Hidden Legacy - Wilde Schatten - Ilona Andrews - E-Book

Hidden Legacy - Wilde Schatten E-Book

Ilona Andrews

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Beschreibung

Wenn die Welt in Flammen steht ...

Es fällt Nevada Baylor schwer, sich zu entscheiden: Ist es tatsächlich härter, ihre Talente als Wahrheitssucherin zu schärfen oder mit der frisch erblühten Beziehung zu Mad Rogan zu jonglieren? Harte Entscheidung! Denn bald schon wird Nevada eine wichtige Akteurin auf der magischen Bühne sein, während Rogan ihr dabei hilft, all die Gefahren zu umschiffen, die es mit sich bringt, ein eigenes Haus zu gründen. Doch all das ist ein Kinderspiel verglichen mit all den Gefühlen füreinander, die die beiden zu kontrollieren versuchen. Als dann eine neue Bedrohung auftaucht, müssen Nevada und der Primemagier abermals die Kräfte vereinen, ehe ihre Welt in Flammen aufgeht ...

"'Wilde Schatten' steckt voller Abenteuer und Romantik und Witz - das Buch war definitiv jede Minute wert!" SMEXYBOOKS

Band 3 der fulminanten HIDDEN-LEGACY-Reihe


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Seitenzahl: 608

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmung1234567891011121314EpilogDanksagungLeseprobeDie AutorinDie Romane von Ilona Andrews bei LYXImpressum

ILONA ANDREWS

Hidden Legacy

Wilde Schatten

Roman

Ins Deutsche übertragen von Marcel Aubron-Bülles

Zu diesem Buch

Wenn die Welt in Flammen steht …

Es fällt Nevada Baylor schwer, sich zu entscheiden: Ist es tatsächlich härter, ihre Talente als Wahrheitssucherin zu schärfen oder mit der frisch erblühten Beziehung zu Mad Rogan zu jonglieren? Harte Entscheidung! Denn bald schon wird Nevada eine wichtige Akteurin auf der magischen Bühne sein, während Rogan ihr dabei hilft, all die Gefahren zu umschiffen, die es mit sich bringt, ein eigenes Haus zu gründen. Doch all das ist ein Kinderspiel verglichen mit den ganzen Gefühlen füreinander, die die beiden zu kontrollieren versuchen. Als dann eine neue Bedrohung auftaucht, müssen Nevada und der Primemagier abermals die Kräfte vereinen, ehe ihre Welt in Flammen aufgeht …

Für Anastasia und Helen.

Wir hoffen, dass euch dieser Band gefällt.

1

Wenn dir das Leben einen Tiefschlag verpasst, dann kommt er immer unerwartet. Du bemerkst es nicht, bis es dich erwischt. Eben bist du noch munter durch die Welt spaziert, hast dir Gedanken über deine kleinen Probleme gemacht, Pläne geschmiedet, und im nächsten Moment liegst du hilflos weinend auf dem Boden und versuchst dich gegen die Panik und die Schmerzen zu schützen, während in deinem Kopf ein heilloses Durcheinander herrscht.

An der Tür hing ein Weihnachtskranz. Meine Hand verharrte über dem Tastenfeld. So ist’s brav. Heute war Weihnachten. Heute Morgen noch hatte ich mit dem gefährlichsten Mann Houstons im Schnee vor seiner Berghütte herumgealbert. Dann hatte Rogan eine Nachricht von seinem Überwachungsteam erhalten, und jetzt stand ich nur sechs Stunden später vor dem Lagerhaus, das meiner Familie als Zuhause diente. Meine Haare waren eine Katastrophe, meine Klamotten unter der Winterjacke zerknittert. Ich musste das Lagerhaus betreten und ihnen die schlechte Nachricht überbringen. Was dann geschähe, würde niemandem gefallen. Bei all dem, was mittlerweile passiert war, hatten wir uns darauf geeinigt, uns keine Geschenke zu machen. Ich hatte nicht nur Heiligabend verpasst, ich musste ihnen jetzt auch noch das schlimmste Präsent überhaupt überreichen.

Das Wichtigste war jetzt, nicht in Panik zu geraten. Wenn ich in Panik geriete, würde es meinen Schwestern und Cousins nicht anders ergehen. Meine Mutter wiederum würde sich alle Mühe geben, mir die einzig logische Lösung unseres Problems auszureden. Ich hatte es geschafft, meine Gefühle den ganzen Weg von der Berghütte bis zum Flughafen unter Kontrolle zu halten, auch während des Flugs in seinem Privatjet und seinem Hubschrauber, der uns nur vier Straßenblöcke von meinem Zuhause entfernt abgesetzt hatte. Aber jetzt drohten mich meine Ängste und der ganze Stress zu überwältigen.

Ich atmete tief durch. Auf der Straße war eine Menge los. Nicht so viel wie noch vor ein paar Tagen, als ich Cornelius Harrison, einem Tiermagier und jetzigen Angestellten der Baylor Investigative Agency, dabei geholfen hatte, den Mörder seiner Frau Nari zu finden, aber doch noch eine ganze Menge. Rogans Ansichten zum Thema persönliche Sicherheit waren ziemlich krass. Er liebte mich und war zu dem Schluss gekommen, dass mein Zuhause einem entschieden geführten Angriff nicht standhalten konnte. Also hatte er einfach ein paar Quadratkilometer Industriegebiet um unser Lagerhaus erstanden und in seine private Militärbasis verwandelt.

Jeder Mensch in meiner Nähe trug Zivilkleidung, aber damit täuschten sie niemanden. Rogans Leute hatten auf die eine oder andere Art in der Armee gedient, und keiner von ihnen wusste, wie man spazieren ging oder herumschlenderte. Sie bewegten sich mit einem klaren Ziel vor Augen von A nach B. Sie trugen saubere Kleidung, hatten kurz geschnittene Haare und nannten Rogan den Major. Wenn wir beide miteinander schliefen, nannte ich ihn Connor.

Ein leise knirschendes Geräusch ertönte auf der anderen Straßenseite und rief in mir die Erinnerung hervor, wie ich David Howlings Genick brach. Seine Knochen hatten ein knackendes Geräusch von sich gegeben, als ich seinen Kopf brutal zur Seite gedreht hatte. Vor meinem inneren Auge sah ich ihn zu Boden gleiten, nachdem ich ihn schließlich losgelassen hatte, und Panik befiel mich. Die Angst schlug wie eine riesige Flutwelle über mir zusammen, und ich wartete, bis ich wieder Luft bekam. Naris Mörderin zu finden war eine furchtbare und brutale Angelegenheit gewesen. Am Ende hatte ich dabei zugesehen, wie diese Frau, Olivia Charles, bei lebendigem Leib von einem Rattenschwarm aufgefressen wurde, während Cornelius den Verlust seiner Liebsten besang. Fast jede Nacht durchlebte ich diese Szene in meinen Träumen – immer wieder.

Ich wollte noch nicht in die Welt zurückkehren. Ich hätte tatsächlich gerne … Ich hätte gerne ein bisschen mehr Zeit gehabt.

Ich zwang mich in Richtung des Geräuschs zu blicken. Ein ehemaliger Soldat kam auf mich zu. Er war um die vierzig, hatte mehrere Narben im Gesicht und führte einen riesigen Grizzlybären an einer sehr dünnen Leine. Der Bär lief auf allen Vieren und trug ein Geschirr, auf dem Sergeant Teddy stand.

Der Mann streckte seinen linken Arm aus und drehte ihn mit einem kurzen Ruck, als ob er versuchte, seine Knochen wieder an Ort und Stelle zu schieben. Noch ein Knacken, was mich erneut aufschreckte. Wahrscheinlich eine alte Verletzung.

Der Bär blieb stehen und sah mich an.

»Sei höflich«, ermahnte ihn der ehemalige Soldat. »Machen Sie sich keine Sorgen. Er möchte nur Hallo sagen.«

»Kein Problem.« Ich ging einen Schritt auf den Bären zu. Das riesige Tier beugte sich zu mir hin und schnupperte an meinen Haaren.

»Darf ich ihn streicheln?«

Der Soldat warf Sergeant Teddy einen Blick zu. Der Bär gab einen kurzen, leisen Laut von sich.

»Er sagt, dass Sie dürfen.«

Ich streckte die Hand aus und tätschelte vorsichtig seinen großen pelzigen Hals.

»Und was ist seine Geschichte?«

»Jemand hielt es für eine gute Idee, überaus schlaue, magisch begabte Bären zu erschaffen, um sie im Kampf einzusetzen«, sagte der ehemalige Soldat. »Das Problem ist nur: Wenn man jemanden schlau macht, dann entwickelt er auch ein eigenes Bewusstsein, und man kann ihm keinen Scheiß mehr erzählen. Sergeant Teddy ist Pazifist. Die Leine ist nur dazu da, dass die Leute nicht in Panik geraten. Der Major hat ihn vor ein paar Jahren gekauft. Der Major ist der Ansicht, dass man Leute nicht dazu zwingen sollte, in einen Krieg zu ziehen, den sie aus moralischen Gründen nicht unterstützen können, ob nun Mensch oder Bär.«

»Aber du bist immer noch hier«, sagte ich zu dem Bären.

Der schnaubte und sah mich mit seinen schokoladenbraunen Augen an.

»Wir haben ihm in Alaska ein nettes Fleckchen Erde angeboten«, sagte der ehemalige Soldat. »Aber dort gefällt es ihm nicht. Er meint, dass er sich dort langweilt. In der Regel treibt er sich bei uns rum, isst Müsli, was schlecht für ihn ist, und schaut sich samstags Cartoons an. Und Filme. Er liebt Das Dschungelbuch.«

Ich wartete auf das vertraute Summen meiner Magie, das mir bestätigte, dass er mich veralberte, aber nichts geschah.

