Hinter unserem Horizont - Elias J. Connor - E-Book

Hinter unserem Horizont E-Book

Elias J. Connor

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Beschreibung

Bevormundende Eltern, eine herrische Schwester und eine böse Ahnung verfolgen Benjamin bis ins Erwachsenenalter. All das macht es ihm unmöglich, ein selbstständiges und geregeltes Leben zu führen. Begleitet von einer grausamen Kindheit und geplagt von Depressionen trifft er eine Entscheidung. Für eine verheiratete Frau, seine erste große Liebe, zieht er nach Solingen und ist bereit für einen Neuanfang. Weg von seinen Eltern, weg von seiner Schwester, doch der Schatten seiner Vergangenheit begleitet ihn, ohne dass er es ahnt.

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EPUB

Seitenzahl: 354

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Elias J. Connor

Hinter unserem Horizont

Die Suche nach der Endstation

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Hinter unserem Horizont

PROLOG

KAPITEL 1: NACHTFAHRT

KAPITEL 2: VERLOREN

KAPITEL 3: BENJAMINS GESTÄNDNIS

KAPITEL 4: DER BLICK IN DIE SEELE

KAPITEL 5: NEUANFANG

KAPITEL 6: DIE SCHWESTER

KAPITEL 7: SILVESTER

KAPITEL 8: EINGESCHWOREN GEGEN ALLE

KAPITEL 9: DAS GEHEIME TREFFEN

KAPITEL 10: WIEDER ZURÜCK?

KAPITEL 11: BÖSE ERINNERUNGEN

KAPITEL 12: DIE KLINIK

KAPITEL 13: WENN DIE WAHRHEIT RAUSKOMMT

KAPITEL 14: DIE WERKSTATT

KAPITEL 15: FREUNDE AUF EWIG

KAPITEL 16: DER TOD DER MUTTER

KAPITEL 17: EINE UNERWARTETE NACHRICHT

KAPITEL 18: DAS VERLORENE LEBEN

KAPITEL 19: WOHNGEMEINSCHAFT

KAPITEL 20: THE ALLIANCE

KAPITEL 21: WEGGESCHOSSEN

KAPITEL 22: WARUM?

KAPITEL 23: ENDSTATION

Über indayi edition

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Hinter unserem Horizont

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www.indayi.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage Juni 2019

© indayi edition, Darmstadt

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlag, Satz und Gesamtleitung Lektorat: Birgit Pretzsch

Lektorat: Sarah Heller

ISBN-13: 978-3-947003-45-7

Elias J. Connor

Band 1:

Die Suche nach der

Endstation

Die Macht einer

grausamen Kindheit

kann Benjamin das

zerstörerische Programm löschen?

ROMAN

Über den Autor

Elias J. Connor, geboren am 24. Juni 1968, lebt in der Nähe von Köln. Gebürtig stammt er aus Frankfurt am Main, siedelte sich jedoch als junger Erwachsener im Rheinland an. Er studierte an der Fachhochschule Düsseldorf Soziale Arbeit. Dort sammelte er sehr viele Erfahrungen, die er besonders in seinen Sozialdramen verarbeiten konnte. Neben seiner Tätigkeit als Autor arbeitet er in einer größeren Firma sowohl in der Produktion als auch in der Hauswirtschaft, ist leidenschaftlicher Musiker, spielt Keyboard und malt gerne.

An die Schreiberei kam er bereits im Alter von 12 Jahren, als er DIE UNENDLICHE GESCHICHTE von Michael Ende gelesen hatte. Seitdem wusste er, er würde sich ebenfalls gerne eine Welt aus Worten erschaffen. Dies tat er jedoch nur im Verborgenen. Erst vor einigen Jahren hat ihn eine liebe Freundin auf die Idee gebracht, seine Geschichten einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Seit 2014 veröffentlichte Elias J. Connor als Selfpublisher einige Werke in den Bereichen Drama, Fantasy und Thriller. 2018 kam sein erster Verlagsvertrag zustande.Die Drama-Serie HINTER UNSEREM HORIZONT zählt zu den wichtigsten und persönlichsten Werken, die Elias J. Connor schrieb.

Über das Buch

Bevormundende Eltern, eine herrische Schwester und eine böse Ahnung verfolgen Benjamin bis ins Erwachsenenalter. All das macht es ihm unmöglich, ein selbstständiges und geregeltes Leben zu führen. Begleitet von einer grausamen Kindheit und geplagt von Depressionen trifft er eine Entscheidung. Für eine verheiratete Frau, seine erste große Liebe, zieht er nach Solingen und ist bereit für einen Neuanfang. Weg von seinen Eltern, weg von seiner Schwester, doch der Schatten seiner Vergangenheit begleitet ihn, ohne dass er es ahnt.

Neue Stadt, neues Glück? Wohl eher nicht! Benjamin gelingt es auch in Solingen nicht, ein geregeltes Leben zu führen. Zu groß ist der Drang nach Alkohol. Dass er Alkoholiker ist, wird ihm erst nach und nach bewusst. Ständig auf der Suche nach Anerkennung und Liebe, verliert er sich in der Vorstellung, mit seiner Freundin ein neues Leben zu beginnen. Doch er scheitert und steht am Abgrund seines Lebens.

Die auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte gibt durch die authentischen Schilderungen des Protagonisten, einen schonungslosen Einblick in das Leben eines Alkoholikers und dessen Gefühlswelt. Eine Geschichte, die Betroffenen Mut macht und eine Geschichte, die Außenstehenden einen neuen Blickwinkel verleiht.

Für Nadja.

Meine beste Freundin, Ideenlieferin und Muse.

In einer schweren Stunde warst du für mich da. Ich danke dir von Herzen dafür.

Du bist diejenige, die durch ihren Zuspruch dieses Projekt ermöglicht hat.

Es ist mir das wichtigste Buch von allen, die ich bisher geschrieben habe, und ich habe es für dich geschrieben.

Schön, dass es dich gibt.

Dunkle Schatten vergangen, neue Lichter entdeckt.

