Hinfallen, Aufstehen, Weitergehen - Franz-Josef Wagner - E-Book

Hinfallen, Aufstehen, Weitergehen E-Book

Franz Josef Wagner

0,0

Beschreibung

Selbsthilfe als Selbstfindung »Es tat mir wohl, dass meine Psychiatrie-Erfahrung jetzt nicht mehr nur Makel und ohnmächtig ertragenes Schicksal war, sondern auch Quelle von Kompetenz und politischer Teilhabe. Ich war zwar immer noch ein kleines Licht, aber immerhin, ich leuchtete.« Gemeinsam mit der Journalistin Cornelia Schäfer zeichnet der Selbsthilfeaktivist Franz-Josef Wagner nach, was ihn auf seinem Genesungsweg beflügelte und wie er in der Selbsthilfe der Betroffenen eine neue Lebensaufgabe fand. Neben der eindrucksvollen Erzählung ergänzen Stimmen von Weggefährt*innen den Blick auf einen ganz und gar ungewöhnlichen Lebensweg. Die Geschichte der Selbsthilfe in Deutschland ist auch eine Geschichte von prägenden Persönlichkeiten und Vorbildern. Franz-Josef Wagner, langjähriger Vorsitzender des Landesverbandes der Psychiatrie Erfahrenen Rheinland-Pfalz und Mitbegründer der bundesweiten Selbsthilfeorganisation NetzG, gehört dazu. Seine Geschichte als Psychiatrie-Patient beginnt mit dem Verlust seines Jobs, dem Absturz in eine Manie. Lange gilt er als chronisch psychisch krank. Er schafft es, wieder auf die Beine zu kommen, fällt erneut und steht wieder auf. So geht das über Jahre. Aber der engagierte Selbsthilfe-Aktivist gewinnt kontinuierlich an Lebensqualität, sagt am Ende gar: Ich lebe jetzt 120%.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 188

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Franz-Josef Wagner mit Cornelia Schäfer

Hinfallen, Aufstehen, Weitergehen

Recovery durch Selbsthilfe

PARANUS im Psychiatrie Verlag

»Ich lebe jetzt 120 %!«

Die Geschichte der Selbsthilfe in Deutschland ist auch eine Geschichte von prägenden Persönlichkeiten. Franz-Josef Wagner, Mitgründer der bundesweiten Selbsthilfeorganisation für seelische Gesundheit, NetzG, gehört dazu.

Nach dem Verlust seines Jobs und dem Absturz in eine Manie, in deren Verlauf er seine junge Familie verlor, brauchte er Jahre, um wieder auf die Beine zu kommen. Gemeinsam mit der Journalistin Cornelia Schäfer zeichnet er nach, was ihn auf seinem Weg beflügelt, und wie er Selbsthilfe und Genesung verbindet.

Stimmen von Weggefährten erweitern die Perspektive auf einen ganz und gar ungewöhnlichen Lebensweg.

PARANUS im Psychiatrie Verlag

www.psychiatrie-verlag.de

Franz-Josef-Wagner ist Ingenieur, Kaufmann, Lebenskünstler und Aktivist für die Selbsthilfe seelische Gesundheit. Er ist Initiator von NetzG und Mitgründer des Deutschen Zentrums für psychische Gesundheit.

Cornelia Schäfer ist freie Journalistin und eine der Moderatorinnen des Kölner Psychoseforums.

Wir danken unseren ideellen und finanziellen Unterstützern.

