Süße Träume im Cottage am Strand - Holly Hepburn - E-Book
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Süße Träume im Cottage am Strand E-Book

Holly Hepburn

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Beschreibung

Ein kleines Cottage in Schottland, ein großer Traum und eine neue Chance auf die Liebe

Schriftstellerin Merry liebt ihr Leben im glitzernden London: Ihre romantischen Liebesgeschichten stehen bei den Leserinnen hoch im Kurs, eine glamouröse Buchparty folgt auf die nächste. Doch als ihr Verlobter sich aus heiterem Himmel von ihr trennt und obendrein eine gemeine Schreibblockade ihren neuen Roman gefährdet, muss ein Neuanfang her. Merry zieht in ein entzückendes kleines Cottage auf den wunderschönen Orkney-Inseln vor der Küste Schottlands, um bei langen Strandspaziergängen wieder zu sich selbst zu finden. Doch die naseweisen Inselbewohner denken gar nicht daran, den Neuzugang in Ruhe zu lassen. Und dann gibt es da noch Niall, den charmanten Leiter der örtlichen Bücherei, und den unverschämt attraktiven Bootsbauer Magnus, dessen Vorfahren von den Wikingern abstammen ...

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Seitenzahl: 544

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HOLLY HEPBURN liebt es, Menschen zum Lächeln zu bringen – und sie liebt ihre Katze Portia. Sie hat in der Marktforschung und als Model gearbeitet, ihr großer Traum war aber schon immer das Schreiben. Nach Um fünf unter den Sternen, Herzklopfen in der kleinen Keksbäckerei und Heute Abend in der Eisdiele am Meer entführt sie ihre Leserinnen mit ihrem neuen Buch an die wildromantische schottische Küste.

Außerdem von Holly Hepburn lieferbar:

Um fünf unter den Sternen

Herzklopfen in der kleinen Keksbäckerei

Heute Abend in der Eisdiele am Meer

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Holly Hepburn

Roman

Aus dem Englischen von Melike Karamustafa

Die Originalausgabe erschien 2021

unter dem Titel Coming Home to Brightwater Bay

bei Simon and Schuster, London.

Die deutschsprachige Ausgabe erschien 2022 vorab im eBook in vier Teilen

(Herzklopfen im Cottage am Strand, Frühlingszauber im Cottage am Strand, Sommerküsse im Cottage am Strand, Sonnenuntergänge im Cottage am Strand) im Penguin Verlag.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2021 der Originalausgabe by Tamsyn Murray

Published by arrangement with Simon & Schuster UK Ltd., London, England

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Hannah Brosch

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagabbildung: www.buerosued.de

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-28639-2V001

www.penguin-verlag.de

Für Clare Watson, die Jude, Tom und Shazza zusammen in einer umwerfenden Göttin ist.

Prolog

November

»Ich kann nicht mehr.«

Merry öffnete den Mund, um ihm unter die Nase zu reiben, dass sie ihm gesagt hatte, er solle vor dem Hauptgang nicht so viel Brot essen, aber die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Er redete nicht von den Spaghetti Carbonara, die er appetitlos auf seinem Teller hin und her schob; es ging um etwas Größeres. Etwas Ernsteres.

»Alex?«, fragte sie vorsichtig, als er weiter die langsam zu einer festen Masse gerinnenden Nudeln vor sich anstarrte. »Was ist los? Was kannst du nicht mehr?«

Er sah auf und fixierte sie für den Bruchteil einer Sekunde aus seinen blassblauen Augen, bevor er seinen Blick wie ein erschrockenes Kaninchen durch das Restaurant huschen ließ. »Das hier«, stieß er nach einigen Sekunden abrupt aus. »Uns.«

Merry wurde von einer heißen, prickelnden Welle der Panik ergriffen. »Uns?«, wiederholte sie tonlos. Ihre Kehle war auf einmal staubtrocken. »Wovon redest du?«

»Von dir und mir. Unserer Beziehung.« Er holte tief Luft. »Ich kann einfach nicht mehr so tun als ob.«

Die Hitze wich eisiger Kälte. Als wenn aus dem Nirgendwo plötzlich ein arktischer Wind eine Böe durch den Raum geschickt hätte. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie, während Taubheit von ihrem Körper Besitz ergriff. »Was meinst du mit ›so tun als ob‹?«

Während der folgenden Stille sah Alex Merry nicht an. »So tun, als ob ich dich liebe«, sagte er schließlich.

Auf einmal schien sich kein Sauerstoff mehr in Merrys Lunge zu befinden. Als hätte sie eine Faust in den Magen getroffen, entwich ihr auf einen Schlag alle Luft. Sie musste sich verhört haben – immerhin war das hier Alex. Ihr Freund, mit dem sie mehr als die Hälfte ihres bisherigen Lebens verbracht hatte. Der sie anbetete, der sie eine Göttin genannt und ihr versprochen hatte, niemals von ihrer Seite zu weichen. Ihr Seelenverwandter. Natürlich liebte er sie, entschied Merry mit einem ungläubigen Kopfschütteln, genauso sehr wie sie ihn.

Sie holte zittrig Atem, sich des krächzenden Keuchens, das sie dabei ausstieß, nur am Rande bewusst, und versuchte, ihre wirren Gedanken zu sammeln, um eine Antwort zu formulieren.

»Ich habe diese Gefühle unterdrückt«, fuhr Alex in seltsam distanziertem Ton fort. »Aber ich kann das nicht mehr. Es tut mir leid.«

Es war die Lustlosigkeit, mit der er den letzten Satz aussprach, die sie brach. Als ob er gerade ihren Lieblingskaffeebecher und nicht ihr Herz zerschmettert hätte.

Ihre Augen schwammen in Tränen. »Es tut dir leid?«

Die Worte kamen ihr lauter und heftiger über die Lippen als beabsichtigt.

Alarmiert zog er die Augenbrauen zusammen. »Nicht weinen«, murmelte er, als eine Frau am Nebentisch einen verstohlenen Blick zu ihnen hinüberwarf. »Um Himmels willen, Merry, du musst doch geahnt haben, dass so etwas kommt. Mach jetzt bloß keine Szene.«

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Seine Züge verschwammen vor ihren feuchten Augen, aus denen jeden Moment Tränenbäche ihre Wangen hinabzulaufen drohten. Nicht weinen – hatte er das gerade wirklich zu ihr gesagt? Nachdem er all ihre Hoffnungen und Träume für die Zukunft mal eben zerstört hatte, als ob es sich dabei nur um Kleinigkeiten handelte?

Blinzelnd versuchte sie den dicken Klumpen, der sich in ihrer Kehle festgesetzt hatte, herunterzuschlucken. »Woher hätte ich das wissen sollen?«, brachte sie mit einem heiseren Halbflüstern heraus. »Wir sind zusammen, seit wir sechzehn waren. Du hast gesagt, dass du mich heiraten willst.«

»Vielleicht ist das das Problem. Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit. Wir sind nicht mehr dieselben Menschen wie damals.«

»Natürlich sind wir das nicht«, stieß Merry ratlos und verletzt zugleich hervor. »Wir sind erwachsen geworden.« Sie holte ein weiteres Mal zittrig Atem. »Erwachsene, die perfekt zusammenpassen.«

Alex stieß ein langes Seufzen aus. »Das war mal so, ja. Aber in letzter Zeit … Du musst doch zugeben, dass es nicht gerade einfach war. Vor allem nicht seit …«

Er ließ den Satz in der Luft hängen, doch Merry wusste auch so, was er hatte sagen wollen: seit der Schreibblockade, die ihrem Leben jegliche Farbe genommen hatte.

Zuerst hatte sie es auf die Erschöpfung geschoben, die sich nach Monaten in ihr festgesetzt hatte. Monate, die mit Terminen, Mittagessen und Releasepartys angefüllt gewesen waren, die nun mal dazugehörten, wenn man eine Sunday-Times-Bestsellerautorin war. Doch bisher war es ihr immer gelungen, sich vor der Hektik ins Schreiben zu flüchten, wo sie Trost in den Welten fand, die sie für andere erschuf. Wenn die Realität ihr mal wieder zu viel wurde, konnte sie sich stets darauf verlassen, dass ihre Figuren sie nicht im Stich ließen. Bis zu jenem Tag, an dem sie ihren Laptop aufgeklappt hatte und die Worte ausgeblieben waren. Sie hatte versucht, nicht in Panik auszubrechen, hatte sich versichert, dass es nur eine vorübergehende Erscheinung war. Ihre Autoren-Freundinnen waren wenig überrascht von ihrer Blockade und bestärkten sie.

»Komm schon, Mer, in den letzten fünf Jahren hast du jedes Jahr zwei Bücher abgeliefert«, hatte Jess gesagt, als Merry sich ihr anvertraut hatte. »Sei etwas nachsichtiger mit dir selbst. Nimm dir eine Auszeit. Deine Deadline ist noch Monate hin.«

Bloß dass der Tag der Deadline kam und verstrich und Merry immer noch von ihrer Unfähigkeit, auch nur ein Wort zu Papier zu bringen, vollkommen gelähmt war. Ihre Verlegerin war verständnisvoll, aber die Situation nagte an ihrem Selbstbewusstsein und raubte ihr den Schlaf. Allein der Gedanke, sich an ihren Laptop zu setzen, erfüllte sie mit Panik; beim Anblick des schwarzen Bildschirms wurde ihr schlecht. Natürlich hatte das Auswirkungen auf ihre Beziehung zu Alex, allerdings war ihr bisher nicht klar gewesen, in welchem Ausmaß.

