Augen waren das Einzige, was sie und Sam mit ihrem Vater gemeinsam hatten, und sie wusste, dass Sam phasenweise blaue Kontaktlinsen getragen hatte, um das zu vertuschen; ihre Art, sich von ihm zu distanzieren. Es war schwer, sich ihn als geschätztes Mitglied von welcher Gemeinschaft auch immer vorzustellen. Doch dann erinnerte sich Nessie daran, wo sie sich befand, und fühlte sich ein kleines bisschen schuldig. Welche Fehler Andrew Chapman auch gehabt hatte, und davon gab es jede Menge, er hatte seinen Töchtern einen Ort vermacht, an den sie sich zurückziehen konnten, als sie es nötig hatten. »Danke«, sagte Nessie – etwas Besseres fiel ihr nicht ein.

Für eine Weile standen sie da und sahen sich an. Nessie spürte, wie die Anspannung nach und nach von ihr abfiel. Für so einen kräftigen Mann war Owen erstaunlich wenig Furcht einflößend, vielleicht weil er auf Abstand blieb. Sie schüttelte sich innerlich, probierte ein Lächeln. »Möchtest du … ich meine … möchten Sie …«

Owen fing gleichzeitig an zu sprechen. »Brauch…«

Sie hielten beide inne, und wieder entstand eine kurze, verlegene Stille. »Nach dir«, sagte Owen dann höflich.

Nessie holte Luft. »Möchtest du reinkommen?«

Er nickte. »Und ich wollte fragen, ob ihr Hilfe mit irgendetwas braucht, Taschen oder Kartons reintragen?« Sein Blick wanderte zum kalten schwarzen Loch des Kamins. »Ich könnte ein Feuer anmachen, wenn du möchtest? Es wird wunderbar warm hier drin, sobald es brennt.«

Nessie wagte es nun endlich, ihre Augen von ihm abzuwenden und sich im Pub umzusehen, betrachtete die staubigen zusammengewürfelten Tische und den abgetretenen Teppich. Die Messingschilder über der Bar waren stumpf, der Holztresen vor der Bierzapfanlage fleckig und unpoliert, die Balkendecke gelblich von Alter und Nikotin. Mehr als die Hälfte der Glühbirnen in den hässlichen Wandleuchten aus den Siebzigern waren kaputt. Wo immer sie hinblickte, sah sie Anzeichen von Verwahrlosung. Das alles würde sie eine Menge Arbeit kosten. Andererseits – was hatten sie und Sam sonst schon zu tun?

Sie sah wieder Owen an. »Ich denke, wir kommen zurecht. Aber danke.«

»Du glaubst nicht, wie dreckig es da unten ist«, sagte Sam, die in den Raum gepoltert kam. »Da ist eine Spinne, so groß wie die aus Herr der Ringe – oh!«

Sie unterbrach sich, als sie Owen sah, und ihre Augen weiteten sich.

»Das ist Owen, der Schmied von nebenan«, sagte Nessie.

»Das glaube ich«, sagte Sam und musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Ein waschechter Schmied. Mein Gott, ich habe das Gefühl, ich bin mitten in einer Seifenoper gelandet. Mein Name ist übrigens Sam.«

Owen nickte zum Gruß und trat einen Schritt vor. Er hob den Korb hoch und streckte ihn Nessie hin. »Das ist für euch, nur ein paar Sachen, von denen wir dachten, ihr könntet sie vielleicht brauchen.«

Wir, bemerkte Nessie. Er musste seine Frau meinen. Hatte er nicht auch einen Sohn erwähnt?

Sam drängte sich an ihr vorbei und nahm den Korb entgegen. »Super«, sagte sie, stellte ihn auf einen der Tische und nahm das Baumwolltuch ab. »Ist da eine Flasche Wein drin?«

Lachfältchen bildeten sich um Owens Augen. »Nein, nur Milch, Kuchen, Brot und so weiter. Ich hätte nicht gedacht, dass ihr Wein braucht, wo das hier doch ein Pub ist.«

»Guter Punkt.« Sam sah sich um und schien zum ersten Mal ihre Umgebung wahrzunehmen. Sie starrte ein riesiges Ölbild an einer der kahlen Backsteinwände an, das eine raue Seelandschaft voller brodelnder Wellen und einem düster drohenden Himmel darüber zeigte. »Ach du Scheiße, das muss aber weg.«

Warte nur, bis sie das Flaschenschiff entdeckt, dachte Nessie und sah Sams minimalistisch eingerichtete Wohnung in London vor sich. Sie wird nach einem Container verlangen, um das alles hier rauszuschaffen.

»Das ist ein Werk von Henry Fitzsimmons. Ich denke, er nimmt es gern zurück, wenn es nicht nach eurem Geschmack ist«, sagte Owen. Seine Stimme klang zwar freundlich, aber Nessie meinte dennoch, einen missbilligenden Unterton wahrzunehmen.

»Wir werden jetzt keine überstürzten Entscheidungen darüber fällen, was bleibt und was wegkommt«, sagte sie schnell und warf ihrer Schwester einen bedeutungsvollen Blick zu. »Vielen Dank jedenfalls für die Sachen. Das ist sehr aufmerksam.«

Owens Blick verweilte noch einen Moment auf ihr, aber er schien ihr den abrupten Abschied nicht übel zu nehmen. »War mir ein Vergnügen. Wie gesagt, wenn ihr irgendetwas braucht, ich bin gleich nebenan. Ihr müsst nur rufen.«

Er nickte erst Sam und dann Nessie zu, duckte sich unter dem Türrahmen hindurch und verschwand, so schnell wie er gekommen war, wieder in der Nacht. »Also«, sagte Sam und grinste Nessie mit unverhohlener Begeisterung an. »Du verschwendest wirklich keine Zeit.«

»Sam …«, setzte Nessie an.

»Was?«, sagte Sam mit erhobenen Augenbrauen. »Ihr hättet ja wohl die halbe Überlandleitung mit Strom aufladen können, so wie das geknistert hat, als ich hier reingekommen bin.«

Nessie spürte, wie sie rot wurde. »Also wirklich, du redest vielleicht manchmal einen Unsinn. Der Mann ist verheiratet.«

Ihre Schwester legte den Kopf schief. »Dann vielleicht nicht er, aber ich wette, es gibt irgendeinen anderen hier, der dir wieder in den Sattel helfen wird.«

»Sam!«, protestierte Nessie erneut und lief noch röter an. »Hör auf damit!«

»Schon gut, Ness. Sich scheiden zu lassen, bedeutet nicht, dass das Spiel vorbei ist, weißt du?«

Für Sam muss das alles so klar sein, dachte Nessie. Plötzlich überschwemmte sie eine Welle von Emotionen, und sie musste sich zwingen, nicht zu weinen. Sie konnte nicht wissen, wie es war, fünfzehn Jahren Ehe den Rücken zu kehren; auch wenn von Scheidung nicht die Rede war – noch nicht. Eins nach dem anderen, hatte Nessie sich gesagt.

