Hidden Legacy - Smaragdfeuer - Ilona Andrews - E-Book

Hidden Legacy - Smaragdfeuer E-Book

Ilona Andrews

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Beschreibung

Das Gleichgewicht der Magie steht auf dem Spiel!

Als das Haus Baylor angegriffen wird, braucht Catalina Baylor die Hilfe von Alessandro Sagredo, der ihr einst das Herz gebrochen hat. Obwohl dieser erneut von dem Albtraum heimgesucht wird, gegen den er seit seiner Kindheit kämpft, setzt Alessandro alles daran, Catalina zu beschützen. Und Catalina kann wirklich jede Unterstützung gebrauchen, denn sie ist fest entschlossen, die Quelle für das gefährliche Serum zu finden, das Menschen magische Kräfte verleiht und ihre Welt auseinanderzureißen droht.

"Eine phänomenale Fortsetzung von Catalinas Geschichte, ich will es direkt nochmal lesen." THE NERD DAILY

Band 5 der HIDDEN-LEGACY-Reihe

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Ilona Andrews bei LYX

Impressum

ILONA ANDREWS

Hidden Legacy

SMARAGDFEUER

Ins Deutsche übertragen von Marcel Aubron-Bülles

Zu diesem Buch

Als das Haus Baylor angegriffen wird, braucht Catalina Baylor die Hilfe von Alessandro Sagredo, der ihr einst das Herz gebrochen hat. Obwohl dieser erneut von dem Albtraum heimgesucht wird, gegen den er seit seiner Kindheit kämpft, setzt Alessandro alles daran, Catalina zu beschützen. Und Catalina kann wirklich jede Unterstützung gebrauchen, denn sie ist fest entschlossen, die Quelle für das gefährliche Serum zu finden, das Menschen magische Kräfte verleiht und ihre Welt auseinanderzureißen droht.

An die Schlüsselkräfte und das medizinische Personal an den Frontlinien der COVID-19-Pandemie.

Nur dank ihnen sind wir am Leben.

Wir danken ihnen.

Prolog

Der Wolf war auf dem Weg.

Lander Morton wusste das, weil er den Wolf in sein Zuhause eingeladen hatte. Sein persönlicher Assistent Sheldon hatte ihn mit der Mitteilung aufgesucht, dass der Wolf vor der Tür stand, und hatte sich aufgemacht, ihn hereinzuholen. Jetzt kehrten sie beide zurück, doch Lander hörte nur die Schritte einer Person in seinem Haus.

Er rutschte unruhig in seinem Rollstuhl hin und her und nahm einen tiefen Schluck seines Bourbons. Flüssiges Feuer strömte seinen Rachen hinab. Seine alten Eingeweide würden sich später darüber beschweren, aber das war ihm jetzt egal. Einige Menschen waren Menschen, und andere waren Wölfe in menschlicher Gestalt. Für diese Aufgabe brauchte er einen menschlichen Wolf, und er würde einen bekommen.

Es war das erste Mal seit drei Tagen, dass er etwas anderes empfand als abgrundtiefe Trauer. Dieses neue Gefühl zerteilte die Wolke der Verzweiflung, die ihn umhüllte, wie eine frische Brise, und er begriff, dass es sich um Vorfreude handelte. Nein, es war noch mehr als das. Es war eine berauschende Mischung aus Vorfreude, Besorgnis, Erregung und Angst. So hatte er sich vor vielen Jahren immer gefühlt, wenn er den nächsten großen Geschäftsabschluss direkt vor sich sah. Jahrzehnte waren vergangen, seit er das letzte Mal einen solchen Adrenalinrausch erlebt hatte, und für einen kurzen Augenblick fühlte er sich wieder jung.

Sheldon tauchte in der Tür zum Arbeitszimmer auf und wich zur Seite, um den anderen Mann eintreten zu lassen. Der Gast trat drei Schritte in den Raum und blieb dann stehen, sodass man ihn mustern konnte. Er war jung, so jung, und er bewegte sich mit einer beiläufigen Eleganz, die Lander erneut deutlich machte, wie alt er wirklich war. Stark, groß gewachsen, gut aussehend, wie es am Mittelmeer so oft der Fall war – von der Sonne geküsst und im Salzwasser groß geworden. Wenn Felix’ Junge erst mal groß war, würde er vielleicht auch so aussehen.

Brennende Schmerzen durchzuckten ihn, und Lander kämpfte dagegen an.

Sein Gast wartete reglos.

Lander sah ihn an. Da war er, in seinen Augen verborgen: Der Wolf starrte ihn an. Kalt. Hungrig.

Wurde Zeit, dass er endlich kam. Nein, das durfte er nicht aussprechen. Er musste höflich sein. Das hier durfte er nicht versauen. »Vielen Dank, dass Sie so kurzfristig vorbeischauen konnten.«

Sheldon trat wieder auf den Flur hinaus und schloss die Tür hinter ihnen. Er würde draußen warten, damit niemand sie störte.

»Das ist doch selbstverständlich«, sagte der Gast. »Mein Beileid.«

Lander nickte in Richtung des »Blood Oath Pact«-Bourbons, der auf einer Tischecke bereitstand. »Etwas zu trinken?«

Der Gast schüttelte seinen Kopf. »Ich trinke nicht während der Arbeit.«

»Schlau.« Lander goss sich einen weiteren Schluck Bourbon ein. Er war sich nicht sicher, ob er seine Trauer im Alkohol ertränken oder sich einfach nur Mut antrinken wollte. Wenn er es nicht schaffte, seine Gründe überzeugend vorzubringen, und der Mann einfach wieder ging … Er konnte ihn nicht einfach gehen lassen.

»Ich kannte Ihren Vater«, sagte Lander. »Ich habe ihn und Ihre Mutter kennengelernt, als ich ein Geschäft über Carrara-Marmor abschloss, der für das Schlosshotel gedacht war. Unverschämt teuer, aber ich wollte nur das Beste.«

Der Mann zuckte mit den Achseln.

Panik durchfuhr Lander. Die Worte brachen aus ihm heraus. »Sie haben meinen Sohn getötet. Sie haben sein Geld gestohlen, sie haben all sein Wissen und seine Verbindungen missbraucht, und dann haben sie ihn ermordet, und ich weiß nicht, warum.«

»Ist es ihnen wichtig, warum?«

»Ja, aber darauf habe ich bereits jemanden angesetzt.«

»Nun, was wollen Sie dann von mir?«

»Ich habe meinen Sohn geliebt. Er war schlau, intelligent – viel intelligenter, als ich es je war –, und er war ehrlich. Die Leute können mich nicht ausstehen, aber alle mochten ihn, weil er ein guter Mann gewesen ist. Vor drei Jahren starb seine Frau Sofia, und er hat sich ganz allein um die Kinder gekümmert. Einen Sohn und zwei Töchter. Der Junge ist der Älteste, er ist vierzehn. Ich habe einen Schlaganfall erlitten und werde vom Krebs zerfressen, aber ich darf die nächsten vier Jahre nicht verrecken. Ich muss so lange durchhalten, bis der Junge alt genug ist, um die Geschäfte zu übernehmen. Ich will, dass diese Schweine sterben!«

Lander ballte die Hände zu Fäusten. Seine Stimme war nur noch ein Krächzen, und etwas in ihm warnte ihn, dass er unzurechnungsfähig klang. Aber der Schmerz war zu stark, und er brach sich Bahn.

»Ich will, dass sie leiden, und ich will, dass sie den Grund dafür wissen. Sie haben mir meinen Jungen genommen, und sie haben ihn seinen Kindern genommen. Sie haben meinen Jungen zugrunde gerichtet, meinen wundervollen, schlauen Jungen. Alles, was ich aufgebaut habe, was er aufgebaut hat … sie glauben, sie können es mir einfach nehmen.« Seine schmerzerfüllte Stimme war nun nicht viel mehr als ein leises Flüstern. »Töten Sie sie. Töten Sie sie für mich.«

Schweigen senkte sich über das Arbeitszimmer.

Lander wurde von Sorge überwältigt. Hatte er zu viel gesagt? Hatte er zu verrückt geklungen?

»Meine Mutter erinnert sich daran, wie sie Sie kennengelernt hat«, sagte der Gast. »Es gibt ein Foto von ihnen dreien auf der Jacht. Damals war sie mit mir schwanger. Sie meinte, ihre Morgenübelkeit wäre unerträglich gewesen, und Sie hätten ihr gesagt, dass es nichts Besseres gegen Magenverstimmung gebe als Ginger Ale. Doch es gab vor Ort kein Ginger Ale, und Sie haben einen Kasten aus Milan herbeiholen lassen, per Kurier.«

Der Gast trat an den Schreibtisch heran, goss sich einen Schluck Bourbon in das zweite Glas ein und erhob es. »Auf Ihren Sohn!«

Er leerte das Glas in einem Schluck, und Lander sah nun wieder den Wolf vor sich, der ihn aus den Tiefen seiner Seele anstarrte.

»Heißt das, Sie übernehmen den Auftrag?«

»Ja.«

Seine Erleichterung war fast schon greifbar. Lander sackte in seinem Stuhl zusammen.

»Ich habe Ihre Situation vor meinem Besuch gründlich studiert«, sagte der Gast. »Es wird Zeit benötigen und Geld. Es wird kompliziert, weil es richtig gemacht werden muss«

»Alles, was dafür nötig ist, bekommen Sie«, sagte Lander. Er fühlte sich so müde. Er hatte es geschafft. Er konnte sich nun Felix’ Grabstein ansehen und seinem Sohn versprechen, dass die Rache auf dem Weg war.