Ziele nach dem Mond. Selbst wenn du ihn verfehlst, wirst du zwischen den Sternen landen.Amerikanisches Sprichwort

Wandern: Wie dieses Buch enstand

Hinfallen, Aufstehen, Weitergehen

Woher, wohin

Bildungswege

Auf städtischem Pflaster

Hoch, höher …

… am höchsten

Absturz

In der Krise

Psychiatriepatient

Wieder klein anfangen

Innere Wüste

Gehversuche im Alltag

Erste Schritte in der Selbsthilfe

Hochgefühle – und Krisen

Erfahrungen teilen und Wissen sammeln

Eintreten für die eigenen Belange

Momentaufnahme: Kochen und Genießen

Das Persönliche Budget

Genesung ist möglich

Eine Klinik als Rückzugsort

Erklärungsversuche

Eine zweite Laufbahn

Momentaufnahme: Aufzeichnungen aus der Recoveryzeit

Eine tiefe Krise

Kraftakt Verbandsarbeit

Dem Trialog ein Zuhause bauen

Neue Weggefährten

Erfolgspfade

Mehr Alltag …

… und Liebe

Eine Heldenreise?

Danksagung

Stimmen von Weggefährten

Einer aus meiner Ecke | Herbert Lichter, Studienfreund

Wieder ganz normal | Luise Kronz-Wagner, eine Kindheitsfreundin

Unten abgeholt | Gertrud Weires, ehemals Pflegerische Leitung der Tagesklinik Trier

Der veränderte Franz | Jutta Moschansky-Koster, Lebensgefährtin von 1998 bis 2001

Der Macher | Resi Limbach und Jörg Franz, langjährige Vorstandsmitglieder des Landesverbandes Psychiatrie-Erfahrener Rheinland-Pfalz

Lange ein Vorbild | Johannes Wagner, jüngster Bruder von Franz

Störung im besten Sinne | Paul Bomke, Geschäftsführer des Pfalzklinikums

Wir haben einander immer etwas zu sagen | Brigitte Siebrasse, ehemaliges Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener

Bereit, mit allen zu reden | Uli Krüger, ehemaliger Geschäftsführer der Aktion Psychisch Kranke

Gemeinsam Ideen finden und verfolgen | Horst Harich, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen und von NetzG

Eng verbunden | Erwin Feider, ein langjähriger Freund

Wandern: Wie dieses Buch entstand

Cornelia Schäfer

Franz-Josef und ich gehen nebeneinander. Wo er einen Schritt macht, muss ich – mit 1,57 m Körperlänge erheblich kleiner als mein Wegbegleiter – zweimal ausschreiten. Wir sind mit dem Eifelverein Trier unterwegs auf dem Moselhöhenweg über dem Weinort Mehring.

Brigitte, die Wanderführerin, dreht sich kurz zu ihrer Gruppe um: »Franz-Josef, bist du hinten?«

»Ja, bin da!«, ruft er zurück. Nachdem er vor zwölf Jahren dem Eifelverein beigetreten ist, hat er dies irgendwann zu seinem Amt gemacht: ganz hinten zu gehen und sicherzustellen, dass die Letzten nicht den Anschluss verlieren, besonders, wenn sich die Strecke zieht oder unwegsamer wird.

»Franz war mir von Anfang an sympathisch, weil er so hilfsbereit war«, erzählt Barbara, die wie die meisten hier mit Beginn des Ruhestandes in den Eifelverein gefunden hat. »Wenn es irgendwo den Berg hochgeht, hat er gewartet, hat hinten geguckt nach den etwas Schwächeren. Er ist auch ein guter Gesprächspartner und meistens lustig.«

Ich bin ganz Ohr, möchte auf dieser Wandertour, zu der Franz-Josef mich eingeladen hat, möglichst viel über ihn und sein Umfeld erfahren, denn wir haben uns verabredet, zusammen ein Buch zu schreiben. Mit 67 Jahren hat er nicht nur zigtausende Kilometer im Hunsrück, in der Eifel und anderswo wandernd zurückgelegt. Er ist vor allem einen Genesungsweg gegangen, den wir vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte gemeinsam erkunden wollen. Mich interessiert: Wie ist es Franz-Josef nach jahrzehntelanger psychischer Erkrankung mit manischen und depressiven Phasen gelungen, in die Gemeinschaft mit anderen, ins sinnvolle Tun und, ja, auch ins Fühlen, Träumen und Glücklichsein zurückzukehren? Wie erklärt er sich sein Abgleiten in die Krisen? Wo steht, pardon, geht er jetzt, und was hilft ihm, nicht vom Weg abzukommen? Können andere von seinen Erfahrungen profitieren?