Sams Stimme unterbrach sie wieder in ihren Gedanken. »Es ist einfach an der Zeit, dass du nach vorn schaust. Also, was glaubst du, wo unser Vater den Wein versteckt hat? Oder meinst du, er hat alles ausgetrunken, bevor er gestorben ist?«

Kapitel zwei

Ein durchdringend dröhnendes Heulen weckte Sam früh am nächsten Morgen. Sie presste sich das Kissen auf die Ohren und schloss die Augen, aber es war, als wollte man versuchen zu schlafen, während draußen ein Presslufthammer losging. Sie starrte die unebene, fremde Zimmerdecke an, während sie versuchte, den Mut aufzubringen, ihre Zehen unter der Bettdecke in die kühle Morgenluft zu strecken. Das hier war wirklich weit entfernt von ihrem Leben als erfolgreiche PR-Beraterin mit schicker kleiner Wohnung in Kensington, dachte sie und seufzte wehmütig. Nessie und sie hatten es am Abend zuvor nicht geschafft, die Zentralheizung in Gang zu setzen, und so war die einzige Wärmequelle im Schlafzimmer ein elektrischer Heizlüfter, der radioaktiv glühte und so aussah, als könne er auch spontan in Flammen aufgehen, während sie schlief. Sam hatte daher beschlossen, sich lieber der Kälte zu stellen, und ihn abgeschaltet.

Das Bett, das so aussah, als wäre es aus einer dieser Fernsehserien über Antiquitäten geklaut worden, hatte sich als überraschend komfortabel erwiesen, und nachdem sie sich erst einmal an das stündliche Läuten der Kirchenglocken gewöhnt hatte, hatte sie ganz passabel geschlafen. Bis jetzt. Es war wahrscheinlich gut, dass sie keinen einzigen Tropfen Alkohol im Pub hatte finden können, ansonsten hätte sie jetzt nicht nur mit London-Entzugserscheinungen, sondern auch noch mit einem Kater zu kämpfen. Entweder jemand hatte sich beim Verstecken besonders viel Mühe gegeben, oder Andrew Chapman war es wichtig gewesen, noch das letzte Schlückchen Alkohol selbst hinunterzukippen.

Das Dröhnen trieb Sam schließlich aus dem Bett. Sie zuckte zusammen, als ihre Füße den dünnen Teppich auf dem Schlafzimmerboden berührten – sie musste wohl in ein paar dicke Hausschuhe oder vielleicht besser Schneestiefel für diese frühen Wintermorgen investieren: Ihre Flipflops würden wohl kaum reichen. Zitternd warf sie sich ein paar Klamotten über und ging über die knarrenden Dielen zum Fenster. Es war hinter dicken Holzläden verborgen, aber sie konnte einen Spalt Helligkeit um die Kanten herum ausmachen, der auf Sonnenschein hoffen ließ und eine Illusion von Wärme hervorrief. Vorsichtig zog sie die Läden auf, erwartete halb eine Lawine von Spinnen, doch sie waren leicht zu öffnen, ohne böse Überraschungen. Sie enthüllten verschleierte Bleiglaskaros und dahinter ein Meer von smaragdgrünem Gras: die Dorfwiese, getaucht in helles Dezembersonnenlicht.

Sam blinzelte und trat einen Schritt zurück. »Kaffee«, krächzte sie und rieb sich die Arme, um das Blut in Wallung zu bringen. »Das brauche ich jetzt. Ein Fass voll Kaffee.«

Die oberen Räume des Pubs hatten eine gründliche Renovierung noch nötiger als die unteren, dachte Sam, als sie den engen Flur passierte, von dem die Schlafzimmer abgingen. Eigentlich beherbergten die oberen Stockwerke eine großzügige Wohnung mit einem Wohnzimmer, einem Bad, einer Küche und zwei Schlafzimmern im ersten Stock sowie drei weiteren unter dem Dach, jedoch hätte nicht einmal der optimistischste Makler das so beschrieben. Sam und Nessie hatten nur einen Blick auf die dunkle und schiefe Treppe zum Dachboden geworfen und waren sich einig, dass sie die Erkundungstour dort oben erst angehen würden, wenn sie sich ein bisschen besser eingelebt hatten. Oder vielleicht auch deutlich besser. Sie hatten die winzige Küche begutachtet, die mit einer Menge verdreckter Wandschränke, einer Kühlgefrierkombination, die sich besorgniserregend zu einer Seite neigte, sowie einer Spüle, die wohl als Teekessel benutzt worden war, prahlte. Den Rest des Raums nahmen ein runder Tisch und zwei wackelige Stühle ein. Im Wohnzimmer standen zwei nicht zusammenpassende Sofas, ein leeres Bücherregal und ein alter Röhrenfernseher.

»Lass uns die Betten machen«, hatte Nessie vorgeschlagen und ein Gähnen unterdrückt. »Morgen früh wird alles schon besser aussehen.«

Sam fand Nessie unten, wie sie mit einer Art Staubsauger kämpfte, der aussah, als käme er aus den Siebzigern. Er bestand aus einem gigantischen, schwer aussehenden Unterteil aus Plastik und einem blauen Beutel, der sich ballonartig darüber wölbte. Nessie schob ihn mit beiden Händen über den Boden. Sie hatte alle Tische an einem Ende des Raums gruppiert, die Stühle in einem wackelig aussehenden Turm obendrauf gestellt, und ein Eimer Schmutzwasser stand neben dem Kamin, der mittlerweile schon deutlich sauberer aussah als gestern Abend. Wann ist sie bloß aufgestanden?, fragte Sam sich. War sie überhaupt im Bett?

»Ness!«, rief sie über das Dröhnen des Staubsaugers hinweg. »Nessie!«

Ihre Schwester riss den Kopf hoch wie eine verschreckte Meerkatze. Als sie Sam sah, beruhigte sie sich und drückte den Ausknopf. »Morgen. Wie hast du geschlafen?«

»Ziemlich gut«, gab Sam zu. »Was ist mit dir?«

»Nicht schlecht.« Nessie wich ihrem Blick aus, und Sam wusste, dass es eine Lüge war. Wie oft war ihre Schwester wohl aufgestanden, um zu überprüfen, ob die Tür auch richtig verriegelt war, oder um einem Geräusch nachzugehen, das sie nicht identifizieren konnte? Das Pub war ein altes Gebäude, in dem es überall knarrte und ächzte, und Nessie war in ihrem eigenen Bett zu Hause schon ängstlich. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Nacht wach gelegen.

»Willst du einen Kaffee?«, fragte sie.

Nessie zog ein Gesicht. »Kein Kaffee da. Tut mir leid, ich dachte, ich hätte welchen eingepackt.«

»Kein Problem, ich geh und kauf welchen. Hier muss es ja irgendwo einen Laden geben.«

»Ich glaube, in der Post verkaufen sie Lebensmittel«, sagte Nessie. »Da wirst du wahrscheinlich welchen kriegen.«

»Perfekt«, sagte Sam, und ihr Mund wurde wässrig bei dem Gedanken an eine köstliche dunkel geröstete Mischung. »Ich schau mal, was ich finden kann.«

Die Post lag an der Star Lane, die an einer Seite der Wiese entlangführte. Sam grinste, als sie an der Telefonzelle vorbeikam, und erwartete halb, dass ein exzentrisch gekleideter Fremder herausspringen würde, aber sie war leer, unbenutzt. Auf dem Kriegsdenkmal stand eine Handvoll Namen, Dorfbewohner, die für ihr Land gekämpft hatten und nie zurückgekommen waren. So wie in jedem anderen Dorf in England, dachte Sam, dezimiert durch einen Krieg, von dem sie dachten, er wäre Weihnachten wieder vorbei.