Sergeant Teddy stieg auf die Hinterbeine, versperrte mir das Licht und legte seine zotteligen Vorderpfoten um mich. Mein Gesicht wurde in Pelz gedrückt. Ich erwiderte seine Umarmung. Wir blieben einen Augenblick so stehen, dann ließ sich der Grizzly wieder zu Boden fallen und machte sich auf den Weg. Die Leine zog er neben sich her.

Ich blickte den Mann neugierig an.

»Er muss gespürt haben, dass Sie eine Umarmung brauchen könnten«, sagte er. »Er ist die meiste Zeit bei uns im Hauptquartier. Sie können also jederzeit vorbeischauen und ihn besuchen.«

»Mache ich«, sagte ich zu ihm.

Der Mann nickte und ging dem Bären hinterher.

Ich gab meinen Sicherheitscode ein. Ich war gerade von einem riesigen, hyperintelligenten, pazifistischen Bären umarmt worden. Ich konnte es schaffen. Ich konnte alles schaffen. Ich musste einfach nur ins Haus gehen und eine Familienkonferenz einberufen. Es war ohnehin fast Zeit zu essen. Sonntags waren die meisten eh zu Hause.

Ich öffnete die Tür und betrat mein kleines Büro, das der Baylor Investigative Agency als Zentrale diente. Ein kurzer Flur, drei Büros zur Linken sowie ein Pausenraum und ein Sitzungszimmer zur Rechten. Das Verlangen, mich in meinem Büro zu verstecken, war nahezu übermenschlich, aber ich ging den Flur weiter entlang bis zu der Tür, durch die ich den knapp dreihundert Quadratmeter großen Bereich betrat, den wir unser Zuhause nannten. Als wir unser Haus verkauft hatten, um die Krankenhauskosten meines Vaters begleichen zu können, war unsere Familie in dieses Lagerhaus gezogen, um Geld zu sparen. Wir hatten den Innenraum in drei separate Bereiche eingeteilt: das Büro, den Wohnraum und, verborgen hinter einer sehr hohen Wand, Oma Fridas Werkstatt, wo sie an gepanzerten Fahrzeugen und Panzerartillerie für Houstons magische Elite arbeitete.

Ich zog die Schuhe aus und schritt entschlossen durch die verworrenen Gänge. An den Wänden hingen Girlanden. Meine Schwestern hatten sich offensichtlich um die Dekoration gekümmert.

Aus der Küche ertönten leise Stimmen. Mom … Oma. Gut. Das würde mir Zeit sparen.

Ich ging an dem riesigen Weihnachtsbaum vorbei, den wir im Pausenraum aufgestellt hatten, betrat die Küche und erstarrte.

Mutter und Großmutter hockten am Küchentisch. Eine junge Frau saß direkt neben meiner Großmutter. Sie war gertenschlank und wunderschön, mit einem herzförmigen Gesicht, das von atemberaubend rotem Haar in perfekten Wellen eingerahmt war. Ihre Augen leuchteten so sehr, dass ihr Grau fast silbern wirkte.

Es lief mir eiskalt den Rücken hinunter.

Rynda Charles. Rogans frühere Verlobte. Olivias Tochter.

»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte sie. Ihre Stimme zitterte. Sie hatte blutunterlaufene Augen, und sie war so bleich, dass ihre Lippen beinahe weiß wirkten. »Sie haben meine Mutter getötet.«

Irgendwie schaffte ich es, Worte hervorzubringen. »Was tun Sie hier?«

Rynda wischte sich Tränen aus den Augen und starrte mich verzweifelt an. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber kein Wort heraus.

Mom sah mich mit großen Augen an und nickte in Richtung Stuhl. Ich stellte meine Tasche ab und nahm Platz.

»Trinken Sie Ihren Tee.« Oma Frida schob Rynda einen dampfenden Becher hin.

Rynda ergriff ihn und trank einen Schluck, ohne den Blick von mir zu nehmen. In ihren Augen lag Verzweiflung, die in Panik umzuschlagen drohte. Okay.

Ich schloss die Augen, atmete ganz tief ein, hielt die Luft an und atmete anschließend ganz langsam aus. Eins … zwei … ganz ruhig … ganz ruhig …

»Nevada?«, fragte Oma Frida.

»Sie ist eine hochbegabte Empathin«, sagte ich. »Ich bin durcheinander, und das wirkt sich auf sie aus.«

Rynda lachte kurz, und für einen Augenblick war Olivia Charles in ihrer Stimme zu hören. »Das sagt die Richtige.«

Fünf … sechs … einatmen, ausatmen … zehn. Das sollte reichen.

Ich öffnete langsam meine Augen und sah Rynda an. Ich musste nicht nur meine Stimme, sondern auch meine Gefühle unter Kontrolle halten. »Ihre Mutter hat eine ganze Reihe von Rogans Soldaten sowie vier Anwälte umgebracht, unter ihnen zwei Frauen Ihres Alters. Sie wurden ohne Grund abgeschlachtet. Wegen Ihrer Mutter haben nicht nur diese Männer ihre Frauen verloren, sondern auch deren Kinder ihre Mütter.«

»Kein Leben ist schwarz-weiß«, sagte Rynda und stellte den Teebecher ab. »Für Sie mag sie ja nur ein Monster gewesen sein, aber für mich war sie meine Mutter. Sie war meinen Kindern eine wunderbare Großmutter. Sie hat sie unglaublich geliebt. Meine Schwiegermutter interessiert sich nicht für sie. Und jetzt haben sie keine Großeltern mehr.«

»Sie haben mein Mitgefühl. Ich bedaure, dass sich die Dinge so entwickelt haben. Aber sie zu töten war leider der richtige Weg.« Oh mein Gott, ich hörte mich an wie meine Mutter!

»Ich weiß nicht einmal, wie sie gestorben ist.« Rynda ballte ihre Hände zu Fäusten. »Sie haben mir einfach nur ihre Knochen geschickt. Wie ist es passiert, Nevada?«

Ich atmete tief durch. »Es war weder ein leichter noch ein schneller Tod.«

»Ich verdiene es, es zu erfahren«, sagte sie mit energischer Stimme. »Reden Sie mit mir!«

»Nein. Sie haben gesagt, Sie bräuchten meine Hilfe. Etwas Schreckliches muss also geschehen sein. Lassen Sie uns darüber sprechen.«

Ihre Hände zitterten. Als sie den Becher an den Mund führte, wackelte er ein wenig. Sie nahm einen weiteren Schluck Tee. »Mein Ehemann ist verschollen.«

Okay. Verschollener Ehemann. Das kannte ich nur zu gut. »Wann haben Sie …« Rogan hatte mir seinen Namen einmal genannt, wie hieß er noch mal? »… Brian das letzte Mal gesehen?«

»Vor drei Tagen. Er ist am Donnerstag zur Arbeit gegangen und nicht mehr heimgekommen. Er geht nicht ans Handy. Brian liebt einen geregelten Alltag. Er ist immer rechtzeitig zum Essen zurück. Es ist der erste Weihnachtstag. Den würde er im Leben nicht verpassen.« In ihren Tonfall hatte sich eine leichte Note Hysterie geschlichen. »Ich weiß schon, was Sie mich fragen werden: Hat er eine Geliebte, führen wir eine glückliche Ehe, verschwindet er schon mal, um mit seinen Kumpels saufen zu gehen? Nein. Nein, tut er nicht. Er kümmert sich um mich und unsere Kinder. Er kommt immer nach Hause!«

Sie musste schon mit der Houstoner Polizei gesprochen haben. »Haben Sie bereits eine Vermisstenanzeige aufgegeben?«

»Ja. Sie werden nicht nach ihm suchen.« Nun klang sie verbittert. Sie wurde mit jedem Satz aufgeregter. »Er ist ein Hochbegabter, und das macht es zur Angelegenheit der Häuser. Nur ist Haus Sherwood leider davon überzeugt, dass es Brian gutgeht und er sich einfach eine Auszeit gönnt. Niemand außer mir sucht nach ihm. Niemand reagiert auf meine Anrufe. Selbst Rogan weigert sich, mit mir zu sprechen.«

Das klang äußerst merkwürdig. Rogan würde sie niemals abweisen, selbst wenn ich ihm deswegen eine Szene machte. Ich hatte gesehen, wie sich die beiden unterhalten. Er mochte sie, und sie war ihm wichtig. »Was genau hat Rogan gesagt?«

»Ich bin am Freitag zu ihm gefahren. Seine Leute haben mir erklärt, er sei nicht da. Samstag war er auch nicht da. Ich habe gebeten, dort warten zu dürfen, doch seine Leute meinten nur, das wäre reine Zeitverschwendung. Sie behaupteten, nicht zu wissen, wann er zurückkehren würde. Ich mag ja naiv sein, aber ich bin kein Idiot. Ich weiß genau, was das bedeutet. Vor zwei Wochen hatte ich noch Freunde. Ich hatte die Freunde meiner Mutter, mächtige, respektierte Persönlichkeiten, die Olivia Charles nur zu gerne einen Gefallen getan hätten. Vor zwei Wochen hätte ein Anruf ausgereicht, und die halbe Stadt hätte sich auf die Suche nach Brian gemacht. Sie hätten Druck auf die Polizei ausgeübt, auf den Bürgermeister, auf die Texas Rangers. Aber jetzt ist niemand mehr da. Alle haben zu viel zu tun, um mit mir sprechen zu können. Eine unsichtbare Mauer hat sich um mich erhoben. Egal, wie laut ich schreie, niemand kann mich hören. Die Leute nicken mir einfach nur zu und speisen mich mit hohlen Phrasen ab.«

»Er hat Sie nicht abgeblockt«, sagte ich. »Er war unterwegs. Mit mir.«

Sie hielt inne. »Sie sind mit ihm zusammen?«

Es hatte keinen Zweck, sie anzulügen. »Ja.«

»Diese Sache mit meiner Mutter, das war nicht einfach nur ein Job für Sie?«

»Nein. Sie hat die Frau eines Mannes getötet, den ich als meinen Freund ansehe. Er arbeitet jetzt für mich.«

Rynda hielt sich entsetzt die Hand vor.