Nach dieser Tour auf dem Zitronenkrämerweg werden wir also zusammen in sein Leben aufbrechen. Als Journalistin werde ich fragen, zuhören und mit der gebotenen Sorgfalt nachbohren. Franz-Josef wird von seinen Erfahrungen berichten, erzählen, wie er sich an sein Erleben und Tun, die Zeiten und Umstände erinnert. Meine Aufgabe ist es, den Protagonisten bei der Annäherung an die Wahrheit seines Lebens zu unterstützen und ihm eine Stimme zu verleihen. In diesem Buch steht seine Sichtweise im Vordergrund, Franz-Josef erzählt seine Geschichte so, wie er sie erlebt hat, erinnert und deutet. Wegbegleiterinnen und -begleiter aus unterschiedlichen Lebensphasen steuern ihre Perspektiven bei, geben dem so gezeichneten Bild zusätzlich Kontur, auch wenn Lücken bleiben. So gelang es nicht, Antworten auf die Frage an Franz-Josefs Ex-Frau und seine Tochter zu erhalten, wie sie die psychische Erkrankung des Mannes und des Vaters erlebt haben, seinen Sohn konnten wir mangels Adresse gar nicht ansprechen. Aus Respekt vor ihrer Entscheidung haben wir für alle Mitglieder der Kölner Familie Pseudonyme verwendet (mit * gekennzeichnet) und ihre persönlichen Lebensumstände verfremdet.

Vor den Mitwandernden hat Franz-Josef seine Erkrankung nie verschwiegen. Am Anfang ist er von manchen sehr skeptisch betrachtet oder gar abgelehnt worden. Nach der jahrelangen Medikamenteneinnahme sei er aber auch nicht besonders schwingungsfähig gewesen, erinnert er sich an die Zeit vor zwölf Jahren. Einige aufgeschlossenere Mitwanderer haben ihm damals zum Glück Brücken gebaut, und mit jeder Tour hat die Distanz abgenommen. Barbara meint sogar: »Dadurch, dass Franz-Josef so authentisch ist, macht er einem Mut, auch mal über sich selbst etwas preiszugeben. Das kann sehr hilfreich sein.«

Auch die Mitarbeiterin eines Sozialpsychiatrischen Dienstes, die Franz-Josef mal betreut hat, ist heute mit von der Partie. Durch Zufall haben sich die beiden im Eifelverein wieder getroffen und sind seitdem schon manchen Kilometer im Gespräch nebeneinander hergegangen.

Wie fast alle hier schätzt Gisela am Wandern, dass der Dreiklang von Naturerleben, Bewegung und Gemeinschaft den Kopf frei macht und heiter stimmt. Für Menschen, die wie Franz-Josef tiefe Krisen erlebt haben, ist es auch eine Möglichkeit, buchstäblich wieder Boden unter den Füßen zu spüren. »Wenn du über Unebenheiten oder kleine Wasserläufe hinweggehst, wenn du einen Hang hochkletterst oder dich unter tief hängenden Zweigen bücken musst, dann lernst du wieder dich zu konzentrieren. Das Wandern erdet dich«, beschreibt er dessen wohltuende Wirkung.