Im Laden gab es einen unbesetzten Posttresen mit einer Glasscheibe davor hinten im Raum und einen zweiten Tresen weiter vorne, hinter dem eine dünne grauhaarige Frau stand, als Sam eintrat. Über ihre Brille mit Drahtrand hinweg funkelte sie Sam an. »Hallo. Lass mal sehen … du musst Samantha Chapman sein.«

Sam blinzelte. »Äh, ja, ich bin Sam. Hallo.«

Die Frau streckte ihr eine Hand mit Haut so dünn wie Papier entgegen. »Ich bin Franny Forster, Postbeamtin und Vorsitzende der Gesellschaft zum Erhalt von Little Monkham. Wie geht es dir und Vanessa nach eurer langen Fahrt von London hierher?«

»Ganz gut«, sagte Sam vorsichtig. Benahmen sich alle in einem Dorf so, als wüssten sie jedes Detail über einen, auch wenn man sich gerade erst kennengelernt hatte? Vielleicht war Nessie ihr ja begegnet, als sie das Pub zum ersten Mal besucht hatte. Erwähnt hatte sie das allerdings nicht. »Ich bin auf der Suche nach Kaffee.«

»Natürlich«, sagte Franny und kam hinter dem Tresen hervorgehastet. »Ihr seid ja gestern so spät angekommen, dass ich mir vorstellen kann, dass ein bisschen Koffein nötig ist, um die Energiereserven wieder aufzufüllen. Es gibt ja auch noch eine Menge zu tun, wenn das Pub rechtzeitig zur großen Wiedereröffnung fertig und in Betrieb sein soll.«

Sie pflückte ein Glas mit blauem Deckel aus einem Regal und gab es Sam.

»Große Wiedereröffnung?«, wiederholte Sam. »Ich glaube, wir sind noch nicht so weit, dass wir planen …«

»Aber ja, ihr müsst unbedingt eine Wiedereröffnungsfeier machen«, sagte Franny, kehrte zu ihrem Platz hinter dem Tresen zurück und tippte auf die Kasse. »Das Star and Sixpence ist seit über vierhundert Jahren Teil des Dorflebens hier. Es hatte nie geschlossen, noch nicht mal während der Kriege, bis zu dem unglücklichen Ableben eures Vaters. Wir hatten an den zweiten Weihnachtsfeiertag gedacht, wenn euch das recht ist?«

Sam fiel die Kinnlade herunter. »Den zweiten Weihnachtsfeiertag? Aber es ist weniger als einen Monat bis dahin. Eigentlich nur drei Wochen. Und vorher kommen noch Heiligabend und der erste Weihnachtsfeiertag.«

Frannys Augen blitzten. »Normalerweise ist das so, ja. Also, dann willst du bestimmt schnell zurück, oder? Um voranzukommen?«

»Ja«, sagte Sam schwach, und ihr Bedürfnis nach Kaffee war noch nie so groß gewesen. »Ja, das will ich wohl.«

»Das macht dann drei Pfund neunundneunzig«, sagte Franny mit einem zufriedenen Nicken und streckte die Hand aus. »Für den Kaffee.«

»Ach du Kacke!«, brach es aus Sam heraus, die das billig aussehende Glas in ihrer Hand betrachtete. Franny rümpfte die Nase, als könne sie diese Art von Sprache nicht gutheißen, und nahm den Schein entgegen, den Sam ihr reichte.

Auf dem Rückweg zum Star and Sixpence stellte Sam zwei Dinge fest: Sich an das Leben in Little Monkham zu gewöhnen, würde ganz und gar nicht einfach werden; und sie mussten eine andere Einkaufsmöglichkeit finden.

Als Sam sich dem Pub näherte, erkannte sie einen Typ, der durch eins der Fenster spähte. Er hatte sich hinuntergebeugt und schirmte seine Augen mit einer Hand ab, während er hineinglotzte. Sam verspürte einen alarmierenden Stich und rannte los.

»Hey!«, schrie sie, sobald sie nah genug dran war. »Was glaubst du, was du da treibst?«

Als er sie hörte, streckte er sich und drehte sich um, gerade als Sam vor ihm stehen blieb. »Ich suche die neue Besitzerin. Das bist dann wohl du, oder?«

Er war größer als sie, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger, schätzte Sam, also ungefähr Ende zwanzig. Er hatte blondes Haar, einen etwas ungepflegten Bart und leuchtende blaue Augen, aus denen er sie mit unverhohlenem Interesse anstarrte. Seine Wachsjacke hatte schon bessere Tage gesehen, und die Jeans war völlig ausgeblichen, aber wenn er lächelte, leuchteten seine Augen warm, und Sam stellte fest, dass er ziemlich attraktiv war – trotz des Bartes. Eigentlich sah er nicht aus, als würde er Ärger machen, doch sie war nicht bereit, ihre Deckung fallen zu lassen, noch nicht. Sie ignorierte seine ausgestreckte Hand und verengte die Augen. »Wer will das wissen?«

Sein Lächeln erstarb. »Joss Felstead. Ich komme wegen des Jobs.«

»Job?«, wiederholte sie. »Welcher Job?«

»Ich war hier Kellermeister, für Andrew, und ich dachte, dass ihr bestimmt meine Hilfe braucht, um den Laden für die Wiedereröffnung vorzubereiten. Bis dahin sind es nur noch …«

»… drei Wochen«, unterbrach Sam ihn. »Ja, hab schon davon gehört.«

Sie starrte ihn an, und er hielt ihrem Blick stand, entspannt und offenbar überzeugt davon, dass sie sein Angebot nicht ablehnen würde. Sam verbesserte ihre Meinung von attraktiv zu wirklich gut aussehend. Er war so ganz anders als die makellos geschniegelten Männer, die sie aus London kannte, er wirkte irgendwie unverfälschter und viel anziehender. Doch was er mit diesen anderen Typen gemein hatte, war das Selbstvertrauen, dieses selbstverständliche Bewusstsein des eigenen Charmes, ja, fast schon Arroganz. Sie wettete, dass er die weibliche Dorfbevölkerung hier scharenweise um den Verstand brachte.

»Wieso bist du so sicher, dass wir deine Hilfe brauchen?«, fragte sie und hob eine Augenbraue.

Joss zuckte die Achseln. »Ich hab hier die letzten elf Jahre gearbeitet; ich kenne den Keller wie meine Westentasche. Ich weiß, welches Bier gut läuft, welches eine kalte Ecke braucht, welches sich auf dem unebenen Stück Fußboden nicht gut setzt. Ich weiß, wie man die Schläuche spült, die Leitungen reinigt – und sei mir nicht böse, aber du siehst nicht aus, als würdest du viel von diesen Dingen verstehen.«

Sam schnaubte ungläubig. Was hatten die Einwohner hier getan, einen Newsletter mit ihren Namen und Fotos herausgebracht, bevor sie und Nessie angekommen waren? Das war doch einfach merkwürdig. Und was fiel ihm eigentlich ein, ihr zu sagen, was sie wusste und was nicht?