Unangenehme Stille senkte sich auf den Raum.

»Ich hätte nicht hierherkommen sollen«, sagte sie. »Ich hole meine Kinder und gehe sofort.«

»Das ist eine gute Idee«, sagte Oma Frida.

»Nein«, sagte meine Mutter. Diese Stimme kannte ich. Das war die Stimme von Sergeant Mom. Rynda kannte sie offensichtlich auch, denn sie setzte sich aufrecht hin. Olivia Charles hatte nicht den geringsten Bezug zum Militär, aber nach nur drei Minuten mit ihr war mir klar gewesen, dass sie ihre Familie mit eiserner Hand regiert hatte und Dingen, die sie für unsinnig hielt, mit äußerst wenig Verständnis begegnet war.

»Sie sind jetzt hier«, sagte Mom. »Sie sind hierhergekommen, weil Sie Hilfe brauchen, weil sich sonst niemand um Sie kümmert und weil sie Angst um Ihren Ehemann und Ihre Kinder haben. Sie haben den richtigen Ort aufgesucht. Verschwundene Menschen aufzuspüren gehört zu Nevadas Spezialgebiet. Sie wird ihnen entweder persönlich zur Seite stehen oder ihnen jemanden empfehlen, der diese Aufgabe übernehmen kann.«

Oma Frida drehte sich zu Mom um und musterte sie, als ob ihr gerade Brokkoli aus den Ohren gewachsen wäre.

»Selbstverständlich«, sagte ich. Ich mochte Ryndas Mutter nicht mit eigener Hand getötet haben, aber ich hatte Anteil an ihrem Tod gehabt. Und nun war sie eine Ausgestoßene, die – von allen Freunden verlassen – Angst hatte. Sie hatte ihre Mutter verloren, ihren Ehemann und all die Leute, von denen sie gedacht hatte, sie seien ihre Freunde. Ich musste ihr helfen. Oder ihr zumindest Starthilfe geben.

»Könnte ich mal ganz kurz mit euch zwei Hübschen sprechen?«, knurrte Oma Frida.

»Einen Moment, bitte«, sagte ich zu Rynda und stand auf.

Oma packte mit einer Hand meinen Arm und mit der anderen Moms Handgelenk und zerrte uns den gesamten Flur entlang bis zum Ende, so weit wie möglich von der Küche entfernt.

»Die Kinder?« Ich warf Mom einen Blick zu.

»Deine Schwestern passen gerade auf sie auf. Ein Junge und ein Mädchen.«

»Habt ihr beiden völlig euren Verstand verloren?«, fauchte Oma Frida.

»Sie lügt uns nicht an«, sagte ich. »Ihr Ehemann ist wirklich verschwunden.«

»Ich erwarte das ja von ihr!« Oma Frida deutete mit dem Daumen auf mich, während sie meine Mutter wütend anstarrte. »Aber du solltest es wirklich besser wissen, Penelope.«

»Die Frau ist am Ende ihrer Kräfte«, sagte Mom. »Was glaubst du wohl, was für eine Überwindung es sie gekostet hat, hierherzukommen? Das ist unser Job. Wir helfen Leuten wie ihr.«

»Genau!«, fauchte Oma Frida. »Sie ist am Ende ihrer Kräfte. Sie ist wunderschön, reich, hilflos und sucht verzweifelt nach jemandem, der sie rettet. Und sie ist Rogans frühere Verlobte. Rogan und Rynda werden auf jeden Fall Zeit miteinander verbringen, wenn Nevada den Fall annimmt.«

Ich starrte sie an.

»Die Kerle liegen ihr zu Füßen.« Oma Frida ballte ihre Hände zu Fäusten. »Sie lieben es, für arme, hilflose Frauen den Helden zu spielen. Ihr Ehemann ist jetzt schon drei Tage verschwunden. Wenn er nicht abgehauen ist, ist er wahrscheinlich tot. Dann muss sie getröstet werden. Sie wird sich nach einer Schulter umsehen, an der sie sich ausweinen kann, einer attraktiv muskulösen Schulter. Muss ich es für dich wirklich erst ausbuchstabieren? Du bist auf dem besten Weg, ihr deinen Freund auf einem Silbertablett zu servieren!«

Rynda war nicht nur wunderschön, sondern auch sehr, sehr hilflos. Ich wollte ihr helfen. Ich wusste, dass auch Rogan ihr helfen wollen würde.

»So ist es aber nicht. Er hat ihre Verlobung aufgelöst.«

Oma Frida schüttelte den Kopf. »Du hast mir gesagt, dass sie sich schon jahrelang kannten, ja, sogar schon als kleine Kinder. Das vergisst man nicht mal eben so. Und das wissen Rogans Leute auch, deswegen haben sie ihr nicht das Geringste gesagt. Nevada, du spielst mit dem Feuer. Lass sie gehen. Lass sich jemand anderen um sie kümmern. Sie ist eine Hochbegabte. Sie ist reich. Sie ist nicht dein Problem, außer, du machst sie dazu.«

Ich sah Mom an.

»Dritte Regel«, sagte sie.

Als Dad und Mom damals die Firma gegründet hatten, gab es für sie nur drei Regeln: Erstens, sobald wir unsere Bezahlung erhalten hatten, konnte uns niemand anders mehr kaufen; zweitens, wir versuchten immer alles, um keine Gesetze zu brechen; und drittens mussten wir am Ende eines jeden Tages in der Lage sein, unserem Spiegelbild ins Auge blicken zu können. Mit Olivias Tod konnte ich leben. Ich hatte zwar ihretwegen Albträume, aber unser Handeln war gerechtfertigt. Doch Rynda jetzt aus dem Haus zu werfen, wo sie doch gerade an unserem Küchentisch saß, brachte ich nicht übers Herz. Wo sonst sollte sie hingehen?

»Wenn Rynda Rogan mit ein paar Tränen dazu bringt, unsere Beziehung zu beenden, dann hat sie ohnehin keine Zukunft.«

Nahezu alles in mir schenkte den Worten Glauben, die ich gerade ausgesprochen hatte, bis auf diese eine kleinliche Stimme, die leise dagegenhielt. Das war schon okay. Ich war auch nur ein Mensch, und ich hatte das Recht, mich ein wenig unsicher zu fühlen. Aber ich würde den Teufel tun, und meine Unsicherheit mein Leben bestimmen lassen.

»Vielen Dank, Oma, aber ich habe das im Griff.«

Oma Frida riss entrüstet die Arme hoch. »Wenn du dir das Herz brechen lässt, komm nicht, um dich bei mir auszuheulen.«

»Doch, das werde ich.« Ich umarmte sie.

»Iiiih …« Sie tat so, als ob sie sich aus meiner Umarmung befreien wollte, und erwiderte sie dann doch.

Ich öffnete die Tür in Richtung Büro und ging den Flur entlang zu meinem Schreibtisch und dem Laptop, der dort auf mich wartete.

»Das ist James’ Schuld«, sagte Oma Frida in bedauerndem Tonfall hinter mir. »Ich hatte praktisch veranlagte Enkelkinder, und er hat sie mit seinem Altruismus versaut.«

Mom reagierte nicht auf diese Aussage. Dad war schon seit sieben Jahren tot, aber selbst seinen Namen zu hören tat ihr immer noch weh. Mir auch.

Ich schnappte mir den Laptop, einen Notizblock und eine Klientenmappe, nur für den Fall. Dann kehrte ich in die Küche zurück, setzte mich an den Tisch und klappte den Laptop auf. Ein paar Tastenanschläge später wusste ich, dass Bern zu Hause und online war.

Ich sandte ihm schnell eine E-Mail.

Bitte schick mir so schnell wie möglich alles Wissenswerte über Brian Sherwood.

Ich schob den Laptop zur Seite und wechselte zu Notizblock und Stift. In der Regel hatten Leute mit Notizen, die man auf Papier niederschrieb, weniger Probleme als mit einem Laptop oder gar einer Videoaufnahme. Und Rynda musste sich entspannen, sie war ohnehin schon aufgeregt.

»Lassen Sie uns von vorne anfangen.«

»Sie mögen mich nicht«, sagte Rynda. »Ich habe es gespürt, als wir uns das erste Mal in diesem Ballsaal gesehen haben. Sie waren auf mich eifersüchtig.«

»Ja.« Tja, ich hatte mir eine Empathin als Kundin ausgesucht, und das war nun der Dank.

»Und als Sie eben hereinkamen und mich erkannten, verspürten Sie Angst und Mitgefühl.«

»Ja.«

»Aber Sie helfen mir trotzdem. Warum? Es ist kein Schuldgefühl. Schuldgefühle sind wie ein Sturz in einen finsteren Brunnen. Das hätte ich gespürt.«

»Erklären Sie es mir doch!«

Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Magie huschte wie eine federleichte Berührung über meinen Körper. »Mitgefühl«, sagte sie leise. »Und Pflichtgefühl. Warum fühlen Sie sich mir gegenüber verpflichtet?«

»Haben Sie jemals gearbeitet?«

Sie runzelte die Stirn. »Nein. Wir brauchen das zusätzliche Geld nicht.«

Wie angenehm! »Haben Sie irgendwelche Hobbys? Eine Leidenschaft?«

»Ich … fertige Skulpturen an.«

»Verkaufen Sie sie?«

»Nein. Sie sind nichts Besonderes. Ich habe sie noch nie in einer Ausstellung gezeigt.«

»Warum fertigen Sie sie dann weiter an?«

Sie blinzelte. »Die Arbeit macht mich glücklich.«

»Sehen Sie, und Privatdetektivin zu sein macht mich glücklich. Ich tue es nicht nur fürs Geld. Ich tue es, weil ich manchmal die Gelegenheit habe, anderen Menschen unter die Arme zu greifen. Und im Augenblick brauchen Sie meine Hilfe.«

Ein kurzer Signalton ertönte. In meiner Inbox tauchte eine neue E-Mail von Bern auf.

