4,99 €
Zwölf zauberhafte Rauhnächte-Geschichten mit den Highland-Hexen aus der beliebten HIGHLAND-HEXEN-KRIMI-Serie von Felicity Green.
Zwölf Rauhnächte: Die Zeit zwischen den Jahren – und dem Mondjahr und dem Sonnenjahr. Magische Rituale helfen in diesen Nächten dabei, in die Zukunft zu schauen oder sich etwas aus der Vergangenheit offenbaren zu lassen. Es ist eine magische Zeit, der ein ganz besonderer Zauber innewohnt.
Zwölf Geschichten: Ein Wiedersehen mit altbekannten Hexen und Begegnungen mit neuen Töchtern des Bundes aus dem malerischen Örtchen Tarbet am Loch Lomond.
Jede Geschichte steht für sich allein, aber gemeinsam verflechten sie sich zu einem neuen Ende für die Highland-Hexen – das wie jedes Ende auch immer gleichzeitig ein Anfang ist.
Die HIGHLAND-HEXEN-KURZGESCHICHTEN jetzt lesen!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2022
Felicity Green
HIGHLAND-HEXEN-KURZGESCHICHTEN
Die zwölf Rauhnächte
© Felicity Green, 1. Auflage 2022
www.felicitygreen.com
Veröffentlicht durch:
A. Papenburg-Frey
Schlossbergstr. 1
79798 Jestetten
Umschlaggestaltung: Carolina Fiandri, CirceCorp design
Korrektorat: Wolma Krefting, bueropia.de
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Personen und Handlungen sind frei erfunden oder wurden fiktionalisiert. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Vorwort
1. Die Hexe in der Kristallkugel
Die erste Rauhnacht 1
Die erste Rauhnacht 2
Die erste Rauhnacht 3
Die erste Rauhnacht 4
2. Licht aus
Die zweite Rauhnacht 1
Die zweite Rauhnacht 2
3. Der Vogel
Die dritte Rauhnacht
4. Der Schrein der Sturmhexe
Die vierte Rauhnacht
5. Brigid
Die fünfte Rauhnacht 1
Die fünfte Rauhnacht 2
Die fünfte Rauhnacht 3
Die fünfte Rauhnacht 4
6. Das Rosencottage
Die sechste Rauhnacht 1
Die sechste Rauhnacht 2
Die sechste Rauhnacht 3
7. Hogmanay
Die siebte Rauhnacht
8. Der Kreis: Teil 1
Die achte Rauhnacht 1
Die achte Rauhnacht 2
9. Der Kreis: Teil 2
Die neunte Rauhnacht 1
Die neunte Rauhnacht 2
10. Der mysteriöse Fall der Abbey Fine: Teil 1
Die zehnte Rauhnacht
11. Der mysteriöse Fall der Abbey Fine: Teil 2
Die elfte Rauhnacht
12. Gwendolen
Die zwölfte Rauhnacht 1
Die zwölfte Rauhnacht 2
Die zwölfte Rauhnacht 3
Gratis Buch
Felicity Greens Highland-Hexen-Krimis
Die Autorin
Immer wieder erreichen mich Anfragen von Highland-Hexen-Fans, ob es demnächst wieder einen neuen Roman in der Reihe gibt.
Eigentlich war die Highland-Hexen-Krimi-Serie mit Band 6 DER TEUFEL IM EICHHÖRNCHEN abgeschlossen.
In Folge gab es noch den Bonus-Band DER TEUFEL IM GRABE mit der Protagonistin Violet Grave, die dann ihre eigene Reihe bekam.
Aber so richtig haben mich die Hexen aus Tarbet am Loch Lomond trotzdem nicht in Ruhe gelassen.
Dafür gibt es mehrere Gründe.
Erstens ist es meine erfolgreichste Serie mit den loyalsten Fans. Was meine Autorenkarriere angeht, hätte ich mir vielleicht sogar einen Gefallen damit getan, noch sechs weitere Bände zu verfassen. Allerdings spuken zu viele Geschichten in meinem Kopf herum, als dass ich mich auf eine Reihe festlegen kann. Ich gehe, wohin meine Inspiration mich führt. Und so gab es zwischenzeitlich die Tierkriegerin und Violet Grave sowie ein paar Kinderbuchprojekte, die noch nicht das Licht der Welt erblickt haben. Mit mehr Projekten als Zeit blieb dabei nie Raum für einen neuen Highland-Hexen-Krimi.
Ein weiterer Grund ist eine negative Rezension zu dem sechsten Band. Eine Leserin war enttäuscht, dass ein, zwei mächtige Männer auf einmal alle Hexen quasi zerstören durften. Ganz berechtigt ist die Kritik zwar nicht, denn schließlich waren die Magier von Anfang an Feinde der Hexen in der Welt dieser Saga – und als Magierbund besiegten sie die Hexen. Außerdem schlugen Fionna & Co natürlich zurück und ließen sich nicht so leicht unterkriegen.
Trotzdem ließ mich diese Rezension darüber nachdenken, dass die Hexen ein positiveres Ende verdient hätten.
Ich wollte gerne zeigen, dass sie weiter gegen die Magier und für ihre Kräfte kämpften. Da fiel mir die Geschichte des HIGHLAND-HEXEN-KRIMI-ADVENTSKALENDERS ein, in der weitererzählt wurde, was im Anschluss an Band 6 mit den Hexen passierte. Sie mussten auch hier wieder gut einstecken, denn immerhin ist es ein Krimi … aber am Ende bleibt die Hoffnung in Form einer organisierten Widerstandsbewegung.
In meinem Kopf existierte die Zukunft der Hexen übrigens immer in Form von Fionnas begabter – zu dem Zeitpunkt noch ungeborener – Tochter. Aber das wussten schließlich meine Leserinnen nicht! Ich hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, eine Spin-off-Serie mit der Tochter in der Hauptrolle zu schreiben. Aber aufgrund ihres jugendlichen Alters und der Richtung, in die ich gehen wollte, hätte ich eine andere demografische Zielgruppe angesprochen und es wäre ein anderes Genre daraus geworden.