»Es wäre doch möglich«, sagte sie hochmütig. »Vielleicht weiß ich ja alles, was es zu wissen gibt über Bier und … und Schlauchleitungen.«

Er lächelte. »Wenn das so ist, dann brauchst du mich ja wohl doch nicht. Entschuldige die Störung.«

Er drehte sich um und ging davon. Sam war sich sicher, er wartete nur darauf, dass sie ihn zurückrief und zugab, nicht das Geringste über Bier mit so lächerlichen Namen wie Dachsarsch und Rostiges Frettchen zu wissen. Er zählte wahrscheinlich schon die Sekunden, und um seinen bärtigen Mund spielte ein hochnäsiges, selbstgefälliges Grinsen. Sie würde nicht nachgeben, sie würde nicht, sie würde nicht … leider erwartete wohl nur das ganze Dorf, dass das Pub am zweiten Weihnachtsfeiertag wieder aufmachte; sie hatten praktisch den Fehdehandschuh geworfen, um die beiden Schwestern herauszufordern, und Sam gehörte nicht zu den Menschen, die eine Herausforderung ablehnten. Im Gegenteil: Es spornte sie an. Und wenn man gewinnen wollte, musste man auch wissen, wann es Zeit war, Hilfe anzunehmen.

»Warte!«, rief sie und verachtete sich selbst ein bisschen dafür. »Warte. Hast du auch ein Händchen für Spinnen?«

»Nessie?«, rief Sam, stieß die Tür auf und trat ins Pub. »Hier ist jemand, den du kennenlernen musst.«

Ihre Schwester kam hinter der Bar hoch, sie hatte Gummihandschuhe an und einen tropfenden Schwamm in der Hand. »Was?«

Sam führte Joss weiter und hoffte, er hatte den misstrauischen Blick nicht bemerkt, den Nessie ihm zugeworfen hatte. »Das ist Joss. Er hat sich um den Bierkeller gekümmert, bevor das Pub geschlossen wurde.«

»Hi«, sagte Joss und ließ ein leichtes Lächeln aufblitzen.

Sam nahm an, dass er das wohl öfter tat – seine Waffe, mit der er seinen Willen durchsetzte. Und dann dachte sie an die vielen Male, als sie genau dasselbe getan hatte, in London, um einen wichtigen Deal an Land zu ziehen oder einen großen Klienten zu umgarnen.

»Joss will wissen, ob wir seine Hilfe gebrauchen könnten, um alles vorzubereiten, bevor wir wieder öffnen.«

Nessie runzelte unsicher die Stirn und legte den Schwamm auf die Bar. »Oh. Na ja, ja, ich denke, das können wir bestimmt, wenn es so weit ist, aber davor gibt es noch jede Menge anderes zu tun.«

»Das ist das Zweite, was ich dir erzählen muss«, sagte Sam. »Offenbar planen wir eine große Wiedereröffnung. In ungefähr drei Wochen.«

»Drei Wochen?«, quiekte Nessie. »Sagt wer?«

»Sagt Franny Forster, Vorsitzende der Gesellschaft zum Erhalt von Little Monkham«, antwortete Joss ernst. »Und glaubt mir, Franny ist niemand, den man gegen sich haben will, schon gar nicht, wenn man versucht, ein Unternehmen in Little Monkham zu führen.« Er senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Der letzte Ladeninhaber, der sie verärgert hat, musste letztendlich schließen und vierhundert Kilometer weit weg ziehen.«

»Das ist doch läch…«, fing Sam an, aber dann fiel ihr ein, dass Franny schon gewusst hatte, wer sie war und woher sie kam, bevor sie auch nur über die Schwelle getreten war, und sie schauderte. Eine Frau wie dieser Drachen in der örtlichen Postfiliale wusste wahrscheinlich eine ganze Menge über die Menschen. Vielleicht hatte es doch durchaus seine Berechtigung, dass sie in Little Monkham so viel Macht ausübte. Sam sah Joss an, der sie offenbar schon länger betrachtet hatte.

»Gut«, sagte sie und schluckte einen reumütigen Seufzer hinunter. »Wann kannst du anfangen?«

Kapitel drei

Nun ging das Aufräumen richtig los. Sam baute sich am Küchentisch ihr Büro auf und verbrachte den größten Teil des Vormittags am Telefon, um mit Brauereien und Baufirmen zu sprechen, Lieferungen zu arrangieren und Angebote für Müllcontainer einzuholen.

»Ein Glück habe ich meinen Lizenzantrag und die ganzen Vorschriften schon erledigt, bevor wir angekommen sind«, sagte Nessie, die sich die Papiere vom Gemeindeamt durchlas. »Wir müssen einfach hoffen, dass der Gewerbeschein rechtzeitig kommt, wobei Weihnachten aber ein Problem ist. Über die Feiertage macht ja alles zu.«

»Er wird rechtzeitig kommen«, sagte Joss, der mit einem Arm voll vermoderter Pappen die Kellertreppe hochkam. »Dafür wird Franny sorgen. Und um eure Baufirmen wird sie sich auch kümmern. Ihr werdet keine Probleme haben, solange ihr tut, was sie will.«

»Ich hab langsam ein bisschen Angst vor Franny«, gab Sam zu.

Joss schüttelte mit ernster Miene den Kopf. »Unterschätz sie nicht. Sie ist eine Art weiblicher Darth Vader, aber sie kriegt die Dinge geregelt.«

Nessie war sich noch nicht ganz sicher, was sie von Joss halten sollte, doch sie musste zugeben, dass er hart arbeitete; der Keller war von Spinnen und Schutt befreit, und er hatte die ganzen fleckigen alten Fässer umgestellt, um Platz für die ankommenden neuen zu schaffen. Entsetzt war sie allerdings gewesen, als sie herausgefunden hatte, dass ihr Vater ihn die ganzen Jahre über schwarz bezahlt hatte, und Joss war auch nicht gerade scharf darauf gewesen, das in Ordnung zu bringen – tatsächlich hatte er unverschämterweise sogar eine Gehaltserhöhung verlangt, um die Steuern abzudecken, die er würde zahlen müssen, sobald sie ihn offiziell anstellten. Außerdem gefiel Nessie die Art nicht, wie er Sam ansah; sein Blick hing immer eine Idee zu lange an ihr, wenn er mit ihr sprach, und sein Lächeln wurde jedes Mal noch ein bisschen charmanter. Eindeutig, er bemühte sich um sie. Sam war vielleicht bisher zu beschäftigt gewesen, um das zu bemerken, aber Nessie kannte ihre Schwester gut; es war bloß eine Frage der Zeit, bis sie auf Joss’ Interesse einging, und dann würde Nessie sie daran erinnern müssen, dass sie eigentlich seine Arbeitgeberin war – etwas mit ihm anzufangen, würde die Dinge nur verkomplizieren. Wenigstens hatte Joss nicht versucht, mit ihr zu flirten – ihr fehlte ja aber auch das Funkeln ihrer Schwester. Sam war nur vier Jahre jünger, doch nach ihr drehten sich alle um, nicht weil sie eine klassische Schönheit war, sondern weil sie dieses gewisse Etwas an sich hatte. Nessie hatte nie mit ihr mithalten können; vor langer Zeit schon hatte sie gelernt, das gar nicht erst zu versuchen; es war also kein Wunder, dass Joss sie selbst kaum auch nur angesehen hatte. Im Grunde war sie sogar froh, dass sie nicht im Mittelpunkt stand – sie hatte mehr über das Flirten vergessen, als sie je gewusst hatte; und das Chaos, das sie Sam hatte anrichten sehen, reichte ihr, um für den Rest ihres Lebens die Finger davon zu lassen. Nessie zog es vor, die Tische und Stühle gründlich zu säubern, sie, so gut es ging, passend zusammenzustellen und in die Nischen und engen Ecken des Pubs zu quetschen. Sobald das erledigt war, fing sie an, das Messing zu polieren, bis es glänzte. Als sie fertig war, sah das Pub ganz annehmlich aus, wenn auch etwas zusammengewürfelt.