Brian Sherwood, 32, zweiter Sohn des Hauses Sherwood, Hochbegabter, Herbamagos. Haupteinnahmequelle: Sherwood BioCore. Geschätztes Privatvermögen: 30 Millionen Dollar. Ehefrau: Rynda (Charles), 29. Kinder: Jessica, 6, und Kyle, 4. Geschwister: Edward Sherwood, 38, Angela Sherwood, 23.

Brian Sherwood war ein Pflanzenmagier. Rynda war eine Empathin mit einer sekundären telekinetischen Begabung. Das passte nicht zusammen. Hochbegabte heirateten normalerweise nur Partner mit ähnlichen magischen Begabungen. Wie Rogan mir einmal in aller Deutlichkeit und mit dem ihm üblichen Fatalismus erklärt hatte, war das Bewahren und Verstärken magischer Fähigkeiten der Hauptgrund für die meisten Heiratspläne.

Ich erwiderte ihren Blick. »Ich weiß noch nicht, ob ich Ihre erste Wahl sein sollte. Es ist durchaus möglich, dass eine andere Agentur besser für Sie wäre. Aber bevor wir darüber sprechen, erzählen Sie mir bitte, wie Ihr Donnerstag ausgesehen hat. Sie sind aufgewacht. Was ist dann passiert?«

Sie konzentrierte sich. »Ich bin aufgestanden. Brian war bereits wach. Er hatte geduscht. Ich habe uns Frühstück gemacht und danach für ihn und die Kinder das Mittagessen vorbereitet.«

»Machen Sie ihnen jeden Tag das Mittagessen?«

»Ja. Ich tue das gerne.«

Brian Sherwood, der dreißig Millionen Dollar sein Eigen nannte, nahm jeden Tag ein Essenspaket seiner Frau mit zur Arbeit. Hat er es gegessen oder in den Müll geworfen? Das war die Frage.

»Brian gab mir einen Kuss und sagte mir, er würde wie immer zur selben Zeit nach Hause kommen.«

»Um wie viel Uhr ist das?«

»Um sechs. Ich meinte noch zu ihm, es gebe Steak zum Abendessen. Er fragte mich, ob auch Fritten im Spiel seien.«

Sie unterdrückte ein Schluchzen.

»Wer hat Jessica zur Schule gebracht?«

Sie sah mich überrascht an. »Woher kennen Sie ihren Namen?«

»Mein Cousin hat alle öffentlich verfügbaren Informationen angefordert.« Ich drehte den Laptop um und zeigte ihn ihr.

Sie blinzelte. »Mein gesamtes Leben in einem Absatz.«

»Erzählen Sie weiter«, sagte ich zu ihr. »Wie ist Jessica zur Schule gekommen?«

»Brian hat sie dorthin gebracht. Ich bin mit Kyle spazieren gegangen.«

Lüge.

»Ich habe Brian um die Mittagszeit angerufen. Er hat den Anruf entgegengenommen.«

Die Wahrheit.

»Worüber haben Sie gesprochen?«

»Nichts Ernstes.«

Lüge.

»Ich bin nicht Ihr Feind. Es würde mir helfen, wenn Sie ehrlich zu mir wären. Versuchen wir es noch einmal. Wo sind Sie und Kyle hingegangen, und worüber haben Sie am Telefon gesprochen?«

Ihr Mund verwandelte sich in einen geraden, dünnen Strich.

»Alles, was Sie mir hier erzählen, ist vertraulich. Allerdings nicht so vertraulich wie ein Gespräch mit Ihrem Anwalt. Das bedeutet, dass ich vor Gericht verpflichtet wäre, den Inhalt unseres Gesprächs offenzulegen. Aber abgesehen davon wird es niemand erfahren.«

Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen, dachte ausführlich nach und atmete tief durch. »Kyles Magie hat sich doch noch gezeigt. Bei mir wusste man es bereits mit zwei, bei Brian mit vier Monaten. Bei Jessica kam es nach dreizehn Monaten. Kyle ist fast fünf. Er ist spät dran. Wir gehen mit ihm zu einem Spezialisten. Nach jeder Sitzung rufe ich Bryan an, denn er möchte wissen, wie sich Kyle geschlagen hat.«

Ein Kind ohne magische Begabung wäre für einen Hochbegabten eine Katastrophe. Mit einem Mal hörte ich Rogans Stimme in meinem Kopf. Du glaubst noch, dass dir das nichts bedeutet, aber das wird es. Denk an deine Kinder, denen du erklären musst, warum ihre Talente unterdurchschnittlich sind – du warst nicht willens, den genetisch passenden Partner zu wählen.

»Sie haben sich ganz plötzlich Sorgen gemacht. Warum? Lag es an dem, was ich gesagt habe? Ist der Spezialist von Bedeutung?«

»Das weiß ich noch nicht.« Sie würde eine wirklich schwere Klientin sein. Sie bemerkte jede noch so kleine emotionale Änderung. »Hat Kyles Talent sich gezeigt?«

»Nein.«

»Was ist dann passiert?«

Sie seufzte, und wir gingen gemeinsam ihren Tag durch. Sie holte Jessica ab, gab den Kindern eine Kleinigkeit zu essen, und anschließend lasen sie und sahen sich ein paar Cartoons an. Dann bereitete sie das Abendessen vor, doch Brian tauchte nicht auf. In den nächsten beiden Stunden rief sie ihn mehrfach auf seinem Handy an und schließlich seinen Bruder. Edward Sherwood war noch auf der Arbeit. Er hatte zufälligerweise aus dem Fenster gesehen, als Brian zum üblichen Zeitpunkt das Gebäude verließ, und erinnerte sich noch, wie er in seinen Wagen eingestiegen ist. Nur um sicher zu sein, ging Edward hinüber in Brians Büro und bestätigte, dass es leer sei. Er rief auch unten am Empfang an, und der Wachmann bestätigte, dass sich Brian abgemeldet und das Gebäude um Viertel vor Sechs verlassen hatte. Er war nicht zurückgekehrt.

»Wie weit ist ihr Haus von Sherwoods BioCore entfernt?«

»Die Fahrt dauert zehn Minuten. Wir wohnen in Hunters Creek Village. BioCore befindet sich am Post Oak Circle, in der Nähe des Houstonian Hotel. Das sind knapp sechs Kilometer über den Memorial Drive. Selbst bei dichtem Verkehr braucht er in der Regel nur fünfzehn Minuten.«

»Hat Edward erwähnt, ob Brian einen Zwischenhalt einplante?«

»Das wusste er nicht. Er sagte auch, dass er nichts von irgendwelchen Sitzungen an diesem Nachmittag wusste.«

»Hörte er sich besorgt an?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er meinte, dass er sicher sei, dass Brian schon kommen würde. Aber ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Ich wusste es einfach.«

Was immer auch Leute taten, wenn geliebte Menschen verschwunden waren, tat sie auch: Sie rief in Krankenhäusern und bei der Polizei an, fuhr die Strecke ab, weil sein Wagen vielleicht liegen geblieben war, redete mit seinen Kollegen, telefonierte mit anderen Familienmitgliedern, um zu fragen, ob sie etwas von ihm gehört hätten.

»Er ist nicht nach Hause gekommen«, flüsterte sie resigniert. »Am Morgen rief ich Edward an. Er sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen. Er meinte, dass Brian in letzter Zeit angespannt gewesen schien und dass er schon wieder auftauchen würde. Ich teilte ihm mit, dass ich eine Vermisstenanzeige aufgeben würde. Daraufhin meinte er, dass das seiner Meinung nach nicht nötig wäre, aber wenn ich mich dann besser fühlen würde, sollte ich es tun.«

»Wie wirkte er auf Sie?«

»Er schien sich Sorgen um mich zu machen.«

Interessant. »Um Sie? Nicht um Brian?«

»Um mich und die Kinder.«

»Und Brian hat so etwas noch nie zuvor getan?«

Darauf gab sie mir keine Antwort.

»Rynda?«

»Wenn er gestresst ist, dann verschwindet er manchmal«, sagte sie sanft. »Früher zumindest. Aber er ist seit drei Jahren nicht mehr weg gewesen, und es war auch nie so lang. Sie müssen das verstehen, Brian ist kein Feigling, er braucht nur Stabilität. Er mag es, wenn Ruhe in die Sachen kommt.«

Das erklärte auch, warum es bei seinem Bruder nicht sofort die Alarmglocken läuten ließ, und er alle Mann an Deck beordert hatte. »Können Sie mir dazu mehr sagen? Wann ist er das letzte Mal verschwunden?«

»Das war nach Kyles erster Geburtstagsparty. Edward fragte ihn, ob Kyles Talent sich schon gezeigt habe, und Brian musste das verneinen. Dann mischte sich Joshua ein, Brians Vater, der ein Jahr später starb. Er sagte, dass Brian und ich uns besser ans nächste Kind machen sollten, denn Jessica ist wie ich Empathin, und ein Blindgänger könne unmöglich an der Spitze der Familie stehen.«

Er hat seinen Enkel einen Blindgänger genannt. Pfui!