Danke für den phantastischen Halt, danke, dass du da bist und ich da sein darf.

Für Jana.

Manche Wege sind zu weit, manche Mauern zu hoch und manche Grenzen zu unüberwindbar.

Wie konnte ich dich finden?

Für Liam-Elias.

Angekommen in unserer Welt.

Derjenige, dessen Leben unseres verändert hat und der uns die Kraft gibt, dort weiter zu machen wo wir unsere Endstationen gefunden haben.

Danke, dass du existierst.

PROLOG

Der nasse Regen plätscherte auf sein Gesicht. Seine Kleidung war dreckig und vom Wasser durchtränkt. In seiner Jeans war ein Riss, aus dem Blut austrat. Seine Jacke war offen, trotz der Kälte, und hing ihm halb vom Körper herunter.

Er lag da, mitten auf der Straße, regungslos und ohnmächtig. Sein Kopf befand sich mitten in einer großen Blutlache, die bereits auch schon seine Haare rot färbte. Das Blut lief langsam den Bordstein herunter, in einen nah gelegenen Kanal hinein.

Er bewegte sich nicht. Würde man genauer hinsehen, könnte man allerdings merken, dass seine Lippen leicht bebten.

Ein anderer Mann hechtete plötzlich aus einem Kiosk heraus, der keine zehn Schritte von der Stelle entfernt war, wo der Mann lag. Sofort packte er einen seiner Arme und versuchte, ihn anzuheben.

„Hallo?“, fragte er. „Können Sie mich hören?“

Der Mann reagierte nicht.

„Hallo“, sagte der andere Mann wieder, der offenbar in dem Kiosk arbeitete.

Dann nahm er das Handy aus seiner Tasche und wählte die Nummer des Notrufs.

„Ja“, sagte er schließlich ins Telefon. „Ich bin gerade vor meinem Kiosk in der Nähe vom Bahnhof. Hier liegt ein unbekannter Mann, vielleicht Mitte bis Ende 30, verletzt auf dem Bürgersteig. Er ist wahrscheinlich gestürzt und hat eine ziemlich schwere Kopfverletzung. Er reagiert nicht, wenn ich ihn anspreche.“

„Wo sind Sie genau?“, fragte die Frau am anderen Ende des Telefons.

„In der Buchenstraße 120 in Solingen“, antwortete der Kioskbesitzer.

Dann sendete die Frau einen Notruf aus und wandte sich schließlich wieder dem Mann zu, der den Fremden auf der Straße liegend fand.

„Okay“, meinte sie. „Liegt der Mann bereits in der stabilen Seitenlage?“

Daraufhin legte der Kioskbesitzer das Handy weg und drehte den Verletzten seitlich zu sich. Dann nahm er das Telefon wieder in die Hand.

„Atmet er?“, wollte die Frau wissen.

„Ja“, stellte der Kioskbesitzer fest. „Er ist zwar ohnmächtig, aber er atmet. Er blutet aber ziemlich stark, können Sie sich bitte beeilen?“

„Wir sind in zwei bis drei Minuten da, spätestens“, sagte die Frau.

Der Kioskbesitzer lief dann in sein Geschäft rein und holte ein Handtuch. Vorsichtig versuchte er damit die blutende Stirn des Mannes abzutupfen. Währenddessen probierte er immer wieder, ihn anzusprechen, aber der Mann zeigte keinerlei Reaktion.

Eine junge Frau kam vorbei, die die Szene beobachtet hatte.

„Haben Sie den Notarzt schon gerufen?“, fragte sie. „Was ist passiert?“

„Er muss gestürzt sein“, klärte der Kioskbesitzer sie auf. „Rettungswagen ist unterwegs.“

„Er riecht nach Alkohol“, sagte die Frau.

„Ja“, stellte der Kioskbesitzer fest. „Ich meine mich zu erinnern, dass er wenige Stunden vorher bei mir zwei Dosen Bier gekauft hatte.“

„Wissen Sie, wer er ist?“

„Er muss hier in der Nähe wohnen. Ich kenne ihn vom Sehen, er kauft manchmal in meinem Kiosk ein.“

Die Frau kramte daraufhin in der Tasche des Unbekannten und fand sein Portmonee. Aber die Geldbörse war völlig leer, keine Papiere, kein Ausweis und auch kein Geld.

„Ich vermute, er ist niedergeschlagen worden“, mutmaßte die Frau schließlich.

„Glaube ich nicht“, sagte der Kioskbesitzer. „Für mich sieht es eher danach aus, als wäre er aus der Kneipe gefallen, vielleicht konnte er dort nicht bezahlen und die haben dann seine Papiere als Pfand einbehalten. Er schien schon angeheitert gewesen zu sein, als er vorhin bei mir Bier kaufte. Ich glaube, dass er gefallen ist.“

Die Frau versuchte dann, den Puls des Fremden zu messen.

„Puls ist vorhanden“, sagte sie. „Sehr schwach, aber er ist da.“

Wenig später – kam der Rettungswagen mit Blaulicht angefahren. Kaum angekommen, stiegen gleich zwei Sanitäter aus.

„Hallo“, sagte der Eine. „Können Sie mich hören? Sind Sie ansprechbar?“

„Er reagiert nicht“, erklärte der Kioskbesitzer. „Ich habe es bereits versucht.“

Während einer der Sanitäter die Wunde versorgte und desinfizierte, kam der Notarzt schließlich mit einem separaten Auto an.

Die Sanitäter bereiteten eine Trage vor. „Wir werden ihn ins Krankenhaus mitnehmen“, sagte der Eine.

Der Notarzt setzte dem Fremden eine Infusion, und zeitgleich legten die Sanitäter ihn auf die Trage.

„Puls?“, sagte einer von ihnen.

„Schwach, aber ja“, sagte der Notarzt. „Sehr schwache Atmung. Weiß man, wer er ist oder wo er wohnt?“

„Nein, keinen Schimmer. Der Kioskbesitzer, der uns gerufen hatte, kennt ihn offenbar auch nur vom Sehen“, sagte der Sanitäter.