»Ihre Schuld muss einwandfrei bewiesen sein.«

»Machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte Lander. »Sie bekommen die Beweise. Ich beauftrage nur die Besten.«

1

»Haus Baylor Investigative Agency«, rief ich. »Stecken Sie Ihre Waffen ein, und treten Sie vom Affen weg!«

Das goldene Löwenäffchen, das etwa die Größe eines stattlichen Eichhörnchens hatte, starrte mich von der Spitze des Laternenpfahls an. Sein Umriss setzte sich deutlich vom strahlend blauen Nachmittagshimmel ab. Die beiden Männer und die Frau, die unter dem Laternenpfahl standen, hielten ihre Waffen weiterhin im Anschlag.

Die drei trugen bequeme Kleidung, die Männer in Kakihosen und T-Shirts, die Frau in einer weißen Caprihose und einer hellblauen Bluse. Sie waren alle drei gut in Form, und sie zielten mit ihren Waffen in nahezu identischer Haltung, die Läufe leicht nach unten gerichtet. Das hier war ihr Beruf, und sie wollten uns nicht aus Versehen anschießen. Da niemand von uns die Waffen gezückt hatte, fühlten sie sich uns vermutlich überlegen. Doch bedauerlicherweise unterlag die Einschätzung ihrer eigenen Sicherheit einem erheblichen Fehlschluss.

Neben mir fletschte Leon die Zähne. »Catalina, ich kann das echt nicht leiden, wenn Leute mit Waffen auf uns zielen.«

Ich auch nicht, aber im Gegensatz zu Leon gehörte ich auch nicht zu den Menschen, die allen dreien aus »Gründen der Symmetrie« nur durchs linke Auge schießen würden.

»Montgomery International Investigations«, verkündete der ältere der beiden Männer. »Macht euch vom Acker und hört wieder Die drei??? Kids.«

Augustins Leute trugen in der Regel Anzüge, aber die Jagd auf Affen in der sommerlichen Juli-Hitze Houstons verlangte legere Kleidung.

Auch Leon und ich hatten uns für bequeme Klamotten entschieden. Mein Gesicht war dreckig, meine dunklen Haare hatte ich notdürftig zu einem Knoten zusammengebunden, und meine Kleidungswahl hätte niemanden beeindruckt. Von uns dreien sah nur Cornelius vernünftig aus, und selbst er war komplett durchgeschwitzt.

»Sie mischen sich in unsere rechtmäßige Rettungsmaßnahme ein«, stellte ich fest. »Gehen Sie zur Seite.«

Die Agentin trat einen Schritt auf uns zu. Sie war in den Dreißigern, durchtrainiert, hatte hellbraune Haut und glänzend dunkles Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte.

»Du scheinst ein nettes Mädchen zu sein.«

Du hast nicht die geringste Ahnung.

Sie sprach weiter. »Wir können das hier doch vernünftig regeln, bevor wir zu viel Testosteron im Spiel haben. Dieser Affe ist Eigentum des Hauses Thom. Er ist Teil einer sehr wichtigen pharmazeutischen Versuchsreihe. Ich weiß nicht, was man dir erzählt hat, aber wir haben einen Nachweis, der deutlich macht, wem der Affe gehört. Ich lasse dich das gerne selbst nachschauen. Du bist noch jung, also rate ich dir, immer auch den Papierkram zu erledigen, um dich abzusichern.«

»Das hat sie gerade nicht gesagt«, kommentierte Leon mit leiser Flüsterstimme.

Im Alter von einundzwanzig Jahren waren die meisten der mir ebenbürtigen magisch Begabten entweder an der Uni, arbeiteten für ihr Haus oder genossen den Luxus des sorgenfreien Lebensstils, den ihnen die herausragende Magie ihrer Familien ermöglichte. Unterschätzt zu werden war für mich in der Regel von Vorteil, aber wir hatten schon seit Tagen nach diesem Affen gesucht. Mir war warm, ich war müde, ich hatte Hunger, und meine Geduld war schon lange kein Faden mehr, der noch hätte reißen können. Außerdem hatte sie mich damit beleidigt, meinen Papierkram nicht zu beherrschen. Ich war Papierkram in Person.

»Dies hier ist ein Hilfsäffchen, ein erstklassig ausgebildetes Therapietier, das dazu befähigt ist, Menschen mit Rückgratverletzungen zu helfen. Sie wurde auf dem Weg zu einem Arztbesuch ihrer rechtmäßigen Besitzerin gestohlen und Ihrem Klienten illegal verkauft. Ich habe ihren Stammbaum, ihren Impfpass, ärztliche Unterlagen, das Zertifikat der gemeinnützigen Organisation ›Nase und Pfote für Menschen‹, die sie trainiert hat, die beeidete Aussage ihres Besitzers, eine Kopie des Polizeiberichts und ihr DNA-Profil. Außerdem bin ich kein nettes Mädchen. Ich bin die Herrin meines Hauses, die Diebesgut der rechtmäßigen Besitzerin wieder zuführt. Behindern Sie mich nicht noch einmal.«

Zu meiner Linken runzelte Cornelius die Stirn. »Könnten wir das ein wenig beschleunigen? Rosebud steht unter ziemlich viel Stress.

»Ihr habt den Tiermagier gehört«, warf Leon ein. »Wollen wir nicht alle nur das Beste für diesen gestressten Affen?«

Der kleinere der Kerle betrachtete uns misstrauisch. »Herrin des Hauses, hm? Woher willst du überhaupt wissen, dass das derselbe Affe ist?«

Wie viele goldene Löwenäffchen sollten seiner Meinung nach denn im Eleanor-Tinsley-Park rumrennen? »Rosebud, sing für uns.«

Das Affenweibchen hob sein süßes Köpfchen, öffnete sein Maul und trällerte wie ein kleines Vögelchen.

Die drei Mitarbeiter von MII starrten sie an. Noch gibt es Hoffnung für Logik und Verstand …

»Das beweist überhaupt nichts«, stellte die Frau fest.

Wie es so oft bei unserer Spezies vorkam, wurden logische Schlussfolgerungen für das unwiderstehliche Verlangen, immer recht haben zu müssen, einfach über den Haufen geworfen, ungeachtet aller Tatsachen und Folgen.

»Darf ich jetzt?«, fragte Leon. »Darf ich einen töten? Nur einen. Bitte.«

Leon überlegte es sich immer sehr gut, ob er Leute erschießen sollte, aber die MII-Agenten hatten ihre Waffen in meiner und Cornelius’ Nähe gezogen, was seinen Beschützerinstinkt auf den Plan rief. Wenn sie ihre Waffen noch fünf Zentimeter höher bewegten, würden sie sterben, und mein Cousin bemühte sich gerade, sie mit dem beknacktesten Ich-bin-total-durchgeknallt-Gequatsche davon abzuhalten.

Leon wackelte fragend mit den Augenbrauen.

»Nein«, sagte ich zu ihm.

»Ich habe doch bitte gesagt. Wie wäre es mit den Kniescheiben? Ich kann sie in die Kniescheiben schießen, davon sterben die nicht. Es wird sie nicht freuen, aber sie werden nicht sterben.«

»Nein.« Ich wandte mich Cornelius zu. »Gibt es eine Möglichkeit, sie zu uns zu holen, ohne ihnen Schaden zuzufügen?«

Er lächelte und hob den Blick gen Himmel.

Cornelius Maddox Harrison wirkte nicht sonderlich bedrohlich. Er war einunddreißig Jahre alt, von normaler Statur, wenn auch ein wenig klein geraten. Seine dunkelblonden Haare ließ er sich von einem professionellen Hairstylisten kurz, aber schmeichelhaft schneiden. Er war attraktiv, immer makellos rasiert, und seine blauen Augen wirkten zwar ein wenig kühl, brachten aber immer Ruhe und Besonnenheit zum Ausdruck. Die drei MII-Agenten sahen ihn sich einen Augenblick an und kamen angesichts einer hellen Kakihose und eines weißen Anzughemds mit aufgerollten Ärmeln zu dem Schluss, dass sie sich seinetwegen keine Sorgen zu machen brauchten. Leon, der neben ihm stand, mit dunklen Haaren, schlank und sonnengebräunt, wirkte nicht nur gefährlicher, sondern sprach auch pausenlos Drohungen aus. Sie hielten ihn also für das größere Risiko.

»Das war ja alles ganz lustig«, sagte der ältere MII-Agent. »Aber die Zeit zum Spielen ist jetzt vorbei, und wir müssen uns um unseren Job kümmern.«

Ein rotbrauner Bussard stieß aus dem Himmel herab, schnappte sich das Äffchen vom Laternenpfahl, flog über die Agenten hinweg und ließ Rosebud in Cornelius’ wartende Hände fallen. Der Affe huschte Cornelius’ Arm hinauf auf seine Schultern, umklammerte seinen Hals und trällerte ihm ins Ohr. Der Rotschwanzbussard flog auf unserer linken Seite vorbei und ließ sich auf dem Ast einer Myrte nieder, die neben dem Fußweg aus dem Boden wuchs.

»Verdammte Scheiße«, sagte die Frau.

»Sie können das gerne Augustin mitteilen«, sagte ich zu ihnen. »Er hat meine Nummer.«

Und sollte er mit dieser Sache ein Problem haben, würde ich das schon mit ihm regeln. Unsere Beziehung zu Augustin Montgomery war eine komplizierte Angelegenheit. Ich hatte ihn mit demselben Aufwand studiert, mit dem ich mich komplexen Gleichungen widmete. Wenn er also jemals eine Gefahr darstellen würde, konnte ich ihn ausschalten.