Wenn ihr meine Bücher kennt, dann wisst ihr, dass ich gerne mit Genres experimentiere. Aber ich habe mir daran auch schon öfter die Finger verbrannt. Was die Spin-Off-Ideen zu der Hexen-Serie betrifft, so habe ich diese dann fallen lassen. Sich von seiner Inspiration führen zu lassen, ein Experiment zu wagen und zu entdecken, wie der Markt darauf reagiert, ist eine Sache; von vornherein zu wissen, dass es ein zu großes Kuddelmuddel an Zielgruppen und Genres geben würde, eine ganz andere. Und, wie gesagt, gab es genug andere Geschichten in meinem Kopf und wie immer zu wenig Zeit, sie zu erzählen.
Das Bedürfnis, Fionnas Tochter für die Leserinnen zum Leben zu erwecken, blieb jedoch bestehen.
Dann gab es noch einige andere Charaktere, deren Geschichte ich gerne weiterführen würde. Die arme Abbey Fine, Paranormal Investigator, verschwand in TEUFLISCH KALT einfach in der Schneekugel und ward nie wieder gesehen. Das hatte sie nicht verdient, oder?
Wie erging es Tara in London, nachdem sie vom Hexenbund verbannt worden war, Frieden mit ihrer Gabe geschlossen hatte und diese dann auch noch behalten durfte? Sie übernahm Abbeys Rolle in Christopher Harris‘ Detektei. Ich fand, da steckte noch eine spannende Geschichte drin.
Und die jungen Rivers-Schwestern Tessa und JoJo, die gerade erst in ihre Kräfte gekommen waren, als die Magier sie allen Hexen wieder nahmen? Es wäre doch cool gewesen, zu erfahren, was Wetterhexen sonst noch so alles können.
Auch andere Figuren hatte ich ins Herz geschlossen und ich hätte gerne weiter erforscht, wie es ihnen nach Romanende ergangen war. Was macht Kenna als Hüterin der Widerstandsbewegung? Wie steht Lara weiter mit den Hexen in Verbindung?
Mal ganz davon abgesehen, welche Chancen sich mit einer neuen Generation von Hexen ergeben würden. Ich meine, wenn Fionna eine Tochter hat, dann könnte ich doch auch die anderen Hexen mit Familienglück segnen, sodass es weitere starke junge Frauen mit spannenden magischen Fähigkeiten gibt: die Zukunft der Hexen.
Wie ihr seht: Um all diese Fragen zu beantworten, die losen Enden miteinander zu verknoten und neue Möglichkeiten auszuarbeiten, hätte ich mindestens siebzehn weitere Romane schreiben können. Und das hatte ich nun wirklich nicht vor.
Doch Ende 2021 kam mir eine ganz andere Idee.
Nach der Geburt meiner zweiten Tochter habe ich die Kurzgeschichte für mich wiederentdeckt. Zu Studienzeiten waren Short Stories »mein« Format gewesen, und weil ich mit einem kleinen Baby nicht so viel Zeit hatte, mich aber dennoch kreativ austoben wollte, fiel mir diese Vorliebe wieder ein. Ich schrieb ein paar Kurzgeschichten auf Deutsch und auf Englisch und reichte sie bei verschiedenen Wettbewerben ein. Eine davon, DRACHENBLUT, schaffte es in die Anthologie HIC SUNT DRACONES der Münchner Schreiberlinge.
Ende 2021 las ich auf Instagram einen Beitrag einer meiner Lieblingsbloggerinnen und Patreon-Unterstützerinnen, der lieben Moni. Darin erzählte sie von den Rauhnächten und wie sie diese begehen wollte.
Den Begriff Rauhnächte hatte ich zwar schon mal gehört, mich bis zu diesem Zeitpunkt aber noch nie damit auseinandergesetzt.
Meine Neugierde war geweckt. Zunächst hielt ich es für eine tolle Gelegenheit, zwischen den Jahren eine Pause einzulegen, in der ich Zeit zum Reflektieren und Planen hatte.
Ich bestellte mir Bücher und alle möglichen Zutaten, die man für die Rituale in den Rauhnächten gebrauchen konnte.
Indem ich diese Rituale beging, verstand ich, dass den Rauhnächten ein Zauber innewohnt. Diesen Zauber verknüpfte ich gedanklich gleich mit den Highland-Hexen.
Während ich die Rauhnächte-Bräuche für mich persönlich nutzte, fielen mir parallel dazu Ideen für Highland-Hexen-Geschichten ein.
So entstand das Konzept: zwölf Geschichten, eine für jede Rauhnacht, mit den Highland-Hexen als Protagonistinnen.
Weil ich mir zu dieser Zeit Gedanken darüber machte, wie es mit meinem Autoren-Business weitergehen sollte, was ich behalten, was verändern und was ich ganz fallen lassen wollte, kam mir diese Geschichten-Idee auch für mein Patreon sehr gelegen.
Ich liebe die Gemeinschaft, die dort entstanden ist, und wollte sie gerne weiter ausbauen. Ich beschloss, im Jahr 2022 jeden Monat eine der Rauhnächte-Geschichten zu schreiben und auf Patreon zu veröffentlichen – was passte, denn schließlich steht jede Rauhnacht für einen Monat im Jahr. Das würde mich motivieren, zudem die Arbeit an diesem Projekt über das Jahr verteilen – und ich hatte ein tolles neues Level auf Patreon, nämlich die »Highland-Hexen-Fans«, mit dem ich meinen Unterstützern das bieten konnte, was sie am liebsten von mir wollten: neue Geschichten, vorzugsweise mit den Highland-Hexen in den Hauptrollen.
Über die Rauhnacht-Bräuche möchte ich an dieser Stelle nicht viel erzählen, weil ich sie in den Stoff der zwölf Geschichten eingewoben habe. Nur so viel: Die Rauhnächte sind die Tage und Nächte zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar. Es ist eine magische Zeit »zwischen den Jahren«, denn früher rechnete man in Mondmonaten. Ein Mondjahr, also zwölf Mondmonate dauerten 354 Tage. Die elf Tage oder zwölf Nächte sind die Differenz zum Sonnenjahr – 365 Tage. In diesem Zeitraum sind die, sagen wir physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt. Man kann in die Zukunft schauen oder sich etwas aus der Vergangenheit offenbaren lassen.