Als die Trage mit dem Verletzten im Wagen war, setzte sich der Notarzt wieder in sein Auto und fuhr bereits vor.

„Okay, wir werden Sie benachrichtigen, wenn wir mehr wissen“, verabschiedete sich der eine Sanitäter vom Kioskbesitzer und der Rettungswagen fuhr davon.

Im Krankenwagen schlossen die Sanitäter den Fremden an Kontrollgeräte an, die seinen Herzschlag und seinen Puls maßen. Noch immer schien der Patient nicht ansprechbar und regungslos zu sein.

Einer der Sanitäter notierte sich etwas auf einem Block: „12. Juli 2016. Name: Unbekannt. Status: Schwere Kopfverletzung, komatös durch Alkoholeinfluss. Möglicherweise innere Verletzungen“, konnte man dort lesen.

Die Fahrt ins Krankenhaus dauerte nur wenige Minuten. Kaum angekommen, wurde die Trage mit dem Unbekannten direkt auf die Intensivstation gebracht, in einen Raum, der nach einem OP-Saal aussah. Sofort kamen mehrere Ärzte und bereiteten sich darauf vor, die schwere Kopfverletzung zu behandeln. Die Maschine, an die der Patient angeschlossen war, zeigte, dass der Herzschlag leicht schwächer und langsamer wurde.

Schließlich kam auch der Oberarzt, den man zuvor gerufen hatte.

„Name?“, fragte er.

„Unbekannt“, antwortete einer der Ärzte. „Herzschlag unrhythmisch, wahrscheinlich ein Schock, hervorgerufen durch zu viel Alkohol.“

Der Narkosearzt setzte den Patienten unter Betäubung, und fast zeitgleich begann der Oberarzt, die Wunde mit mehreren Stichen zu nähen.

„Ich vermute, dass innere Verletzungen vorhanden sind“, stellte er fest. „Kann mir jemand sagen, was passiert ist?“

„Der Mann scheint auf der Straße zusammengebrochen zu sein“, klärte ihn einer der Ärzte auf. „Die Sanitäter sagen, ein Kioskbesitzer habe ihn gefunden, aber wir wissen nicht, wie lange er schon da lag.“

„Der Herzschlag ist unregelmäßig“, sagte der Oberarzt. „Möglicherweise müssen wir ihn in ein künstliches Koma versetzen.“

Zur gleichen Zeit betrat eine junge Frau, mittellange, dunkle Haare und eher zierlich, vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, das Krankenhaus und lief aufgeregt zum Empfang. Ihr Körper schien zu zittern und einige Tränen liefen ihre Wangen herunter. „Ist er hier? Ist er eingeliefert worden?“, fragte die Frau.

„Beruhigen Sie sich“, sagte die Dame am Empfang. „Wen genau suchen Sie?“

„Benjamin Foster“, sagte die junge Frau. „Er war nicht zu Hause, als ich heute Abend dort ankam. Ein Mann sagte mir, dass es vor seinem Haus einen Verletzten gab. Er lässt sein Handy nie zu Hause, aber es lag da, als ich kam…“

„Wie ist ihr Name?“, fragte die Mitarbeiterin des Krankenhauses.

„Jennings“, sagte die Frau. „Crystal Jennings. Benjamin ist mein Patenonkel.“

„Gut“, sagte die Frau. „Bleiben Sie ruhig. Ich sehe nach.“

Dann warf die Mitarbeiterin einen Blick in ihren Computer.

„Wir haben heute Abend nur zwei Einlieferungen. Eine ältere Frau und einen Mann, dessen Namen wir nicht kennen. Wo wohnt ihr Patenonkel?“

„In der Buchenstraße“, antwortete Crystal. „Nicht weit weg vom Bahnhof.“

„Also, der Unbekannte, der vorhin hier eingeliefert wurde…“, begann sie. „Der Notruf wurde tatsächlich von einem Kioskbesitzer in der Buchenstraße abgesetzt.“

„Oh, mein Gott“, wisperte Crystal. „Das muss er sein. Wo ist er? Wo ist er?“

„Sie können da jetzt nicht rein“, sagte die Angestellte. „Soweit ich informiert bin, befindet sich der Unbekannte mitten im OP.“

„Ich muss zu ihm“, sagte Crystal aufgeregt. „Kann ich mit jemandem sprechen?“

„Jetzt nicht“, antwortete die Mitarbeiterin fast unhöflich.

Aber Crystal ließ sich nicht davon abbringen, es zu versuchen. Ohne eine Genehmigung abzuwarten, lief sie den Flur entlang und ging in Richtung des Aufzugs.

Sie wusste nicht, wohin sie sollte, aber instinktiv drückte sie das Stockwerk an, in dem sich der OP befand.

„Herz?“, fragte der eine Arzt.

„Schwach“, sagte ein anderer.

Die Wunde war versorgt, aber es schien dem Unbekannten weitaus schlimmer zu gehen, als sie dachten.

„Ist die Blutuntersuchung fertig?“, fragte der Oberarzt.

Und zugleich kam ein Assistenzarzt mit einem Schreiben rein.

„Starker Alkoholkonsum, wahrscheinlich über drei Promille“, sagte er.

„Gott“, meinte der Oberarzt. „Das überlebt ja fast keiner. Wir werden ihn ins Koma versetzen müssen.“

„Doktor, draußen ist eine junge Frau“, begann der Assistenzarzt dann. „Sie vermutet, den Unbekannten zu kennen.“

„Sie soll warten“, sagte der Oberarzt, während er eine Infusion vorbereitete.

Plötzlich wurde der Herzton der Maschine immer unregelmäßiger.

„Herzrhythmus-Störungen“, stellte der Arzt fest. „Bereiten Sie den Defibrillator vor.“

Eilig machten sich zwei Ärzte daran, das Gerät anzuschalten.

„Geht das nicht schneller?“, fragte der Oberarzt.

Und dann auf einmal kam ein eintöniges Piepsen aus der Maschine.