Auch an Kondition hat Franz-Josef durch das Wandern enorm gewonnen. Die eigene Kraft zu spüren, macht ihm so viel Spaß, dass er manchmal Schlusslichter Schlusslichter sein lässt und ausschert. »Vor allem, wenn es steil wird, kriege ich Lust, mich mal richtig auszupowern. Dann laufe ich an den Leuten vorbei an die Spitze und weiter bis zum Gipfel, wo ich auf die anderen warte.«

Diese Lust an der Bewegung kenne ich auch – eine Gemeinsamkeit. Beim Tempo kann ich weniger mithalten. Aber ich bin Franz-Josef auf der Spur, und merke bald, dass es auch auf seinem Genesungsweg mal langsamer und mal schneller ging. Gemeinsam mit ihm will ich nachzeichnen, was ihn beflügelte oder hemmte. Dieses Innehalten wird uns hoffentlich helfen, unser Ziel zu erreichen, Betroffenen, Angehörigen, Psychiatrieprofis und allen interessierten Menschen zu zeigen: Genesung auch von schweren psychischen Erkrankungen ist möglich. Es lohnt sich, auf diesem Weg loszugehen und auch wenn’s mal eng wird weiterzugehen.

Hinfallen, Aufstehen, Weitergehen

Franz-Josef Wagner

Woher, wohin

Vielleicht habe ich einen Hang zum Höheren. In meinen Manien war ich manchmal überzeugt davon, aus einem Adelsgeschlecht zu stammen. Oder ich glaubte, kurz vor der Ernennung zum UN-Generalsekretär zu stehen. Tatsächlich ging es auch in meinem wirklichen Leben eine Zeit lang steil bergauf. Ich war gerade im Begriff, beruflich so richtig Karriere zu machen, als ich in die Krankheit abstürzte.

Ursprünglich komme ich aus einfachen Verhältnissen. Meine Eltern waren Bauern. Sie hatten im Hochwalddorf Mandern einen kleinen Hof mit Vieh- und Landwirtschaft. Mein Vater war außerdem eine Zeit lang Gemeindediener. »Dorfschütz« hießen diese in alten Zeiten, sie zogen durch den Ort, läuteten eine Glocke und verkündeten Neuigkeiten.

Meine Familie lebte schon lange dort. Unser Haus, von dessen Außenwänden der Putz bröckelte, war alt. Wir hatten nichts, mit dem man hätte angeben können. Allerdings gehörte meinen Eltern ein Anteil am Gehöferschaftswald, und mein Vater war der Vorsitzende der Gehöferschaft, in dem die Nachfahren derjenigen zusammengeschlossen waren, die sich einstmals an der Rodung des Waldes beteiligt hatten.

Wir waren fünf Kinder. Ich bin der Älteste, 1955 geboren, und war nach allgemeiner Einschätzung der Liebling meiner Mutter. Vor mir hatte sie ein Kind tot zur Welt gebracht. Eine Schwester folgte 1957, ein Bruder 1960, meine jüngste Schwester wurde 1964 geboren und mein »kleiner« Bruder 1974 – Johannes war ein Nachzügler. Meine Geschwister und ich, meine Cousinen und Cousins sowie andere Kinder aus unserem Dorf spielten gern im Freien miteinander. Wir kickten auf der Wiese, spielten Verstecken in den offenen Schuppen und Scheunen des Dorfes oder Räuber und Gendarm im nahe gelegenen Wald Wiebelschied. Da auf einem Bauernhof immer viel zu tun ist, mussten wir aber auch schon früh mit anpacken. Bereits als Vierjähriger bin ich mit meinem Vater auf dem Traktor mitgefahren und habe ihm geholfen, Kartoffeln von Hand und mit der Maschine auszugraben. Manchmal rief er laut meinen Namen durchs Dorf, und dann musste ich mein Spiel abbrechen und mit ihm in den Stall oder aufs Feld. Ich erinnere mich an einen Tag, da war ich schon etwas älter und spielte in der C-Jugend des Dorfvereins Fußball. Mein Vater hatte mich zur Feldarbeit verpflichtet, obwohl ein wichtiges Spiel anstand. Ungeduldig wartete ich darauf, in meine Freizeit entlassen zu werden. Als mein Vater mich endlich ziehen ließ, flitzte ich zum Fußballplatz, wo das Spiel schon begonnen hatte, und schoss noch drei Tore.