Der ältere Mann starrte uns missbilligend an. Seine Waffe hob sich zwei Zentimeter. »Was glaubt ihr denn, wo ihr hingeht?«

Ich setzte die Miene einer Hochbegabten auf. »Leon, wenn er uns ins Visier nimmt, schießt du ihn zum Krüppel.«

Auf Leons Gesicht breitete sich ein weiches, verträumtes Lächeln aus.

Menschen, die in einem gewalttätigen Umfeld arbeiteten, lernten schnell, Berufskollegen zu erkennen. Die MII-Agenten waren gut ausgebildet und besaßen viel Erfahrung, denn Augustin rühmte sich der höchsten Qualitätsstandards. Sie sahen meinem Cousin in die Augen und wussten, dass Leon zu allem bereit war. In seinem Blick lagen weder Angst noch Sorge. Er genoss, was er tat, und wenn er die Erlaubnis erhielt, würde er keinen Augenblick zögern.

Dann sahen sie mich an. In den letzten sechs Monaten hatte ich die Fähigkeit, mich in die Meisterin des Hauses zu verwandeln, perfektioniert. Mein Blick machte ihnen klar, dass mir ihre Leben oder ihr Überleben völlig egal waren. Sollten sie sich als Hindernis erweisen, würde ich sie aus dem Weg räumen lassen. Es war egal, was ich trug, wie alt ich war oder welche Worte ich aussprach. Mein Blick würde ihnen in aller Deutlichkeit klarmachen, in welcher Situation sie sich befanden.

Die angespannte Stille dehnte sich aus.

Die Frau zückte ihr Handy, wandte sich ab und tippte eine Nummer ein. Die beiden Männer senkten ihre Waffen.

Oh wie schön! Wir würden alle unverletzt nach Hause kommen.

Augustins Leute marschierten Richtung Fluss, der kleinere Mann vorneweg, und bogen dann nach rechts ab zu dem kleinen Parkplatz, auf dem ich Rhino abgestellt hatte, den von meiner Oma Frida extra für mich angefertigten gepanzerten SUV. Sie hielten deutlich Abstand zu uns. Wir sahen ihnen hinterher. Es gab keinen Grund, ein weiteres Aufeinandertreffen auf dem Parkplatz zu erzwingen.

Wir hatten seit fünf Tagen rund um die Uhr nach Rosebud gesucht, ab dem Augenblick, an dem Cornelius den Fall übernommen hatte. Ihre Besitzerin, ein zwölf Jahre altes Mädchen, hatte der Diebstahl so traumatisiert, dass man ihr Beruhigungsmittel hatte verabreichen müssen. Diesen kleinen Affen zu finden hatte unsere Fallbelastung noch um einiges erhöht. Wir hatten diese Aufgabe pro bono übernommen, denn einem Kind im Rollstuhl sein Therapietier wegzunehmen, war ein abscheuliches Verbrechen, und irgendjemand musste das in Ordnung bringen.

Houston in glühender Hitze zu durchstöbern, um einen winzigen Affen zu finden, bedeutete einen riesigen Aufwand. Ich hatte in den letzten beiden Tagen vielleicht fünf Stunden Schlaf bekommen, aber es war jeden einzelnen Schweißtropfen wert, damit Maya ihr Äffchen wieder umarmen konnte. Dieser Montag schien ein guter Tag zu werden.

Cornelius lächelte erneut. »Ich liebe Happy Ends über alles.«

»Für dich war das vielleicht ein Happy End«, knurrte Leon. »Ich durfte niemanden erschießen.«

Erst würden wir Rosebud bei Maya abliefern, und dann würde ich nach Hause fahren, ausgiebig duschen und ein langes, erfreuliches Nickerchen einlegen.

Cornelius schüttelte den Kopf. »Dein Vertrauen in Gewalt ist recht verstörend. Was passiert, wenn du mal jemandem begegnest, der schneller ist?«

Mein Cousin dachte darüber nach. »Dann bin ich tot, und dann ist es doch auch egal?«

Talon erhob sich plötzlich mit einem Kreischen in die Lüfte und flog hinüber zum Buffalo Bayou River. Leon und Cornelius blieben zeitgleich stehen. Cornelius runzelte die Stirn und betrachtete das trübe Wasser links neben einem großen Baum.

Direkt vor uns zog sich ein schmaler Streifen frisch gemähten Rasens am Bürgersteig entlang. Hinter dem Rasen fiel der Boden steil ab, verdeckt von hohem Unkraut bis hin zum Fluss, der sich in der Ferne bis zur Memorial-Parkway-Brücke erstreckte.

Der Fluss wirkte friedlich. Nicht ein einziges Kräuseln störte seine Oberfläche.

Ich warf Leon einen Blick zu. Vor einer Sekunde noch waren seine Hände leer gewesen. Nun hielt er eine SIG Sauer P226 in der einen und eine Glock 17 in der anderen Hand, was ihm zweiunddreißig Neun-Millimeter-Kugeln bot. Er brauchte nur eine Kugel, um ein Ziel auszuschalten.

»Was ist los?«, fragte ich leise.

»Ich weiß es nicht«, sagte Leon.

»Der Bussard hat Angst«, sagte Cornelius.

Die Wasseroberfläche des Flusses war immer noch ungetrübt und reflektierte sacht schimmernd das Sonnenlicht.

Cornelius’ Augen schienen noch weiter in die Ferne zu blicken. »Da kommt etwas«, flüsterte er.

Wir hatten keinen Grund, hierzubleiben und darauf zu warten. »Dann los!«

Ich bog nach rechts ab und rannte in Richtung unserer Fahrzeuge. Leon und Cornelius folgten mir.

Vor mir hatte der kleinere der MII-Agenten den Parkplatz fast erreicht. Die Frau folgte ihm in geringem Abstand, während der größere Mann die Nachhut bildete.

Eine grüne Gestalt brach aus dem Unkraut hervor. Sie war etwa zweieinhalb Meter lang und einen Meter zwanzig hoch und zog sich auf zwei großen, muskulösen Beinen vorwärts. Seinen langen schuppigen Schwanz zierten leuchtend karmesinrote Flossen. Eine weitere Finne erhob sich direkt aus seinem Rückgrat, diese aber blutrot und mit dreißig Zentimeter langen Stacheln überzogen. Sein Schädel hätte einem im Wasser lebenden Saurier gehören können oder einem prähistorischen Krokodil – ein riesiges, kneiferartiges Maul, das sich wie eine riesige Schere mit kegelförmigen Fangzähnen öffnete, dann seine Beute packen und sie wild zappelnd unter Wasser ziehen würde. Zwei tief im Schädel liegende, violett glühende Augen starrten mir entgegen.

Das sah nach nichts aus, was unser Planet jemals hervorgebracht hatte. Entweder handelte es sich um ein magisches Experiment, das verdammt schiefgegangen war, oder jemand hatte es aus dem Reich des Arkanen heraufbeschworen.

Dafür brauchten wir größere Kaliber.

Das Monster eilte über den Rasen. Der größere MII-Agent befand sich mitten in seinem Weg.

»Lauft!«, brüllten Leon und ich gleichzeitig.

Der Mann wirbelte herum. Eine panische halbe Sekunde lang war er wie erstarrt, dann riss er seine Waffe hoch und feuerte auf die Kreatur. Die Kugeln prallten an den dicken Schuppen des Monsters einfach ab.

Die beiden anderen MII-Agenten drehten sich ebenso um und eröffneten das Feuer. Ich rannte zu Rhino, in dem sich eine Pumpgun befand. Leon eilte mir hinterher und versuchte einen besseren Schusswinkel auf die Kreatur zu bekommen. Cornelius folgte mir ebenfalls.

Augustins Leute feuerten ihre gesamte Munition auf das Monster ab. Es pflügte einfach durch sie hindurch und schleuderte sie zur Seite. An seinen Seiten war lila Blut zu sehen, aber die Wunden bluteten kaum, als ob die Kugeln den Schuppen einfach nur ein paar Kratzer zugefügt hätten.

Die Augen des Monsters richteten sich auf mich. Es ignorierte die Agenten und wuchtete sich in meine Richtung. Zwei riesige Tatzen mit roten Krallen durchfurchten den Boden.

Leon feuerte jeweils zwei Kugeln aus beiden Waffen ab. Wo eben noch die Knopfaugen der Kreatur gewesen waren, befanden sich nun vier blutige Löcher. Sie brüllte auf, stolperte und krachte zu Boden.

Ich blieb stehen. Cornelius rannte an mir vorbei zum Parkplatz.

Die MII-Agentin stand langsam auf. Ihr groß gewachsener Freund starrte auf den hellroten Riss in seinem nackten Oberschenkel. Sein linkes Hosenbein hing in blutigen Fetzen um sein Fußgelenk. Er verlagerte sein Gewicht. Blut schoss aus seiner Wunde, und ich konnte einen kurzen Blick auf den Knochen erhaschen. Der Agent starrte die Wunde mit großen Augen an, offensichtlich unter Schock.

»Heilige Scheiße«, fluchte der kleinere MII-Agent und rammte ein neues Magazin in seine HK45.

Am Rande des Parkplatzes wirbelte Cornelius herum und winkte mit den Armen in Richtung Fluss. »Bleibt nicht stehen! Da sind noch mehr! Sie kommen!«

Grüne Monster ergossen sich durch das Unkraut, eine Masse schuppenbewehrter Körper, mit Flossen versehener Schwänze und fangzahnbestückter Mäuler, und in der Mitte dieses Rudels, verborgen unter den Kreaturen, pulsierte ein Magieknotenpunkt wie ein unsichtbares Leuchtfeuer. Die Magie dieses Knotenpunkts breitete sich aus, berührte mich und zerschellte an meiner eigenen Kraft, wie eine Welle an einem Brecher. Unzählige lilafarbene Augen richteten ihren Blick auf mich.