»Hey, das ist doch gar nicht mal so schlecht geworden! Ein bisschen Farbe und eine vernünftige Beleuchtung werden den Rest tun«, verkündete Sam, als sie aus der engen Küche nach unten kam. Sie beäugte die Rückseite des fürchterlichen Ölgemäldes, auf das sie letzte Nacht gezeigt hatte. »Und es wird noch schöner, sobald ich das hier losgeworden bin.«

Nessie zögerte. Das Bild war hässlich. »Beschädige es nicht.«

Sam hakte den unechten Goldrahmen ab und hob es von der Wand. »Ich glaube nicht, dass das überhaupt möglich ist. Und die anderen sind noch schlimmer.«

Sie wies auf weitere Bilder mit den gleichen Rahmen, jedes weit davon entfernt, brillant zu sein. Nessie zählte drei maritime Aquarelle, ein Stillleben und einen Akt, so grässlich, dass sie zusammenzuckte. Ein Teil des Gesprächs von letzter Nacht fiel ihr ein: Owen hatte den Namen des Künstlers erwähnt, oder nicht? Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern, wer es war. »Sie sind von jemandem aus dem Dorf. Wir sollten herausfinden, wo er wohnt, und ihm die Bilder zurückgeben.«

»Es sind Henrys«, rief Joss ihnen von der Bar aus zu. »Ein Veteran aus dem Zweiten Weltkrieg und ein Stützpfeiler der Gemeinde von Little Monkham. Kann nicht besonders gut malen, was ihn aber nicht davon abhält, es zu versuchen.«

»Siehst du?«, sagte Sam und warf Nessie einen triumphierenden Blick zu. »Niemand mag sie. Keine Ahnung, warum sie überhaupt hier hängen.«

»Henry und Andrew hatten eine Abmachung«, sagte Joss, während er einen der Zapfhähne abdrehte und ihn vorsichtig ablegte, um ihn einzuweichen. »Die Bilder wurden hier ausgestellt, und wenn jemand eins kaufte, teilten sie das Geld.«

»Wie in einer Galerie«, sagte Nessie.

»Ja«, antwortete Joss. »Es gibt hier keine, auf die Art hatte Henry eine Möglichkeit, seine Arbeiten zu präsentieren.«

»Und wie viele hat er verkauft?«, fragte Sam.

Joss sah nachdenklich zur Decke. »Lass mich überlegen: Ich habe hier elf Jahre gearbeitet, und ich denke, in all der Zeit müssen sie …«, er hielt inne, um an seinen Fingern abzuzählen, nickte dann, »… keins verkauft haben. Ja, nicht ein einziges.«

»Dann ist es beschlossene Sache«, sagte Sam streng. »Sie kommen weg.«

Egal, wie sehr Nessie auch dagegen argumentierte, Sams Meinung stand fest. Sie hatte eine Vision davon, wie das neue Star and Sixpence auszusehen hatte, und ganz sicher zählte zweifelhafte Kunst von einem älteren Dorfbewohner nicht dazu. Flaschenschiffe ebenfalls nicht, auch wenn niemand wusste, wem die gehörten, sodass Nessie einverstanden gewesen war, sie vorerst in einem der unbenutzten Schlafzimmer oben aufzubewahren. Die Bilder hatte Sam in den Kofferraum des Autos geladen und fuhr nun zu der Adresse von Henry Fitzsimmons, die Joss ihr gegeben hatte.

Das Maulbeeren-Cottage lag gegenüber des quadratischen Turms der Sankt-Marien-Kirche. Der Garten war geradezu vorbildlich gepflegt, immergrüne Gewächse umsäumten in akkurater Sorgfalt aufgereiht den Weg, die Höhe der Grashalme schien millimetergenau abgemessen zu sein. Als niemand auf ihre drei beherzten Schläge gegen die Tür reagierte, klopfte sie noch einmal. Stille.

»Und nun?«, murmelte sie und sah sich um. Es war kein Mensch in Sicht, kein Nachbar, der im Garten werkelte, bei dem sie die Bilder lassen könnte. Um sicherzugehen, klopfte sie am Cottage nebenan – auch dort war niemand zu Hause.

»Henry ist beim Treffen des Gemeinderats«, rief da eine hilfsbereite Stimme.

Sam sah auf – ein Mann mit Halskrause stand an der Pforte zum Friedhof und betrachtete sie. »Er wird noch eine Weile weg sein, denke ich. Die Treffen sind normalerweise langwierige Angelegenheiten.«

»Oh«, sagte Sam mürrisch. »Danke.«

»Gerne«, antwortete der Vikar, und auf seinem Gesicht breitete sich ein fröhliches Lächeln aus. Er drehte sich um, lief den sanften Hügel zur Kirche hoch und verschwand hinter deren hölzernem Portal.

Sam ging zurück zum Auto, blieb dann stehen und blickte zum Himmel. Es war kalt, aber trocken und immer noch hell. Wenn sie die Bilder vor Henrys Tür stellte, würde er sie ja sicher finden, sobald er zurückkäme. Dann hätte er seine geliebte Kunst zurück, und Sam musste ihm nicht von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Eine absolute Win-win-Situation also.

Sie sah nach, ob der Vikar nicht doch noch einmal hinter einer Hecke auftauchte, und nahm dann die Bilder eins nach dem anderen aus dem Auto, trug sie vorsichtig auf die spitz zulaufende Veranda des Cottages und lehnte sie gegen eine Wand. Dann stieg sie ins Auto und fuhr davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Kapitel vier

Es war früher Abend, als Nessie am Cottage neben der Schmiede klopfte. Ein kunstvoll geschnitztes Schild wies es als Schneeglöckchen-Cottage aus, ein paar der weißen, zarten Blumen waren neben den Namen gemalt. Nessie berührte es und musste lächeln; Schneeglöckchen waren als Kind ihre Lieblingsblumen gewesen. Als sie hochsah, bemerkte sie ein geschwärztes Hufeisen über der Tür – gab es nicht so einen alten Aberglauben, der besagte, dass Eisen Hexen fernhielt? Ihr Lächeln wurde breiter; es war schwer vorstellbar, dass der kräftig gebaute Owen an solche Dinge glaubte, andererseits war er Schmied, und der Job hatte schon ein bisschen was von uralter Magie an sich.