Entsprechend durchlässig sind auch meine Geschichten.
Sie spielen nicht fortlaufend an zwölf Rauhnächten in einem Jahr, sondern auch in den Monaten, für die die Rauhnächte stehen, oder in der Vergangenheit sowie in der Zukunft.
Das gab mir die Gelegenheit, Maryanna MacDonald als Protagonistin noch einmal auferstehen zu lassen und in die Vergangenheit eine meiner Lieblingshexen einzutauchen: Penny Reid.
Außerdem wollte ich Tarbet in der Zukunft zeigen, um einen Eindruck zu vermitteln, wie die Menschen und Hexen in einer von Magiern beherrschten Welt leben.
Was mir am meisten am Herzen gelegen hat: Ich konnte die Geschichte von Fionnas Tochter erzählen und demonstrieren, dass es eine Zukunft für den Hexenbund von Tarbet gibt.
Jede Geschichte steht für sich allein, aber gemeinsam verflechten sie sich zu einem neuen Ende für die Highland-Hexen – das wie jedes Ende auch immer gleichzeitig ein Anfang ist.
Mit einigen neuen Charakteren werfen die Geschichten auch gleich wieder neue Fragen und Möglichkeiten auf, und jeder findet sicher neue lose Enden, die miteinander verknüpft werden wollen.
Um die Frage vorwegzunehmen: Es ist also unmöglich zu sagen, ob es DAS ENDE für die Serie ist – DAS ENDE wird es wahrscheinlich niemals geben.
Die Highland-Hexen sind für mich so etwas wie alte Freundinnen. Auch wenn man sich schon ewig nicht mehr gesehen hat, kann man sie spontan besuchen, und dann ist es, als wäre man nie getrennt gewesen. Ob sie noch einmal auf den Seiten eines neuen Buches in Erscheinung treten werden oder nicht, sie haben immer einen Platz in meinem Herzen.
Das größte Kompliment für mich als Autorin ist es, wenn es meinen Leserinnen genauso geht. Und da Zeit bei solchen Freundschaften eben keine Rolle spielt, ist es umso passender, dass ich euch auf zwölf kleine Zeitreisen einladen darf, wo ihr in einen magischen Raum zwischen den Zeiten eintauchen könnt und die eine oder andere Lieblingshexe wiedertrefft.
Ich wünsche euch eine wirklich magische Lesezeit.
Eure Felicity Green
Die erste Rauhnacht, 1939, Tarbet
Maryanna wachte schweißgebadet auf, obwohl es in ihrer Kammer so kalt war, dass ihr Atem in kleinen Wolken sichtbar wurde.
Statt sich unter ihrer Decke zu vergraben, krabbelte sie hastig darunter hervor und stieg aus dem Bett. Die kalten, rauen Bodenbretter unter ihren nackten Füßen zu spüren war unangenehm, aber Maryanna genoss für einen Moment das Gefühl, weil es sie in der realen Welt ankommen ließ. Sie hatte seit einer Ewigkeit versucht, sich aus dem Traum zu befreien.
Die Kiefer fest aufeinandergepresst, damit ihre Zähne nicht klapperten, schlang sie die Arme um ihren zitternden Körper und taumelte aus der Schlafkammer.
Im Hauptraum des Cottages, der Wohnzimmer und Küche zugleich war, brannte der große Holzofen schon. Maryanna stürzte darauf zu. Es war ihr, als bräuchte sie die Flammen nicht nur dafür, ihre klammen Glieder wieder aufzuwärmen. Das Licht sollte die Kälte vertreiben, die sich während des Traums auch in ihr Herz geschlichen hatte.
Ihre Großmutter Mairi legte eine warme Decke um ihre Schultern. »Was ist?«, fragte sie.
»Albtraum«, brachte Maryanna gerade so hervor.
Mairi fragte zunächst nicht weiter, sondern brachte noch dicke Wollsocken und eine Tasse mit dampfendem Kräutertee. Doch als Maryanna wieder einigermaßen erholt am Küchentisch saß, nahm Mairi die kleinen Hände ihrer Enkeltochter in ihre eigenen größeren, schwieligen.
»Erzähl mir von deinem Traum«, bat sie.
Maryanna schüttelte den Kopf. »Ich will nicht, es war zu schrecklich.«
»Dies ist die erste Rauhnacht«, erklärte ihre Großmutter ruhig. »Träume in Rauhnächten sind etwas Besonderes. Wir tun gut daran, uns zu erinnern, denn sie könnten auf die eine oder andere Weise wahr werden. Jede der zwölf Rauhnächte steht für einen Monat im kommenden Jahr. Was du geträumt hast, könnte eine Prophezeiung für diesen Januar sein.«
Maryanna wohnte erst seit einigen Jahren bei ihrer Großmutter. Vorher hatte sie mit ihrer Mutter Esme zu einem Zirkus gehört. Sie hatte seitdem viel über die Bräuche und Rituale gelernt, die eine Gruppe Frauen im kleinen Örtchen Tarbet in den schottischen Highlands pflegten. Sie wusste einiges über die besonderen Talente dieser Frauen, welche von Mutter zu Tochter weitergegeben wurden. Die Gemeinschaft und ihre magischen Handlungen waren uralt, hatten aber mehr oder weniger lange Zeit brachgelegen. Es waren ihre Großmutter und sie selbst, die diesen Bund erst vor Kurzem wieder richtig hatten auferstehen lassen. Um die Schwestern im Bunde vor äußeren Gefahren zu beschützen und um sicherzustellen, dass ihre Magie niemandem schadete, hatten Mairi und Maryanna sich einer außergewöhnlichen Methode verschrieben. Eine Methode, bei der sie nicht nur ihre angeborene Gabe einsetzten – in die Zukunft zu sehen –, sondern dazu noch die erlernte Fähigkeit nutzten – durch die Zeiten zu reisen. Letzteres war noch sehr neu für die beiden und geschah deshalb mit der nötigen Umsicht.