Das Rudel drehte sich in meine Richtung und stürmte auf mich zu.

Was immer auch die Magie inmitten des Rudels abgab, es kontrollierte das Rudel. Hätte ich eine Sekunde Zeit gehabt, dann hätte ich es mit meiner eigenen Magie bekämpft, aber die es umgebenden Körper bildeten eine zu dicke Schutzschicht, und sie kamen zu schnell auf mich zu.

Ich drehte mich um und rannte zu Rhino. Die Magie dieses Dings folgte mir und pingte meinen Verstand an wie ein Radarsignal. Ich musste nicht zurückschauen, um zu wissen, dass mich das gesamte Rudel jagte.

Vor mir zerrte Cornelius die Fernsteuerung seines Wagens aus seiner Tasche. Die Scheinwerfer seines BMW-Hybriden leuchteten auf. Die Heckklappe öffnete sich, und ein riesiges blaues Monstrum sprang hervor, ein Tiger auf Steroiden mit glänzendem indigoblauem Pelz, der mit schwarzen und hellblauen Rosetten überzogen war.

Zeus landete auf dem Boden, brüllte laut, was Fangzähne von der Größe eines Steakmessers entblößte, und stürmte quer über den Parkplatz. Der Kranz aus Tentakeln um seinen Hals öffnete sich schlagartig, und jede einzelne von ihnen wand und drehte sich. Wir rannten aneinander vorbei, er in Richtung der Monster und ich in die andere Richtung, direkt auf Rhino zu.

Hinter mir waren Schüsse zu hören wie explodierende Böller – Leon dünnte die Reihen der Monster aus. Doch er würde nicht genügend Kugeln haben angesichts so vieler Ziele.

Ich sprang in den Wagen, trat auf die Bremse und drückte den Anlasser. Der Motor meldete sich mit tiefem Röhren. Cornelius riss die Beifahrertür auf und warf sich auf seinen Sitz. Ich trat aufs Gas. Rhinos speziell angefertigter Motor kam in Wallung. Wir schossen nach vorne und sprangen über die Bürgersteigkante auf den Rasen.

Der Bereich vor uns war mit Leichen übersät. Eine Spur schuppiger Kadaver erstreckte sich vor uns nach links bis zum Allen Parkway, wo sie am Bordstein einen Haufen bildeten. Von der anderen Straßenseite aus jagte Leon den Monstern systematisch Kugeln in den Kopf und nutzte den vorbeifahrenden Verkehr zu seinem Schutz. Zeus stand knurrend neben ihm. Die Leiche eines der Schuppenmonster lag in seiner Nähe, und Zeus schlug ihm die Krallen in die Seite, nur um seine Ansichten deutlich zu machen.

Zu unserer Rechten hatten die Agentin und ihr Anführer ihre Arme unter die Schultern des verletzten Mannes gebracht und stolperten mit ihm in Richtung Parkplatz.

Er hing bewegungslos zwischen ihnen, und sein blutendes Bein schleifte über den Boden. Die vordersten Monster zu unserer Linken schnappten nur wenige Meter hinter ihnen vorfreudig nach ihrer Beute.

Wenn ich es verhindern konnte, würden heute keine Leute mehr von diesen Dingern zerrissen.

Ich lenkte den Wagen in einem scharfen Winkel nach rechts und schnitt den Kreaturen damit den Weg zu den MII-Agenten ab. Der extrem schwere Rumpf Rhinos krachte mit einem saftigen Schmatzen gegen das erste Wesen. Der gepanzerte Wagen schwankte kurz zur Seite, während wir über einen Kadaver rollten. Wir durchbrachen den Rand des Rudels und waren wieder im Freien. Ich drückte aufs Gas und raste über die Rasenfläche. Hinter mir gerieten die Wesen in ein Durcheinander, als sie umzukehren und uns zu folgen versuchten. Einen Augenblick lang löste sich die dicht zusammenhängende Meute auf. Etwas drehte sich in ihrer Mitte, etwas Metallenes, rund und glühend. Der seltsame magische Knoten.

»Kannst du es sehen?«

»Ich sehe es.« Cornelius zog die Pumpgun unter dem Sitz hervor und lud sie durch.

»Kannst du mit ihrem Verstand in Kontakt treten?«

»Nein. Sie sind zu beschäftigt.«

Ihn zu fragen, was das wieder zu bedeuten hatte, würde ihn nur ablenken. Ich riss das Steuer nach links herum, schnitt quer durch das frühere Ende der Meute und schleuderte die Nachzügler aus dem Weg.

»Bereit«, sagte Cornelius mit ruhiger Stimme.

Ich drückte den Knopf, um die vorderen Fenster herunterfahren zu lassen, und steuerte quer durch die Kreaturen nach links. Das sich drehende Ding befand sich nun zu unserer Rechten und zog enge Kreise auf dem Rasen. Cornelius schob den Lauf der Pumpgun aus dem Fenster und feuerte auf das metallene Objekt.

PENG!

Meine Ohren klingelten.

PENG!

»Noch einmal«, sagte Cornelius in dem Tonfall, in dem er sich eine weitere Tasse Tee bestellte.

Wir rasten am Rudel vorbei, rammten frontal ein weiteres Monster, und dann steuerte ich nach rechts, brauste mit einem Sprung über den Bürgersteig und fuhr auf den Parkplatz. Vor uns schoss das MII-Fahrzeug, ein silberfarbener Jeep Grand Cherokee, mit quietschenden Reifen auf den Allen Parkway. Der Gestank verbrannten Gummis wehte in unseren Innenraum.

»Gern geschehen«, rief Cornelius ihnen hinterher und lud die Waffe nach.

Ich bog erneut scharf nach rechts ab auf den Parkway. Das Monsterrudel strömte rechts an uns vorbei.

PENG!

PENG!

»Hab es nicht erwischt«, sagte Cornelius. »Die Munition ist am Metall abgeprallt. In dieser drehenden Hülle befindet sich etwas Lebendiges.«

»Ein Tier?«

»Nicht wirklich.«

Wenn es lebte, dann konnte ich es auch töten.

Wir konnten diese Monster lange genug umkreisen, bis sie müde wurden und wir uns Leon und Zeus schnappen konnten, um wegzufahren. Aber dann würden diese Wesen durch Houston wüten. Keine vierhundert Meter entfernt spielten an der Straße ein paar Kinder Baseball. Wir waren an ihnen und den Erwachsenen, die ihnen zuschauten, auf unserem Weg zu Rosebud vorbeigekommen.

Rosebud!

»Wo ist das Äffchen?«

»Sicher im BMW.«

Oh, gut. Gut, gut, gut.

Ich legte eine Hundertachtzig-Grad-Wendung hin und raste die Straße entlang auf den Parkplatz zu. Die Monster krochen wie wild hinter uns her. Die Lücke zwischen ihren Körpern erweiterte sich auf einige Meter, und ich konnte die Quelle ihrer Magie deutlich erkennen. Zwei Metallringe, die sich wie ein Kreiselinstrument ineinander gelagert drehten. Zwischen ihnen schwebte ein kleiner, blau glühender Punkt.

Wir kamen an Leon vorbei. Er deutete mit seiner SIG auf das glühende Ding und tat so, als ob er die beiden Waffen in seinen Händen zusammenschlüge. Rammt das Ding! Vielen Dank, Meisterstratege, ich habe verstanden. Das Ding hatte den Fluss überstanden. Wenn ich es mit Rhino rammte, prallte es vielleicht einfach nur zur Seite, und wenn es sich um etwas Arkanes handelte, dann war nicht abzusehen, welchen Schaden es am Wagen anrichten würde. Nein, hier mussten wir mit Präzision vorgehen.

»Rapier?«, fragte ich.

»Einen Augenblick.« Cornelius drehte sich um und legte den Hebel auf der Konsole zwischen unseren Sitzen um. Die meisten SUVs hatten zwei Vordersitze und eine breite Rückbank, auf der drei Personen Platz nehmen konnten. Rhinos Rückbank war zweigeteilt und enthielt einen Stauraum, der auf seiner gesamten Länge zwei Fächer verbarg. Die Fächer klappten auf, und ein Waffenregal fuhr hoch, auf dem zwei Klingen und zwei Feuerwaffen an Haken gesichert waren.

Ich legte eine weitere Kehrtwendung hin. Ein weißer Lkw kam mit quietschenden Reifen vor uns zum Stehen. Der Fahrer drückte auf die Hupe, bemerkte die Monster und fuhr dann in einem Affenzahn rückwärts.

»Hab es.« Cornelius drehte sich wieder zu mir um, mein Rapier in seinen Händen.

Ich steuerte Rhino in Richtung des Kreiselinstruments. Körper knallten gegen den Wagen.

»Das ist töricht«, warf Cornelius ein. »Was, wenn das Ding explodiert?«

»Dann bin ich tot, und dann es ist doch auch egal«, zitierte ich meinen Cousin.

»Sich Leon als Vorbild zu nehmen ist eine bedenkliche Überlebensstrategie.«

Ich stieg auf die Bremse. Rhino rutschte quer über den Rasen und blieb mit einem Ruck stehen. Ich schnappte mir das Rapier von Cornelius und sprang aus unserem SUV. Keine zwanzig Meter von mir entfernt drehte sich das Ding. Ich rannte darauf zu.

Ein Monster stürzte sich auf mich. Ich wich ihm mit einem Sprung aus und lief weiter.

Hinter mir erwachte Rhino mit lautem Röhren zum Leben, denn Cornelius versuchte die Monster damit abzulenken.

Die Luft in meinen Lungen begann zu brennen. Ich wich einem weiteren Monster aus …

Noch zehn Meter.

Das schillernde Objekt warf mir seine Magie entgegen.