Das Lächeln verging ihr, als sie allen Mut zusammennahm, um den Türklopfer anzuheben; sie hätte die Familie Rhys am liebsten gar nicht gestört, sondern lieber gewartet, bis sie Owen im Dorf über den Weg gelaufen wäre, um ihm und seiner Frau für den Willkommenskorb zu danken, den sie zusammengestellt hatten. Als sie jedoch den riesigen Metallrost im Kamin geputzt hatte, hatte sie ein gezacktes Loch in der Mitte entdeckt. Was hieß, sie musste einen neuen Rost bestellen, und es erschien ihr unhöflich, nicht den Dorfschmied zu fragen, wo er schon direkt nebenan wohnte.

Die Tür wurde weit geöffnet, und eine kleine dunkelhaarige Frau sah sie fragend an.

»Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?« Dann leuchteten ihre braunen Augen auf. »Oh, du musst Nessie vom Pub sein. Owen hat mir letzte Nacht alles über dich erzählt; wie schön, dich kennenzulernen. Ich bin Kathryn.«

Nessie lächelte, ihr fiel auf, dass die Frau den gleichen walisischen Akzent wie Owen hatte. Jugendliebe, entschied sie. »Hallo, Kathryn. Vielen Dank für eure leckeren Geschenke! Den Korb bringe ich euch später zurück.«

»Wann immer es passt«, sagte die Frau leichthin. »Das eilt nicht. Willst du Owen wegen irgendetwas sprechen, oder hast du Lust, auf einen Tee reinzukommen?«

Nessie zögerte. Das unverwandte Interesse, das in Kathryns Gesicht stand, hatte etwas sehr Charmantes, eine unkomplizierte Neugier, so erfrischend, dass Nessie fast in Versuchung kam, Ja zu sagen. Aber ein Berg Arbeit wartete im Pub auf sie.

»Ein andermal«, versprach sie. »Was ich im Moment benötige, ist ein neuer Rost für den großen Kamin. Wenn ich dir beschreibe, was ich brauche, könntest du das dann bitte an Owen weiterleiten?«

Kathryn schüttelte den Kopf. »Bloß nicht, ich merke es mir nur falsch. Ich sag dir was: Er arbeitet in der Schmiede. Warum schaust du nicht bei ihm rein und erklärst es ihm selbst?«

Sie zeigte auf die Holztür gegenüber des Cottages.

»Oh, ich will ihn nicht stören«, sagte Nessie. »Ich kann auch später wiederkommen, wenn er jetzt gerade beschäftigt ist.«

»Owen ist immer beschäftigt«, sagte Kathryn heiter. »Geh und unterbrich ihn. Vielleicht hört er dann ja zu einer vernünftigen Zeit auf zu arbeiten und kommt rechtzeitig nach Hause, um seinem Sohn eine Gutenachtgeschichte vorzulesen.«

Keine Spur von Gereiztheit schwang in den Worten mit, nur Zuneigung und nachsichtige Resignation, und Nessie spürte einen neidischen Stich in der Magengegend. Es war lange her, dass sie und Patrick so miteinander umgegangen waren; die letzten paar Jahre hatten sie fast getrennte Leben geführt. Dieser flüchtige Eindruck der Wärme zwischen Kathryn und Owen machte ihr plötzlich bewusst, wie einsam sie gewesen war.

Sie zwang sich zu lächeln. »Okay.«

»Du musst nicht klopfen, setz nur die hier auf und geh einfach rein«, drängte Kathryn sie und hielt ihr eine Schutzbrille hin. »Und auf den Tee kommst du irgendwann zurück, okay? Little Monkham ist schön, wenn man sich daran gewöhnt hat, aber als ich neu hier war, hab ich mich fast zu Tode erschrocken. Du musst wissen, dass wir nicht alle machtbesessene Sklaventreiber sind.«

Sie lächelte noch einmal freundlich und schloss die Tür, sodass Nessie nichts anderes übrigblieb, als über den Hof zur Schmiede zu gehen.

Auf das, was sie drinnen vorfand, war sie nicht gefasst gewesen. Es war heiß, so heiß, dass ihre Kleider ihr an der Haut klebten, kaum dass die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte. Rot glühende Kohlen brannten unter einer großen Stahlhaube an der hinteren Wand, und wo auch immer sie hinsah, hingen schwere Metallwerkzeuge. Ein rundes Metallfass mit Wasser stand vor dem Feuer. Am meisten beeindruckte sie jedoch Owen selbst. Er stand mit dem Rücken zu ihr, gebeugt über einen niedrigen Amboss mit einem Hammer in der einen und einer Zange, mit der er ein Stück orange glühendes Metall hielt, in der anderen Hand. Sein weißes T-Shirt spannte sich über seinen Muskeln, als er einen Arm hob und den Hammer schwer auf den Amboss niedersausen ließ. Funken sprühten, wo Metall auf Metall traf, dann reckte er den Arm wieder in die Luft.

Nessie stand wie gebannt da und sah ihm bei der Arbeit zu. Die Hitze war erdrückend, und Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, doch sie konnte die Augen nicht von ihm abwenden. Irgendwann schaffte sie es, woandershin zu sehen, und hustete, so laut sie es wagte. Sofort hörte er auf zu hämmern und drehte sich um.

Seine Augen hinter der Schutzbrille weiteten sich. »Nessie. Was führt dich hierher?«

Sie machte einen Schritt zurück, beherrschte sich dann aber und trat wieder näher heran. »Kathryn hat mich hergeschickt. Ich brauche einen neuen Rost für den Kamin; kannst du so etwas anfertigen? Ich könnte wahrscheinlich auch eins online bestellen, aber es kam mir idiotisch vor, wo du hier nebenan bist.«

Die Worte kamen heraus, bevor sie sie aufhalten konnte. Nun, da sie näher dran war, konnte sie dreckige Striemen vermischt mit Schweiß auf seinem Gesicht erkennen. Die Flammen tanzten und flackerten, und die Luft war schwer von Schwefel. Owen nickte und drehte sich weg, um das Metall samt Zange in das Wasserfass zu tauchen. Es zischte und blubberte, und eine Dampfwolke stieg auf.

»Klar, das kann ich machen«, sagte er und streckte sich. »Ich glaube, ich hab sogar noch irgendwo die Maße dafür. Soll ich dir ein Angebot machen und es vorbeibringen?«

Nessie trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Sie war nicht sicher, ob sie noch einen Mann im Pub haben wollte, erst recht nicht einen, der aussah wie Owen. Und noch weniger, wo er so merkwürdige Gefühle bei ihr auslöste und seine Frau nur wenige Meter entfernt auf ihren gemeinsamen Sohn aufpasste.