Man musste allerdings keine Hexe sein, um zu wissen, was die Rauhnächte waren. Auch bevor sie zu ihrer Großmutter gezogen war, hatte Maryanna gewusst, dass die Tage und Nächte nach der Wintersonnenwende etwas Besonderes waren. Man konnte das Wetter für das kommende Jahr vorhersagen, und die Träume in diesen Nächten hatten eine außergewöhnliche Bedeutung.
»Das hier war nicht die Art von Traum«, widersprach sie ihrer Großmutter jedoch. »Es war … es war schrecklich.« Plötzlich brach sie in Tränen aus.
»Trink deinen Tee«, sagte ihre Großmutter sanft. Im Glauben, dass der Kräuteraufguss sie beruhigen und sie die schlimmen Bilder vergessen lassen würde, tat Maryanna wie befohlen.
Doch kaum hatte sie die den letzten Tropfen aus der Tasse geleert, tauchten die Bilder des Albtraums umso intensiver vor ihrem inneren Auge auf. Erschrocken sah sie Mairi an.
»Du musst dich erinnern. Es ist vielleicht sehr wichtig.« Die Großmutter nahm ihre Hand. »Wir besprechen deinen Traum und wenn du ihn dir von der Seele geredet hast, wird es dir besser gehen.«
Alles in Maryanna sträubte sich dagegen, aber sie vertraute ihrer Großmutter.
»Da war eine Frau in unserer Kristallkugel«, begann sie. Ihr Blick ging zu Boden. Unter ihrem Cottage gab es einen kleinen Keller. Darin befand sich nicht viel mehr als ein Tisch, zwei Stühle und eine Kristallkugel. In dieser Kugel sahen Mairi und ihre Großmutter die Zukunft ihres Hexenbundes – und durch diese Kugel reisten sie durch die Zeiten, um sich um alle Probleme zu kümmern, die die Frauen und ihre Nachfahrinnen in den nächsten knapp achtzig Jahren jemals haben würden.
Mairi nickte aufmunternd.
»Es sah aus, als wäre sie darin gefangen«, fuhr Maryanna widerwillig fort. »Sie hämmerte mit den Fäusten von innen gegen die Glaswand. Ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie mir etwas sagen. Es drang kein Geräusch nach außen durch, dennoch erriet ich, was sie von mir wollte. Vielleicht konnte ich ihre Lippen lesen. ›Hilf mir‹, flehte sie mich an. ›Hilf mir. Komm zu mir und bring mich nach Hause.‹«
Mairi runzelte die Stirn. »Ist dir etwas an der Frau aufgefallen, das darauf schließen lässt, wo sie herkommt?«
»Sie hörte sich an wie eine Schottin, aber eine aus den Lowlands. Ich bin mir sicher, sie ist aus der Vergangenheit. Obwohl die Frau in der Kugel war und deshalb winzig, konnte ich jedes Detail an ihr erkennen, so wie es im Traum eben möglich ist. Sie trug ein einfaches, langes Kleid und einen Wollschal um die Schultern. Ihre dunkelblonden Haare waren hochgesteckt, ihr Gesicht frei von Schminke … trotzdem fiel es mir schwer, zu bestimmen, wie alt sie war. Bestimmt nicht mehr ganz jung, aber auch nicht alt. Ihr Aussehen würde ich auch als eher gewöhnlich bezeichnen.« Maryanna überlegte. »Ihre Augen waren groß und ausdrucksvoll. Leid, Verzweiflung und Wut wechselten sich darin ab. Und ihr Kinn war etwas zu spitz. Es gab nur eine wirklich auffällige Sache an ihr. Ihre Kette. Der Anhänger stellte ein Symbol dar … ich bin mir sicher, es war eine Sigille.«
Maryanna schaute angstvoll zu ihrer Großmutter auf. Plötzlich war ihr wieder kalt. Bis eben war die Ahnung nur nebulös in ihrem Kopf vorhanden gewesen, doch jetzt, wo sie es laut ausgesprochen hatte, war sie sich sicher. Die Frau in der Kugel hatte ein Symbol getragen, mit dem man Geistwesen oder Dämonen anrief – ein magisches Symbol. Ihre Großmutter kam ihr mit der Schlussfolgerung zuvor.
»Eine Hexe? Woher weißt du, dass es eine Sigille war? Kanntest du das Symbol? War es ein Schlüssel Salomons aus der Ars Goetia?« Mairis Stimme überschlug sich fast. »Aber warte … Du kennst dich doch mit Sigillenmagie gar nicht aus – und diese Symbole sind meist persönliche Entwürfe der Hexe …«
»Ich habe das Symbol vorher schon einmal gesehen«, unterbrach Maryanna ihre Großmutter. »Du hast mir erklärt, was es ist, als mich Magnus mithilfe der Hypnose zurückgeführt hat, um die Seiten in Kerr Forsyths Buch im Detail zu beschreiben.«
Es war, als entwich Luft aus dem Körper ihrer Großmutter. Sie verlor die angespannte Haltung, mit der sie Maryanna eben aufgeregt ausgefragt hatte. Sie sank in sich zusammen. »Das Buch«, hauchte sie und in ihrer Stimme lagen all die widersprüchlichen Emotionen, die das magische Werk, welches seit Generationen innerhalb Kerr Forsyths Familie weitergegeben worden war, in ihr hervorrief.
Kerr stammte von Magiern ab – die Fähigkeiten waren über Generationen vergessen worden. Doch ein Vermächtnis gab es: ein Zauberbuch, das Kerr bis vor seinem Umzug nach Tarbet vor ein paar Jahren nicht ernst genommen hatte.