„Wir verlieren ihn“, sagte der Oberarzt. „Herzstillstand. Schnell, den Defibrillator.“

Die beiden Assistenzärzte hielten die Enden der Maschine aneinander und legten sie dem Patienten auf die nackte Brust.

„Jetzt“, sagte der Oberarzt.

Ein Stromschlag.

Nichts. Das Geräusch war nach wie vor monoton.

„Noch mal!“ Sie setzen das Gerät ein zweites Mal an.

Draußen kam ein Pfleger zu Crystal und setzte sich zu ihr.

„Was ist passiert? Ist er es?“, fragte sie aufgeregt.

„Nun“, sagte der Pfleger. „Wir wissen nicht, wer er ist. Und es sieht nicht gut aus. Sie beleben ihn gerade wieder.“

„Nein…“, hauchte Crystal. „Er darf nicht sterben.“

„Wir wissen ja nicht genau, ob es auch Ihr Bekannter ist.“

„Mein Onkel“, sagte Crystal. „Ich habe keine Familie mehr, nur noch ihn.“

„Sind Sie verwandt?“, wollte der Pfleger wissen.

„Nein“, antwortete Crystal. „Nicht blutsverwandt. Aber er ist mein Patenonkel.“ Sie holte das Handy, welches sie mitgebracht hatte, und welches ihm gehören musste, heraus und zeigte dem Pfleger ein Foto von ihrem Patenonkel. „Das ist er. Ist das der Mann, der eingeliefert wurde?“

Der Pfleger sah sich das Foto an.

„Ja“, sagte er schließlich. „Das Bild ist identisch mit dem Verletzten.“

„Ich muss zu ihm.“, stammelte Crystal.

Daraufhin kam der Oberarzt aus dem OP und ging auf Crystal zu…

KAPITEL 1: NACHTFAHRT

Wo war jetzt diese verfluchte Tasche?

Das Wichtigste hatte ich ja eigentlich schon zusammen. Der Fernseher, eine Riesenkiste, war bereits im Auto verstaut. Ein Wunder, dass ich es geschafft hatte, ihn alleine herunter zu tragen. Aber nachts um drei Uhr war ja keiner mehr wach, der mir hätte helfen können.

Der Koffer mit den wichtigsten Klamotten war ebenfalls bereits gepackt und verstaut. Das hatte ich heimlich gestern Abend schon gemacht. Ich hatte nicht viel eingepackt. Das Meiste würde dann sowieso am Samstag nachkommen. Von den Möbelpackern gebracht, die mein Vater engagiert hatte. Und Mutter würde mir dann alle Klamotten einpacken.

„Ha, die werden morgen gucken, wenn sie sehen, dass ich bereits weg bin“, sagte ich zu mir.

Jetzt fehlte noch die Tasche mit all meinem persönlichen Kram. Papiere, Geldbörse, Bücher und so weiter. Wo ich die hingelegt hatte, wusste ich im Moment aber nicht mehr. Gestern Abend hatte ich sie noch gehabt.

Ich suchte im Schlafzimmer. Persönlichen Kram bewahrte ich meistens im Schlafzimmer in der Schublade auf, von der ich immer hoffte, dass sie keiner aufmachte. Besonders nicht meine Mutter. In dieser Schublade hatte ich auch all die geheimen Liebesbriefe von Jenny. Keiner sollte sie sehen. Niemand.

Die Tasche war dort. Ein Aktenkoffer mit all meinem persönlichen Inhalt.

Hatte ich noch was vergessen?

Ach, du meine Güte… Natürlich. Joey. Meinen Beo. Der Vogel, der so wunderbar Geräusche nachmachen konnte. Er sah so schlicht aus, aber er konnte wundervoll singen und sogar pfeifen. Ihn wollte ich auf jeden Fall jetzt schon mitnehmen, mitsamt seinem Käfig.

Ich machte den oberen Teil des Käfiggestells vom Ständer ab und trug ihn ins Auto. Anschließend lief ich wieder hoch, holte meine persönliche Tasche und sah mich noch mal in meiner Wohnung um.

„Das war’s“, sagte ich. „Bielefeld, ich werde dich garantiert nicht vermissen.“

Nachdem ich das Licht ausmachte und die Türe abschloss, stapfte ich mit der Aktentasche zum Wagen und setzte mich rein.

Alles leer. Kein Mensch auf der Straße.

Ich machte den Motor an und fuhr los.

Ich war ja eigentlich immer eher schüchtern. Zurückhaltend, ein Einzelgänger eben. Ich hatte auch nie viele Freunde, und die, die ich hatte, interessierten sich nur oberflächlich für mich. Waren wohl mit ihrem eigenen Leben und ihrer eigenen Karriere viel zu beschäftigt, um sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen.

Es fiel mir nicht besonders schwer, das alles hinter mir zu lassen. Freunde. Familie. Mein Leben in Bielefeld.

Ob sie von Jenny wussten, konnte ich nur erahnen. Offiziell hatte ich einen Jobwechsel als Grund angegeben, aber eigentlich bin ich nur wegen Jenny umgezogen.

Als ich mit konstanten 130 Stundenkilometern über die fast leere Autobahn bretterte, geriet ich ins Grübeln. Heute war der 22. Dezember 2003, ein kalter Wintertag. Ich hatte es mit 25 Jahren endlich geschafft, von zu Hause wegzukommen. Endlich. Ich hätte es keine Sekunde länger mehr ausgehalten. Nicht in dieser Stadt. Nicht mit dieser Familie. Und nicht in diesem Leben.

Meine Gedanken schweiften zum gestrigen Abend. Es war eigentlich alles wie sonst. Ich saß im Keller in meinem kleinen Musikstudio, das mir mein Vater eigens eingerichtet hatte. Ich klimperte ein bisschen auf meinem Keyboard, aber etwas wirklich Schönes kam dabei nicht raus. Der Vater unterbrach dann mein Spielen ruckartig, als er – natürlich ohne anzuklopfen – in den Keller hereinkam.