»Du hast gesagt, dass du mich verstehst.« Sie sah ihn über den Tisch hinweg an. »Du hast gesagt, dass du alles tun würdest, um mir zu helfen.«

»Ich habs versucht«, protestierte Alex und klang dabei verletzt. »Ich habe dir zugehört, wenn du reden wolltest, habe dir geraten, mit einem Therapeuten darüber zu sprechen, und habe mich kaum getraut zu atmen, während du dich in deinem Büro eingesperrt und versucht hast zu schreiben. Seit sieben Monaten behandle ich dich wie ein rohes Ei, Merry. Ich weiß nicht, was du sonst noch von mir erwarten könntest, außer dass ich das verdammte Buch für dich schreibe.«

Seine Verbitterung war kaum zu überhören, und Merry glaubte zu wissen, was ihm so aufstieß. Alex war immer stolz auf ihre Karriere gewesen. Er hatte sich in ihrem Erfolg gesonnt, mit ihren Preisen und den Verkaufszahlen ihrer Bücher geprahlt. Es blieb nicht viel zum Prahlen übrig, wenn es Tage gab, an denen ihr allein das Aufstehen schwerfiel.

»Ich habe nicht erwartet, dass du aufgibst«, sagte sie leise. »Der Alex, den ich liebe, würde so etwas niemals tun.«

Er lehnte sich zurück und ließ die Gabel mit einem Klirren auf den Teller fallen. Eine Geste, der eine bedrohliche Endgültigkeit innewohnte. »Wie gesagt, wir haben uns beide verändert.«

Die Frau am Nebentisch stieß ein kaum verhohlenes Schnauben aus.

Alex räusperte sich. »Ich denke, es ist das Beste, wenn ich ausziehe. Ein sauberer Schlussstrich.«

Die Vorstellung, allein in ihrer gemeinsamen Wohnung in Chiswick zu leben, ließ die ganze Situation für Merry noch unwirklicher erscheinen.

»Und wo willst du hin? Das ist doch verrückt, Alex. Können wir nicht versuchen, an uns zu arbeiten? Ich … ich liebe dich.«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist es ja – ich glaube nicht, dass du das wirklich tust, zumindest nicht mehr auf dieselbe Weise wie früher einmal. Und vielleicht ist das auch einer der Gründe, aus denen du nicht mehr über Liebe schreiben kannst. Du hast vergessen, wie sie sich anfühlt.«

Die Worte schnitten wie eine scharfe Klinge in ihr Herz. »Erzähl mir nicht, was ich angeblich fühle und was nicht. Ich weiß, was Liebe ist. Wenn es jemand vergessen hat, dann du.«

»Ich habe ein Zimmer in einer WG in Greenwich gefunden. Vor ein paar Tagen habe ich den Mietvertrag unterschrieben.«

Seine Entscheidung war nicht aus einer spontanen Laune heraus gefallen, wurde Merry in diesem Moment klar. Er hatte das bereits vor einer Weile geplant – vor Wochen oder sogar Monaten – und speziell dieses Restaurant ausgesucht, um ihr den finalen Todesstoß zu versetzen, da sie beide noch nie hier gewesen waren und somit keine besonderen Erinnerungen damit verbanden. Zumindest hatte er es nicht in ihrem Wohnzimmer getan, wo sie von nun an dazu gezwungen gewesen wäre, diesen Moment wieder und wieder zu durchleben; immerhin daran hatte er gedacht. Oder er hatte ganz einfach zynisch spekuliert, dass sie sich in der Öffentlichkeit mit größerer Wahrscheinlichkeit am Riemen reißen und nicht zusammenbrechen würde. Sie hatte keine Ahnung, welche Erklärung eher zutreffen könnte – der Alex, der ihr in diesem Moment gegenübersaß, erschien ihr auf einmal wie ein vollkommen Fremder. Nur eine einzige Sache wusste sie mit Sicherheit: Es gab nichts, was sie sagen oder tun konnte, um seine Meinung zu ändern. Er verließ sie.

»Wann ziehst du aus?«, brachte sie heraus, während sie um das letzte bisschen Würde kämpfte, das ihr noch geblieben war.

Alex blähte die Wangen auf. »Sofort.«

»Sofort?« Sie starrte ihn mit offenem Mund an. »Aber du hast keine Sachen bei dir.«

»Ich kaufe mir neue«, erwiderte er mit einem Schulterzucken, das Merry einen weiteren Stich ins Herz versetzte. »So ist es besser, glaub mir.«

Er sah auf, um dem Kellner mit einer Geste zu signalisieren, die Rechnung zu bringen. Eine für ihn typische Handbewegung, die Merry ein wenig lächerlich fand, auch wenn sie es ihm niemals gesagt hatte.

Kurz darauf kam der Kellner an ihren Tisch, wobei er es taktvoll vermied, Merry anzuschauen, die mit entsetztem Gesichtsausdruck zusah, wie Alex die Rechnung beglich und dann seinen Stuhl zurückschob, um aufzustehen.

»Kommst du allein nach Hause?«

Das Rauschen in ihren Ohren machte es ihr schwer, seine Worte zu verstehen. Sie holte tief Luft und tippte mit dem Finger auf ihr Handgelenk, wo sie ihre Pulsschläge mitzählte, um mühsam die erneut aufsteigende Panik zurückzudrängen.

»Ja«, murmelte sie schließlich.

Er zögerte einen Moment, als wolle er noch etwas sagen, und nickte dann einmal knapp. »Schreib mir, sobald du zu Hause angekommen bist. Wir reden morgen weiter.«

Sie sah ihm nach, bis er durch die Tür verschwunden war, während sie mit aller Macht den Impuls niederrang, aufzustehen und ihm nachzurufen.

Um sie herum widmeten sich die anderen Restaurantgäste in glückseliger Ignoranz ihrem Essen; Merry hatte erwartet, dass zumindest einige von ihnen sie fasziniert anstarren würden, aber die Wahrheit war, dass offenbar kaum jemand mitbekommen hatte, was zwischen ihr und Alex vorgefallen war.

Den Blick auf die Tischdecke gerichtet, kämpfte sie darum, die Kontrolle über ihr wild klopfendes Herz und ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zurückzugewinnen. Als sie einen Schluck Wein trank, schmeckte sie kaum etwas. Alex würde zurückkommen, sobald er genug davon hatte, mit einem vollkommen Fremden zusammenzuwohnen, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Sie hatten nie mehr als ein paar Wochen getrennt voneinander verbracht. Ihm würde klar werden, dass er sie liebte, und dann würde er um Vergebung betteln.

Merry grub sich die Fingernägel in die Handballen und stieß zittrig den Atem aus. Das musste er einfach.

In diesem Moment beugte sich die Frau vom Nebentisch mit mitleidigem Gesicht zu ihr herüber. »Hören Sie, ich weiß, das geht mich alles nichts an, und mir ist klar, dass es gerade höllisch wehtut; aber eines Tages werden Sie froh sein, ihn nicht geheiratet zu haben.«

Was von Merrys Selbstbeherrschung noch übrig gewesen war löste sich auf, und sie brach in haltloses Schluchzen aus.

GESUCHT – WRITERINRESIDENCE!

1. Februar – 31. August

DieOrkneyLiterarySocietyfreutsichsehr,diesesJahrdieMöglichkeitfüreinesechsmonatigeSchreibresidenz anbieten zu können.

Das Programm richtet sich an Autorinnen und Autoren aus Großbritannien und umfasst die Unterbringung in einem traditionellen kleinen schottischen Bauernhaus, Transport und ein Stipendium in Höhe von 5000 Pfund. Im Gegenzug erwarten wir von der ausgewählten Künstlerin/dem ausgewählten Künstler Leseförderung auf den und rund um die Orkneyinseln und eine fruchtbare Zusammenarbeit mit unserer florierenden Bibliothek und unseren Buchhandlungen bei der Organisation einer Reihe öffentlicher Veranstaltungen im Laufe des Jahres. Die Autorin/der Autor muss außerdem während ihres/seines Aufenthalts mindestens ein neues künstlerisches Werk hervorbringen, in dem die Orkneys eine Rolle spielen.

Der Aufenthalt richtet sich an Autorinnen und Autoren, die auf der Suche nach Ruhe und Abgeschiedenheit an einem wunderschönen und magischen Ort sind.

Für weitere Informationen bezüglich des Bewerbungsprozesses wenden Sie sich bitte per E-Mail an: [email protected]

Bewerbungsschluss: 30. November

Kapitel Eins

Drei Monate später

»Zum ersten Mal in so einem kleinen Flieger?«

Merry öffnete die Augen, um die ältere Dame neben sich zu beäugen, bevor sie sie schnell wieder schloss, als sich ihr Magen bei einer weiteren Serie Turbulenzen zusammenzog. Aus Angst, sich übergeben zu müssen, wenn sie auch nur eine Sekunde den Mund öffnete, nickte sie nur.