Ich denke gern an meine Kindheit in diesem Dorf zurück, wo jeder jeden kannte und viele Familien miteinander verwandt waren. Da spürte man Zusammenhalt. Wenn eine Kuh kalbte oder ein Schwein geschlachtet wurde, half man einander.

Was mir auch gefiel, waren die Rituale der katholischen Kirche. Ich war Messdiener und mochte es, wenn wir am Palmsonntag den Einzug von Jesus in Jerusalem nachspielten oder uns, begleitet vom Kirchenchor, in der feierlichen Fronleichnamsprozession durch das Dorf bewegten. Wir wurden dafür besonders schön angezogen und streuten im Wald und auf den Wiesen gepflückte Blumen auf den Weg.

Trotzdem können diese Jahre nicht vollkommen unbeschwert gewesen sein. Ich war noch klein, vielleicht zwei, drei, höchstens vier Jahre alt, als ich an Kinderlähmung erkrankte, die in den 1950er-Jahren in Deutschland epidemisch auftrat. Über Nacht konnte ich damals meine Arme und Beine nicht mehr richtig bewegen. Meine Eltern erschraken, als ich mich plötzlich auf allen vieren eine Treppe hinaufschleppte. Sofort brachten sie mich mit dem Motorrad ins 35 km entfernte Trier, wo ich mehrere Monate im Krankenhaus der Borromäerinnen bleiben musste.

Die Kinderlähmung ist eine Virusinfektion. Sie geht mit Fieber, Schmerzen und Krämpfen einher, kann bleibende Lähmungen hervorrufen und sogar zum Tode führen. Manche Kinder mussten damals Tage oder sogar Wochen in der sogenannten Eisernen Lunge zubringen, um sie vor dem Ersticken zu bewahren. Vielleicht zu meinem Glück erinnere ich mich nicht mehr daran, wie es mir ging und welche Behandlung ich bekam. Ich weiß nur noch, dass ich auf der Isolierstation auf meinem Bett saß und von meinen Eltern, die zu Besuch gekommen waren, durch eine Glasscheibe getrennt war. Auch daran, dass ich Durst hatte, erinnere ich mich, und dass ich in meiner Not von dem abgestandenen Weihwasser trank, das regelmäßig zu unserer Segnung versprengt wurde.

Meine Eltern erzählten mir später, dass ich immer geschrien habe, wenn sie mir von der anderen Seite der Glasscheibe aus zuwinkten. Auch wenn man damals über die Bedeutung einer sicheren frühkindlichen Bindung noch wenig wusste, muss das für sie quälend gewesen sein. Wie ich selbst diese monatelange Trennung von meinen Eltern verkraftet habe, habe ich vergessen. Auch wie ich dann zu Hause wieder laufen lernte, kann ich heute nicht mehr sagen. Die Tochter einer Cousine meines Vaters soll mich damals zeitweise betreut haben.

Ebenfalls aus dieser Zeit stammt wahrscheinlich die Erinnerung, dass ich in meinem Bettchen liege, während meine Eltern auf dem Feld sind. Ich fühle mich allein und schaffe es irgendwie, aus dem Bett und über den Hühnerstall auf den Hof zu kommen, wo mich die Nachbarn in ihre Obhut nahmen. Sie fütterten mich und zogen mir etwas von ihren Söhnen an. Ich kann noch das Geborgenheitsgefühl in mir wachrufen, das mit dieser liebevollen Geste verbunden war.

Wenn ich überlege, dass ich später ein ziemlich guter Fußballspieler wurde und sogar ein Sportstudium ins Auge fasste, habe ich vielleicht schon an diesem frühen Punkt in meinem Leben die Zielstrebigkeit und Ausdauer entwickelt, von denen ich noch heute profitiere. Leicht kann das alles aber nicht gewesen sein. Ich war ein schüchterner Junge, der zuweilen von seiner jüngeren Schwester verteidigt werden musste. Auch war ich lange Zeit sehr dünn, da halfen selbst zahlreiche Klimmzüge am Reck nicht. Und während meine Schulkameraden schon in der Pubertät Freundinnen fanden, musste ich erst 19 Jahre alt werden, bis das bei mir auch klappte.