Sechs Meter noch.

Drei.

Die Metallringe wirbelten vor meinen Augen, etwa dreißig Zentimeter breit, und waren mit Schleim und Algen überzogen. In seinem Inneren glühte eine Blume, ein leuchtend blauer Lotus, der aus reiner Magie bestand und kurz vor der Blüte stand.

Die Magie meiner Familie floss durch meine Adern und lenkte meine Bewegung. Ich stieß zu.

Die Blüte zerbarst und entsandte eine funkelnde Wolke in die Luft. Das Glühen verschwand. Die Ringe drehten sich ein letztes Mal und fielen zu Boden.

Die Monster um mich herum erstarrten.

Einen quälenden Augenblick lang regte sich niemand.

Die Monster glotzten mich einfach nur an. Ich erwiderte ihren Blick.

Dann drehte sich das Rudel wie ein Mann um und floh in Richtung Fluss

Es war vorbei.

Eine tonnenschwere Last fiel von meinen Schultern. Ein regelmäßiges, rhythmisches Geräusch machte sich bemerkbar, und mir wurde klar, dass es mein wild schlagendes Herz war. Meine Knie zitterten. Ein bitterer, metallischer Geschmack lag auf meiner Zunge. Mein Körper wusste nicht, ob ihm warm oder kalt war. Die Welt fühlte sich seltsam an, als ob ich vergiftet worden wäre.

Die Überreste des Apparats lagen direkt vor mir. Ich versuchte einen Schritt nach vorn zu machen. Mein Bein gab unter mir nach, der Boden zu meinen Füßen entschied sich, sich spontan zur Seite zu neigen, und ich hätte mich auf einem völlig ebenen Rasen beinahe auf die Nase gelegt. Zu viel Adrenalin. Es gab nichts zu tun, außer abzuwarten, bis es sich aufgelöst hatte. Einige Leute waren für den Nahkampf geradezu geboren. Ich gehörte nicht dazu.

In der Regel half es mir, wenn ich mich auf etwas konzentrierte und damit ablenkte. Ich kniete mich hin und sah mir die Metallringe genauer an. Das Metall wirkte nicht wirklich wie Stahl, aber es konnte durchaus eine Eisenlegierung sein. An der Außenseite jedes Rings zogen sich eine Reihe Symbole entlang.

Ich holte mein Handy aus meiner Tasche und machte ein Foto davon.

Die Ringe passten ineinander, wobei der innere etwa zehn Zentimeter schmaler war als der größere. Der Blumenstängel war unten am inneren Ring angebracht. Nein, nicht angebracht. Er wuchs nahtlos aus dem inneren Ring hervor, aus dem Metall.

Wie war das möglich?

Ich nahm den Ring hoch und zog am Stängel. Er blieb hängen. Ich glitt mit den Fingern an der Blume entlang. In der Nähe der Stelle, wo ich die Blüte abgeschlagen hatte, fühlte sich die Oberfläche wie bei einer normalen Pflanze an. Doch je tiefer ich mit den Fingern glitt, umso metallischer wurde die Oberfläche. Eine echte biomechanische Verschmelzung. Meines Wissens hatte dies noch kein Magier geschafft.

Rhino kam neben mir zum Stehen, und Cornelius sprang heraus. Hellviolette Blutspritzer waren über den speziell angefertigten Kühlergrill des gepanzerten Fahrzeugs verteilt. Vom Metall hingen Fetzen und Stücke fremdartigen Fleischs herab.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Cornelius.

Nein. »Ja. Es tut mir leid«, sagte ich zu ihm. »Ich weiß, dass dies für dich sehr unangenehm war.«

Tiermagier gingen mit nur wenigen Tieren eine ganz besondere Bindung ein, aber sie sorgten sich um sie alle. Wir hatten gerade mindestens ein Dutzend niedergemäht, wenn nicht sogar mehr.

Cornelius nickte. »Ich danke dir für deine Rücksichtnahme. Sie waren aber keine echten Tiere im ursprünglichen Sinne des Wortes. Das hat ein wenig geholfen.«

»War das eine Beschwörung?«, fragte ich.

Cornelius schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Sie haben sich ein wenig wie Zeus angefühlt. Nicht von der Erde, aber auch nicht wirklich aus dem Reich des Arkanen.«

»Eben hast du gesagt, sie wären zu ›beschäftigt‹, als dass du sie erreichen könntest?«

Cornelius runzelte die Stirn und nickte in Richtung der Ringe und der darin befindlichen Blüte. »Dieses Objekt hat Magie verströmt.«

»Ich habe sie gespürt.«

»Der Ausstoß war so hoch, dass er diese Wesen praktisch betäubt hat. Sie konnten mich nicht spüren. Ich habe versucht, mit dem Objekt selbst Kontakt herzustellen, doch die biologische Komponente ist so primitiv, es fühlte sich an, als ob ich mit einem Schwamm zu kommunizieren versuchte.«

Es schien immer wahrscheinlicher, dass wir es mit dem Ergebnis eines Hauslaborversuchs zu tun gehabt hatten. Wenn die Proto-Krokodile dem Reich des Arkanen entsprungen wären, dann hätten wir einen Beschwörer und ein Portal sehen müssen. Riesige Löcher in der Realität ließen sich nur schwer übersehen.

Linus würde es lieben.

Ich zog mein eigenes Smartphone hervor und rief bei ihm an. Es klingelte, einmal, zweimal, dreimal …

Am anderen Ende der Rasenfläche lief Leon quer über die Straße, gefolgt von Zeus.

Das Handy klingelte weiter. Offiziell war Linus Duncan Rentner. Tatsächlich diente er dem Staate Texas in einer neuen, wesentlich furchterregenderen Funktion, und ich war seine Stellvertreterin. Er ging immer ans Telefon, wenn ich anrief.

Ein weiteres Klingeln. Noch eins.

Endlich nahm Linus den Anruf an. »Ja?«

»Ich bin von magischen Monstern im Eleanor-Tinsley-Park angegriffen worden. Sie wurden durch einen biomechanischen Apparat gesteuert, der mit Magie betrieben wurde.«

Leon erreichte uns und blieb neben mir stehen.

»Brauchst du Unterstützung?«, fragte Linus.

»Jetzt nicht mehr.«

»Zeig es mir.«

Ich schaltete auf Videoanruf um, wechselte auf die Rückkamera und schwenkte mein Handy, sodass der Apparat im Bild war, die Leichen und die fliehenden Kreaturen. Auf meinem Bildschirm war zu sehen, wie Linus auf sein Handy starrte. Er war zwar in den Sechzigern, aber immer noch fit, hatte dichtes grau meliertes Haar und diese typisch texanische Sonnenbräune. Er hatte gut aussehende Gesichtszüge, ein kantiges Kinn und einen sauber gestutzten, kurzen Bart, eine markante Nase, dichte dunkle Brauen und Augen, die je nach Lichteinfall grün oder braun wirkten. Er lächelte gerne, und wenn er einem Menschen seine Aufmerksamkeit schenkte, fühlte man sich als etwas Besonderes. Wenn man zehn Leute fragte, die ihn gerade erst kennengelernt hatten, wie sie ihn beschreiben würden, würden sie alle mit demselben Wort antworten – charmant.

Der Mann, der mir vom Bildschirm meines Handys entgegenblickte, war der echte Linus Duncan, ein Hochbegabter, ehemaliger Sprecher der texanischen Kongregation – intelligent, konzentriert, gnadenlos. Er wirkte wie ein alter Tiger, der einen Eindringling entdeckt hatte und seine Krallen schärfte, um diesen zu erledigen. Aus dem Handy ertönte das Stakkato lauter Schüsse, gefolgt von einem mechanischen Quietschen. Linus’ Geschütztürme. Er wurde angegriffen.

Wer in aller Welt würde Linus Duncan in seinem eigenen Zuhause angreifen? Der Mann war ein hochbegabter Hephaistos. Er konnte aus alten Büroklammern und Klebeband tödliche Waffen erschaffen, und er verfügte in seinem Haus über genügend Feuerkraft, um ein Bataillon Elitesoldaten in wenigen Minuten auszulöschen.

Sie griffen mich und Linus gleichzeitig an. Dieser Gedanke brannte sich wie ein flammender Komet in meinen Verstand. Griff tatsächlich jemand das Amt des Wächters an?

»Rückzug«, sagte Linus. »Gehe sofort zu MII und übernimm den Fall Morton. Nutze deine Dienstmarke. Befehl wiederholen.«

»Gehe sofort zu MII, zeige die Dienstmarke, übernimm den Fall Morton.«

Normalerweise setzte Linus mich auf einen Fall an, nachdem er die Zuständigkeiten bereits geklärt hatte. In den letzten sechs Monaten hatte ich meine Dienstmarke exakt ein einziges Mal vorzeigen müssen, bei der Übernahme eines FBI-Falls. Dass die Bundesbeamten damit sehr unzufrieden waren, wäre eine schreckliche Untertreibung gewesen.

»Ich schicke dir die Unterlagen.« Linus legte auf.

»Das war Geschützturmfeuer«, sagte Leon.

»Auf jeden Fall.«

Mein Cousin grinste, weil er sich ohne Zweifel auf einen weiteren Kampf freute. »Was machen wir jetzt?«

»Du fährst mich zu MII.«

»Ich werde euch folgen.« Cornelius rannte zum Parkplatz, Zeus im Schlepptau, der ihm wie ein überschwänglich gut gelauntes Kätzchen hinterherhüpfte.

Ich schnappte mir den Apparat. Schlamm und Schleim machten die Metallringe glitschig. Ich kehrte zu Rhino zurück, warf das Ding in eine Kiste im Kofferraum und setzte mich schwungvoll auf den Beifahrersitz.