In Tarbet, wo er eine Stelle als Dorfarzt antrat, traf er auf die schöne und begabte Hexe Morven Jamieson. Morven erkannte das Potenzial des Buches sofort und überzeugte Kerr davon, einen der teuflischen Zauber darin anzuwenden. Die Rituale waren von Kerrs mächtigem Vorfahren und einer ebenso talentierten Hexe entwickelt worden und sie waren allesamt der schwarzen Magie zuzuordnen. Morven hatte sich ein besonders schreckliches ausgesucht, um Superkräfte zu erlangen und die mächtigste Hexe der Welt zu werden. Dafür hatte sie allerdings Morde begehen und Organe entwenden müssen.
Maryanna und ihre Großmutter waren Morven und Kerr auf die Schliche gekommen. Sie hatten noch rechtzeitig vereiteln können, dass der Zauber Früchte trug. Allerdings war das nur möglich gewesen, indem sie selber einen Zauber aus dem Buch anwandten:
Den Zeitwandelzauber, der es ihnen ermöglichte, Kerr vom Umzug nach Tarbet abzuhalten und Morvens Ambitionen rechtzeitig, also schon Jahre vorher, in eine andere Richtung zu lenken. Somit konnten sie die Morde verhindern.
Mairi starrte ihre Enkeltochter an. Maryanna umklammerte ihre Teetasse, bevor sie sie mit zittrigen Fingern ihrer Oma reichte.
Mairi, deren Spezialität es war, Teeblätter zu lesen, warf nur einen Blick in die Tasse und legte dann die Hand vor den Mund. Ihr gequälter Blick ging in Richtung des Fensters. Maryanna folgte ihm. Bange suchte sie nach einem Anzeichen für das, was ihre Großmutter in ihrer Zukunft entdeckt hatte.
Doch das Fenster zeigte nichts als die schwarze, dunkle Nacht.
Ihre Großmutter wollte Maryanna nicht verraten, was sie in der Tasse gesehen hatte, doch verbrachten sie die nächsten Stunden mit Reinigungsritualen. Es wurde geräuchert, was das Zeug hielt. Maryanna selbst musste bestimmte Kräuter zu sich nehmen und durfte an diesem Tage nichts als Wasser trinken. Als sie sich mehrmals übergab, entschuldigte sich Mairi nicht, sondern schien zufrieden. Offensichtlich gehörte es zum Reinigungsritual dazu. Die ganze Prozedur wurde nur einmal unterbrochen, als Mairi zu den Winchesters gerufen wurde, um dort einen Traum zu deuten.
Es half alles nichts. In der folgenden Nacht wurde Maryanna von demselben Traum heimgesucht. Er fing an wie zuvor, mit der Hexe in der Kristallkugel. Doch als Maryanna sich vorbeugte, um besser zu verstehen, was die Frau sagte, wurde sie von einem Sog erfasst und in die Kugel gezogen. Statt durch die Zeit zu reisen, landete Maryanna ebenfalls unter der Glaskuppel. Es war dunkel und eiskalt. Zitternd sah sie sich um. Panik erfasste sie, als sie begriff, dass sie nun ebenfalls in der Kugel gefangen war.
Sie wandte sich der Hexe zu, um von ihr eine Erklärung zu verlangen. Doch die Wölkchen, in die sich ihr warmer Atem in der eisigen Luft verwandelte, wurden zu Schwaden, und blitzschnell hatte sich ein dichter Nebel ausgebreitet, der die Frau verschluckte. Maryanna sah noch, wie sie die Hand nach ihr ausstreckte. Statt sie zu greifen, wich Maryanna zurück und stieß gegen das Glas der Kugel in ihrem Rücken. Sie wusste, sie durfte die Frau nicht berühren, sonst war sie für immer verloren. Mit all ihrer Gedankenkraft versuchte Maryanna, sich zum Aufwachen zu bringen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen.
Erst als sie die Stimme ihrer Großmutter hörte, konnte sie sich aus den Tiefen ihres Unterbewusstseins hochkämpfen und von dem Traum befreien.
Mairi hatte Maryanna im Schlaf rufen hören und war sogleich in deren Kammer geeilt, um sie wachzurütteln.
Es dauerte eine Weile, bis die verstörte Maryanna in der Lage war, von ihrem Traum zu berichten. Mairi war so besorgt, dass sie rasch die Sachen ihrer Enkeltochter packte und sie für die restlichen Rauhnächte bei Gillian Bell einquartierte. Die Kräuterhexe lebte in einem Häuschen etwas außerhalb von Tarbet, weit weg von der Kugel. Dort wurde Maryanna mit Kräutern versorgt, die ihr eigentlich einen traumlosen Schlaf bescheren sollten.
Doch als Mairi sie am Morgen nach der dritten Rauhnacht besuchte, sah sie ihrer Enkeltochter sofort am Gesicht an, dass alles nichts gebracht hatte. »Ich war wieder in der Kugel, Oma. Und die Hexe hat mit mir gesprochen. Es ist tatsächlich die Schöpferin des Zauberbuchs. Sie hat selber das Ritual mit dem Zeitwandelzauber angewandt, aber es ist wohl schiefgegangen. Sie ist nicht dorthin gereist, wo sie hinwollte, aber sie kommt auch nicht mehr zurück. Sie flehte mich an, dass ich sie holen muss. Ich sei ihre einzige Chance. Ich konnte ihr gerade noch ausweichen, aber es war viel schwieriger als zuvor, dem Traum zu entkommen. Gillian musste mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzen, um mich aufzuwecken.«
Mairi rieb sich die müden Wangen. Sie selber hatte in der vergangenen Nacht vor lauter Sorge kein Auge zubekommen. Es gab Mittel und Wege, jemanden am Schlaf zu hindern, aber es standen ihnen neun weitere Nächte bevor. Das war zu lang, um Maryanna wachzuhalten. »Vielleicht müssen wir dich weiter weg bringen?«, überlegte sie laut.
Maryanna schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es etwas nützen wird, Oma. Vergiss nicht, die Frau ist eine mächtige Hexe. Sie kann sich alleine nicht aus ihrer Situation befreien. Aber sie hat starke Kräfte. Es ist, als ob sie sich während des Traums in der ersten Rauhnacht in meinem Unterbewusstsein festgekrallt hat. Ich kann sie nicht mehr abschütteln.« Die pure Verzweiflung war nun in Maryannas Stimme zu hören. »Du musst etwas tun, damit es aufhört. Bitte, du musst mir helfen, Oma.«
Die erste Rauhnacht, 1939, Tarbet
»Ich gehe ins Bett. Gute Nacht, Oma.«
»Gute Nacht.« Mairis Stimme hörte sich belegt an. Prüfend sah Maryanna ihre Großmutter noch einmal an. Da war etwas in ihren Augen, das sie nicht richtig deuten konnte.