In der Schule konnte ich gut mithalten, nicht etwa, weil wir zu Hause beim Lernen unterstützt worden wären. Nein, meine Mutter, die von der luxemburgischen Grenze stammte, war als Kind während des Zweiten Weltkrieges mehrmals nach Kassel evakuiert worden, sodass sie kaum zur Schule gegangen war. Und mein Vater hatte, weil seine Eltern früh gestorben waren, schon als Teenager viel Verantwortung auf dem Hof seiner Eltern übernehmen müssen. Er war intelligent, aber schulisch nicht sehr gebildet. Bei uns zu Hause gab es auch keine Bücher. Das mag ein Grund dafür gewesen sein, dass Lesen, der Umgang mit Sprache überhaupt, nie meine Stärken wurden. Ich hatte aber eine rasche Auffassungsgabe: Was der Lehrer in unserer jahrgangsgemischten Klasse erzählte, konnte ich mir leicht merken und bei Klassenarbeiten wieder abrufen. Vielleicht deswegen setzte der Lehrer einen Schüler neben mich, der körperlich und wohl auch leicht geistig behindert war. Ich sollte ihm helfen und tat das auch gern.

Mit meinem etwas älteren Cousin Hermann* verband mich eine besondere Kameradschaft, aber auch Rivalität. Ich weiß noch, dass ich bei der Feldarbeit am Tage des wichtigen Fußballspiels mit ein bisschen Neid daran dachte, dass er sich ganz in Ruhe auf das Spiel vorbereiten konnte. Er war auch das erste Kind aus unserem Dorf, das eine Empfehlung für das Gymnasium im 25 km entfernten Hermeskeil bekam. Als ich ein Jahr später ebenfalls für gymnasiumstauglich befunden wurde, lehnte ich ab. Warum, weiß ich nicht mehr. Vielleicht mochte ich den Gedanken nicht, dass ich dann die abgelegten Bücher meines Cousins aus wohlhabenderem Hause erben würde. Ich wollte lieber etwas Eigenes machen. Allerdings hatte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht die geringste Idee, was das mal sein sollte. Mein Vater hingegen konnte sich gut vorstellen, mir als ältestem Sohn eines Tages den Hof zu übergeben. Er hatte sogar die Vision, außerhalb der Dorfgrenzen einen größeren sogenannten Aussiedlerhof zu bauen, den ich dann irgendwann hätte übernehmen können. Auf jeden Fall musste ich mich dafür gut mit dem Fuhrpark auskennen. So steuerte ich nach dem Volksschulabschluss mit gerade 15 Jahren eine Lehre zum Landmaschinenmechaniker an.

Bildungswege

Während meiner Lehre im Maschinenlager Raiffeisen LHG in Hermeskeil wohnte ich noch zu Hause. Ich ging zur Berufsschule und spielte weiter leidenschaftlich gern Fußball. Ich bin ein Mannschaftstyp. Etwas für die Gemeinschaft zu leisten, war mir immer sehr wichtig. Ich erinnere mich, wie wir in Mandern eine Flutlichtanlage für den Sportplatz bekommen haben. Da habe ich den Trecker von meinem Vater geholt, der hinten eine Schaufel hatte. Damit habe ich über Hunderte Meter den Sand herbeigeschafft, mit dem die Flutlichtmasten befestigt wurden. Darauf war sonst keiner gekommen, alle waren nur mit Schaufeln und Schubkarren an die Arbeit gegangen.