»Och, normalerweise wackelt es nicht so stark«, sagte die Frau mit breitem schottischen Dialekt, und Merry hörte Plastik knistern. »Möchten Sie vielleicht ein Bonbon? Um sich ein wenig abzulenken, meine ich?«

Um sie vom Gedanken an ihren sicher bevorstehenden Tod abzulenken, bräuchte es eindeutig mehr als ein paar Süßigkeiten, dachte Merry, aber da die Frau sich solche Mühe gab, öffnete sie die Augen und rang sich ein Lächeln ab. »Danke.«

Sie wickelte das Bonbon aus und steckte es sich in den Mund. Immerhin würde sie mit minzfrischem Atem sterben, beruhigte sie sich, als das Flugzeug erneut absackte. Sie umklammerte die Armlehnen und richtete gleichzeitig ein Stoßgebet an einen beliebigen Gott, der gerade zuhören mochte; von allen Schreibstipendien der Welt hatte sie sich natürlich das aussuchen müssen, das mit einem halsbrecherischen Flugabenteuer begann.

»Wenn Sie noch nie in so einem kleinen Flieger gesessen haben, dann muss das Ihr erster Besuch auf den Orkneys sein«, bemerkte ihre Nachbarin mit kaum verhohlener Neugier. »Machen Sie Urlaub?«

»Nein, ich komme zum Arbeiten«, antwortete Merry und kreuzte dabei verstohlen die Finger. Die Anzeige für das Stipendium hatte Abgeschiedenheit und Magie versprochen; was Anlass zur Hoffnung gab, dass die Kombination aus beidem ihre Schreibblockade lösen und mit der Zeit vielleicht auch ihr immer noch verwundetes Herz heilen würde.

Die Frau musterte sie einige Sekunden lang nachdenklich, als wolle sie sich von Merrys ordentlich frisierten dunklen Haaren bis zu ihrem perfekten Make-up alles genau einprägen, bevor sich ihre Miene aufhellte. »Jetzt weiß ich, wer Sie sind! Die Autorin mit dem Stipendium, die im alten Dougal-Haus wohnen wird.«

Merry kam zu dem Schluss, dass es keinen Grund gab, diese Tatsache abzustreiten, auch wenn es ihr ein Rätsel war, woran ihre Sitznachbarin ihre Identität festmachte.

»Die bin ich, ja«, bestätigte sie. »Wer ist Dougal?«

»Der Schäfer, dem das kleine Bauernhaus gehört hat. Hat auch Gedichte geschrieben, die meisten über das Meer. Nach seinem Tod hat er seinen gesamten Besitz der Orkney Literary Society vermacht.«

Merry stellte sich ein kleines, gemütliches Cottage vor, von dem aus man aufs Meer gucken konnte. Es war ein schöner Gedanke, dass ihr Zuhause für die kommenden sechs Monate eine literarische Vergangenheit hatte. Vielleicht würde ihr das helfen.

»Wurde etwas von ihm veröffentlicht?«, fragte sie.

Ihre Nachbarin schnaubte. »Och, nein. Die Gedichte waren furchtbar; viel zu besessen davon, das Meer als Frau zu beschreiben. Überall weiche, runde Kurven und tiefe, geheimnisvolle Spalten.« Sie warf Merry einen kurzen Seitenblick zu. »Er hatte kein glückliches Händchen für Frauen, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich glaube, es lag am Bart – ein wenig zu schafig.«

»Oh.« Merry bemühte sich, eine ernste Miene zu behalten. »Okay, ich kann mir vorstellen, dass das nicht gerade hilfreich war.«

Die Frau streckte ihr die Hand hin. »Bridget McGinty. Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Merry Wilde.«

Bridget kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Ist das Ihr Künstlername? Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon mal was von einer Mary Wilde gelesen habe.«

Merry verkniff sich ein verbittertes Lächeln. Wenn sie für jedes Mal, das jemand fröhlich zugab, noch nie von ihr gehört zu haben, ein Pfund bekommen hätte, wäre sie um einiges reicher gewesen. »So was in der Art. Ich schreibe unter meinem vollen Namen – Merina.«

»Merina Wilde«, sagte Bridget langsam und schüttelte dann den Kopf. »Nein, ich habe tatsächlich noch nie von Ihnen gehört.«

»Nun ja«, erwiderte Merry betont munter. »Jetzt schon.«

»Aye.« Bridget wickelte knisternd ein weiteres Bonbon aus. »Und wenn Niall Gunn irgendwas mit der Sache zu tun hat, dann werde ich ihren Namen in den nächsten sechs Monaten wohl noch häufiger hören.«

Das war auf jeden Fall ein Name, den Merry kannte. Niall war der Bibliothekar der Orkney Library und ihr bisheriger Hauptansprechpartner sowohl für die Bewerbung als auch für alle organisatorischen Dinge gewesen. Er würde sie am Flughafen abholen. Falls sie jemals landeten …

Wie aufs Stichwort sackte das Flugzeug erneut in ein Luftloch, und Merrys Mageninhalt vollführte einen Salto. Schnell presste sie die Lippen zusammen und betete, dass sie sich nicht über Bridgets hübsche Schuhe übergeben würde. Eine Aktion, die ihrer glamourösen Autorinnen-Fassade einen gehörigen Dämpfer verpassen würde, auch wenn sie den Verdacht hegte, dass Bridget längst einen Blick dahinter geworfen hatte.

Als ob sie ihre Gedanken gelesen hätte, tätschelte die ältere Frau ihr die Hand und lächelte. »Nicht mehr lange, meine Liebe. Denken Sie einfach daran, dass Sie das alles in Ihrem nächsten Buch verwenden können – so heißt es doch immer, nicht wahr, alles nur ein Abbild der Realität?«

Merry blieb nichts anderes übrig, als zu nicken, während sie sich fragte, ob sie mit ihrer Flucht auf die Orkneys eventuell einen katastrophalen Fehler beging.

Bridget war offenbar der Ansicht, dass ihre Reisebekanntschaft jemanden brauchte, der sich um sie kümmerte. Sie wartete geduldig, während Merry ihr Gepäck von dem winzigen Kofferband hob, um sie anschließend mit dem Stolz einer Person, die ihrer offiziellen Pflicht nachkommt, Richtung Ausgang zu eskortieren.

»Das ist Niall«, sagte sie und deutete auf einen großen dunkelhaarigen Mann, der hinter einer deckenhohen Glasscheibe stand und ein Schild mit der Aufschrift Merina Wilde in den Händen hielt. Verkehrt herum.

Eine Sekunde später hatte er sie ebenfalls entdeckt; als er Merrys Blick auffing, breitete sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht aus, das Merry für den Bruchteil einer Sekunde innehalten ließ. Sie wusste selbst nicht, wie sie ihn sich vorgestellt hatte, aber niemals wäre sie auf die Idee gekommen, dass er … na ja, dass er wie Clark Kent aka Superman aussah. Das Bild, das in ihrem Kopf entstanden war, während sie seine detaillierten und grammatikalisch perfekten E-Mails gelesen hatte, war das eines deutlich älteren grauhaarigen Mannes gewesen, der sich jeden Morgen die Zeit nahm, seine fünf Bleistifte zu spitzen und seinen Tee für exakt 23,3 Sekunden ziehen ließ, nicht das eines Undercover-Superhelden mit einem Tausend-Watt-Lächeln.

»Nun sehen Sie sich das Schild an«, bemerkte Bridget tadelnd und schenkte Merry einen entschuldigenden Blick. »Er ist ein guter Junge, aber manchmal steckt er mit dem Kopf in den Wolken. Würde mich nicht wundern, wenn das von der ganzen Bücherleserei käme.«

»Wahrscheinlich«, kommentierte Merry trocken.

Sie nutzte die Zeit, die sie brauchten, um die Ankunftshalle zu durchqueren, um Niall Gunn genauer zu mustern. Er trug einen dunkelgrauen Anzug über einem gestärkten weißen Hemd und dazu schwarze Schuhe, die offenbar frisch poliert waren. Insgesamt genau das Gegenteil von dem, was Merry vom Outfit eines Bibliothekars erwartete. Bis auf die schwarz geränderte Brille vielleicht. Hinter deren Gläsern, wie sie sah, als sie vor ihm stehen blieb, lagen meerblaue Augen, gerahmt von dichten schwarzen Wimpern, für die die meisten Frauen, die sie kannte, einen Mord begangen hätten. Sie wäre jede Wette eingegangen, dass die eine oder andere Besucherin nicht der Bücher wegen in der Bibliothek vorbeisah, sondern um einen Blick auf den Leiter derselben zu erhaschen.

»Hallo, Merina«, begrüßte er sie mit einem weiteren breiten Lächeln. »Herzlich willkommen auf den Orkneys!«

Merry öffnete den Mund, um zu antworten, doch Bridget kam ihr zuvor, indem sie sich vernehmlich räusperte und einen vielsagenden Blick auf das Schild in Nialls Hand warf.

Sein Lächeln schwand ein wenig, und er sah hinab. Als er seinen Fehler bemerkte, wurde er rot und drehte das Stück Pappe richtig herum. »Entschuldigung.«

Er wirkte so entsetzt, dass Merry ihrerseits ganz verlegen wurde; rasch versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Keine Sorge, ich spreche Australisch.«

Kaum dass die Worte ihren Mund verlassen hatten, hätte sie sie am liebsten wieder zurückgenommen, so seltsam war der Blick, mit dem Bridget sie bedachte. Aber Nialls Mundwinkel zuckten, und im nächsten Moment grinste er so breit, dass sich Merrys Verlegenheit in Luft auflöste.

Ein paar Sekunden lang sahen sie sich lächelnd an, bevor Bridget sich abermals räusperte. »Also gut, dann überlasse ich Sie jetzt mal Niall. Es hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Mary, Liebes. Ich bin gespannt, mehr über Ihre Bücher zu erfahren.« Sie nickte Niall mit einem letzten missbilligenden Blick zu, dann schwirrte sie Richtung Ausgang davon.