„Na, Sohn, was machst du?“, wollte er wissen.

„Ich spiele“, antwortete ich. „Lässt du mich jetzt bitte alleine?“

„Wir müssen reden“, sagte er daraufhin, ohne auch nur einen Hauch Respekt an meinen Wunsch zu verschwenden.

Genervt drehte ich mich um und sah ihn an.

„Was ist?“, wollte ich wissen.

„Ich habe dir eine große Wohnung in Solingen gekauft, das weißt du“, begann er. „Eine Eigentumswohnung.“

„Ja“, sagte ich. „Wir waren vor einem Monat dort und haben den Kauf abgeschlossen. Stimmt was nicht damit?“

„Nun, mein Junge“, setzte er wieder an, „Ich bin mir nicht sicher, ob du das ganz alleine schaffst, in einer großen Stadt. Bedenke, du kennst dort niemanden.“

„Schon klar“, meinte ich. „Ich werde dort sicher Leute kennen lernen, Papa. Wenn ich es jetzt nicht mache, wann dann?“

„Deine Mutter wäre sehr traurig, wenn du gehst“, sagte er. „Sie macht sich große Sorgen um dich. Und für dich ist es doch wichtig, dass sie in deiner Nähe ist.“

So ein Quatsch.

„Carina ist erst 23, und sie ist mit 19 bereits ausgezogen“, sagte ich.

„Du weißt, dass Carina mit ihrem Freund zusammenlebt. Sie haben sich eine gemeinsame Zukunft aufgebaut.“

Was mein Vater damit sagen wollte, war, dass er Carina in so vielen Dingen für so viel weiter hielt als mich. In Allem. Carina studierte – ich hatte nicht einmal einen vernünftigen Job. Carina hatte einen Freund, seit sie 18 war – ich hatte niemanden. Und wenn sie wüssten, dass ich seit einem halben Jahr Jenny hatte, hätten sie es mir nicht geglaubt. Ganz typisch meine Eltern.

Erst kürzlich sagte meine Schwester Carina zu mir, dass ich sicherlich nie von zu Hause ausziehen werde.

„Niemand hält mich für erwachsen. Meine Güte, ich bin 25. Wann soll ich denn sonst mein eigenes Leben beginnen? Ich will dieses Leben hier nicht mehr. Ich will weg von hier. Weg von euch“, wollte ich sagen.

Aber ich sagte nichts.

„Benjamin, ich kann morgen in Solingen anrufen und den Kauf der Wohnung rückgängig machen“, schlug mein Vater mir vor. „Es wäre wirklich viel, viel besser, du würdest hier in der Obhut von mir und deiner Mutter bleiben.“

Obhut. Mutter.

Vater war ja nie da. Der große, wichtige Alfred Foster hatte ja permanent Termine. Er kam immer erst spät abends vom Büro nach Hause. Und eigentlich wusste ich, dass er sich nie für meine persönlichen Belange interessierte.

Und Mutter?

Ich hatte mich nie gegen sie gewehrt. Ich wollte es so oft versuchen, aber es gelang mir nie. Sie war immer am längeren Hebel. Sie legte sich alles so zurecht, wie es ihr passte.

Ich wusste, dass sie mich nicht gehen lassen wollte. Ich wusste, dass sie nie zulassen würde, dass ich wegziehe. Weg von ihr, weg von der ganzen Scheiße.

„Ich werde umziehen!“, sagte ich zu meinem Vater. „Ich will es.“

„Nun, gut“, meinte er daraufhin. „Dann versuch dein Glück. Wenn du nicht zurechtkommst – und das wird mit Sicherheit keine drei Monate dauern – dann kannst du hierher zurückkommen. Dein Zimmer bleibt frei für dich, und die Eigentumswohnung in Solingen werde ich auf dem Markt als Verkaufsobjekt eingetragen lassen, damit ich sie auch schnell wiederverkaufen kann, wenn du zurückkommst.“

„Ich komme nicht zurück“, wollte ich sagen.

„Ja, gut“, sagte ich stattdessen. „Ich werde es trotzdem versuchen.“

„Du wirst nie ohne deine Mutter leben können“, machte mein Vater mir klar. „Du kommst wieder, das weiß ich.“

Dann ging er raus.

In der nächtlichen Dunkelheit auf der Autobahn, die nur durch das Scheinwerferlicht meines Ford Escorts unterbrochen wurde, sah ich schließlich ein Hinweisschild auf eine Raststätte. Ja, genau, das wär’s jetzt. Kurz Pause machen und einen Kaffee trinken. Vielleicht noch was Kleines essen.

Als ich auf den Parkplatz fuhr, sah ich eine Menge Trucks und Lastkraftwagen. Komischerweise schien dieser Rastplatz sehr besucht, obwohl die Straßen so leer waren.

Ich orderte schließlich an der Theke einen Kaffee, ein Glas Cola und ein Baguette mit Käse und Schinken. Mit dem Tablett setzte ich mich dann an einen freien Platz.

Kurze Zeit später – ich hatte die Cola bereits ausgetrunken – kam eine Frau an und setzte sich neben mich.

„Darf ich?“, fragte sie.

Ich sah sie nur an.

Eine Frau sprach mich an. Wie ungewöhnlich war das denn?

„Sind Sie auch mit Ihrem LKW auf nächtlicher Tour?“, fragte sie dann.

Und sie wollte sogar ein Gespräch beginnen. Äußerst seltsam Naja, sie kannte mich eben nicht. Sie konnte ja nicht wissen, dass ich zurückhaltend und scheu gegenüber Menschen war.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Man sieht nur vereinzelt Lastkraftwagen auf der Straße“, sagte sie dann. „Ich bin mit meinem PKW unterwegs und komme gerade von einer Urlaubsreise zurück.“ Sie nippte dann an ihrem Getränk, das sie vor sich stehen hatte. „Deswegen dachte ich, Sie sind bestimmt ein Fernfahrer.“

„Ich ziehe um“, antwortete ich ihr nur. „Ich habe meine Zelte in Bielefeld abgebrochen und ziehe nach Solingen.“

„Mitten in der Nacht?“, fragte sie ungläubig.