Mairi schaute in Richtung Fenster und Maryanna folgte ihrem Blick. Doch draußen gab es nichts zu sehen als nur die dunkle, kalte Nacht.
Trotzdem jagte der Anblick Maryanna einen Schauer über den Rücken. Ihr war auf einmal eiskalt. Ein Déjà-vu überkam sie. Noch einmal schaute sie ihre Großmutter an, dieses Mal misstrauisch.
Doch Mairi bemerkte davon offensichtlich nichts. Sie schien weit weg mit ihren Gedanken.
Maryanna ging in ihre Kammer, um sich fürs Bett zurechtzumachen. Aber das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, ließ sich einfach nicht abschütteln. Statt sich hinzulegen, schlich sie zur Tür, öffnete sie und spähte vorsichtig hinaus.
Ihre Großmutter war in der kurzen Zeit sehr fleißig gewesen. Das Fenster war verbarrikadiert. Überall hingen rote Ebereschenbeeren und weitere Pflanzen. Der Geruch von verbrannten Kräutern und Harzen lag in der Luft. Mairi war nirgends zu sehen.
Maryanna hörte ein Geräusch außen an ihrem Fenster und wirbelte herum. Ihr Herz schlug schneller. Sie eilte zum Vorhang und zog ihn mit einem Ruck zurück. Draußen stand niemand mehr, aber etwas baumelte am Fensterrahmen. Maryanna nahm ein paar tiefe Atemzüge, dann öffnete sie so leise wie möglich das Fenster. Die kalte Nachtluft ließ sie frösteln, als sie sich etwas hinauslehnte, um zu betrachten, was da hing. Holunderzweige, rote Ebereschenbeeren, Johanniskraut … Maryanna setzte sich auf die Fensterbank, nahm ihre Öllampe und schaute sich ihr Fenster von außen genauer an. Sie spürte die Kälte kaum mehr und vergaß, sich im Dunkeln zu fürchten. Zu fasziniert war sie von dem, was sie sah. Jemand hatte Symbole um ihr Fenster herum gemalt.
Sie hatte keine Ahnung, wofür genau diese standen, aber die Bedeutung einiger der Kräuter kannte sie. Und so konnte sie sich zusammenreimen, was Mairi getan hatte: das Cottage mit starker Magie vor bösen Geistern geschützt.
Maryanna ließ alles so, wie es war, kletterte zurück in ihr Zimmer und machte das Fenster zu. Sie rieb sich die Arme, die mit Gänsehaut überzogen waren. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, warum ihre Großmutter derart starke Vorkehrungen betrieb. Sie musste große Angst vor etwas haben … warum erzählte sie Maryanna nichts davon?
Sie hatten den Tag damit verbracht, das Cottage sauberzumachen und gründlich auszuräuchern. Sie hatten die üblichen Schutzzauber ausgesprochen. Nach Maryannas Verständnis waren sie gründlich auf die Rauhnächte vorbereitet.
Gähnend ließ sie sich auf ihr Bett plumpsen. Sie hätte zu gerne gewusst, was ihre Großmutter heimlich in dieser Nacht unternahm und dachte darüber nach, zu ihr zu gehen und sie damit zu konfrontieren.
Aber eigentlich gab es keinen Grund, ihrer Großmutter nicht zu vertrauen. Die wusste schon, was sie tat. Und Maryanna war müde. Sie vergrub sich unter der Decke und kuschelte sich ein. Hier war es warm und gemütlich. Sie würde ihre Großmutter einfach am nächsten Morgen fragen …
In der Nacht träumte Maryanna von einer Frau, die in ihrer Kristallkugel gefangen war und sie um Hilfe bat.
Die erste Rauhnacht, 1939, Tarbet
»Wie meinst du das, ich darf nicht schlafen?«
»Du wirst in dieser Nacht nicht schlafen«, insistierte Mairi. »In den kommenden zwölf Nächten wirst du überhaupt nicht schlafen. Wir verlegen deinen Schlaf auf den Tag.«
Maryannas braune Augen wurden immer runder und größer, als sie ihre Großmutter verständnislos anstarrte. »Wieso denn?«
Mairi seufzte. »Ich kann es dir nicht sagen. Es hat mit Träumen und deinem Unterbewusstsein zu tun. Wenn ich dir einen Hinweis darauf gebe, was passieren könnte, sitzt es in deinem Kopf. Die Gefahr, die dir droht, kann sich das zunutze machen, wenn du schläfst und dein Unterbewusstsein offen und verletzlich ist. Es ist dann wie etwas, an dem sie sich festkrallen kann. Wir wollen ihr diese Chance nicht geben.« Mairi schüttelte frustriert den Kopf. »Entschuldige, dass ich mich so wirr anhöre. Ich kann es nicht besser erklären.«
Maryanna legte eine Hand auf den Arm ihrer Großmutter. Es war offensichtlich, dass Mairi sich große Sorgen machte. Sie hatte dunkle Schatten unter den Augen und ihre Wangen wirkten eingefallen. Maryanna glaubte, Falten sehen zu könnten, die gestern noch nicht da gewesen waren. »Es ist schon gut, Oma. Du brauchst es mir gar nicht erklären. Ich vertraue dir.«
Es wurde eine lange Nacht, die die beiden Frauen am Küchentisch verbrachten.
Mairi half Maryanna mit allen magischen und nichtmagischen Mitteln dabei, nicht einzuschlummern.
Eingehüllt in Wollschals standen sie im Morgengrauen draußen vor dem Cottage und sahen der Sonne dabei zu, wie sie sich in den grauen Tag hineinkämpfte.