Niall sah verwirrt aus. »Hat sie Sie gerade Mary genannt?«

»Das passiert mir häufiger. Ich kürze Merina meist zu Merry ab; aber Mary ist den meisten Leuten geläufiger. Immer noch besser als die ganzen Weihnachtswitze, die ich in der Schule zu hören bekommen habe.«

Niall hob mitfühlend eine Augenbraue. »Nur in der Schule?«

»Und manchmal bei Signierstunden«, erwiderte sie mit einem Seufzen. »In dem Fall kommen sie normalerweise von Männern, die ihre Frauen begleiten und von denen jeder einzelne der festen Überzeugung ist, der Erste zu sein, dem der Scherz einfällt.«

Niall nickte verständnisvoll. »Also, welche Anrede ist Ihnen am liebsten? Merina?«

Es gefiel ihr, wie er das R in ihrem Namen mit seinem schottischen Akzent rollte – langsamer und weicher als bei den Engländern –, aber es klang viel zu formal.

»Merry ist wunderbar.«

»Herzlich Willkommen auf den Orkneys, Merry«, sagte er und streckte ihr die Hand hin. »Und vielen Dank, dass Sie sich entschieden haben, an unserem ›Writer in Residence‹-Programm teilzunehmen.«

Sie ergriff seine langen Finger, die geradezu dafür gemacht schienen, an Buchrücken entlangzufahren, und schüttelte sie. »Vielen Dank für die Einladung. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich auf meine Zeit hier freue.«

Er ließ ihre Hand los, klemmte sich das Namensschild unter den Arm und griff nach einem ihrer Koffer. »Ich hoffe sehr, dass es Ihnen bei uns gefallen wird. In meinen Augen ist es einer der schönsten Orte der Welt, aber vermutlich bin ich voreingenommen, nachdem ich hier geboren und aufgewachsen bin.« Er warf ihr einen auffordernden Blick zu. »Bereit, Ihr Häuschen zu sehen?«

Merry musste unwillkürlich lächeln, als sie sich an Bridgets Beschreibung des Cottages und seines früheren Besitzers erinnerte. »Bereit.«

Als Merry Niall aus dem winzigen Gebäude des Flughafens von Kirkwall in Richtung Parkplatz folgte, zog sie ihren Schal gegen die kühle Februarluft enger um den Hals. Die schwache Wintersonne half in keiner Weise gegen die Kälte, und obwohl die Temperatur nur um ein, zwei Grad niedriger lag als in London, fror sie hier stärker. Vielleicht lag es daran, dass die Luft so viel frischer war; jedes Mal wenn sie einatmete, schien sie sich zwar kühl, gleichzeitig aber auch belebend in ihrem ganzen Körper auszubreiten. Was auch immer der Grund sein mochte, sie brauchte definitiv eine dickere Jacke.

»Die Fahrt bis Brightwater Bay dauert ungefähr eine halbe Stunde«, klärte Niall sie auf, als er den Wagen vom Parkplatz steuerte und der Beschilderung Richtung Kirkwall folgte. »Ich dachte mir, dass Sie heute Abend vielleicht erst mal ankommen möchten, deswegen habe ich mir erlaubt, das Nötigste für Sie einzukaufen – Milch, Brot, Käse, solche Dinge.« Er zögerte und bedachte sie mit einem fragenden Blick. »Morgen ist Sonntag, und die Bibliothek hat geschlossen, also habe ich ein wenig freie Zeit übrig. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen gerne ein bisschen was von der Insel. Damit Sie sich orientieren können.«

»Vielen Dank«, sagte Merry und löste sich vom Anblick der Landschaft, die am Seitenfenster vorbeizog, um ihn anzusehen. »Das klingt großartig. Aber das kann auch gerne bis Montag warten, wenn es Ihnen lieber ist. Sie sollten wegen mir nicht an Ihrem freien Tag arbeiten müssen.«

»Das macht mir nichts aus«, tat er ihre Einwände ab. »Ich freue mich, wenn ich einen Beitrag dazu leisten kann, dass Sie sich bei uns zu Hause fühlen.«

Zu Hause, wiederholte Merry in Gedanken und versuchte gegen die unangenehme Empfindung anzukämpfen, die die Worte tief in ihrem Inneren auslösten. Zu Hause hatte immer auch Alex bedeutet, und obwohl sie sich langsam an seine Abwesenheit gewöhnte, fand sie es merkwürdig, sich ein neues Zuhause an einem anderen Ort vorzustellen. Aber Niall hatte recht – das hier war nun ihr Zuhause, zumindest für die nächsten sechs Monate. Je eher sie es selbst als solches betrachtete, desto besser.

»Das weiß ich sehr zu schätzen, vielen Dank.«

Niall nickte. »Das Cottage liegt ein wenig abgeschieden an der Westküste Richtung Marwick, aber im Notfall gibt es in der Nähe einige Nachbarn. Und natürlich bin ich selbst auch nur einen Anruf entfernt; Sie haben meine Handynummer, falls irgendetwas sein sollte.«

Die hatte sie. Er hatte sie ihr in einer seiner zahlreichen E-Mails mitgeteilt, worauf sie die Nummer in ihren Kontakten unter dem Namen »Niall der Bibliothekar« abgespeichert hatte. Allerdings fragte sie sich, welche Art von Notfällen er zwischen jetzt und dem nächsten Morgen genau erwartete. Die lange Anreise von London hatte am frühen Morgen begonnen und forderte langsam ihren Tribut, vor allem aufgrund des letzten Fluges. Merry plante, ein heißes Bad zu nehmen und früh ins Bett zu gehen – zwei Vorhaben, die ihr einigermaßen risikofrei erschienen. Aber ihr war klar, dass er lediglich ein guter Gastgeber war, der ihr den Start an einem neuen Ort so einfach wie möglich machen wollte, und dafür war sie ihm dankbar.

»Vielen Dank«, sagte sie, »das klingt wunderbar. Ich kann es nicht erwarten, mehr von Ihrer schönen Insel zu sehen.«

Sein strahlendes Lächeln verriet ihr, dass das genau die richtige Antwort gewesen war.

Die nächsten dreißig Minuten vergingen wie im Flug, während Niall sie im Vorbeifahren auf Wahrzeichen und andere interessante Orte aufmerksam machte, die von der langsam am Horizont versinkenden Sonne erleuchtet wurden.

»Ich liebe diese Tageszeit«, sagte Merry, nachdem sie einen Moment geschwiegen hatten. »In der letzten Stunde, bevor die Sonne endgültig untergeht, schimmert alles golden und nichts scheint eintönig oder langweilig.«

»Auf den Orkneys ist so gut wie nichts eintönig«, sagte er, und einmal mehr hörte Merry den Stolz, der in seiner Stimme mitschwang. »Wenn Sie nach dem Außergewöhnlichen suchen, sind Sie an den richtigen Ort gekommen.«

Als sie das kleine Bauernhaus erreichten, war die Sonne beinahe hinter dem Horizont verschwunden, aber der Blick von der Klippe raubte Merry nichtsdestotrotz den Atem. Sie hatte kaum Augen für ihr neues Zuhause; stattdessen war all ihre Aufmerksamkeit vom bernsteinfarbenen und rosa Himmel über den dunkelblaugrauen Wellen gefangen, die nur einen Steinwurf entfernt von dem Häuschen ans Ufer brandeten. Sie trat an den Holzzaun, der sich an der Klippenkante entlang erstreckte wie von einem unsichtbaren Lineal gezogen, den Blick auf die Schönheit gerichtet, die sich vor ihr ausbreitete. Die einzigen Geräusche stammten von den Schreien der Lummen, die über ihren Köpfen kreisten, und der Brandung, die gegen die Sandsteinfelsen schlug. Licht tanzte auf den Wellenkämmen, und sie konnte sehen, woher die Bucht ihren Namen hatte: Das Wasser funkelte und glühte im Licht der untergehenden Sonne. Es fühlte sich an, als läge die gesamte Welt zwischen hier und Chiswick mit seinen vollen Cafés und dem niemals abnehmenden Verkehr, und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit empfand sie einen Anflug von Ruhe, der sich über ihre gereizten Nerven legte.

Niall hatte offenbar gespürt, dass sie einen Moment allein brauchte, und war gleich in dem kleinen Steinhaus verschwunden. Sie bekam kaum mit, wie er die Autotüren öffnete und wieder schloss, um ihr Gepäck und die Einkäufe hineinzutragen. Erst als die letzten Sonnenstrahlen schwanden und die Dämmerung einsetzte, kam er zu ihr. In der Hand hielt er eine Taschenlampe, um nicht über die Buckel in der Wiese zu stolpern.