Ich antwortete nichts darauf.

„Solingen ist eine schöne Stadt“, fügte sie hinzu. „Ich war schon ein paar Mal dort. Eine Freundin wohnt dort. Kennen Sie schon jemanden in Ihrer neuen Heimat?“

„Meine Freundin“, erklärte ich schließlich.

„Wie romantisch. Sie fahren mitten in der Nacht zu Ihrer Freundin und brechen alle Zelte zu Hause ab.“

„Ja, genau“, lächelte ich verlegen.

„Wie heißen Sie?“, fragte sie anschließend.

Warum sollte ich ihr das nicht sagen? Ich kannte sie nicht, und sie kannte mich nicht. Da war es doch eigentlich egal. Und bestimmt würde ich sie nicht wiedersehen, obwohl sie eigentlich ganz nett zu sein schien.

„Benjamin Foster“, antwortete ich.

„Ich heiße Simone Welter“, stellte sie sich vor. „Und warum ziehen Sie mitten in der Nacht um?“

„Na, ja“, begann ich. „Ich ziehe eigentlich erst am Samstag um. Meine neue Wohnung ist noch ganz leer. Ich habe nur ein paar Sachen mit, so das Wichtigste, aber ich bin dann doch schon heute losgefahren.“

„Och“, machte die Frau. „Sie können es nicht erwarten, mit Ihrer Freundin zusammen zu leben. Das ist süß.“

Ich sah sie fragend an.

„Wir sind seit einem halben Jahr in einer Fernbeziehung“, erklärte ich schließlich. „Jetzt habe ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten und musste endlich raus.“

„Ist ihre Freundin der einzige Grund, warum Sie umziehen?“, wollte die Frau dann wissen.

Ich schnaufte aus.

„Warum fragen Sie?“, wollte ich wissen.

„Nun, Sie machen mir einen so schüchternen Eindruck, fast niedergeschlagen.“

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Aus irgendeinem Grund interessierte sich diese Frau – eine fremde Frau – für meine Geschichte. Ich war das nicht gewohnt. Noch nie hat sich jemand, mal abgesehen von Jenny vielleicht, für meine Geschichte interessiert.

„Lief nie besonders gut in meiner Familie“, brachte ich nur heraus. „Ich bin froh, dass ich das jetzt hinter mir habe.“

Was hätte ich ihr erzählen können?

Meine Familie. Ein Vater, der versucht, mich unselbstständig zu halten, wo er nur konnte. Der mir das kaufte, was ich brauchte, und der glaubte, sich meine Achtung mit Geld erkaufen zu können. Eine Mutter, die mich behandelte wie ein kleines Kind und nie, nie, nie akzeptieren konnte, dass ich erwachsen war. Eine Schwester, die mich immer unterbuttert hatte, mir nie etwas zutraute und mir stets zeigte, dass sie, obwohl sie zwei Jahre jünger war, in allem weiter und reifer war als ich.

Ja, das war sicher meine Schuld. Ich ließ es ja auch jahrelang mit mir machen. Und irgendwann war es auch egal.

Aber jetzt – jetzt hatte ich meine Sachen gepackt und bin weg. Weg aus dem tristen Alltag. Weg aus meinem alten, schwachen Leben.

„Ich muss weiter“, verabschiedete ich mich dann von der Frau. „War nett, mit Ihnen zu reden.“

Ich ging zu meinem Auto und machte mich wieder auf den Weg in das Morgengrauen, das bereits anfing, und fuhr die letzten 100 Kilometer bis zu meinem neuen Zuhause.

Unvergleichlich, dieser Moment, als ich meine Wohnung im fünften Stock aufschloss. Endlich.

Es waren noch keine Möbel drin. Egal. Nur eine Matratze lag im riesigen Wohnzimmer auf dem Boden. Aber das Licht ging schon, und Wasser lief auch.

Nachdem ich alles oben hatte, legte ich mich auf die Matratze und begann zu träumen.

Was mich wohl jetzt erwarten würde?

Die Frau in der Raststätte hatte Recht, ich kannte hier niemanden. Außer Jenny. Ich, Benjamin Foster, würde jetzt hier ein ganz neues Leben anfangen. Ich brauchte nicht mehr an mein früheres Leben zu denken. Es lag hinter mir, es war vorbei.

Verdammt. Plötzlich packten mich unvorbereitet Zweifel. Ich hatte keine Ahnung, wo sie herkamen. Wie ein Blitz schossen sie mir durch den Kopf. Verfluchter Mist.

Was wäre, wenn Vater Recht hätte? Wenn ich es wirklich nicht schaffte und vielleicht schon nächste Woche zurück nach Bielefeld gehen müsste, weil ich hier total gescheitert bin? Sollte ich jetzt schon gescheitert sein, bevor es überhaupt richtig losgegangen ist?

Was waren das für Gedanken, die ich nicht haben wollte? War das normal, wenn man von zu Hause weggeht?

Ich wollte nicht mehr nach Hause zurück. Nie mehr.

Plötzlich klingelte es an meiner Tür, um neun Uhr morgens. Und ich wusste, wer das war.

Meine bösen Gedanken schienen von einer Sekunde auf die Andere wieder weg zu sein. Ich konnte mich freuen. Ja, und das tat ich auch.

Eilig hüpfte ich zu der großen, verglasten Eingangstüre meiner Wohnung, die auf den Laubengang führte und machte sie auf.

„Jenny“, hauchte ich lächelnd.

„Du bist da“, sagte sie leise, und dann nahm sie mich in ihre Arme. Sie wollte gar nicht mehr loslassen.

Ich brachte keinen Ton heraus. Voller Erleichterung legte ich einfach meinen Kopf in ihre Schulter und weinte.