Ich weiß heute, dass das eine Begabung von mir ist: Abläufe analysieren und optimieren. Vielleicht ist es sogar so, dass ich manche – man könnte sagen: emotionaleren – Ebenen einer Sache gar nicht so wahrnehme, dafür aber ganz stark das Drumherum. Beim Karneval zum Beispiel hat mich viel mehr als der Umzug mit seinen bunten Gestalten und der Musik interessiert, wie viel Abfall da jedes Mal zurückbleibt. Und in Bundesligastadien habe ich immer besonders drauf geachtet, wie alles organisiert ist, wo die Getränke verkauft werden, wie die Ordner eingesetzt sind, welche Absperrungen Sinn machen und ob die Abläufe insgesamt funktionieren. Diese Eigenheit war mir als junger Mann aber noch nicht bewusst.

Ich war auch überrascht, als mein Berufsschullehrer mir empfahl, an der Abendschule die Mittlere Reife nachzuholen. Das habe ich dann zwar in Angriff genommen, aber nach zwei Jahren abgebrochen, weil ich zur gleichen Zeit den Gesellenbrief schaffen musste. Nach der Gesellenprüfung habe ich noch mal neu angesetzt, zuerst in der Berufsaufbauschule in Saarburg die Mittlere Reife gemacht und dann, wieder in Hermeskeil, das Fachabitur.

Das hört sich jetzt sehr strebsam an, und tatsächlich habe ich Ziele, die ich mir gesetzt habe, stets mit Ausdauer verfolgt. Aber ich bin nicht immer den geraden Weg gegangen, sondern habe auch viel gepfuscht. In der Schule hatte ich Bücher und Spickzettel unter der Bank und habe bei meinen Nachbarn abgeschrieben. Mir ging es nicht darum, die besten Noten zu haben, sondern irgendwie durchzukommen. Dafür habe ich mich dann auch mal ins Zeug gelegt. In Deutsch zum Beispiel drohte mir eine Fünf im Zeugnis, da gelang es mir, noch einen Auftrag für ein Referat zu ergattern. Ich sollte über Verhütungsmittel schreiben. Das war damals schnell im gesamten Umkreis des Oberzentrums Hermeskeil bekannt: Franz, der Experte für Verhütungsmittel. Aber egal, es funktionierte.

Wenn ich beim Pfuschen aufflog, habe ich nicht lange diskutiert. Tja, erwischt, was solls! Foulen und gefoult werden kannte ich ja vom Fußball. Nach einem Konflikt mit einem neuen Trainer hatte ich den Verein gewechselt und spielte nun in der ersten Mannschaft des SV Geisfeld nahe Hermeskeil. Ich lief auch regelmäßig zehn, fünfzehn Kilometer. Kurze Zeit hatte ich den Plan, nach dem Abi Sport zu studieren. Aber um an der Sporthochschule angenommen zu werden, hätte ich schon früher härter trainieren müssen. Wegen meiner Ausbildung zum Landmaschinenmechaniker schlug mir jemand vor, Landmaschinenbau zu studieren. Und das ging ich dann an der Fachhochschule in Köln an.

Auf städtischem Pflaster

Köln war mir zunächst nicht geheuer. Den ersten Kontakt mit der Großstadt hatte ich 1972 oder 73. Gemeinsam mit einigen anderen Spielern der A-Jugend Mandern war ich mit dem Klingenden Moselländer zu einem Ausflug in die Metropole am Rhein gefahren. Als wir in der großen Eingangshalle des Bahnhofs die Toiletten ansteuerten, lungerten da ein paar zwielichtige Gestalten herum. Zwei Jungs fingen eine Schlägerei an, und wir flohen verschreckt auf den Bahnsteig zurück, wo wir eine Stunde lang auf den Zug zurück warten mussten.

Ich hatte mich bis dahin eigentlich immer im Umkreis meines Heimatortes Mandern aufgehalten, Urlaube in anderen Orten oder gar Ländern gab es für unsere Familie nicht, die mit geringen Mitteln auskommen musste. Einmal war ich immerhin ein paar Tage lang mit meinem Cousin Hermann und zwei Freunden mit einer 2 CV6 in Paris gewesen.