»Entschuldigung«, rief sie ihm entgegen, »der wunderschöne Sonnenuntergang hat mich völlig gefangen genommen.«

Sie sah seine Zähne im Licht der Taschenlampe aufleuchten. »Total verständlich«, erwiderte er mit warmer Stimme. »Mir geht es oft genug genauso. Möchten Sie jetzt reinkommen, oder soll ich Ihnen noch fünf Minuten geben?«

Als wie aus dem Nichts ein kräftiger Windstoß über die Klippenkante fegte, bemerkte Merry, dass die Temperatur noch einmal gefallen war. Sie begann zu zittern. »Nein danke, wir können jetzt gerne reingehen.«

Niall richtete die Lampe auf ihre Füße. »Ich habe den Kamin angefeuert und Tee aufgesetzt. Ich hoffe, das ist in Ordnung?«

Merry musste lachen. »Und wie! Ich habe nämlich nicht den leisesten Schimmer, wie man ein Feuer in Gang bringt, bisher war das nie nötig. Und Tee ist mir sowieso immer recht.«

Das Licht, das aus den Fenstern und der geöffneten Tür des Cottages fiel, verlieh ihm eine leuchtende Silhouette, die sich einladend von der samtig blauen Dämmerung abhob. Von Lichtverschmutzung weit und breit keine Spur, dachte Merry; sicherlich würde man später die Sterne am Himmel zählen können, sofern es klar blieb. Sie freute sich schon darauf. Vor einigen Jahren hatte sie einige Nächte in einem Turm in Norfolk verbracht, um die Namen und Positionen der verschiedenen Sternbilder zu lernen, da eine ihrer Protagonistinnen Kosmologin gewesen war. Das war zu einer Zeit gewesen, als ihr das Schreiben noch Spaß gemacht hatte. Als allein der Gedanke daran, eine neue Welt für ein Buch zu erschaffen, ihr Herz nicht dermaßen zum Flattern gebracht hatte, dass es sich anfühlte wie ein gefangener Vogel in einem viel zu kleinen Käfig.

Als Merry bemerkte, wie Niall neben ihr von einem Bein aufs andere trat, zuckte sie innerlich zusammen. Er musste sonst was von ihr denken. Erst spazierte sie ohne ein Wort davon, um den Sonnenuntergang zu bewundern, und jetzt starrte sie das kleine Cottage an, als wäre es das erste Gebäude, das sie in ihrem Leben sah.

»Sorry«, entschuldigte sie sich ein zweites Mal. »Ich wollte nicht unhöflich sein. Es ist nur so, dass ich …«

»Dass Sie erst mal alles in sich aufnehmen müssen?«, schlug er vor, als ihr die Worte fehlten. »Keine Sorge, das Gefühl kenne ich selbst nur zu gut. Aber wenn wir noch länger warten, wird der Tee bitter, und ich möchte in jedem Fall vermeiden, dass Sie mich Ihren Freunden und Ihrer Familie als kompletten Barbaren beschreiben.«

Sie rang sich ein Lächeln ab, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob er es erkennen konnte. »Die Tatsache, dass Sie Feuer im Kamin gemacht und überhaupt Tee aufgesetzt haben, macht Sie in meinem Buch auf jeden Fall schon zum Helden«, erwiderte sie und blies sich in die hohlen Hände, um ihre Finger zu wärmen. »Aber Sie haben absolut recht, es wäre eine Schande, ihn bitter werden zu lassen.«

Das Haus war im Inneren genauso urig, wie sie erwartet hatte, gleichzeitig strahlte es eine warme und heimelige Atmosphäre aus. Die Eingangstür führte durch eine kurze Diele direkt in ein winziges Wohnzimmer, dessen Boden aus schweren dunklen Steinplatten bestand, über die bunt gemusterte Teppiche gebreitet waren; die Wände waren unverputzt. Durch den rauen Stein hätte der Raum kalt wirken können, doch der große Kamin, der sich beinahe über die ganze Breite einer Wand erstreckte, sorgte mit den prasselnden Flammen darin für gemütliche Wärme. Als Merry hinter den dunkel-orangefarbenen Vorhängen vor dem Fenster Heizkörper entdeckte, atmete sie dennoch erleichtert auf. Gott sei Dank würde sie sich für ein warmes Wohnzimmer am Morgen nicht auf ihre nicht existierenden Fähigkeiten im Feuermachen verlassen müssen. Ein kleines Zweisitzersofa stand gegenüber einem Fernseher, und an einer weiteren Wand erstreckte sich ein Regal mit reihenweise Büchern bis zur Decke. Merry konnte es sich nicht verkneifen, rasch den Blick über die Rücken gleiten zu lassen, wobei sie instinktiv nach ihren eigenen Titeln Ausschau hielt, auch wenn sie sich darüber im Klaren war, wie unwahrscheinlich es war, dass sie einen davon hier entdecken würde.

Niall schien ihr Blick nicht entgangen zu sein. »Eine willkürliche Auswahl an Büchern, die wir als Bibliothek gespendet bekommen«, sagte er beinahe entschuldigend. »In den Wartebereichen im Flughafen haben Sie vielleicht schon eine ähnliche Zusammenstellung gesehen – ich gebe den Leuten gerne die Möglichkeit, ein Buch in die Hand zu nehmen, wann immer es gerade möglich ist.«

Merry lächelte. »Und ich bin mir sicher, dass die Menschen sehr dankbar dafür sind. Ich bin es auf jeden Fall.«

Ein zufriedener Ausdruck zeigte sich auf seinem Gesicht. »Die Küche ist dahinten.« Er führte sie durch einen engen Flur, von dem neben der zur Küche zwei weitere Türen abgingen, Merry nahm an zum Schlaf- und Badezimmer.

Die Küche war sogar noch kleiner, als Merry erwartet hatte. Sie ließ den Blick über die wenigen Kochutensilien und schmalen Einbauschränke wandern, die offensichtlich kaum Platz für Vorräte boten, und stieß ein leises erleichtertes Seufzen aus, als sie den schmalen Geschirrspüler entdeckte. Die Küche war zwar bei Weitem nicht so gut ausgestattet wie ihre eigene, aber sie würde ausreichen. Im Moment interessierte sie ohnehin nur die Kanne, die in einem rot-blau gehäkelten Teewärmer neben zwei Bechern und einem Kännchen Milch in der Mitte des runden Küchentischs stand und aus deren Tülle verlockender Dampf aufstieg.

»Moment mal … Ist das etwa ein Captain-America-Teekan-nenwärmer?« Sie warf Niall einen amüsierten Blick zu. Zugegeben, sie wusste nicht viel über den vorherigen Bewohner des Cottages, allerdings hatten die wenigen Informationen nicht gerade nach einem Avengers-Fan geklungen.

Niall schien gleichermaßen zufrieden wie verlegen angesichts der Tatsache, dass sie das Design erkannt hatte. »Das ist … Meine Großmutter hat ihn für mich gehäkelt. Sie ist ein riesiger Marvel-Fan, ähnlich wie ich. Aber wenn er Ihnen nicht gefällt, ist das gar kein Problem, ich habe noch ein Dutzend andere zur Auswahl.«

Merry fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Erst jetzt bemerkte sie, wie durstig sie war. Seit dem Abflug in Aberdeen hatte sie weder etwas gegessen noch getrunken. »Gott, nein, der ist perfekt«, sagte sie und griff nach der Teekanne. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich uns schon mal einschenke? Ich sehne mich wahnsinnig nach einer Tasse.«

Während sie an ihrem immer noch kochend heißen Tee nippten, gab Niall sich größte Mühe, Merry einen Überblick über die Hauptinsel der Orkneys, auf der sie sich befanden, zu verschaffen.

Merry hörte aufmerksam zu und versuchte sich dabei die verstreut liegenden Orte und Wahrzeichen, die er erwähnte, bildlich vorzustellen; einige erkannte sie von ihren eigenen Recherchen wieder, andere waren ihr bisher vollkommen fremd.

Irgendwann entschlüpfte ihr ein Gähnen. »Tut mir leid, es war ein langer Tag …«

Niall trank seinen Tee aus und stellte den Becher auf den Tisch, bevor er aufstand. »Natürlich. Ich lasse Sie sich dann mal ausruhen.«

»Danke«, sagte Merry, »dass Sie sich so viel Zeit für mich nehmen.«

»Das mache ich gerne.« Er tippte sich zum Abschied an die Schläfe, als würde er einen Hut tragen. »Wann soll ich Sie morgen abholen? Im Schuppen neben dem Haus steht ein Wagen, den Sie jederzeit benutzen können. Aber ich denke, es wäre gut, wenn ich Ihnen zuerst ein wenig die Gegend zeige, damit Sie sich orientieren können.«

»Gerne.« Merry war ihm tatsächlich sehr dankbar für sein Angebot. »Passt Ihnen zehn Uhr?«

»Perfekt«, antwortete Niall mit einem Lächeln. »Bis morgen, Merry. Schlafen Sie gut.«

Nachdem Niall gegangen war, fühlte sich das Häuschen auf einmal viel zu leer an. Genau wie ihre Wohnung in London in den ersten Tagen nach Alex’ Auszug.

Energisch schob sie den Gedanken beiseite und erinnerte sich daran, dass dies ein Neuanfang war. Dann drehte sie den großen Eisenschlüssel in der Tür, auch wenn sie bezweifelte, dass das wirklich notwendig war – wer würde schon den langen Weg hier raus auf sich nehmen, um nachzusehen, ob die Tür abgeschlossen war? –, und machte sich daran, den Rest ihres neuen Zuhauses zu erkunden.

Niall hatte ihre Koffer im Schlafzimmer abgestellt, in dem ein großes Doppelbett mit einem überraschend weichen Überwurf im Schottenmuster stand; die Kleiderschränke waren mit weißen Türen in die Wände eingelassen. Doch das Bad war es, was sie am glücklichsten machte. Eine Badewanne mit Klauenfüßen, die absolut unpraktisch für den kleinen Raum war und deren Anblick sie mindestens genauso euphorisierte wie der des Rollfelds, als sie endlich sicher am Flughafen Kirkwall gelandet waren.