„Ist ja gut“, sagte sie. „Du bist ja jetzt hier. Und ich bin jetzt bei dir.“

„Meine Wohnung“, stammelte ich. „Meine eigene Wohnung“

Wir gingen auf die Matratze – was Anderes zum Hinsetzen war ja noch nicht da – und ließen uns dort nieder, während wir einige Minuten stumm waren und den zarten Schneeflocken zusahen, die vom morgendlichen Himmel fielen und wunderschöne Eisblumen auf die Fenster zauberten.

„Jenny“, sagte ich schließlich.

„Ja, Benjamin?“

„Es ist so… so anders. Alles ist so anders.“

Jenny lächelte mich mit ihren süßen Lippen an. „Wir haben uns nur alle paar Wochen treffen können, als du noch in Bielefeld gewohnt hast. Jetzt können wir uns jeden Tag sehen.“

Ich streichelte durch ihre Haare.

„Du riechst gut“, bemerkte ich.

„Gefällt dir mein neues Parfum? Habe ich extra für dich gekauft.“ Sie grinste. „Du, Benjamin, ich muss dich was fragen“, fügte sie dann hinzu.

Ich sah in ihre Augen.

„Willst du wirklich mein fester Freund sein?“

Warum fragte sie mich das? Enttäuscht drehte ich mich dann zum Fenster und betrachtete das Dach des gegenüberliegenden Hauses, was man von hier aus gut sehen konnte.

„Jenny, das weißt du“, sagte ich. „Für dich bin ich hierhergekommen, warum glaubst du mir nicht?“

„Ich glaube dir ja“, erklärte Jenny. „Aber ich bin zwölf Jahre älter als du. Ich bin 37 Jahre alt und verheiratet.“

„Ich weiß“, sagte ich. „Ich habe dir gesagt, es macht mir nichts. Ich möchte dein Geliebter sein. Ich kann mich damit anfreunden, dass du einen Mann hast. Und ich habe immer gefühlt, dass genug Platz für mich in deinem Herzen ist.“ Ich drehte mich wieder zu ihr. „Ich dachte, wir wären uns darin einig gewesen.“

„Ach, Benjamin“, meinte sie daraufhin. Und schließlich küsste sie mich auf den Mund.

„Was wird denn jetzt anders?“, fragte ich. „Ich bin jetzt nur immer hier. Ich muss nicht mehr alle drei oder vier Wochen so weit fahren, für einen Tag oder eine Nacht. Jetzt wohne ich hier. Oh, mein Gott, Jenny… ich wohne hier“

Ich stand auf.

Und dann machte ich zum ersten Mal etwas, was ich vor langer Zeit das letzte Mal getan hatte. Ich hüpfte durch die Wohnung. Und ich lachte. Ich wusste nicht mehr, wann ich das letzte Mal gelacht hatte. Aber jetzt packte es mich irgendwie. Ich schrie vor Lachen, so als wäre alles Negative, was ich je in mir trug, von einer auf die andere Sekunde von mir abgefallen.

Bei Gott, ich hoffte so sehr, dass das so war.

„Bist du glücklich?“, wollte Jenny wissen.

Ich unterbrach das Lachen und Tanzen und sah sie von der Ecke aus, in der ich stand, an.

Ich ging zu ihr, fasste ihren Arm und hob sie an. Dann tanzte ich mit ihr einen langsamen Stehblues ohne Musik. Wir brauchten dazu keine Klänge, denn das Lied, was gespielt wurde, war in unseren Herzen.

„Ja, ich bin glücklich“, sagte ich zu ihr.

„Vermisst du deine Familie? Dein altes Zuhause?“

„Bitte, Jenny“, flüsterte ich. „Mach’ diesen Moment, diesen unglaublich schönen Moment nicht mit einer Frage nach meiner Familie kaputt.“

„Verzeihe mir“, entgegnete sie nur.

„Ich möchte nicht darüber sprechen“, erklärte ich ihr. „Dass ich mich nie gut mit ihnen verstanden habe, das weißt du. Ich… ach, Jenny, ich bin jetzt einfach froh, dass ich hier bin. Nicht mehr dort, in meinem alten Zuhause. Können wir es nicht einfach dabei belassen?“

„Ich will nur, dass du weißt, wenn du mit jemandem reden willst, dann bin ich da. Und jetzt, wo du hier wohnst, bin ich auch ganz in deiner Nähe. Keine acht Kilometer entfernt.“

Ich lächelte. „Ja“, sagte ich.

Wieder küssten wir uns innig. Und während ihre Hand meine dunklen, schulterlangen Haare umspielten, streifte ich den Stoffgürtel von ihrem Kleid ab.

Es war uns egal, dass die Heizung noch nicht richtig an war, und dass es eigentlich in der Wohnung noch kühl war, was sich wahrscheinlich spätestens zum Abend hin ändern sollte. Wir zogen uns nackt aus und schliefen miteinander.

Es passierte schon mehrmals, immer dann, wenn ich sie heimlich besucht hatte. Drei oder vier Mal hatten wir bereits ein heimliches Erlebnis. Von meiner Familie wusste das keiner, weder Vater noch Mutter oder Schwester. Sie hätten mir das sowieso nie zugetraut. Benjamin Foster hat eine Freundin? Der Junge, der immer alleine ist, kaum Freunde hat und sich immer in seinem Zimmer verschanzt? Der?

Jennys Mann wusste es auch nicht. Irgendwie gelang es ihr ganz gut, mich vor ihm geheim zu halten. Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, dass es mich gab.

Als wir heute miteinander intim wurden, war es anders als zuvor. Es war magisch, irgendwie noch geheimnisvoller und leidenschaftlicher, etwas ganz Besonderes. Ich wusste nicht, was anders war, aber vielleicht lag es daran, dass ich jetzt hier wohnte, und dass ich mich zum ersten Mal im Leben frei fühlte. Das konnte nicht falsch sein.

Ob ich glücklich war, hatte Jenny mich vorhin gefragt. In diesem Moment war ich es.

Nachdem ich dann am Nachmittag das Telefon angeschlossen hatte, das ich mitgebracht hatte, machte sich Jenny wieder auf den Weg nach Hause. Sie versprach mir aber, mich am Abend noch mal anzurufen.