»O nein, wir zahlen, was immer es kostet. Lass mich dann einfach wissen, wie viel.«

»Okay«, sagte Owen. »Und, habt ihr euch schon gut eingelebt? Braucht ihr irgendetwas?«

»Alles läuft bestens«, sagte Nessie und pustete sich ein paar Haarsträhnen aus ihrer feuchten Stirn. »Wir haben Joss Felstead für den Keller eingestellt. Und offenbar eröffnen wir am zweiten Weihnachtsfeiertag wieder.«

Owen lächelte. »Franny hat ihre Anweisungen gegeben, wie ich sehe. Wenn euch das zu früh ist, sagt es ruhig.«

»Kann denn irgendjemand Franny etwas abschlagen?«, fragte sie. »Ich meine, ich hab ein paar ziemlich Furcht einflößende Dinge über sie gehört.«

Er lachte, ein tiefes kehliges Grollen – erstaunt merkte Nessie, dass es ihr gefiel. »Lasst euch nicht von ihr rumkommandieren. Und wenn es irgendetwas gibt, womit ich euch helfen kann, gib mir Bescheid.«

»Danke«, sagte Nessie.

Sie wollte gerade fragen, was er auf dem Amboss behauen hatte, als die Tür aufflog und ein ungefähr acht Jahre alter Junge hereingestolpert kam. Er kam schlitternd zum Stehen, als er sie sah, und betrachtete sie ernst aus tiefblauen Augen, die unter einem lotterigen weißblonden Pony hervorschauten. »Hallo«, sagte er. »Du bist wohl unsere neue Nachbarin, oder? Hast du Elijah Blackheart schon gesehen? Das ist nämlich der Geist vom Straßenräuber, der da im Haus spukt. Hat er schon versucht, dich in deinem Bett abzumurksen?«

»Luke!«, warnte Owen und zog streng die Augenbrauen zusammen.

Empört sah der Junge ihn an. »Was? Da ist aber ein Geist, Andrew hat das auch gesagt. Nachts spukt er in den Fluren und wartet auf die Unvorsichtigen, um sie zu töten.«

Owen seufzte und sah Nessie an. »Das ist mein Sohn Luke. Er hat eine rege Fantasie, wie du siehst.«

Nessie lächelte. »Hi, Luke, ich bin Nessie. Ich fürchte, ich hab Elijah noch nicht getroffen, aber wir sind auch erst seit einer Nacht da. Vielleicht wartet er, bis wir uns eingelebt haben, und bringt uns erst dann um.«

Luke sah sie todernst an. »Ich denke, das wird es sein.« Er wandte sich wieder an Owen. »Essen ist fertig. Und dann musst du mir mit den Hausaufgaben helfen. Ich soll drei Sachen sagen, die ich an dem Buch gut finde, das ich gerade gelesen hab, aber mir fallen nur zwei ein.«

Nessie betrachtete sie und wunderte sich darüber, wie verschieden sie waren: blond und dunkel, blaue und braune Augen. Wenn man sollte, konnte man Lukes Aussehen mit einem hellen Sommertag vergleichen und Owens mit einer dunklen, sternenklaren Nacht. Aber es gab auch Ähnlichkeiten – der Mund hatte die gleiche Form, sie hatten eine ähnliche Kieferpartie. Im Moment bestand er vielleicht nur aus Beinen und Sommersprossen, doch Luke Rhys war definitiv aus demselben Holz geschnitzt wie sein Vater.

»Ich sollte gehen«, sagte sie, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie die beiden angestarrt hatte. »Sam will heute Abend noch Teppichproben durchsehen.«

Owen nickte. »Ich komm vorbei, um nochmal die Maße für den Rost zu prüfen, und mach ihn dann fertig, so schnell ich kann.«

»Danke«, sagte Nessie. Sie lächelte Luke noch einmal an. »Es war schön, dich kennenzulernen. Wenn du nachts Schreie hörst, bedeutet das wahrscheinlich, dass der Geist aufgetaucht ist.«

»Cool!« Lukes Augen leuchteten.

Nessie lachte und gab ihre Schutzbrille zurück. Sie riskierte einen letzten Blick auf Owen, wie er im Glanz des Feuers dastand.

»Bis dann«, sagte sie und griff nach der Türklinke.

Draußen war es frisch, aber sie fächelte ihren viel zu heißen Wangen trotzdem weiter Luft zu, während sie zum Pub zurückeilte. Es war einfach unerträglich heiß gewesen in der Schmiede, aber sie wusste, Sam würde nicht glauben, dass das alles war. Nessie blieb noch kurz unter der Laterne stehen und ließ die kühle Abendluft die schlimmste Hitze fortwehen. Das Letzte, was sie brauchte, war eine schuldbewusste Röte im Gesicht, um die Fantasie ihrer Schwester noch weiter anzuheizen.

Kapitel fünf

Als es gegen sieben Uhr am Abend wie wild an die Tür polterte und donnerte, erstarrten beide Frauen. Sie saßen an dem abgenutzten Holztisch in der engen Küche oben, aber durch die Erschütterung lösten sich sogar hier ein paar Staubkörner, fielen von der Decke und tanzten unter der nackten gelben Glühbirne. Stirnrunzelnd ließ Nessie ihr Besteck sinken.

Sam schob ihren Stuhl zurück. »Ich mach mal auf, ja? Bestimmt ist es der sexy Schmied, der gekommen ist, um dir seinen rot glühenden Schürhaken zu zeigen.«

Das konnte nicht Owen sein, dachte Nessie, als das Hämmern wieder anfing. Er würde respektvoller klopfen – wer auch immer da gerade an die Tür schlug, er war hartnäckig und entschlossen … und wütend. Aber wenn es nicht Owen war, wer war es dann?

»Vielleicht ist es Franny, die sehen will, wie wir mit der Renovierung vorankommen«, sagte sie und bemühte sich, den unbeschwerten Ton ihrer Schwester zu treffen.

»Oder jemand von Sotheby’s, um den Teppich im Barraum zu schätzen.« Sam guckte Nessie an. »Sollen wir nachsehen?«

Nessie hätte die Tür vorsichtig ein kleines Stück aufgemacht und durch den Spalt gelinst. Nicht so Sam: Sie ließ die Riegel zurückschnappen, dass sie knackten, riss die Tür weit auf und platzierte sich davor, herausfordernd und herrisch. »Ja?«

Ein alter Mann mit einem kurz geschnittenen weißen Schnurrbart und geröteten Wangen, auf denen die Adern hervortraten, funkelte sie böse an. »Ihr habt meine Bilder einfach auf meiner Türschwelle abgeladen?«

Nessie trat bestürzt vor. »Oh, Sam, das hast du doch nicht getan?«

Ihre Schwester verschränkte die Arme. »Da auf mein Klopfen hin keiner aufgemacht hat, was hätte ich sonst tun sollen? Wir renovieren das Pub, und die Bilder passen einfach nicht zum neuen Look. Tut mir leid.«

Das Problem war, dass sie nicht das kleinste bisschen so klang, als täte es das, dachte Nessie, und Henry Fitzsimmons sah das offensichtlich auch so. »Dieses Pub gibt es schon seit Jahrhunderten«, knurrte er, und seine buschigen Augenbrauen sträubten sich. »Das Pub ist eine alte Lady, eine Ortsansässige in jeder Beziehung – das Herz unserer Gemeinde, den Menschen hier bedeutet dieser Ort sehr viel. Ihr habt kein Recht, alles zu modernisieren. Was glaubt ihr denn, wer ihr seid …«

»Die Besitzerinnen«, unterbrach Sam mit aalglatter Stimme, eindeutig unbeeindruckt von Henrys lyrischen Ergüssen. »Wir haben also jedes Recht zu tun, was immer wir wollen. Sehen Sie sich um – haben Sie je einen Ort gesehen, der eine Renovierung nötiger hatte? Wenn dieses Pub wirklich eine alte Lady wäre, wie Sie glauben, wäre es höchste Zeit für eine Schönheits-OP.