»Vielen Dank«, sagte Rynda.

»Wofür?«

»Ihre Abscheu. Brian drohte in dem Moment von seinen Ängsten überwältigt zu werden. Ich spürte, dass er nur noch wegwollte. Ich sagte allen daher, dass es schon spät sei und die Kinder sehr müde. Die Familie verabschiedete sich. Brian kam nicht ins Bett. Er stieg in seinen Wagen und fuhr weg. Am nächsten Abend kehrte er zurück. Länger ist er seit unserer Hochzeit nie fortgegangen.«

»Hat er Ihnen gesagt, wo er gewesen ist?«

»Er sagte, er sei einfach gefahren. Irgendwann ist er an einem kleinen Hotel vorbeigekommen und hat dort übernachtet. Er kam nach Hause, weil ihm klar wurde, dass er nirgendwo sonst hinkonnte, und er mich und die Kinder vermisste. Er würde mich niemals verlassen, und als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er ruhig.«

Die Wahrheit.

Ich rieb mir über die Stirn. »Haben Sie dies auch der Polizei mitgeteilt?«

»Ja.«

Und man hatte sie als hysterische Ehefrau abgetan, deren Ehemann abgehauen war, weil der Druck zu groß wurde.

»Haben Sie Zugriff auf Brians Bankkonten?«

»Ja.« Sie blinzelte.

»Können Sie nachschauen, ob es irgendwelche Bewegungen gegeben hat? Hat er in den letzten Tagen seine Karten benutzt?«

Sie schnappte sich ihre Handtasche und durchsuchte sie hektisch. »Warum habe ich daran nicht gedacht …« Sie holte ihr Handy hervor und gab die Daten ein.

Sie wartete auf eine Reaktion. Und wartete.

Dann machte sie ein langes Gesicht. »Nein. Nichts.«

»Rynda, haben Sie Ihren Ehemann umgebracht?«

Sie starrte mich an.

»Sie müssen mir antworten.«

»Nein.«

»Wissen Sie, was ihm zugestoßen ist?«

»Nein!«

»Wissen Sie, wo er sich aufhält?«

»Nein!«

Jedes Nein war die Wahrheit gewesen.

»Es gibt mehrere Möglichkeiten«, sagte ich. »Erstens, Brian könnte etwas Schlimmes zugestoßen sein, weil er das Opfer von Streitigkeiten im Haus oder auf seiner Arbeit geworden ist. Zweitens, im Lauf seines Arbeitstages am letzten Donnerstag ist ihm etwas so Traumatisches widerfahren, dass er gezwungen war abzutauchen. Ich kann nach ihrem Ehemann suchen. Alternativ kann ich Ihnen Montgomery International Investigations empfehlen.«

Als Dad krank geworden war, hatten wir unser Unternehmen mit einer Hypothek belastet, die sich im Besitz von MII und damit Augustin Montgomery befand. Unser Verhältnis war nicht unbedingt das Beste, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass MII für ihren Fall die beste Lösung war.

»Es ist eine hervorragende Agentur, und sie sind bestens ausgestattet, um solche Fälle zu lösen. Sie können Sie sich leisten. Es sollte Ihnen klar sein, dass unser Unternehmen nur über einen Bruchteil von MIIs Möglichkeiten verfügt.«

Rynda saß schweigend da.

Jemand flitzte auf sehr kleinen Füßen den Flur entlang.

»Mom!« Ein kleiner Junge kam mit einem Blatt Papier in die Küche gerannt. Er hatte dunkle Haare und Ryndas silberne Augen. Sie breitete die Arme aus, und er rannte mit dem Blatt in ihre Umarmung. »Ich habe einen Panzer gezeichnet! Sie haben einen Panzer in ihrer Werkstatt!«

Catalina betrat die Küche. Sie hatte dunkle Haare, eine schlanke Gestalt und lächelte sanft. »Kyle wollte es Ihnen unbedingt zeigen.«

»Das ist aber ein furchteinflößender Panzer«, sagte Rynda.

»Komm!« Meine Schwester streckte ihre Hand aus. »Ich zeig dir noch andere coole Sachen.«

Kyle legte das Blatt vor seiner Mutter hin. »Das ist ein Geschenk für dich. Ich male noch einen für Dad!« Er rannte wieder zurück. Catalina seufzte und jagte ihm hinterher.

Rynda sah ihm mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck nach.

»Ich habe bereits mit MII gesprochen.« Sie schluckte schwer, und ich bemerkte in ihren Augen kurz den Ausdruck gnadenloser Logik, für den ihre Mutter so gefürchtet gewesen war. »Montgomery hat mich abgelehnt.«

Augustin Montgomery hatte sich entschlossen, sich in diese Angelegenheit nicht einzumischen. Interessant. Ich war wirklich ihre letzte Hoffnung.

»Nun gut«, sagte ich. »Ich werde nach Brian suchen.«

Sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. Dann platzte es plötzlich aus ihr heraus. »Ich will einen Vertrag.«

»Okay.«

»Ich möchte nicht, dass dies als Akt der Barmherzigkeit verstanden wird. Ich will Sie bezahlen.«

»Das ist für mich in Ordnung.«

»Ich möchte alles klar und professionell ausformuliert haben.«

»Das sehe ich genauso.«

»Und unsere Beziehung ist die einer Klientin zu ihrem Dienstanbieter.«

»Einverstanden«, sagte ich.

Eine Tür flog auf. Ein Gewittersturm brodelte hinter mir, bewegte sich durch unser Haus, voller Kraft und Magie. Rogan.

Er tauchte in der Tür zur Küche auf, groß gewachsen, mit breiten Schultern und blauen Augen. Seine Magie umhüllte ihn wie ein wild gewordenes Haustier, stets bereit, nach allem in seiner Nähe zu schnappen. Wenn ich ihn nicht gekannt hätte, wäre ich einige Schritte zurückgewichen und hätte meine Waffe gezogen.

»Connor!« Rynda sprang von ihrem Stuhl auf, rannte auf ihn zu und umarmte ihn.

Rasende Eifersucht durchbohrte mein Herz wie ein Pfeil aus Eis. Er gehörte mir.

Rogan legte zärtlich seine Arme um sie und sah mich mit seinen blauen Augen an. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Nein.« Rynda unterdrückte ein Schluchzen. »Brian ist verschwunden.«

Er sah mich immer noch an. Ich nickte. Ja. Mir geht’s gut.

Rynda ließ ihn wieder los. »Ich wusste nicht, an wen ich mich wenden sollte. Ich …«

»Ich kümmere mich drum«, sagte ich zu Rogan.

»Es gibt niemand Besseres als Nevada«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Ich warf einen Blick auf meinen Laptop: 17.47 Uhr. »Rynda, ich habe einigen Papierkram, den Sie unterzeichnen müssen. Ich kann heute schon einiges erledigen, aber morgen gehe ich dann zu BioCore und werde dort nachforschen. Es würde mir die Arbeit erleichtern, wenn Sie dort anrufen und die Familie darauf vorbereiten, dass ich vorbeischauen werde.«

»Ich werde Sie begleiten«, sagte sie.

»Es wäre am besten, wenn ich allein gehe«, sagte ich. »Es gibt unter Umständen Dinge, die die Leute in Ihrer Anwesenheit nicht aussprechen wollen. Wenn ich Zugang zur Familie Sherwood oder anderen gesperrten Bereichen benötige, werde ich Sie auf jeden Fall bitten, mich zu begleiten.«

»Was tue ich denn jetzt?« Sie sah Rogan an, nicht mich.

»Unterschreibe den Papierkram und geh heim. Brian könnte zu Hause anrufen oder wieder auftauchen«, sagte Rogan. »Du bist nicht allein, Rynda. Nevada wird dir helfen. Ich werde dir helfen.«

»Ich hasse dich dafür, dass du meine Mutter getötet hast«, sagte sie mit ergriffener Stimme.

»Ich weiß«, lautete seine Antwort. »Es ließ sich nicht vermeiden.«

»Alles fällt auseinander, Connor. Wie kann das einfach so passieren?«

»So ist nun mal das Leben der Häuser«, sagte er.

Rynda ließ die Schultern hängen. Sie wandte sich mir zu. »Wo muss ich unterschreiben?«

Ich ging mit ihr die Unterlagen durch, die Kosten und jede einzelne Klausel. Sie unterschrieb den Vertrag und verließ die Küche, um ihre Kinder zu holen.

Rogan wartete, bis sie uns nicht mehr sehen konnte, und trat dann nahe an mich heran.

»Sie braucht eine Eskorte für den Heimweg«, sagte ich. »Und jemand muss auf ihr Haus aufpassen.« Wir hatten keine Ahnung, wohin uns unsere Untersuchung führen würde. Zusätzliche Vorsicht zahlte sich immer aus.

»Dann kümmere ich mich darum«, sagte er und küsste mich. Es war ein spontaner Kuss, leidenschaftlich und wild. Er brannte wie Feuer auf meinen Lippen.

Wir lösten uns voneinander, und ich erkannte den Drachen in seinem Blick. Rogan bereitete sich darauf vor, in den Krieg zu ziehen.

»Deine Großmutter ist in der Stadt«, sagte er und drückte mir einen USB-Stick in die Hand. »Du musst dich heute Abend entscheiden.«

Er drehte sich um und ließ mich stehen. Die Erinnerung an seinen Kuss loderte immer noch in mir.

Ich atmete tief durch und steckte den USB-Stick in meinen Laptop.

2

Die Familie hatte sich um den Esstisch versammelt. Diesmal saß ich am Kopfende. Zu meiner Rechten erhob sich ein Blätterstapel, den ich unter einer Mappe verborgen hielt. Ich hatte den Inhalt des USB-Sticks ausgedruckt.