Sehr welterfahren war ich jedenfalls nicht, als ich mich 1976 zum Studium des Landmaschinenbaus an der Fachhochschule in Köln einschrieb. Anfangs fuhr ich noch regelmäßig nach Hause, zu meinen Eltern und zum Fußballtraining nach Geisfeld-Rascheid. Da ich kein eigenes Auto besaß, holten mich die Sportlerkollegen zum Training und zum Spiel ab und fuhren mich wieder zum Bahnhof Trier, wo ich den Zug nach Köln nahm.

Auch meine ersten Freundinnen ließen mich regelmäßig heimfahren. Meine ruhmreiche Tätigkeit auf dem Fußballplatz hatte in der Zwischenzeit doch noch die Frauenwelt auf mich aufmerksam gemacht. Mit 19, 20 Jahren hatte ich meine ersten, zunächst noch kurzen Liebesbeziehungen. Einmal bekam ich in Köln sogar einen Liebesbrief. Ich weiß noch: Der Brief des Mädchens aus dem Hochwald war gelb und duftete nach Parfüm.

Was mir schließlich das Einleben in Köln erleichterte, waren die Anforderungen, die das Studium vorgab, und Kommilitonen, die ähnlichen Verhältnissen entstammten. Tatsächlich sprach mich gleich bei einer der ersten Vorlesungen ein Kommilitone an, der auch aus meiner Gegend kam. Herbert und ich freundeten uns an.

Während der ersten beiden Semester wohnte ich in einem kleinen Zimmer zur Untermiete. Im Oktober 1977 bekam ich ein Zimmer im Studentenwohnheim, nahe der Hochschule, die gerade auf die rechte Rheinseite umgezogen war. Dort lernte ich wenig später Bettina* kennen. Unsere Hausgemeinschaft hatte einen Partykeller eingerichtet, den wir am Buß- und Bettag einweihten. Als Sohn einer Mutter, die gerne kochte und backte und mich ein bisschen angeleitet hatte, steuerte ich Hawaii-Toasts zum Büfett bei. Und da muss meine spätere Frau mich erspäht und auserkoren haben. Sie kam auf mich zu. Ich habe es zuerst gar nicht wahrgenommen.

Bettina war ein Jahr älter als ich, studierte Bauingenieurwesen und lebte in einer Wohnung im Haus ihrer Mutter in einem angesagten Viertel der Stadt. Wir kamen schnell sehr eng zusammen. Als ich am Sonntag nach dem Einweihungsfest vom Fußball mit Schürfwunden zurückkam – wir spielten damals noch auf rotem Splitt –, hat sie mit ihrem alten Ford nicht nur vor der Unimensa auf mich gewartet, sondern mich gleich in die Ambulanz der Uniklinik gefahren. Danach nahm sie mich mit zu sich nach Hause, und von da an wohnte ich quasi bei ihr.

Wir konnten uns gut unterhalten und lachten viel miteinander. Für mich eröffnete sich eine neue Welt. Als Tochter aus wohlhabendem Hause hat Bettina mich nach und nach mit Dingen bekannt gemacht, die mir vorher komplett unbekannt waren. Ihr Vater war zu Ehren und Ämtern gekommen, ihre Mutter hatte von zu Hause Geld mit in die Ehe gebracht. Die Familie wohnte großzügig und hatte ein Ferienhaus mit Saunen und Swimmingpool nahe Köln. Bettina und ihre Eltern zählten zum Bildungsbürgertum, in dem auch ich nun versuchte, eine gute Figur zu machen. Immerhin war ich ein vielversprechender Student mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Ich lernte rasch und war so gut in Mathematik, dass ich in diesem Fach als Tutor für jüngere Kommilitonen ein bisschen Geld verdienen konnte. Bettinas Mutter schien auch tatsächlich etwas in mir zu sehen, sie war jedenfalls sehr freundlich zu mir. Ihr Vater betrachtete mich eher ablehnend und hatte wohl den Verdacht, dass ich mich schmarotzerhaft in seine Familie einnisten wollte.