Merry drehte den Warmwasserhahn auf und freute sich, als sich sofort ein dampfender Strahl in die tiefe weiße Emaillewanne ergoss.

Ausgerechnet in diesem Moment entschied sich ihr Magen, sie mit einem vernehmlichen Knurren daran zu erinnern, dass sie seit Stunden nichts gegessen hatte; also verließ sie das Bad vorerst wieder, um nachzusehen, was Niall für sie eingekauft hatte.

Im Kühlschrank entdeckte sie Butter, Käse, Milch und eine braune Papiertüte mit verschiedenem Gemüse; und auf der Anrichte fanden sich neben Kaffee und Tee Brot, eine Packung Eier und eine Flasche Highland Park Single Malt Whisky mit einem handgeschriebenen Etikett auf dem Zum Wohl! stand. Ein aufmerksames Geschenk, von dem Merry befand, dass es absolut unhöflich gewesen wäre, es nicht vor dem Schlafengehen zu probieren.

Sie bereitete sich ein schnelles Omelett zu, bestrich ein paar Scheiben Weißbrot mit Butter und gönnte sich anschließend eine Stunde in der Badewanne. Dann zog sie ihren Pyjama an und machte es sich mit einem großzügigen Schluck Whisky auf dem Sofa im warmen Schein des Kaminfeuers gemütlich.

Ihr Laptop lag auf dem Couchtisch; das letzte Mal hatte sie ihn in London aufgeklappt. Rasch verdrängte sie die nur allzu vertrauten aufsteigenden Schuldgefühle bei seinem Anblick, indem sie ein Entdecke Schottland-Magazin darauf warf und sich stattdessen ihrem Handy widmete.

Sie hatte drei Nachrichten von ihrer Freundin Jess bekommen, die sich in ihrer Dringlichkeit mit jedem Mal steigerten.

Ich vermisse dich jetzt schon. Sag Bescheid, wenn du da bist. Kuss

Wie ist die Reise? Hast du schon irgendwelche heißen schottischen Gutsherren kennengelernt? Kuss

Bist du über den Rand der Welt gefallen? Von einem Eisbären gefressen worden? Schreib mir, damit ich weiß, dass du noch lebst!! Kuss

Grinsend hob Merry ihr Whisky-Glas so an, dass sich das Feuer des Kamins darin brach, und machte ein Foto.

Ich lebe noch. Bisher keine Eisbären in Sicht, aber es gibt Whisky. Prost! Kuss

Jess’ Antwort folgte innerhalb von Sekunden.

Heißt das, es gibt tatsächlich heiße Gutsherren? Kuss

Merry schüttelte amüsiert den Kopf. Jess bestand darauf, dass der beste Weg für Merry, über Alex hinwegzukommen, darin bestand, unter einen anderen Kerl drunterzukommen, aber bisher hatte Merry den gut gemeinten Ratschlägen ihrer Freundin, sich wieder mit Männern zu verabreden, eine Absage erteilt. Es war noch zu früh, und abgesehen davon würde sie nur sechs Monate hierbleiben. Das Letzte, was sie brauchte, war eine weitere aussichtslose Beziehung.

Weit und breit keinen einzigen. Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen. Kuss

Merry legte das Handy auf den Couchtisch und ließ sich in die weichen Kissen sinken. Die Vorstellung, Jess so lange nicht zu sehen, war komisch, dachte sie, während sie am Whisky nippte und den bitteren Geschmack genoss, der ihre Geschmacksknospen kitzelte. Und noch komischer war es, sich vorzustellen, wie viele Buchvorstellungen und Partys Jess in der nächsten Zeit ohne sie besuchen würde. Seit der Trennung von Alex war sie selbst auf so wenigen Verlagsveranstaltungen gewesen, dass ihren Autorinnen-Bekanntschaften wahrscheinlich nicht einmal auffallen würde, dass sie auf die Orkneys geflüchtet war, aber sie würde die Geselligkeit, die ihre Karriere mit sich brachte, vermissen. Jess hatte immer dafür gesorgt, dass sie auf dem neuesten Stand war; es war ständig irgendwo was los – das Sicherheitsnetz, auf das sie sich verlassen konnte, wenn sie sich dafür entschied, es in Anspruch zu nehmen.

Mit schief gelegtem Kopf lauschte Merry dem leisen Knacken des Feuers und der unendlichen Stille dahinter. Sie befand sich mitten im Nirgendwo, ohne Freunde, ohne Partyeinladungen, aber war das nicht der Sinn der ganzen Sache? Sie war auf die Orkneys gekommen, um der Verlagswelt, ihrem alten Leben, zu entkommen und wiederzuentdecken, wie es sich anfühlte, lebendig zu sein. Und, noch wichtiger, herauszufinden, ob sie das verloren hatte, was sie sich immer am meisten wie sie selbst hatte fühlen lassen: ihre Fähigkeit zu schreiben. Ganz vielleicht auch, um das klaffende Loch zu füllen, das Alex hinterlassen hatte.

»Kein Bedauern«, ermahnte sie sich streng, als ihr Handy mit einem Vibrieren den Eingang einer weiteren Nachricht verkündete.

Sie kam von Jess. Natürlich.

Gib dir ein wenig Zeit. Kein Bedauern? Kuss

Ein Lächeln stahl sich auf Merrys Lippen. Zufälle wie dieser passierten ständig bei ihr und Jess. Sie waren geradezu bekannt dafür, gegenseitig ihre Sätze zu beenden und zum selben Zeitpunkt den gleichen Witz zu reißen.

Rasch tippte sie eine Antwort.

Nein. Zumindest bisher nicht. Kuss

Während sie den Rest ihres Whiskys im Glas schwenkte und das bernsteinfarbene Glühen der Flüssigkeit im Schein des Feuers bewunderte, musste sie gähnen. Auf einmal fühlte sie sich vollkommen erschöpft und kaum noch in der Lage, die Augen offen zu halten.

Schnell trank sie den letzten Schluck und ging ins Schlafzimmer, wo sie den schweren Wollüberwurf zurückschlug, um unter die dicke Daunendecke zu kriechen. Mit einem tiefen Seufzen schloss sie die Augen. Und zum ersten Mal seit Monaten störte es sie nicht, dass die andere Seite des Bettes leer war.

Kapitel Zwei

Das Geräusch über ihrem Kopf klang, als würde jemand auf dem Dach herumtrampeln.

Desorientiert und verwirrt richtete Merry mit zusammengekniffenen Augen den Blick zur Decke. Wie konnte sich jemand auf dem Dach befinden, überlegte sie müde, und warum konnte sie die Leute hören? Ihre Wohnung lag im Erdgeschoss und … In diesem Moment erkannte sie, wie niedrig die Decke über ihrem Kopf war, und sie erinnerte sich, wo sie sich befand. Dennoch – trugen die Vögel auf der Insel Wanderstiefel? Zumindest klang es ganz danach.

Wenige Sekunden später hatte ihre Neugier über ihren Widerwillen, die Wärme des Bettes gegen den kalten Steinboden einzutauschen, gesiegt, und sie hüpfte durchs Zimmer, um ihren Bademantel überzuwerfen, bevor sie in den Flur stolperte. In den Stiefeln, die sie am Abend zuvor neben der Tür hatte stehen lassen, trat sie in den kühlen Morgen hinaus.

Eine Windböe fegte über den Klippenrand, und die Kälte raubte ihr für einen Moment den Atem. Doch der Ausblick über die Steilküste entschädigte sie: ein unvergesslicher Himmel mit watteweichen Wolken gespickt, zwischen denen hindurch Sonnenstrahlen auf die weißen Schaumkronen fielen. Das Licht war ein ganz anderes als das am Abend zuvor, aber nicht minder spektakulär.

Ich könnte mich definitiv daran gewöhnen, dachte Merry, während ihr nach Lächeln zumute war.

Im nächsten Moment zerriss ein schrilles Meckern die friedliche Ruhe.

Erschrocken fuhr Merry herum und sah sich hektisch nach dem Ursprung des schrecklichen Geräuschs um – bis sie ungläubig die Augen aufriss. Auf dem Dach ihres Cottages befand sich eine Ziege.

Einen Moment lang starrte Merry gebannt auf das Bild, das sich ihr bot, während ihr Gehirn zu verarbeiten versuchte, was ihre Augen ihm übermittelten. Zum einen war da das Dach, das anstelle von Schindeln mit Gras bedeckt war. Mit hohem grünen Gras, das tatsächlich dort oben zu wachsen schien und sich im Wind wiegte.

Was für ein Irrer deckt sein Dach mit Gras?, fragte sich Merry fassungslos. Wie übergeschnappt genau ist dieser Dougal bitte gewesen?

Bis sie sich auf einmal an einen Artikel in einem Architekturmagazin erinnerte, in dem ein ernstzunehmender, ökologisch versierter und absolut nicht übergeschnappter Hausbesitzer vorgestellt worden war, der erläutert hatte, warum Erde und Gras perfektes Dämmmaterial darstellten, was gleichzeitig der Umwelt zuträglich war und für mehr Biodiversität sorgte. Abgesehen davon, dass in dem Artikel nirgendwo was von einer schneeweißen Ziege als integrativem Bestandteil ebendieser Biodiversität gestanden hatte.