Meine beiden Schwestern hockten auf den Plätzen direkt neben mir, Catalina rechts und Arabella links. Catalina, die in knapp einer Woche achtzehn werden würde, hatte dunkle Haare und wirkte ruhig und ernst. Sie mochte Mathematik, weil sie für sie Sinn ergab, und würde fast alles tun, um nicht im Mittelpunkt zu stehen. Arabella, gerade mal fünfzehn, war blond, sportlich, hatte größere Brüste und einen wohlproportionierteren Hintern, und in ihrem Dasein gab es das Wort Ruhe überhaupt nicht. Sie liebte die Forensik und die Geisteswissenschaften. Wenn es irgendein Problem gab, bestand ihr ganz persönlicher Lösungsansatz darin, »Leute an den Pranger zu stellen«. Der Debattierklub an ihrer Highschool, der den fatalen Fehler begangen hatte, sie zu übergehen, weil sie noch zu jung für die Aufnahme und das Team voll besetzt gewesen war, lebte in ständiger Furcht vor ihr.

Bernard, der ältere unserer beiden Cousins, saß neben Catalina. Bern war nicht nur über einen Meter achtzig groß, sondern hatte auch Schultern, mit denen er mehr schlecht als recht durch schmale Türen passte. Wer ihn das erste Mal sah, dachte vermutlich, dass er ein professioneller Schläger sein musste. Er hatte in der Highschool im Wrestling-Team mitgemacht und ging immer noch ein paarmal die Woche zum Judo. Seiner Aussage nach tat er das, weil er eine Abwechslung zum stundenlangen Programmieren brauchte. Als Kind hatte er aschblonde Locken gehabt. Von den Locken war nichts mehr zu sehen. Jetzt hatte er dunkelblonde Haare, die er sich zwar regelmäßig kurz schnitt, aber sonst nicht allzu sehr pflegte.

Sein Bruder Leon war das genaue Gegenteil von ihm. Er war schlank, dunkelhaarig und sehr schnell. Sein sechzehn Jahre junger Körper wechselte ständig so rasant zwischen Sarkasmus, Begeisterung und großer Trübsal hin und her, wie es seine Hormone erlaubten. Er verehrte seinen Bruder. Außerdem hielt er sich für einen Blindgänger ohne jegliches magische Talent. Ich wusste, dass dem nicht so war, und bemühte mich nach Kräften, dies für mich zu behalten. Leons magische Begabung konnte nur zu einer einzigen Art von Beschäftigung führen, und niemand von uns wünschte ihm einen solchen Beruf. Im Augenblick wussten nur Bug, Rogans Überwachungsspezialist, meine Mutter und ich, wozu er fähig war. Meiner Mutter hatte ich es nur erzählt, weil sich diese Begabung explosionsartig manifestieren würde, und wenn ich nicht in der Nähe wäre, musste sich jemand anders um ihn kümmern. Früher oder später musste ich es Leon sagen.

Meine Mutter saß am anderen Ende des Tisches. Als Soldatin hatte sie sich in Kriegsgefangenschaft eine permanente Gehbehinderung eingefangen. Jetzt wirkte sie sanfter, hatte ihre braunen Haare zu einem Zopf geflochten, der ihr bis in den Nacken hing. Ihre Augen waren so braun wie meine eigenen. Als Dad krank geworden war und gegen den Tod gekämpft hatte, hatte Mom uns zusammengehalten. Ich begann erst langsam zu begreifen, wie viel sie das gekostet hatte.

Oma Frida saß neben Mom. Eine meiner frühesten Erinnerungen stammte vom Fußboden der Werkstatt. Ich spielte dort mit kleinen Modellautos, und Oma Frida, die damals noch blonde Strähnen im Haar gehabt hatte, summte zufrieden, während sie an einem riesigen Fahrzeug arbeitete. Die meisten Menschen rochen nur das Motorenöl und die Autoreifen und dachten Mechanikerin. Ich dachte Oma.

Familie.

Ich liebte sie alle sehr. Ich war bereit, alles zu tun, um sie in Sicherheit zu wissen. Dieses Weihnachtsfest würde niemand von uns vergessen.

»Victoria Tremaine weiß, wer wir sind«, sagte ich.

Dieser Satz krachte wie ein Haufen Ziegelsteine in die Stille. Arabella erblasste. Catalina knabberte an ihrer Unterlippe. Bernard wurde sehr, sehr leise. Leon, der nicht wusste, worum es ging, runzelte die Stirn, als er die Besorgnis in unseren Gesichtern wahrnahm. Niemand ergriff das Wort.

Das Talent des Wahrheitssuchers kam nur äußerst selten vor. In den gesamten Vereinigten Staaten gab es nur drei Häuser mit Wahrheitssuchern. Haus Tremaine war das kleinste und das gefürchtetste. Es hatte nur eine Hochbegabte: Victoria Tremaine. Und sie war auf dem Weg zu uns.

»Wie sicher ist das?«, fragte Mom schließlich.

»Sie hat versucht, unsere Hypothek zu kaufen.«

Mom fluchte laut.

»Ich dachte, Haus Montgomery besitzt unsere Hypothek«, warf Leon ein.

»Haus Montgomery ist im Besitz der Hypothek auf unser Geschäft«, erklärte Bernard geduldig. »Die Hypothek auf das Lagerhaus war im Besitz einer Privatbank, bis Rogan sie gekauft hat.«

Ich unterbrach ihn, damit sie nicht plötzlich das Thema wechselten. »Damit ihr alle auf dem neuesten Stand seid, müsst ihr wissen, dass Dad Victorias einziges Kind war. Er wurde ohne magische Begabung geboren, und sie hasste ihn dafür. Er ist nach der Highschool weggerannt, hat Mom kennengelernt und ohne viel Aufsehen zu erregen, gelebt. Deswegen hat sie ihn nie gefunden. Doch jetzt weiß sie Bescheid. Sie ist das einzige Mitglied ihrer Familie. Wenn sie stirbt, dann stirbt das Haus Tremaine auch.«

»Warum wusste ich nichts davon?«, fragte Leon. »Bin ich der Einzige, der das nicht wusste? Ihr habt es alle gewusst und mir nichts gesagt?«

Ich hob die Hand. »Im Augenblick ist nur eins wichtig: Victoria Tremaine braucht uns um jeden Preis. Sie ist die letzte überlebende Hochbegabte ihres Hauses.«

»Das Haus ist alles«, sagte Bernard leise. »Sie muss dich und die Mädchen als Hochbegabte eintragen lassen, damit sie ihr Haus fortführen kann.«

»Frage!«, meldete sich Leon. »Wenn sie die einzige Hochbegabte ist, wie kann sie noch ein Haus sein?«

»Jedes Mal, wenn ein neuer Hochbegabter eingetragen wird, kontrolliert das Hochbegabtenregister, ob die Familie noch über zwei Hochbegabte verfügt. Wenn sie noch zwei lebende Hochbegabte hat, dann wird die Familie als Haus erneut zertifiziert. Der Rang einer Familie wird nur dann heruntergestuft, wenn der letzte Hochbegabte stirbt, der bei der letzten Zertifizierung bestätigt worden ist.«

Meine Schwester hatte sich offensichtlich Kenntnisse über die Häuser angelesen.

»Ihr wisst, was ich kann«, sagte ich.

Ich konnte eine Menge. Eine Lüge zu entlarven war nur das geringste meiner Talente. Ich konnte den menschlichen Verstand wie eine Walnuss knacken und alles aus ihm herauspulen, was ich für nötig hielt. Und ich musste ihn nicht in einem Stück zurücklassen.

»Victoria kann alles, wozu ich auch in der Lage bin, und noch viel mehr, und sie ist viel besser darin. Ich fange erst langsam an zu verstehen, was ich wirklich kann. Sie hat diese Art der Magie benutzt, seitdem sie ein Stück Kreide in der Hand halten konnte. Sie besitzt Macht, Geld und Soldaten. Wir nicht. Sie wird alles tun, um die Kontrolle über mich und zumindest Catalina zu erhalten.«

Oma Frida hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund.

Bernard war wie immer ruhig und beständig, der Fels in der Brandung. Doch auch in seinen Augen blitzte Furcht auf. »Mit Catalinas Talent könnte sie furchtbare Dinge anstellen.«

Unsägliche Dinge. Dinge, für die sich meine freundliche, fürsorgliche Schwester hassen würde.

»Und wenn Arabellas Magie entdeckt wird …« Ich beendete den Satz nicht.

Ich wollte nicht einmal darüber nachdenken. Sie würden sie wegsperren und für den Rest ihres Daseins ruhigstellen. Sie würde niemals wieder die Sonne sehen. Sie würde nie wieder lachen, lieben, leben.

Meine Großmutter würde meine Schwestern nicht in ihre Klauen bekommen. Das würde ich nicht zulassen.

Catalina beugte sich vor und sah mich trotzig an. »Welche Möglichkeiten haben wir?«

Ich warf einen Blick auf meine Mutter. Sie saß reglos und mit finsterer Miene da.

»Wir können uns einfach ergeben«, sagte ich. »Das würde wahrscheinlich bedeuten, dass du und ich tun müssen, was immer Victoria auch sagt. Wir würden unsere Firma aufgeben müssen.«

Catalina zuckte zusammen. Unsere Eltern hatten Baylor Investigative Agency aufgebaut, und ich hatte sieben Jahre damit verbracht, das Geschäft voranzubringen. Es handelte sich nicht bloß um eine Firma, sondern um das Zentrum, um die Zukunft unserer Familie.