In der Ferne heulten Polizeisirenen auf und kamen schnell näher.

Leon setzte auf die Straße hinaus. Ich sah im Rückspiegel, wie auch Cornelius’ BMW vom Parkplatz herunterfuhr. Wir würden ihn wahrscheinlich schon bald aus dem Blickfeld verlieren. Cornelius’ Tempo betrug in der Regel nicht mehr als fünf Kilometer über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. MII würden wir normalerweise in etwa dreißig Minuten erreichen, aber so wie ich Leon kannte, würden wir dort wesentlich schneller ankommen, wenn der Verkehr uns keinen Strich durch die Rechnung machte.

»Bernard anrufen.«

Mein Cousin ging beim zweiten Klingeln dran, und seine Stimme ertönte aus Rhinos Lautsprechern, da sich das Handy mit dem Autocomputer verbunden hatte.

»Ich wurde gerade von einigen magischen Monstern angegriffen. Linus ebenso.«

»War er bei dir?«

»Nein. Er war in seinem Landsitz. Sofort alles abriegeln, bitte.«

»Erledigt. Braucht ihr Hilfe?«

»Nein. Ist bei euch alles in Ordnung?«

»Alles ist in Ordnung.«

»Mir geht es auch gut, Bernard!«, brüllte Leon.

»Darüber lässt sich streiten«, erwiderte sein älterer Bruder.

»Ich rufe dich gleich wieder an«, sagte ich zu ihm und beendete das Gespräch.

Mein Handy vermeldete mit einem Klingeln eine neue E-Mail, und ich rief mein Nachrichtenfach auf: eine Mail von Linus, an die ein Video angehängt war. Die Datei war gigantisch. Linus hatte das Video nicht optimieren lassen. Ich tippte auf den Download-Button. Das würde eine Zeit lang dauern.

»Ich würde gerne mal was klären. Linus wird angegriffen. Du fragst ihn nicht, ob er Hilfe braucht. Stattdessen lässt du alles stehen und liegen und fährst zu MII und übernimmst einen Fall, von dem du noch nie zuvor gehört hast.« Leon schüttelte den Kopf.

»Ja. Wenn Linus meine Hilfe braucht, würde er das sagen.« Der Fall Morton musste wahrscheinlich irgendwie mit den Angriffen zusammenhängen.

»Eines Tages wirst du mir erklären müssen, was du für Linus Duncan machst«, sagte Leon.

»Aber dann müsste ich dich töten, und wie du ständig betonst, bist du mein Lieblingscousin.«

Leon lachte schnaubend.

Die meisten Mitglieder meiner Familie hatten kein Problem mit Geheimhaltung. Oma Frida und Mom hatten beide gedient, Bernard behielt von Natur aus Sachen für sich, und Nevada war eine Wahrheitssucherin. Sie hätte ihren und Rogans Landsitz bis zur Decke mit den Geheimnissen anderer Menschen füllen können und behielt sie dennoch für sich. Aber Leon und Arabella lebten für Klatsch. Sie wussten, dass ich vertraulich für Linus Duncan arbeitete, aber sie hatten keine Ahnung, was genau ich machte – und diese Tatsache trieb sie in den Wahnsinn.

Ich wählte Augustins Nummer. Der Anrufbeantworter. Den Chef von MII kurzfristig zu erwischen könnte sich als Problem erweisen. Er war beschäftigt. Aber wie auch Leon und Arabella liebte er es, Informationen zu sammeln – je exklusiver, desto besser. Ich musste mit einem Köder, den er nicht ganz schnappen konnte, vor seiner Nase herumwedeln.

»Hier spricht Catalina Baylor. Ich habe wichtige Informationen zum Fall Morton. Ich muss Sie persönlich sprechen. Ich bin in zwanzig Minuten in Ihrem Büro.«

Ich legte auf.

»Wer ist Morton?«, fragte Leon und fuhr ein wenig zu schnell in die nächste Kurve.

»Wahrscheinlich Lander Morton. Ein hochbegabter Geokinet, sehr alt, sehr reich, einer der erfolgreichsten Bauunternehmer im Staat.«

»Woher weißt du das?«

Ich wusste das, weil ich immer meine Hausaufgaben erledigte. Linus Duncan hatte eine sehr lange und erlebnisreiche Karriere hinter sich gebracht, und er machte sich keine Mühe, die enge Verbindung zwischen unseren beiden Häusern zu leugnen. Ich war mir nicht sicher, ob wir seine Freunde erben würden, aber mit absoluter Sicherheit all seine Feinde. Deswegen hatte ich eine biografische Datenbank rund um Linus aufgebaut, mit Tabellen, die seine Beziehung zu verschiedenen Häusern darstellten.

»Nachdem Linus aus der Armee ausgeschieden war, ist er Politiker geworden. Lander Morton war früher Linus’ stärkster politischer Rivale. Das erste Gesetz, das Linus in der Kongregation zur Abstimmung bringen wollte, enthielt Baubeschränkungen für verschiedene Häuser. Lander Morton war dagegen. Eine Menge Leute schuldeten ihm einen Gefallen, und er forderte sie alle ein, um das Gesetz zu verhindern. Es wurde unschön. Morton gab dem Houston Chronicle ein Interview, in dem er sagte, dass er Linus dann Regierungsgewalt anvertrauen würde, ›wenn er nicht mehr an Mamas Brust nuckelte.‹«

Leon machte ein Geräusch, als ob er sich verschluckt hätte. »Wie alt war Linus damals?«

»Zweiundvierzig.«

»Und das hat er durchgehen lassen?«

»Er hat sich drei Jahre später an Morton gerächt. Beide wollten dasselbe Gebäude kaufen, und Linus bekam den Zuschlag. In dem Augenblick, als die Tinte auf dem Vertrag getrocknet war, hat Linus eine Erdbebenversicherung abgeschlossen.«

Und er hat sie außerdem superbillig bekommen. Das letzte Mal, dass es in der Nähe von Houston ein gänzlich natürliches Erdbeben gab, war im Jahr 2910, bei Hempstead. Und das war so schwach ausgefallen, dass man es in der Stadt nicht mal gespürt hatte.

»Zwei Monate nachdem Linus mit seiner Firma dort eingezogen war, zerstörte ein sehr kleines, aber überraschend kräftiges Erdbeben das Gebäude. Niemand starb. Die Kongregation und die Versicherung untersuchten den Fall. Morton, der als Geokinet über die entsprechenden Fähigkeiten verfügt, ein Erdbeben auszulösen, wurde mit einer heftigen Geldbuße belegt und durfte drei Jahre lang nicht in der Kongregation abstimmen. Was er wirklich verloren hatte, war sein politischer Einfluss.«

Leon sah mich stirnrunzelnd an. »Will Linus etwa eine alte Rechnung begleichen?«

»Das bezweifle ich.«

Es lag zwar durchaus im Bereich des Möglichen, aber es war extrem unwahrscheinlich. Linus hatte sich sein Leben lang dem Dienst an anderen verschrieben, erst in der Armee, dann in der Politik. Seine offizielle Funktion für unbedeutende politische Streitereien zu missbrauchen widersprach allem, was ich über ihn wusste.

Endlich war das Herunterladen der Videodatei erledigt. Ich öffnete sie.

Jemand steuerte eine Drohne über einen Sumpf. Algeninseln schwammen auf seiner Oberfläche, in strahlendem Smaragdgrün, Stahlblau und Leuchtorange. Hier und da waren die Überreste aufgegebener Gebäude zu erkennen, die von Moos überzogen und von Ranken überwuchert waren. Auf dem dunklen Gewässer blühten Lilien, die aber im Gegensatz zu dem üblichen Weiß oder Rosa so leuchtend blutrot schillerten, dass sie fast schon glühten. Inmitten dieses Morastes streckten seltsame Bäume ihre gekrümmten und knorrigen Äste aus.

Wo war das? Es wirkte wie eine außerirdische Welt.

Die Drohne tauchte unter einem Baum mit den langen Fäden einer bizarren Moos-Art hindurch und erreichte eine Lichtung. Vier baufällige Holzbrücken trafen sich auf einer kleinen Insel, auf der die Überreste eines ehemaligen Bürogebäudes standen. Jemand hatte notdürftig Stromleitungen und mehrere lange Kabel an der Spitze eines kleinen Strommasts zusammenlaufen lassen. An einem von ihnen baumelte eine Leiche.

Sie hing über der Wasserfläche. Ein Kabel, das vom nahe liegenden Gebäude ausging, war um ihren Hals gewickelt. Die Drohne drehte sich, um ein besseres Bild von der Leiche zu bekommen. Ein Mann Ende dreißig, weiß, dunkle Haare. Er trug eine Anzughose, ein zerfetztes blaues Hemd und schwarze Lacklederschuhe.

Die Kamera der Drohne senkte ihre Linse, zoomte näher heran und schwenkte dann langsam nach oben, um die gesamte Leiche aufzunehmen.

Nein, er trug keine Lederschuhe. Seine Füße waren zu schwarzen Stümpfen verkohlt. Die Hose war oberhalb der Knie an mehreren Stellen zerfetzt, die Ränder der Risse mit Blut verschmiert. An seiner rechten Seite war ein Loch von der Größe einer Melone zu sehen. Über die zerhackten Wundränder tropfte das Blut, das sich in diesem widerwärtigen Loch gesammelt hatte. Es lief mir heiß und kalt den Rücken herunter. Er hatte vor seinem Tod gelitten.

Atme. Das ist dein Job. Mach deinen Job.