Die Ziege meckerte wieder, als verlange sie endlich zu erfahren, um wen genau es sich bei der neuen Hausbewohnerin handelte.

Merry wedelte mit den Armen. »Komm da runter. Na los, runter mit dir!«

Die Ziege betrachtete sie, ohne zu blinzeln, die gelben Augen mehrere Sekunden lang in ziegenhafter Kontemplation auf sie gerichtet. Dann senkte sie den Kopf und riss ein Büschel Gras ab, das sie langsam zerkaute, während sie erneut den Blick auf Merry richtete.

»Hey, hör auf, mein Dach aufzufressen!«, protestierte Merry und trat einen Schritt näher. »Hier unten gibts genug Grünzeug für dich.«

Wie zu erwarten, ignorierte die Ziege sie.

Ratlos sah Merry sich um. Wo war dieses blöde Vieh hergekommen? War es vielleicht von einem Bauernhof in der Nähe getürmt? Sie suchte den leeren Horizont ab und runzelte die Stirn. Wo befand sich überhaupt der nächste Hof? Dann blieb ihr Blick an einem Stück eingezäunter Weide an der linken Seite ihres Häuschens hängen. Das Gatter stand offen, und genau in der Mitte führten Spuren im dunkelbraunen Matsch in ihre Richtung. Spuren, die eindeutig von einem Paarhufer stammten …

Merry kam ein unerfreulicher Verdacht. Als sie wieder die Ziege ansah, stellte sie fest, dass diese sie nach wie vor desinteressiert musterte.

»O nein.« Merry schüttelte den Kopf. »Sag mir jetzt nicht, dass du zum Inventar gehörst.«

Die Ziege zeigte ihre Zähne und stieß ein zustimmendes Meckern aus.

Merry presste die Lippen zusammen. Sie musste sich irren. In der Anzeige war keine Rede von irgendwelchem Viehzeug gewesen, und auch Niall hatte ihr gegenüber keine Tiere erwähnt.

»Machs dir da oben bloß nicht zu bequem«, rief Merry zur Ziege hinauf und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. »Auf Mitbewohner kann ich definitiv verzichten.«

Zurück im Haus warf sie einen Blick auf die Uhr. Kurz nach neun. Niall würde sie in weniger als einer Stunde abholen; es gab keinen Grund, ihn vorab anzurufen, um nach einer Erklärung für ihren tierischen Gast zu fragen. Sie würde einfach darauf hoffen müssen, dass noch was vom Dach übrig war, wenn er kam, entschied sie, als ein schwaches Meckern durch die Decke drang. Und dass er in der Lage war, ihr die Angst vor dem Ziegen-Sitting zu nehmen.

»Guten Morgen«, begrüßte Niall sie, als Merry ihm eine Stunde später die Tür öffnete. »Wie war Ihre erste Nacht?«

Er lächelte, und schon wieder nahm sie einen Hauch Clark Kent an ihm wahr, auch wenn er heute sehr viel legerer gekleidet war. Merry sah den Kragen eines rot karierten Hemdes oben aus seinem wattierten Barbour-Mantel herauslugen, dazu trug er eine blaue Jeans. Unwillkürlich fragte sie sich, was eher seiner normalen Arbeitskleidung entsprach – der Anzug oder die Jeans. Und dann fragte sie sich, warum sie überhaupt über so etwas nachdachte, bevor sie innerlich den Kopf über sich selbst schüttelte.

»Ich habe sehr gut geschlafen«, antwortete sie und erwiderte sein Lächeln. »Vielen Dank für den Whisky.«

»Ach, gern geschehen. Um ehrlich zu sein, war ich mir nicht ganz sicher, ob Sie eine Whisky-Trinkerin sind; für den Fall der Fälle habe ich die Flasche aber einfach dagelassen.«

»Ich habe ihren Inhalt auf jeden Fall sehr genossen«, sagte Merry in Erinnerung an den Geschmack der rauchigen bernsteinfarbenen Flüssigkeit auf ihrer Zunge. »Ich hab die Marke schon ein paar Autorenfreundinnen empfohlen.«

Niall lachte. »Die Destillerie hat ihren Sitz hier auf der Insel. Vielleicht sollte ich anfangen, Provision zu nehmen.« Er hielt inne, um sie kurz zu mustern. »Sind Sie bereit für Ihre Tour? Es verspricht, ein schöner Tag zu werden.«

Merry überlegt einen Moment, ob sie ihre Begegnung mit der Ziege erwähnen sollte. Nachdem sie geduscht hatte, war sie noch einmal rausgegangen, um nach ihr zu sehen, hatte sie aber nirgends entdecken können. Und wahrscheinlich war sie immer noch verschwunden; andernfalls hätte Niall garantiert bereits erwähnt, dass er sie dort oben hatte grasen sehen. Andererseits war das auf den Orkneys vielleicht ein vollkommen üblicher Anblick. Frei nach dem Motto: Eine Ziege auf dem Dach ist so viel wert wie zwei im Garten – oder eine ähnlich unergründliche Weisheit …

»Definitiv bereit«, antwortete sie, nachdem sie ihre albernen Gedanken energisch beiseitegeschoben hatte. »Wohin geht es als Erstes?«

»Das ist eine Überraschung«, antwortete Niall geheimnisvoll, als Merry die Baker-Boy-Mütze aus Wolle aufsetzte, die Jess ihr zum Abschied geschenkt hatte. »Aber ich bin zuversichtlich, dass es Ihnen gefallen wird.«

Als sie zum Auto gingen, konnte sich Merry einen kurzen Blick über die Schulter zum Dach hinauf nicht verkneifen; doch es war genau, wie sie vermutet hatte – keine Ziege weit und breit, weder dort oben noch sonst irgendwo in Sichtweite des Hauses. Das Gras sah so normal aus, wie Gras, das auf einem Hausdach wächst, aussehen kann, und schien vollkommen unbeschadet durch irgendwelche zupfenden Zähne. Hätte sie nicht die verräterischen Hufabdrücke im Matsch vor dem Haus gesehen, wäre sie sogar versucht gewesen zu glauben, sie habe sich die Begegnung nur eingebildet. So oder so entschied sie sich, Niall gegenüber vorerst nichts in die Richtung zu erwähnen. Autorinnen und Autoren eilte der Ruf einer gewissen Exzentrik voraus, und Merry war sich durchaus bewusst, dass der Grad, der zwischen ein paar liebenswerten Macken und einer ausgewachsenen Neurose verlief, ein äußerst schmaler war.

Jedoch musste Niall bemerkt haben, dass sie sich umgesehen hatte, denn er musterte sie neugierig von der Seite, als er seinen Wagen den holprigen Pfad entlang zur Hauptstraße steuerte. »Möchten Sie wissen, was es mit dem Grasdach auf sich hat?«, fragte er. »Das ist eine Tradition, die ursprünglich wohl aus Skandinavien kommt, aber man findet solche bewachsenen Dächer überall in Schottland. Inzwischen sind viele Häuser reetgedeckt, oder es werden Schindeln aus Schiefer verwendet, aber der Vorbesitzer dieses Cottages hat darauf bestanden, das Grasdach zu behalten; und die Orkney Literary Society hat sich dafür entschieden, seinen Wunsch in Ehren zu halten, als sie es von ihm geerbt hat.«

»Bridget hat mir schon ein wenig über Dougal erzählt«, sagte Merry mit einem Grinsen, als sie an die Worte der älteren Dame im Flugzeug denken musste. »Es klang, als sei er eine ziemlich außergewöhnliche Persönlichkeit gewesen.«

»Das war er.« Niall nickte, als er auf den glatten Asphalt der Hauptstraße abbog. »Wahrscheinlich war er sogar gar nicht so weit entfernt von einem der Charaktere, die Sie sich für Ihre Geschichten ausdenken. Vielleicht tatsächlich ein wenig wie der alte Jorge in Getrennte Leben, nur nicht ganz so witzig.«

Merry sah ihn überrascht an; es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass er eines ihrer Bücher gelesen haben könnte.

Als Niall ihren Gesichtsausdruck bemerkte, hob er die Augenbrauen. »Ich bin Bibliothekar, schon vergessen? Außerdem versuche ich immer, mindestens eines der Werke des jeweiligen Autors oder der Autorin zu lesen, die bei uns zu Gast ist. In Ihrem Fall war das für mich allerdings kein großer Extraaufwand. Die meisten habe ich bereits gelesen, nachdem wir sie ins Verzeichnis unserer Bücherei aufgenommen hatten.«

Es war nicht das erste Mal, dass Merry von einem Bibliotheksmitarbeiter hörte, dass er ein Fan ihrer Arbeit war, weswegen sie sich fragte, warum sie bei seinen Worten dennoch ein wenig rot wurde.

»Oh … vielen Dank. Es freut mich, dass Jorge Ihnen gefallen hat. Ich muss zugeben, dass ich auch eine gewisse Schwäche für ihn habe.«

Sie unterhielten sich über weitere literarische Lieblingsfiguren von ihnen, und Merry war so von ihrem Gespräch eingenommen, dass sie erst feststellte, wo sie sich befanden, als Niall einige Minuten später auf einen Parkplatz abbog.