Ich musste weitermachen. »Wir werden Mom, Oma Frida, Bernard und Leon wohl ziemlich lange nicht mehr sehen.«

Das rief völliges Entsetzen hervor.

»Wir müssten ihr gehorchen und tun, was immer sie auch verlangt. Ich würde Verhöre führen und Menschen bei lebendigem Leib das Gehirn sezieren.« Ich hielt meinen Tonfall bewusst ausdruckslos. Was sie von mir jetzt überhaupt nicht brauchen konnten, waren heftige Gefühle. »Irgendwann wird Victoria sterben. Sie ist alt.«

Und das klang überhaupt nicht morbid. Ganz und gar nicht.

Ich quälte mich weiter voran. »Am Ende würden wir Haus Tremaine erben.«

»Wie lange kann das dauern?«, fragte Leon.

»Ich weiß nicht. Sie ist um die siebzig. Zehn Jahre vielleicht, womöglich auch zwanzig.«

»Tür Nummer zwei, bitte«, sagte Arabella.

»Das sehe ich genauso«, warf Bernard ein. »Das machen wir auf keinen Fall.«

»Wir können kämpfen«, sagte ich. »Victoria hat mehr Geld, mehr Leute und überhaupt von allem mehr als wir.«

»Aber Rogan würde uns doch beistehen, oder?«, fragte Arabella.

Ich wusste nicht, wie ich darauf antworten sollte. »Ja. Aber wir können uns nicht immer auf Rogan verlassen.«

Genau genommen war das eine Lüge. Rogan würde alles tun, um mir zu helfen. Alles, ohne Ausnahme.

»Wir sollten uns nicht immer auf Rogan verlassen«, sagte Mom.

Alle sahen sie an.

»Das ist nicht sein Problem«, stellte sie fest. »Es ist unser Problem.«

»Wenn wir zulassen, dass Rogan uns rettet, dann binden wir uns an ihn«, sagte ich. »Man würde uns als seine Vasallen betrachten. Er würde uns zwar beschützen, aber wir würden zugleich alle seine Feinde erben. Und er hat ziemlich mächtige Feinde.«

»Und wenn deine Beziehung mit Rogan schiefgeht, dann wird es richtig kompliziert für uns«, sagte Bernard.

»Genau.«

»Also wollen wir zwar nicht aufgeben, können aber auch nicht gegen die böse Oma kämpfen. Haben wir noch eine dritte Option?«, fragte Arabella.

»Ja. Wir könnten ein Haus werden.«

Meine Schwestern und Cousins starrten mich entgeistert an. Ich hatte diese Möglichkeit bereits einmal angesprochen, doch damals waren wir noch damit beschäftigt gewesen, einen Mord aufzuklären. Außerdem hatten wir noch andere wichtige Dinge zu erledigen, wie zum Beispiel nicht getötet zu werden.

»Oha!« Leon blinzelte.

»Nein«, sagte meine Mutter. »Es muss einen anderen Weg geben.«

Ich lehnte mich zurück. »Die Gründung unseres Hauses würde uns für drei Jahre Immunität vor den Angriffen anderer Häuser garantieren. Das würde reichen, um eine Machtbasis aufzubauen.«

»Würde Victoria sich an diese Regelung halten?«, fragte Catalina.

»Laut Rogan würde sie das. Es ist im Interesse aller, neue Häuser zu beschützen, denn sonst würde sich die Inzucht unter den bestehenden Häusern zu einer echten Bedrohung entwickeln. Anscheinend handelt es sich dabei um eine der Regeln, die Hochbegabte unter keinen Umständen brechen. Damit könnten wir uns die Zeit verschaffen, um die Machtbasis aufzubauen, Bündnisse zu schmieden und all die Dinge zu tun, die Häuser eben so tun.«

»Das kannst du nicht ernst meinen«, sagte Mom.

»Doch.«

»Sie wird sich nicht an irgendwelche Regeln halten. Diese Frau ist ein Ungeheuer. So naiv kannst du nicht sein, Nevada.«

Ich erwiderte den Blick meiner Mutter. »Ja, sie wird uns wahrscheinlich immer noch angreifen. Aber sie wird es auf eine Art und Weise tun müssen, die sich nicht zu ihr zurückverfolgen lässt. Wenn wir ein Haus wären, dann würde ihr all das wesentlich schwerer fallen.« Und sobald wir erst mal ein Haus waren, konnten wir als Gleichgestellte Bündnisse eingehen.

»Du baust in ihren Köpfen Luftschlösser, was ein Haus alles kann. Warum erzählst du ihnen nicht, wie es wirklich aussieht? Erzähl ihnen von Baranovsky.«

»Mom hat recht«, sagte ich. »Die Häuser sind grausam. Erinnert ihr euch an den Wohltätigkeitsball, zu dem ich das schwarze Kleid getragen habe? Er war äußerst exklusiv. Der Gastgeber, Gabriel Baranovsky, hat am oberen Ende der Treppe zum Ballsaal ein Glas Champagner getrunken. David Howling hat den Wein in Gabriels Hals gefrieren lassen. Und in eine Klinge verwandelt, die Gabriels Hals von innen nach außen durchtrennt hat.«

»Krasser Typ«, warf Leon ein.

Wir starrten ihn alle an.

»Es ist elegant«, sagte er. »Das Eis schmilzt, und es gibt keine Beweise. Keine Fingerabdrücke, keine Mordwaffe, man findet nichts.«

Ich musste ihm von seiner Magie erzählen. Ich konnte es nicht mehr länger hinauszögern. So funktionierte sein Verstand nun mal, und es gab keine Möglichkeit, sein Gehirn irgendwie neu zu verdrahten. Vielleicht sollte ich es einfach jetzt hinter mich bringen.

Meine Mutter räusperte sich und warf mir einen drohenden Blick zu. Es fühlte sich fast so an, als ob sie Telepathin wäre.

»Als Baranovsky an seinem eigenen Blut erstickte und zusammenbrach, hat ihm niemand geholfen«, sagte ich. »Niemand schrie. Hunderte Hochbegabte drehten sich in aller Ruhe um und gingen Richtung Ausgang, denn die Villa wurde anschließend hermetisch abgeriegelt, und sie wollten sich diesen Ärger ersparen.«

Ich wartete, bis meine Worte richtig bei ihnen angekommen waren.

»Hochbegabte nehmen keine Rücksicht darauf, dass ihr jung seid. Sie werden nicht nett sein. Sie werden versuchen, uns zu benutzen, zu manipulieren oder zu vernichten. Ihr könntet mitten in der Kongregation stehen, und wenn dort ein Hochbegabter ein Rudel Wölfe beschwören würde, um euch in Stücke reißen zu lassen, dann bezweifle ich, dass euch irgendjemand helfen würde. Das wäre dann unser Dasein.«

Sie machten alle grimmige Gesichter. Ich schien sie nicht überzeugen zu können. Ich hatte erwartet, dass Mom nicht meiner Ansicht sein würde, aber ich musste zumindest meine Schwestern überzeugen.

»Aber wenn wir uns dazu entschließen, dann können wir drei Jahre lang unsere Machtbasis aufbauen«, sagte ich. »Victoria ist auf dem Weg zu uns. In diesem Augenblick. Sie ist bereits in der Stadt. Der einzige Grund, weshalb sie uns noch nicht angegriffen hat, ist, dass Rogans Leute unsere gesamte Umgebung befestigt haben. Sie müsste an ihnen vorbei, und sie möchte einen Kampf mit Haus Rogan verhindern, wenn das möglich ist.«

»Packt eure Sachen«, sagte Mom. »Ihr fünf verschwindet sofort.«

»Mom?« Arabella starrte sie an. »Wir können nicht gehen.«

»Das kommt gar nicht infrage.« Ich wusste, dass sie so reagieren würde.

»Ich werde mein Studium nicht abbrechen«, sagte Bernard.

»Wir lassen euch nicht zurück!« Catalinas Stimme drohte zu kippen. »Wir werden dich und Oma nicht im Stich lassen!«

Der Tonfall meiner Mutter ließ keinen Zweifel daran, dass es ihr ernst war. »Du hast gehört, was ich gesagt habe.«

»Wohin denn?«, fragte Oma Frida mit einer so hohen Stimme, dass man hätte meinen können, sie wäre im Stimmbruch.

Mom wandte sich ihr zu.

»Wo kannst du sie hinschicken, Penelope, dass dieses Biest sie nicht findet? Victoria Tremaine weiß, wie sie aussehen. Sie kennt ihre Namen. Sie hat ihre Sozialversicherungsnummern. Sie kann jedem Menschen, auf den sie trifft, alle Geheimnisse entreißen. Wo auf diesem Planeten willst du einen Ort finden, an dem ihr Geld und ihre Macht sie nicht finden können?«

»Mom«, sagte meine Mutter leise. Sie schien völlig perplex.

»Ich habe dir vor sechsundzwanzig Jahren gesagt, wenn du ihn heiratest, dann wirst du dafür bezahlen. Ich habe dich gebeten, ihn zurückzulassen. Du hast nicht auf mich gehört. Du hast sie dazu erzogen, sich niemals kampflos zu ergeben. Da werden sie sich jetzt wohl kaum aus dem Staub machen.«

»Sie werden tun, was ich ihnen sage«, brachte Mom mühsam zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich bin ihre Mutter.«

Oma Frida kniff die Augen zusammen. »Ach, so ist das. Wie gut hat das denn in meinem Fall funktioniert?«

Mom wollte darauf antworten, entschied sich aber dagegen.

»Was müssen wir tun, um ein Haus zu werden?«, fragte Catalina.