Sein Gesicht stellte eine furchterregende Masse aus geronnenem Blut und gebrochenen Knochen dar. Das linke Auge war zugeschwollen. Sein Nasenrücken war zur Seite gebogen. Sein Mund stand weit offen, und eine schleimige grüne Spur, die seinen aufgeplatzten Lippen entsprang, beschmutzte die Vorderseite seines Hemds.

Das Ausmaß dieser Grausamkeit war ekelerregend. Ich wollte meine Augen bedecken, damit ich ihn mir nicht mehr ansehen musste.

Wie konnte jemand so etwas einem anderen Menschen antun?«

»Catalina?«, fragte Leon besorgt. »Bist du in Ordnung? Was ist los?«

»Das ist nicht Lander Morton.« Lander war dreiundachtzig. Dieser tote Mann hatte die Figur und die dunklen Haare eines wesentlich jüngeren Mannes.

Was war das? Wo war das?

Ein silberner Alfa Romeo Spider raste an uns vorbei.

Alessandro.

Der Gedanke durchzuckte mich wie ein Blitz, doch ich riss mich sofort wieder davon los. Alessandro war vor sechs Monaten gegangen. Er würde niemals zurückkehren.

»Das war er nicht«, sagte Leon. »In dem Auto.«

»Ich weiß.«

»Wenn es dieser Trottel gewesen wäre, hätte ich ihn schon längst erschossen.« Er sprach in gemessenem und kaltem Tonfall. Er meinte es so, wie er es sagte.

»Warum würdest du ihn denn erschießen wollen?«

»Er hat dir das Herz gebrochen. Du warst wochenlang todtraurig.«

»Ich habe mir selbst das Herz zerbrochen, Leon. Er war nur der Hammer, mit dem ich zugeschlagen habe.«

Leon hob seine Augenbrauen. »Wie tiefsinnig, Catalina. Es gibt nur ein kleines Problem. Ich war dabei. Er hat sich deine Gefühle zunutze gemacht, hat dich dazu gebracht, ihm zu helfen, und dann hat er die Beziehung beendet. Du warst monatelang deprimiert. Kennst du die Redewendung ›Er wird sich wünschen, niemals geboren zu sein‹? Wenn er sein Gesicht hier noch mal zeigt, werde ich sie in die Tat umsetzen.«

In Leons Gesichtszügen lag eine ganz besondere Ruhe, ein konzentrierter Blick, den er nur hatte, wenn er sein Ziel ins Visier nahm.

Wenn ich mit genügend Abstand das betrachtete, was zwischen mir und Alessandro geschehen war, dann ergab das durchaus Sinn. Meine Magie hatte mich seit meiner Geburt in die Einsamkeit geführt. Wenn ich jemanden mochte und mir wünschte, er würde mich beachten, dann verliebte er sich in mich, vollständig und grenzenlos. Doch schon bald verwandelte sich diese durch Magie erzeugte Liebe zu einer Besessenheit, die schnell in Gewalt umschlug. Ich wurde bis zur Highschool zu Hause unterrichtet, denn jedes Mal, wenn ich glaubte, meine Magie unter Kontrolle zu haben und sie mich in einer normalen Schule unterzubringen versuchten, folgte die Katastrophe.

Möglichen Beziehungen wandte ich mich nur zögernd zu, und sie endeten alle furchtbar. In der fünften oder sechsten Klasse hatte sich ein Junge in seinem Zimmer einen Schrein aus meinen weggeworfenen Taschentüchern und abgenagten Bleistiften gebastelt und sich die Pulsadern aufgeschnitten, weil die Eltern ihm den Schrein wegnehmen wollten. Seine Familie zog aus unserem Staat weg, damit er dieser Besessenheit entkommen konnte, und ich musste wieder zu Hause unterrichtet werden. Ein Highschool-Football-Held, der mich plötzlich bemerkte, geriet am Ende unseres wirklich netten Dates in Panik, weil ich nach Hause gehen wollte: Er packte mich an den Haaren und versuchte mich in sein Auto zu zerren. Es gab noch andere Fälle. Einige entkamen, ohne dass ihre Leben zu sehr verändert wurden, andere nicht. Bis vor einigen Monaten hatte ich außerhalb meiner Familie keine echten Freunde. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich zwar gelernt, meine Fähigkeiten unter Kontrolle zu halten, aber ich lebte im ständigen Wahn, ich könnte einen Fehler begehen und nicht nur das Leben eines anderen Menschen ruinieren, sondern auch mein eigenes gefährden.

Es gab eine Zeit zwischen meinem fünfzehnten und zwanzigsten Lebensjahr, da wünschte ich mir verzweifelt Freunde. Ich hatte mir auch einen festen Freund gewünscht, jemand, der großartig sein würde und gut aussehend und schlau, der mit mir ein Gespräch führen und meine Witze verstehen konnte. Jemand, der seine Jacke ausziehen und mir über die Schultern legen würde, wenn wir in den Regen gerieten. Ich wollte diese Verbindung, das schlichte, menschliche Gefühl, jemanden an meiner Seite zu wissen, mit dem man Dinge teilen konnte. Wunderschöne, wortgewandte Prinzen gab es aber nur selten, also erfand ich mir einen, aus den Geschichten, die ich las, und naiven kleinen Träumen. Und dann stolperte ich eines Tages über Alessandro Sagredos Instagram-Account.

Er war all das, was ich mir von meinem Prinzen gewünscht hatte. Schlau, gut aussehend, charmant. Er lebte in Italien, er war ein Hochbegabter, der Erbe einer alten Adelsfamilie, segelte über das Mittelmeer und unternahm in Spanien Ausritte. Von ihm konnte ich getrost träumen, denn wir beide würden uns niemals kennenlernen. Also träumte ich.

Dann, als ich achtzehn war, wurde meine Familie gezwungen, zum Haus zu werden, und ich musste mich Alessandro in den Prüfungen stellen, um zu beweisen, dass ich hochbegabt war. Er war alles, was sein Instagram-Account versprach, und ich war ihm aufgefallen. Ich hatte solche Angst, dass ich mit meiner Magie so schwer auf ihn eingewirkt hatte, dass ich bei seinem Versuch, mich zu einem Date einzuladen, alles daransetzte, ihn von mir fernzuhalten, und dann rief ich die Polizei, um ihn vor mir zu schützen.

Vor sechs Monaten tauchte er mit einem Knall wieder in meinem Leben auf. Der sorglose Playboy war pure Fassade. Alessandro war ein gnadenloser Auftragskiller. Er versuchte mich zu beschützen, er flirtete mit mir, er aß zu Abend mit meiner Familie. Er war meiner Magie gegenüber immun, was bedeutete, dass er, als er sagte, er sei von mir besessen, es tatsächlich so meinte. Er mochte mich, so wie ich war.

Die Tragweite dieser Erkenntnis hatte meinen Verstand, von dem ohnehin nicht mehr viel übrig war, vollkommen aussetzen lassen. Ich hatte nie auch nur die geringste Chance. Ich wollte ihn davon abbringen, das Leben eines Auftragsmörders zu führen, ihn davon frei machen. Ich wollte ihn glücklich sehen.

Und dann war irgendwann der Fall abgeschlossen, und seine Begeisterung für mich fand auch ihr Ende. Ich hatte vorgehabt, ihm meine Liebe zu gestehen, und fand ihn, wie er seine Sachen packte. Er war auf dem Weg zum nächsten Ziel seiner Abschussliste. Als ich ihn fragte, ob er jemals wiederkomme, sagte er mir, er wolle nicht lügen. Es hatte sich angefühlt, als ob mich jemand von der Spitze eines hohen Gebäudes gestoßen hätte und ich hart auf dem Boden aufgeschlagen wäre.

Diese harte Landung ließ mich schlagartig aus meinem Traum erwachen. Er hatte sich bewusst für dieses Leben entschieden, und er hatte nicht vor, es aufzugeben. Und was immer er auch für mich empfand, es war bestimmt nicht Liebe. Wenn man von jemandem besessen ist, dann verlässt man ihn nicht. Man bleibt. Man versucht alles nur erdenklich Mögliche, damit es funktioniert. Ich war einfach nur eine unterhaltsame Ablenkung auf seinem Weg woandershin gewesen.

Jetzt war es vorbei mit der Besessenheit. Es tat weh, aber laut Sergeant Heart, der für meinen Kampfsportunterricht zuständig war, galt der Schmerz als bester Lehrmeister. Alessandro hatte Leute zu töten, und ich musste ein Haus führen und Fälle von MII übernehmen. Leon hatte recht. Ich war monatelang deprimiert gewesen, aber ich bedauerte nicht, dass Alessandro mich im Stich gelassen hatte. Ich bedauerte mein altes Ich. Um der neuen Catalina allerdings Raum zu gewähren, musste das alte Ich verschwinden, und es Stück für Stück auszumerzen tat wirklich weh.

Alessandro war der Katalysator für diesen Wandel. Am Ende entwickelte ich sogar so etwas wie Dankbarkeit für diese Lehrstunde. Egal, wie schmerzhaft sie ausgefallen war, es war eine notwendige Veränderung. Mein altes Ich hätte uns alle in den Tod stürzen können. Doch jetzt galt es, Entschlossenheit zu zeigen. Ich würde mich nie wieder so tief fallen lassen. Und ich würde nicht zulassen, dass mein Cousin wegen mir verletzt würde.

»Leon, wenn du auf Alessandro schießt, dann weiß er, dass er mich verletzt hat. Das möchte ich nicht.«

Leon warf mir einen Blick zu.

Ich erwiderte seinen Blick.

»Du hast nicht unrecht«, sagte er und fuhr auf den Parkplatz.

Vor uns erhob sich das Gebäude von MII, eine scharfe dreieckige Klinge aus kobaltblauem Glas und Stahl. Es war an der Zeit, mein Gehalt zu verdienen.