»Oh!«, stieß sie begeistert aus, beide Hände an die Wangen gelegt. »Skara Brae! Hier will ich schon hin, seit ich zum ersten Mal in der Schule davon gehört habe.«

Niall parkte das Auto und deutete auf das Schild, das sie an der Ausgrabungsstätte des berühmten jungsteinzeitlichen Dorfes willkommen hieß. »Ich dachte mir, dass Sie es vielleicht interessant finden würden. Das tun die meisten Schriftsteller. Es gibt nahezu unendlich viele Geschichten, die sich um diese Ausgrabungsstätte ranken. Selbst die ihrer Entdeckung ist spannend.«

Merry kramte in ihrem Gedächtnis nach den Informationen, die sie sich vor ihrer Reise auf die Orkneys angelesen hatte. »Dieser Ort hier wurde nach einem sehr starken Sturm entdeckt, oder? Irgendwann im neunzehnten Jahrhundert, wenn ich mich richtig erinnere.«

»So heißt es, ja«, stimmte Niall ihr zu. »Aber es gibt auch diejenigen, die sagen, dass die Existenz des Dorfes schon lange davor eine Art offenes Geheimnis war; nur dass niemand wirklich einen Gedanken daran verschwendet hat, bevor der Sturm 1850 einige der Häuser zutage gefördert hat. Und selbst danach hat es noch weitere fünfundsiebzig Jahre und einen weiteren Sturm gebraucht, um aufzudecken, wie viel von dem Dorf unter der Erde erhalten geblieben war.«

Merry spürte ein aufgeregtes Kribbeln im Magen. »Ich kann es kaum erwarten, es zu sehen.«

»Na, dann los«, sagte Niall, offensichtlich sehr erfreut über ihren Enthusiasmus. »Um ehrlich zu sein, habe ich den Überblick verloren, wie oft ich schon hier war, aber es wird nie langweilig. Vor allem dann nicht, wenn man es jemandem zeigen kann, der es noch gar nicht kennt.«

Sie betraten das Besucherzentrum. Niall begrüßte die Frau mittleren Alters, die hinter dem Ticketschalter saß, und stellte ihr Merry vor.

»Wie schön, Sie endlich kennenzulernen«, sagte die Frau zu Merry. »Ich liebe Ihre Bücher. Wie aufregend zu wissen, dass Sie bei uns auf den Orkneys sind und unsere kulturellen Schätze entdecken.«

»Elspeth hat die Tage bis zu Ihrer Ankunft gezählt«, sagte Niall ernst, was dazu führte, dass Elspeth vor Verlegenheit rote Wangen bekam. »Ich glaube, dass sie ein wenig darauf hofft, dass Sie sie vielleicht in eines Ihrer Bücher hineinschreiben.«

»Ach was.« Elspeth schüttelte den Kopf und winkte ab, aber Merry glaubte tatsächlich einen kleinen Funken Hoffnung in ihren Augen aufschimmern zu sehen. »Ich bin allerdings tatsächlich ein sehr großer Fan.« Sie lächelte Merry an. »Also, ich würde Ihnen ja eine Infobroschüre mitgeben, aber Niall war schon so oft hier, dass er alles auswendig weiß. Er ist der beste Reiseführer, den Sie sich wünschen können.«

Nun war es an Niall, ein verlegenes Gesicht zu machen. »So weit würde ich jetzt nicht gehen.«

Elspeth lächelte. »Kein Grund für Bescheidenheit.« Dann sah sie wieder Merry an. »Es gibt nicht vieles, das er nicht über die Orkneys weiß. Manchmal kommt es mir vor, als sei er eine Version von Google auf zwei Beinen.«

»Wenn du nicht langsam damit aufhörst, werde ich noch überheblich«, erwiderte Niall mit einem Grinsen. »Hoffentlich ist es noch nicht so voll – bisher habe ich keine Busse gesehen.«

»Wir haben erst vor einer Viertelstunde aufgemacht, deswegen ist es relativ ruhig.« Elspeth griff unter die Theke und förderte zwei kleine weiße Päckchen zutage. »Ich denke mal, die werdet ihr brauchen?«

Niall nahm sie mit einem dankbaren Nicken entgegen. »Wir sind vorsichtig.«

Merry hatte keine Ahnung, wovon sie sprachen. Und offensichtlich hielten die beiden es nicht für nötig, ihr weitere Erklärungen zu liefern. Stattdessen sah Niall sie an und legte fragend den Kopf schief.

»Bereit für eine Reise in die Vergangenheit, Merry?«

Bei seinen Worten verstärkte sich das Kribbeln in ihrem Magen wieder. »Und wie.«

Nachdem sie aus dem Besucherzentrum getreten waren, blieb Niall stehen und wandte sich ihr zu. »Es gibt einen Nachbau, in dem man zu rekonstruieren versucht hat, wie die Häuser ursprünglich einmal von innen ausgesehen haben könnten; aber ich denke, es ist vielleicht spannender, zuerst die Ruinen zu besichtigen, um sich ein eigenes Bild zu machen. Was meinen Sie?«

Merry dachte einen Augenblick nach. Einerseits leuchtete ihr ein, dass es einem als Besucher bei der Interpretation dessen, was man sah, helfen konnte, wenn man den Nachbau im Kopf hatte; andererseits war sie selbst auf etwas anderes aus – sie wollte ihrer eigenen Fantasie erlauben, die Geschichte der Menschen zu erzählen, die hier vor fünftausend Jahren gelebt hatten.

»Lassen Sie uns zuerst die Ausgrabungen ansehen.«

Der Weg zum Dorf war mit Steinen markiert, auf denen Jahreszahlen standen, sodass es tatsächlich den Anschein hatte, man würde in der Zeit zurückreisen. Doch es war besonders die Wegmarke, die sich auf die Pyramiden bezog, die Merrys Vorstellungskraft anregte; die Häuser, die sie gleich sehen würde, hatten bereits lange vor einer der größten technischen Leistungen der Menschheit existiert.

Doch selbst dieser Gedanke konnte sie nicht auf das vorbereiten, was sie kurz darauf beim Anblick von Skara Brae empfand. Wie Elspeth bereits angekündigt hatte, waren bisher nur ein paar hartgesottene Besucher wie sie an diesem kalten Februarmorgen hergekommen, um die Ausgrabungsstätte zu erkunden. Sie standen verteilt um die acht Gebäude, die jeweils aus einem einzelnen Raum bestanden und auf die man von grasbewachsenen Erhebungen und erhöhten Laufstegen herabschauen konnte. Um einige der Ausgrabungsstätten waren zudem Trampelpfade zu erkennen, aber mehrere Schilder wiesen darauf hin, dass man Abstand halten und möglichst auf den gekennzeichneten Wegen bleiben sollte.

Unwillkürlich musste Merry daran denken, dass es an einem ähnlichen Ort in London mindestens Absperrungen in Form von Seilen, diverse Alarmsysteme und vermutlich eine Handvoll ernst dreinschauender Wächter gegeben hätte, die dafür sorgten, dass die Besucher sich an die Regeln hielten; aber das Fehlen tatsächlicher Barrieren schuf die Illusion, dass sie einfach so in eines der Häuser hätte hineinspazieren können, wenn ihr der Sinn danach gestanden hätte.

Als ob Niall ihre Gedanken gelesen hätte, zog er die beiden weißen Päckchen aus seiner Jackentasche und hielt ihr lächelnd eines davon hin. »Möchten Sie reingehen?«

Merry war sich sicher, dass dies die unnötigste Frage war, die ihr jemals gestellt worden war. »Auf jeden Fall. Dürfen wir das denn?«

Er rollte eines der beiden Päckchen auf, bis es sich zu zwei weißen Schuhüberziehern entfaltete. »Wir dürfen. Solange wir die hier tragen und dafür sorgen, dass uns das niemand nachmacht.«

Eine weitere Aufforderung erübrigte sich; Merry nahm Niall das andere Päckchen aus der Hand und stülpte sich rasch die weißen Überzieher über die Sohlen ihrer robusten Stiefel.

Niall sah sich um, dann kletterte er vorsichtig zu der Ruine hinunter, die ihnen am nächsten war, und streckte die Hand nach oben, um Merry ebenfalls hinunterzuhelfen.

Sie spürte sie beinahe sofort, als ihre Füße auf dem hellen Kiesboden aufkamen: die Essenz lange verstorbener Menschen, die von den grauen Steinmauern auszugehen schien. Fasziniert nahm sie sich einen Augenblick Zeit, schweigend alles in sich aufzunehmen, bevor sie durch die schmale Tür des Hauses trat. Als sie mit den Fingerspitzen über die mit Flechten überzogenen Wände fuhr, fragte sie sich unwillkürlich, welcher Mensch vor Tausenden von Jahren dasselbe getan hatte, nachdem er in sein Heim gekommen war oder als er es vielleicht für immer verlassen hatte. Sie empfand es als Privileg und spürte gleichzeitig einen unglaublichen Nervenkitzel, in dieser Zeit an diesem Ort zu stehen und das Echo der ehemaligen Bewohner wahrzunehmen.

»Oberflächlich betrachtet wirkt es, als hätten die Menschen damals einen recht einfachen Lebensstil gehabt«, sagte Niall nicht weit hinter ihr. »Sie haben in einem Raum gelebt, im Meer gefischt und das Land bestellt. Die Häuser gleichen sich in ihrem Aufbau, was darauf schließen lässt, dass niemand in der Gemeinschaft wichtiger war als ein anderer. Aber es gibt ein Gebäude, von dem man vermutet, dass darin Werkzeuge und Schmuck hergestellt wurden. Was bedeutet, dass sie nach damaligen Maßstäben eine hoch entwickelte Gesellschaft waren.«