»Ich glaube, jetzt solltest du sicher sein«, sagte Mairi schließlich, als sie wieder ins Haus zurückkehrten.
»Weißt du was?«, lachte Maryanna. »Jetzt fühle ich mich auf einmal überhaupt nicht mehr müde.«
»Ich mache dir erst einmal ein ordentliches Frühstück«, meinte Mairi. »Und dann legst du dich hin. Besser in meinem Zimmer. Halte dich von deinem ganz fern. Mit vollem Magen und unter der warmen Decke werden dir sicher bald die Augen zufallen.«
Wenig später lag Maryanna satt und zufrieden in Mairis Bett und las, als ihre Großmutter leise anklopfte und die Schlafkammer betrat. »Immer noch wach?«, fragte sie überrascht.
Maryanna zuckte nur mit den Schultern.
»Meinst du, ich kann dich für eine Weile allein lassen? Mary Winchester hat mich gebeten, vorbeizukommen, wegen einer Traumdeutung und …«
»Natürlich, Oma«, versicherte ihr Maryanna. »Es ist helllichter Tag. Du glaubst ja, dass ich nur in den Nächten Schlimmes träumen kann, oder?«
Mairi nickte unsicher. Die Sorgenfalte zwischen ihren Brauen wollte sich nicht glätten.
»Außerdem bin ich noch nicht mal müde.«
»Na gut. Ich beeile mich und bin so schnell wie möglich wieder zurück.«
Maryanna lächelte strahlend, um ihre Großmutter zu beruhigen. Sie trug schon genug Last auf ihren Schultern. »Gut, bis später.«
Sie las noch ein bisschen, bis ihr die Augen zufielen.
Als sie jemanden rufen hörte, richtete sie sich desorientiert auf. Im Zimmer war es dunkel. Konnte es sein, dass sie den ganzen Tag verschlafen hatte? Doch wo war ihre Großmutter? Warum hatte die sie nicht rechtzeitig aufgeweckt, bevor die zweite Rauhnacht angebrochen und es damit für Maryanna wieder gefährlich geworden war?
Verschlafen schälte sie sich aus der Decke und stand auf. Da vernahm sie wieder die Rufe und erinnerte sich daran, dass sie durch sie aus dem Schlaf gerissen worden war. Es war die Stimme einer Frau. Sie war ganz offensichtlich in Not und … Maryanna horchte. Ja, sie rief um Hilfe. »Oma«, murmelte sie, taumelte aus ihrem Zimmer durch das Cottage und in das andere Schlafzimmer.
In der Dunkelheit konnte sie das Bett ausmachen, doch es war glatt und ordentlich gemacht – niemand lag darin.
»Hilfe«, hörte Maryanna wieder, diesmal lauter und deutlicher. Sie rieb sich verwirrt die Augen.
»Hilfe, so hilf mir doch!«
Maryanna sah sich um, doch dann verstand sie: Die weibliche Stimme kam von unter ihr. Sie ließ sich auf die Knie fallen, schob einen Läufer zur Seite und fummelte am Verschluss der Falltür herum, bis sie sie aufbekam. »Oma?«, rief sie in die Tiefe.
»Hilfe!«, hörte sie wieder, diesmal ganz leise, als wären der Frau beinahe alle Kräfte geschwunden.
»Oma, bist du gestürzt?«
Maryanna stieg hastig die enge, knarzende Holztreppe hinunter. Ein Splitter stach sie in die nackte Ferse, doch sie beachtete den Schmerz nicht. Sie wollte nur schnell zu ihrer Großmutter. Erst ganz unten fiel ihr auf, dass sie keine Lampe mit in den finsteren Keller genommen hatte.
Sie sah nichts.
»Oma?«, rief sie ängstlich.
Keine Antwort. Sie hörte auch niemanden atmen.
Unschlüssig, ob sie schnell wieder hinauf und sich ein Licht holen sollte, blieb sie stehen. Doch da wurde es auf einmal heller. Die Kristallkugel auf dem Tisch fing an, schwach zu leuchten.
Maryanna hatte schnell festgestellt, dass ihre Großmutter nicht hier war. Niemand war hier unten. Erstaunt darüber, was mit der Kugel passierte, ging sie auf sie zu. Das Licht war nicht rötlich wie beim Zeitwandelzauber, sondern bläulich.
Da hörte sie wieder das verzweifelte »Hilfe«. Sie begriff zwei Dinge gleichzeitig. Die Stimme gehörte nicht ihrer Großmutter und sie kam aus der Kugel.
Maryanna beugte sich vor und erkannte, dass eine winzige Person in der Kugel war, die mit den Fäusten von innen gegen die Glaswand hämmerte und sie um Hilfe anflehte. Es war eine Frau …
Maryanna wurde mit einem Ruck zurückgezogen.
Sie blinzelte erschrocken und kniff die Augen gleich wieder zusammen, als es plötzlich sehr hell war.
»Maryanna! Wach auf! Du musst aufwachen!« Diesmal war es Mairis Stimme und sie klang noch verzweifelter als die der Frau.
Verwirrt schaute sich Maryanna um. Sie stand am Fuße der Treppe in den Keller und Licht strömte von oben durch die Luke hinein. Mairi war ein paar Stufen über ihr, packte sie mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte sie. »Wach auf!«, schrie sie.
»Oma, ich bin wach!«
Mairi zog sie herum, starrte sie für einen Moment lang an und nahm sie dann in die Arme. »Komm, komm, hoch, weg von hier.«
Maryanna warf noch einen letzten Blick in Richtung Kugel. Sie glühte nicht mehr.
Schnell folgte sie Mairi hinauf ins Cottage.
Nachdem Großmutter ihr den Splitter aus der Ferse gezogen und die Wunde verarztet hatte, ihr dicke Socken, einen warmen Wollschal und eine Tasse Tee gebracht hatte, setzte sie sich zu Maryanna an den Küchentisch.
Maryanna berichtete, was ihrer Meinung nach geschehen war. Mairi hörte ihr ruhig zu. Ihre Gesichtszüge blieben unbeweglich. Nur der düstere Ausdruck in ihren Augen verriet ihre Gemütslage.