2

Ich marschierte mit Höchstgeschwindigkeit durch die glänzende Lobby von Montgomery International Investigations. Cornelius und Leon folgten mir in einigen Schritten Abstand. Rosebud saß weiter auf Cornelius’ Schulter, ihre kleinen Ärmchen um seinen Hals geschlungen.

Der Wächter neben dem Metalldetektor richtete seinen Blick auf mich. Er erkannte mich wieder.

»Guten Tag, Ms Baylor!«

»Guten Tag!«

Ich trat durch den Metalldetektor hindurch und ging weiter in Richtung der Aufzugtüren aus rostfreiem Stahl. Cornelius und Leon folgten mir. Wir fuhren im Aufzug in den sechzehnten Stock. Die Kabinentür öffnete sich mit leichtem Zischen und gab den Blick auf glänzend indigofarbene Böden und weiße Wände frei. Zur Linken befand sich ein Wartebereich, der von dem Licht, das durch die deckenhohen blauen Fenster fiel, sanft gefärbt wurde. Direkt vor uns saß Lina an der Empfangstheke. Ihre Haare hatten heute einen satten Violettton und waren zu einem biederen Dutt gesteckt, was einen netten Kontrast zu ihrer tiefbronzenen Haut und den blauen Augen bildete. Sie trug ein perfekt geschnittenes olivgrünes Etuikleid, das sie in Kombination mit ihrer Frisur wie einen blühenden Lavendelhalm wirken ließ.

»Er erwartet Sie bereits«, sagte sie.

Ich nickte, bog an der Empfangstheke rechts ab und ging die gekrümmte weiße Wand entlang. Hinter mir fragte Lina: »Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen, Gentlemen?«

»Dürfte ich Sie freundlicherweise um ein paar Weintrauben bitten?«, fragte Cornelius. »Für das Äffchen.«

»Es kann alle Weintrauben der Welt bekommen, weil es so unglaublich entzückend ist. Oh ja, so entzückend!«, gurrte Lina.

Durch Augustins Reich zu gehen fühlte sich an, wie unter Wasser zu schwimmen. Die gesamte linke Wand war kobaltblaues Glas, zwei Stockwerke hoch. Hinter ihr schien die Stadt in weiter Ferne zu liegen. Das blaue Licht tönte die hellen Böden und Wände, und das Muster im Glas erschuf die perfekte Illusion von Sonnenlicht, das sich auf der Wasseroberfläche brach. Es war eine eigene, kleine Welt, von allem weit weg, beschaulich und ruhig, und ich schätzte die wenigen Augenblicke, in denen ich sie genießen konnte.

Ich war kurz davor, Augustin meine offizielle Funktion zu verraten. Danach gab es kein Zurück mehr.

Vor mir blockierte eine Milchglasfront den Weg. Wenn Augustin seinen Besucher beeindrucken wollte, projizierte er seine Magie darauf und gestaltete sie mit wechselnden Mustern, wie Frost, der sich auf ein Fenster legte. Aber ich war bereits in seinem Büro gewesen, und er hatte nicht das Bedürfnis, mich zu beeindrucken. Die Front blieb schön wie immer, ganz alltäglich. Und solide. Augustin war offensichtlich dabei, ein Geschäft zum Abschluss zu bringen. Ich musste warten.

Ich trat an die Wand aus kobaltblauem Glas und warf einen Blick auf die Stadt unter mir, ein großes Menschenmeer. Türme aus Glas, Stahl und Beton waren seine Inseln und Eisberge, die Ströme der Fahrzeuge durch die Straßen seine Fischschwärme, und in seinen Tiefen verborgen lebten in luxuriösen Büros die menschlichen Haie, die über Imperien geboten, die ihnen die Magie ermöglichte.

Die Welt hatte nicht immer über Magie verfügt. Oh, es gab natürlich Gerüchte und Legenden, aber nichts Augenscheinliches. Und dann suchten ein halbes Dutzend Länder vor hundertfünfzig Jahren nach einem Heilmittel gegen eine Grippeepidemie, die den gesamten Planeten heimsuchte. Sie tauschten untereinander ihre Forschungsergebnisse aus und entwickelten praktisch alle gleichzeitig das Osiris-Serum. Wer immer das Serum nahm, konnte eines dieser drei Resultate erwarten, die mit sehr ähnlicher Wahrscheinlichkeit auftraten: den Tod, die Verwandlung in ein Monster und den Tod einige Jahre später, oder die Erlangung magischer Kräfte. Die Qualität der Magie unterschied sich stark: Manchmal war das Talent nur schwach ausgeprägt, und manchmal konnte man zum Hochbegabten werden, der in der Lage war, unglaubliche Kräfte zu entfesseln.

Zuerst wurde das Serum jedem verabreicht, der mutig genug war, sich den möglichen Folgen zu stellen. Niemand dachte auch nur einen Augenblick daran, dass es eine ziemlich furchtbare Idee sein könnte, irgendwelchen Leuten zufällig die Macht zu geben, ganze Straßenzüge in Flammen zu setzen und tödliche Krankheiten zu verbreiten. Dann brach der Weltkrieg aus. Die acht folgenden Jahre wurden später als die Zeit des Grauens bekannt.

Lord Acton, ein Historiker des 19. Jahrhunderts, schrieb einmal, dass Macht korrumpiert. Seiner Ansicht nach waren mächtige Männer praktisch immer auch böse Männer. Die großen Magier der Zeit des Grauens gaben ihm recht. Sie waren Monster, die ihre Mitmenschen wie Vieh abschlachteten, bloß weil ihnen danach war. Tausende starben. Auf dem gesamten Planeten brachen Aufstände und Revolten aus. Die Welt stand in Flammen, und als die Flammen schließlich gelöscht werden konnten, hatte die Menschheit drei Dinge gelernt.

Erstens, die Verwendung des Osiris-Serums musste durch einen internationalen Beschluss verboten werden.

Zweitens, die magischen Kräfte erwiesen sich als erblich. Hochbegabte zeugten Hochbegabte, was zur Gründung magischer Familien führte, die als Häuser bezeichnet wurden.

Drittens, die magisch begabte Gemeinschaft musste für Stabilität in den eigenen Reihen sorgen. Während der Zeit des Grauens waren Menschen ohne Magie nicht die einzigen Opfer. Stärkere magisch Begabte hatten Jagd auf die Schwächeren gemacht, und wer von ihnen solche Gräueltaten beging, sah sich am Ende einem wütenden Pöbel gegenüber. Ein einzelner Magier mochte äußerst mächtig sein, aber die magisch Begabten waren zahlenmäßig immer weit unterlegen. Niemand wollte diese Aufstände und Massenhinrichtungen noch einmal durchleben. Sie waren schlecht fürs Geschäft, und nachdem die Häuser nun über Macht verfügten, wünschten sie sich die Ordnung und die Sicherheit, um die Gewinne einfahren zu können.

Die Häuser setzten sich an den Verhandlungstisch und gründeten Kongregationen, in denen jeder Hochbegabte eine Stimme hatte. Die Kongregationen der Staaten unterlagen den Entscheidungen der Nationalkongregation, die in allen magischen Belangen die höchste Autorität besaß. Die Nationalkongregation brauchte jemanden, der Übertretungen ihrer Gesetze untersuchte. An dieser Stelle kam das Amt des Wächters ins Spiel. Das offizielle Motto der Texas Rangers lautete »Ein Aufstand, ein Ranger«‹. Diesem Grundsatz folgte auch die Nationalkongregation. Es gab pro Staat nur einen Wächter, einen Magier von außergewöhnlicher Macht, dessen Identität geheim gehalten wurde. Jedem Wächter wurde ein Auszubildender zugestanden.

Linus Duncan war der Wächter von Texas, und vor sechs Monaten wurde ich zu seiner Stellvertreterin. Das Ganze passierte eigentlich rein zufällig. Wenn man mich vor einem Jahr gefragt hätte, wer Linus Duncan sei, dann hätte ich geantwortet, dass er ein Freund unserer Familie war. Er war einer der beiden offiziellen Zeugen bei der Gründung unseres Hauses gewesen und hatte seit diesem Augenblick Interesse an uns entwickelt. Er lud uns zum Grillen in seinen Garten ein. Er hatte uns schon mehrfach in unserem Zuhause besucht. Er war der reiche Onkel, den einfach jeder mochte.

Nun wusste ich es besser. Linus Duncan war die letzte Verteidigungslinie zwischen der Menschheit und den Gräueln, die Leute, die sich nach Reichtum und Macht verzehrten, mit zu viel Magie anrichten konnten. In den letzten sechs Monaten hatte ich Dinge gesehen, die mich mitten in der Nacht schweißgebadet aus Albträumen aufschrecken ließen. Diese Erfahrungen, zusammen mit der Feuerprobe, die Victoria Tremaine darstellte, schmiedeten aus der schüchternen Person, die bereits beim kritischen Blick eines älteren Erwachsenen zu stottern begonnen hatte, eine gänzliche neue Form.

Ich wurde zur Stellvertreterin, um die Menschen, die ich liebte, schützen zu können. Egal, an wie vielen Abendessen mit der Familie Linus auch teilnahm, wie sehr er in uns vernarrt war und wie häufig er das gesamte Haus Baylor auf seine Ranch und in seine Villa einlud – wenn ich die Grenzen überschritt, die er mir klar aufgezeigt hatte, würde er uns, ohne zu zögern, auslöschen. Also würde ich meinem Cousin nichts sagen, egal, wie süß seine Kommentare auch ausfielen. Ich würde die Befehle befolgen und meinen Job erledigen.

Ein Teil der Glasfront glitt zur Seite. Der Hochbegabte Montgomery hatte endlich Zeit für mich.