»Mindestens zwei von uns müssen die Prüfungen durchlaufen und als Hochbegabte anerkannt werden«, sagte ich. »Aller Wahrscheinlichkeit nach du und ich.«

Meine Schwester runzelte die Stirn. »Was, wenn ich es nicht schaffe?«

»Dann mache ich es!«, warf Arabella ein.

»Nein«, sagten alle außer ihr gleichzeitig.

»Warum nicht?«

»Du weißt genau warum«, sagte meine Mutter. »Zwing mich nicht dazu, diesen Dokumentarfilm wieder hervorzukramen.«

Meine Schwester atmete tief durch. Oh, oh!

»Ich werde mich nicht den Rest meines Lebens verstecken. Niemand wird jemals sehen, was ich wirklich kann!« Sie schlug mit ihrer kleinen Faust auf den Tisch. »Ich werde mich auch den Prüfungen stellen.«

Der Gesichtsausdruck meiner Mutter machte mir deutlich, dass ich dem sofort widersprechen musste, oder sie würde sie alle anbrüllen und versuchen, sie doch noch ins Exil zu schicken.

»Du kannst deine Magie kontrollieren«, sagte ich.

»Ja!«, sagte Arabella.

»Das wissen wir, aber sonst weiß das niemand. Die Leute haben Angst, denn die letzte Person mit deinen Fähigkeiten ist durchgedreht. Wenn sie dich akzeptieren sollen, dann müssen wir ihnen nicht nur zeigen können, dass du dich jederzeit unter Kontrolle hast, sondern auch, dass wir als Familie jederzeit die Kontrolle über dich haben. Das braucht seine Zeit. Wenn du bereit bist, diese drei Jahre zu warten, dann werden wir uns als Haus etabliert haben. Und dann, mit achtzehn, darfst du dich den Prüfungen stellen.«

»Nevada!«, knurrte Mom.

»Das bedeutet aber auch, dass wir in den nächsten drei Jahren im Rampenlicht stehen werden«, fuhr ich fort. »Was heißt, dass du aufhören musst, dich wie ein verzogenes Kleinkind zu benehmen.«

»Genau.« Catalina nutzte ihre Chance. »Keine Gefühlsausbrüche mehr, kein Geschrei, du darfst niemanden mehr schlagen und keinen Blödsinn mehr auf Twitter schreiben.«

Arabella verschränkte die Arme vor der Brust. »Na gut. Aber ich will, dass du mir das versprichst! Ich will, dass du mir hier und jetzt versprichst, dass ich, wenn ich mich benehme, in drei Jahren die Prüfungen ablegen werde.«

»Ich verspreche es.«

Meine Mutter schlug krachend mit der Faust auf den Tisch.

»Ah, von ihr hat sie das also gelernt«, kommentierte Bernard knochentrocken.

»Wie lautet die Alternative?«, fragte Oma Frida Mom.

»Nicht den Rest ihres Lebens weggesperrt und ständig mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt zu werden«, knurrte Mom.

»Es gibt noch einige Formalitäten zu erledigen«, sagte ich. »Jeder, der sich den Prüfungen stellt, muss eine DNA-Probe abgeben, damit sie hundertprozentig sicherstellen können, dass wir miteinander verwandt sind. Außerdem müssen wir eine Menge Papierkram einreichen. Anschließend wird ein Termin für die Prüfungen angesetzt, dann müssen wir sie bestehen, und wenn wir das geschafft haben, werden wir ein Haus.«

»Das ist alles?«, fragte Leon.

»Ja.« Ich legte meine Hand auf den Papierstapel. »Wenn wir uns dazu entschließen, dann war es das. Danach gibt es kein Zurück mehr.«

»Was, wenn wir die Prüfungen nicht bestehen?«, fragte Catalina. »Dann werden wir wie Idioten dastehen, die Hochbegabte sein wollten und versagt haben. Niemand würde uns mehr anheuern.«

»Wir werden die Prüfungen bestehen. Ich bin eine Hochbegabte und du auch.«

»Es kann sein, dass sie meine Magie nicht einmal zuordnen können«, beharrte sie. »Was, wenn sich meine Fähigkeiten permanent auf Leute auswirken? Was, wenn –«

»Ach, halt die Klappe«, unterbrach sie Arabella. »Du hast eine ganze Armee Auftragsmörder dazu gebracht, sich auf den Boden zu setzen und deiner Geschichte zuzuhören, als ob sie alle noch im Kindergarten wären. Und von denen geht es keinem schlecht.«

»Ich möchte mich auch den Prüfungen stellen«, sagte Bernard. »Ich mag kein Hochbegabter sein, aber ich war zehn, als sie mich das letzte Mal getestet haben. Ich bin mittlerweile stärker.«

Leon brach mit hochdramatischer Geste auf seinem Stuhl zusammen. »Ja, ja, streut ruhig noch Salz in die Wunde. Ihr und eure Magie. Ich bin und bleibe der Blindgänger der Familie.«

Ich öffnete meinen Mund, überlegte es mir dann aber anders. Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um es ihm zu sagen.

»Nevada, es muss eine andere Möglichkeit geben«, sagte Mom.

»Ich weiß keine andere«, betonte ich. »Rogan auch nicht. Wenn es eine andere Lösung gäbe, würde ich sie sofort umsetzen, Mom. Ich schwöre dir, ich hätte es schon längst getan. Aber das ist im Augenblick die einzige Möglichkeit, wie ich unsere Sicherheit gewährleisten kann.«

»Wenn wir uns dafür entscheiden, werden wir niemals sicher sein«, sagte Mom.

»Wenn wir das tun, wird unser Leben nie mehr dasselbe sein.« Das war zwar nicht gerade eine Antwort auf ihren Einwurf, aber ich musste einfach weitermachen. »Deswegen werden wir die Entscheidung als Familie treffen. Wir tragen die Verantwortung gemeinsam. Ist die Entscheidung getroffen, wird sich niemand darüber beschweren, und alle werden an einem Strang ziehen. Möchte noch jemand etwas hinzufügen?«

Schweigen.

»Jeder, der dafür ist, dass wir ein Haus werden, hebe die Hand.«

Ich hielt meine Hand hoch. Bernard, Arabella, Leon und Oma.

»Alle, die dafür sind, zu fliehen und sich zu verstecken?«

Mom hob die Hand.

Ich sah Catalina an.

»Ich enthalte mich«, sagte sie.

»Du darfst dich nicht enthalten«, warf Arabella ein. »Triff jetzt endlich mal deine eigene Entscheidung!«

Catalina atmete tief durch. »Ich entscheide mich für das Haus.«

»Narren«, sagte meine Mutter. »Ich habe einen Haufen Idioten großgezogen.«

»Aber immerhin wir sind deine Idioten, Tante Penelope«, sagte Leon.

Ich schnappte mir den Papierkram, den ich bereits mit bunten Klebestreifen versehen hatte, wo sie zu unterschreiben hatten. »Ich brauche von allen die Unterschriften.«

»Moment!« Oma Frida hatte ihr Mobiltelefon in der Hand. »Wir müssen für die Nachwelt ein Foto machen.«

Sie rückten um mich herum zusammen. Oma Frida stellte den Selbstauslöser ein, und wir machten ein Foto von uns allen, mit mir in der Mitte: Ich hielt einen Stift in der Hand, und vor mir stapelten sich die Papiere. Mir wurde mit einem Mal ganz flau im Magen.

Ich liebte sie alle sehr. Ich konnte nur hoffen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Das Hochbegabtenregister befand sich in einem kleinen, mit schwarzem Glas verkleideten Hochhaus am Old Spanish Trail, direkt gegenüber dem Standesamt. Das ungewöhnliche Gebäude lehnte sich von der Straße weg, und mit seinen seltsam gestalteten Außenflächen vermittelte es ein noch viel seltsameres Profil. Als Rogan mit seinem metallic blaugrauen Range Rover auf den Parkplatz fuhr, erblickte ich die Vorderseite des Hochhauses. Sie war wie ein Federkiel geformt.

Der Sonnenuntergang sorgte auf dem dunklen Glas für spannende Effekte. Auf dem Parkplatz war nur eine Handvoll Autos zu sehen.

»Bist du sicher, dass er kommen wird?«, fragte ich.

»Ja.«

»Es ist der erste Weihnachtstag.«

Rogan wandte sich mir zu. »Er wird kommen, weil ich ihn angerufen und darum gebeten habe.«

Ich hielt die verschlossene Mappe so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Die letzte Chance, mich umzuentscheiden.

Als Rogan sich zu mir drehte, umgab mich seine Magie. Er ergriff meine Hand und hielt sie fest. »Möchtest du, dass ich uns hier wegbringe?«

»Nein.« Ich schluckte schwer. »Auf geht’s!«

Wir stiegen aus und gingen in Richtung Eingang. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Zischen, und wir betraten ein modernes Foyer. Die Wände waren in schwarzem Granit gehalten, der glänzende Boden aus hellgrauem Granit, und in der Mitte des Foyers zeichneten dünne goldene Linien einen magischen Kreis nach. Ein Wachmann, der hinter dem Empfangstresen saß, nickte uns kurz zu. Rogan führte mich an ihm vorbei zu den Aufzügen.

Die Mappe in meiner Hand fühlte sich unglaublich schwer an. In mir kamen alle Zweifel hoch, die ich besiegt zu haben glaubte, und weigerten sich zu verschwinden.

»Tue ich wirklich das Richtige?«

»Du tust das Einzige, was du noch tun kannst, um deiner Familie Sicherheit zu bieten.«

»Was, wenn ich es nicht schaffe?«

»Du bist Olivia Charles gegenübergetreten, einer hochbegabten Manipulatorin, und du hast sie besiegt.« Er sagte dies mit ruhiger Stimme. »Du wirst die Prüfungen bestehen.«

»Danke, dass du mich begleitest.«