»Du bist schlafgewandelt«, erklärte ihre Großmutter. »Ich bin von den Winchesters zurückgekommen und habe gesehen, dass mein Bett zerwühlt, aber leer war. Gott sei Dank brauchte ich nicht lange, um dich zu finden, denn die Falltür stand offen. Wenn ich nur ein paar Minuten später da gewesen wäre, dann …« Mairi versagte die Stimme. Sie barg ihr Gesicht in den Händen.
»Oma«, sagte Maryanna bestimmt. »Du musst mir sagen, was los ist. Wer ist die Frau in der Kristallkugel?«
Als Mairi nicht antwortete, redete Maryanna weiter: »Du hast Angst, dass du mir mit der Wahrheit schaden kannst. Aber ehrlich, kann es schlimmer kommen? Vielleicht liege ich falsch, aber du siehst aus, als hättest du schon mehrmals versucht, etwas abzuwehren, was mir passiert ist. Du bist völlig erschöpft und versuchst mal wieder, alles alleine zu regeln. Es macht dich kaputt. Ich vertraue dir, Oma, aber du musst mir auch vertrauen. Du musst nicht alle Last auf deinen Schultern tragen. Ich bin jung und stark und ich kann dir helfen.«
Mairi ließ die Hände sinken und seufzte. Sie betrachtete ihre Enkeltochter prüfend. Dann machte sie eine Handbewegung, die andeutete, dass Maryanna ihr die Teetasse rüberschieben sollte.
Mairis Blick war angstvoll, als sie sich die Position der Teeblätter darin ansah. Doch dann weiteten sich ihre Augen und sie sah Maryanna überrascht an. Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
»Du hast recht«, sagte sie. Sie nahm einen Schluck von ihrem eigenen Tee und räusperte sich. »Ich war gerade bei Mary Winchester. Die kleine Ella hatte einen interessanten Traum. Sie ist gerade erst dreizehn, aber sie hat sehr eindrückliche Träume. Es geht um Menschen in der Vergangenheit, oft gar um welche, die sie nicht kennt.«
Maryanna nickte bloß und Mairi erzählte weiter: »Letzte Nacht träumte Ella von einer Frau. Die Frau trug ein Amulett mit einer Sigille und war ganz offensichtlich eine Hexe. Sie hatte einen Streit mit einem Magier. Der wollte sie nicht auf einer Zeitreise begleiten.«
Maryanna setzte sich kerzengrade auf und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch Mairi hob die Hand. »Ja, der Magier ist der Vorfahre von Kerr Forsyth, der das Zauberbuch verfasst hat. Und die Hexe ist die, die ihm dabei geholfen hat. Das Symbol auf ihrem Amulett ist dasselbe wie in dem Zauberbuch – von dem die Winchesters natürlich nichts wussten. Ich habe mir das alles zusammengereimt, denn heute war nicht das erste Mal, dass mir Ella von ihrem Traum berichtete. Zuvor hörte ich davon, nachdem du einen schrecklichen Albtraum hattest. Von der Frau, die in einer Kristallkugel gefangen war, und die dich um Hilfe bitten wollte.«
»Die Frau, die ich vorhin in der Kugel gesehen hab?«
»Ganz genau. Es ist die Hexe, die das Zauberbuch miterschaffen hat. Gott sei Dank habe ich gleich nach Ellas erstem Traumbericht verstanden, was dieser Hexe passiert ist. Sie hat den Zeitwandelzauber in einer Rauhnacht angewandt. Seitdem ist sie in der Zeit stecken geblieben. Sie kam weder in der Vergangenheit an, noch kann sie in ihre Gegenwart zurück oder in die Zukunft reisen. Sie ist einfach … zwischen den Zeiten.«
Maryanna überlegte fieberhaft, verstand aber, was ihre Großmutter sagte: »Weil die Rauhnächte sozusagen zwischen den Zeiten liegen, richtig?« Die zwölf Nächte gab es, weil das Sonnenjahr länger war als das Mondjahr. Es war tatsächlich eine »tote Zeit«.
»Sie wollte meine Hilfe, um zurückzukommen«, überlegte Maryanna laut. »Aber warum glaubt sie, dass ich ihr helfen könnte?«
»Keine Ahnung, sie ist wahrscheinlich lediglich verzweifelt. Sie hat irgendwie eine Verbindung zu dir aufgenommen und die lässt sich nicht mehr abreißen. Da sie außerhalb der Zeit ist, kann ich dem auch nicht Abhilfe schaffen, indem ich in der Zeit zurückreise. Du erinnerst dich nicht, aber für sie macht es anscheinend keinen Unterschied. Sie wird nur von Mal zu Mal stärker. Jetzt hat sie schon am helllichten Tag die Macht, dich zur Kugel kommen zu lassen …«
»Moment, Moment«, unterbrach Maryanna ihre Großmutter. »Jetzt verstehe ich erst, was du damit gemeint hast, als du sagtest, es ist nicht das erste Mal, dass Ella dir vom Traum erzählt hat. Ich hatte diesen Albtraum zum ersten Mal vor vielen ersten Rauhnächten, stimmt’s? Du bist in der Zeit zurückgereist, um das Ganze zu verhindern? Wie kann das sein, wenn man beim Zeitreisen während der Rauhnächte in der Zeit verschwindet? Du …« Plötzlich begriff Maryanna, was ihre Großmutter durchgemacht hatte. Es erklärte, warum sie so erschöpft und zermürbt aussah. »Du musstest immer warten, bis die zwölf Nächte vorbei waren?«, flüsterte Maryanna. »Was auch immer passiert ist … was mir passiert ist … du musstest ausharren bis zum Ende der Rauhnächte. Erst dann konntest du mit einem neuen Versuch beginnen, um das Unheil zu verhindern.«
Mairi nickte schwach.
Maryanna legte eine Hand auf den Arm ihrer Großmutter.
»Was ist mit mir passiert, Oma?«
»Du bist irgendwann dem Hilferuf der Hexe gefolgt, egal, was ich unternommen habe. Und dann bist du verschwunden.