»Und für Kunst ist wohl kein Platz in diesem neuen Pub, das ihr da plant, was?«, giftete Henry.

In Nessies Ohren begann es leise zu summen, als der Streit eskalierte. »Sam, vielleicht sollten wir darüber nachdenken …«

»Nein, sollten wir nicht«, sagte Sam streng. »Wir wollen die Bilder nicht. Mr. Fitzsimmons hier kann nun ein neues Zuhause für sie finden. Am besten eins, wo sie so schnell keiner zu Gesicht bekommt.«

Sie wirbelte herum, durchquerte den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen, und überließ es Nessie, den Schaden zu minimieren.

»Hören Sie, Mr. Fitzsimmons, es tut mir leid, dass Sam Ihre Bilder nicht umsichtiger behandelt hat.«

Einen Moment lang starrte er sie aus zusammengekniffenen Augen an, dann verzog er angewidert den Mund. »Euer Vater hat oft gesagt, dass seine Töchter nicht so sind wie er. Jetzt weiß ich, was er damit gemeint hat.«

Er drehte sich auf dem Absatz um und ging steif von dannen, das Licht der Straßenlaterne ließ sein Haar silbern schimmern. Nessie schloss seufzend die Tür und schob die Riegel wieder vor.

»Was für ein Idiot«, sagte Sam irritiert, als Nessie zurück nach oben kam. »Ich hätte ja nichts dagegen, wenn er was draufhätte, aber du hast die Bilder ja gesehen. Die Spinne im Keller hatte mehr künstlerisches Talent.«

Nessie schloss kurz die Augen und sah den erbosten Ausdruck auf Henry Fitzsimmons Gesicht vor sich.

»Du hättest trotzdem nicht so unhöflich sein müssen. Irgendwann sind wir darauf angewiesen, dass Gäste zu uns kommen, und es wird ein echter Kampf werden, wenn du vorher das halbe Dorf beleidigt hast.«

»Ein alter Mann ist wohl kaum das halbe Dorf«, spottete Sam.

Vielleicht nicht, dachte Nessie, als sie sich an den Tisch zu ihrem kalt gewordenen Abendessen setzte. Aber Henry war ihr nicht wie der Typ Mensch vorgekommen, der seinen Kummer still ertrug. Und in kleinen Gemeinden verbreiteten sich Neuigkeiten rasend schnell. Das Letzte, was sie brauchten, war ein Mob mit brennenden Mistgabeln vor der Tür.

Nessie lag noch lange wach, nachdem sie an diesem Abend zu Bett gegangen waren. Was sie quälte, war jedoch nicht das Geräusch des Schneeregens, der an die Bleiglasfenster hämmerte, oder der durch die Lücken zwischen Wand und Fensterrahmen pfeifende Wind. Es war noch nicht einmal der Gedanke an Lukes mörderischen Geist, böse grinsend mit blutbeflecktem Schwert in der Hand und vor ihrer Tür wartend, auch wenn dieses Bild sie dazu brachte, sich etwas tiefer in ihre Decke zu vergraben. Der Streit mit Henry war es, der noch immer in ihrem Kopf herumspukte, besonders der Schuss, den er zuletzt abgefeuert hatte, darüber, wie anders als ihr Vater sie seien. Als sie Sam davon erzählt hatte, hatte die daraufhin direkt verkündet, das könne nur etwas Gutes bedeuten – wer wollte denn schon Ähnlichkeit mit einem degenerierten, alkoholsüchtigen Loser haben? Da hatte Nessie noch zugestimmt, aber jetzt im stillen Halbdunkel gestand sie sich ein, dass Henry das natürlich nicht gemeint hatte. Langsam gewann sie den Eindruck, dass Andrew Chapman in Little Monkham kein Loser gewesen war. Owens Ton war respektvoll gewesen, als er über ihren Vater geredet hatte, auch wenn er da sein Beileid bekundet hatte. Joss schien sogar regelrecht ein Fan seines früheren Arbeitgebers zu sein, und die Anekdoten, die er nachmittags bei der Arbeit erzählt hatte, steckten voller herzlichem, trockenem Humor. Außerdem hatte sie die furchterregende Franny zwar noch nicht kennengelernt, doch es klang nicht, als sei sie eine Frau, die es tolerieren würde, dass ein unfähiger Trunkenbold etwas so Wichtiges führte wie – als was hatte Henry Fitzsimmons das Pub bezeichnet? – das Herz der Gemeinde. Nein, welche Erinnerungen sie und Sam auch immer an ihren Vater hatten, die Einwohner von Little Monkham kannten ihn eindeutig als jemand anderen. Jemanden, den sie gemocht und respektiert hatten. Und ein Teil dieses Wohlwollens hatten seine Töchter zusammen mit dem Star and Sixpence geerbt, es würde jedoch verpuffen, wenn Sam alle so behandelte wie Henry.

Nessie hörte die Uhr zweimal schlagen und drehte sich in ihrem breiten Eisengitterbett auf die andere Seite. Vielleicht konnte sie von Joss erfahren, was der alte Mann gerne trank, und ihm als Entschuldigung ein oder zwei Flaschen davon zukommen lassen. Es würde die Verletzung durch Sam nicht ungeschehen machen, aber es wäre ein Anfang. Und so könnte Nessie Henrys verwundeten Stolz vielleicht genug besänftigen, um ihm zu beweisen, dass sie sehr wohl würdige Wächter des Herzens von Little Monkham waren.

Am nächsten Morgen waren Nessies Augen wund und verquollen. Sie blieb noch ein paar Minuten im Dunkeln liegen und blinzelte zu den schwarzen Deckenbalken empor, bevor sie akzeptierte, dass Weiterschlafen keine Option war, und sich aus dem Bett hievte. Sam hatte mit der Lokalzeitung einen Termin wegen eines Artikels über die Erneuerung des Pubs vereinbart und Nessie mehr als deutlich gesagt, dass sie das übernehmen musste.

»Wieso ich?«, hatte Nessie entsetzt gefragt und neidisch den glänzenden blonden Bob ihrer Schwester betrachtet. »Die Kamera liebt dich.«

»Das ist zu riskant«, hatte Sam erklärt. »Ich weiß, es ist nur eine Lokalzeitung, aber wenn die falsche Person davon erfährt, hab ich ein Problem. Außerdem gibt es an dir nichts auszusetzen, was eine vernünftige Abdeckcreme und ein Haarschnitt nicht in Ordnung bringen könnten.«