So, nun war ich hier in der neuen Stadt. Ich musste an nichts Böses denken. Ich konnte einfach frei entscheiden, was ich machen wollte. Unglaublich. Ich wusste gar nicht, was ich zuerst machen sollte.

Vielleicht sollte ich mich in der Umgebung schon mal ein bisschen umsehen. Ja, das wäre gut, dachte ich bei mir. Und so schnappte ich mein Geld und meine Schlüssel, huschte aus der Wohnung und lief los.

Der Wohnkomplex, in dem mein Vater mir diese Eigentumswohnung gekauft hatte, lag etwas abseits in einem Vorort von Solingen. Eigentlich waren wir hier noch nicht richtig in einer Stadt, es war mehr ein Dorf, fast in sich abgeschlossen. Aber es gab Busse, die zur Innenstadt fuhren, und der Busbahnhof war nicht weit von hier.

Ich hatte eigentlich vor, nach Solingen rein zu fahren, aber dann sah ich am Busbahnhof dieses urige Lokal, eine Eckkneipe mit einem interessanten, alten Vorbau. Das Haus war eher im alten Stil gehalten, und die Reklametafel erschien mir gleich sympathisch. Boxer, stand in großen Lettern über einem neonfarbenen Cocktailglas. Das passte so gar nicht zum Haus.

Super, dachte ich.

Als ich hinein ging, waren an der langen Theke, in dem schmalen Raum, ein paar Leute, meist ältere Männer so um die 40, 50 Jahre. Ich kam mir ein bisschen verloren vor mit meinen 25, aber das spielte keine Rolle.

Ich setzte mich und bestellte mir ein Bier.

„Neu hier?“, fragte einer, der neben mir saß.

„Ja“, sagte ich schon etwas aufgelockert, nachdem ich den ersten Schluck getrunken hatte. Was für ein Glück wirkte der Alkohol immer sofort bei mir. „Bin heute zugezogen.“

„Ah“, meinte der Mann. „Woher kommst du?“

„Aus Bielefeld.“

„Dann bist du dort Student gewesen?“, wollte er wissen.

Es passierte meist nach dem ersten Glas schon. Ich wusste das. Sofort, wenn ich was getrunken hatte, merkte ich, dass in mir irgendetwas geschah. Und diese Verwandlung, diese Mutation, die dann mit mir passierte, war eigentlich das, wonach ich heimlich und seit Jahren immer wieder suchte. Ich genoss es jedes Mal, wenn ich es zu Hause heimlichgetan hatte. Und wenn ich mich in der Nacht weggeschlichen habe, ohne dass Vater oder Mutter es merkten, war der Kick besonders groß. Ich tat ja nie was Verbotenes, hätte mir eh niemand zugetraut. Aber das – das war einfach meins. Und das wusste ich.

Und jetzt konnte ich es endlich unkontrolliert in Freiheit machen. Jetzt konnte ich trinken, was ich wollte und wie viel ich wollte. Keiner war da, der mir Vorhaltungen machen würde oder eine Moralpredigt halten würde.

Und ich trank gerne. Schon früher. Es gab mir immer etwas Besonderes, wenn ich es tat. Es war jedes Mal ein angenehmer Moment, dann zu dem zu werden, der ich danach /anschließend / durch den Alkohol war.

„Student? Ich?“, fragte ich zurück. „Das ist lange her. Ich habe früh angefangen mit dem Studium. Ich bin Jungunternehmer.“

„So?“, fragte der Mann. „Was unternimmst du denn?“

Er lachte, während ich mir bereits das zweite Glas Bier reinzog.

„Geschäfte“, sagte ich, ohne näher darauf eingehen zu wollen.

Ich war von Beruf Sohn. Ich hatte nichts gelernt und hatte bestenfalls einen möglichen Job hier in Solingen in Aussicht, für den ich eine Bewerbung geschrieben hatte, damit mir mein Vater die Wohnung kaufen würde.

Aber jetzt war ich jemand Anderes.

„Gut, Geschäftsmann“, meinte der auch schon halbwegs angeheiterte Mann zu mir. „Gibst du eine Runde aus?“

„Ja, sicher“, lachte ich. „Eine Lokalrunde auf mich“, rief ich dem Wirt zu.

Wird ja bei gerade mal acht Leuten sicher nicht so teuer, dachte ich mir. Aber das war mir auch egal. Ich hatte genug Geld bei mir, bestimmt einen Hunderter. Und würde mir am nächsten Morgen Geld fehlen, konnte ich ja Papa anrufen und nach neuem Geld fragen.

Ich hatte wirklich nie gelernt, für mich alleine zu sorgen. Mein Vater kaufte mir die Wohnung unter der Prämisse, dass er sich weiterhin sicher sein konnte, die Kontrolle über mich zu haben. Er war sich ja sowieso davon überzeugt, dass ich nach einigen Wochen wieder in Bielefeld landen würde. Und er ließ mich gehen, aber nur, wenn er mich nicht aus seinem Abhängigkeitsverhältnis verlieren würde. Und damit, dass er mir immer Geld schickte, hatte er dafür gesorgt.

„Spielst du mit, eine Runde Poker?“, fragte dann ein dritter Mann. „Der Verlierer gibt eine Runde.“

Wir spielten den ganzen Abend. Und je voller ich wurde, desto mehr verlor ich. Sieben, acht oder neun Runden hatte ich zu zahlen, verdammter Mist.

Aber was Soll’s, dachte ich mir.

Ich hatte neue Freunde gefunden. Die Leute hier im Lokal waren ganz gut drauf, und je besoffener ich war, desto freundlicher erschienen sie mir.

„Gibst du eine Runde?“

„Komm, bestell noch einen, Kumpel.“

„Du bist Klasse, du kannst ja ganz schön viel in dich rein kippen.“

Ja, das konnte ich. Nach bestimmt zwölf Bier war mein Level noch lange nicht erreicht, und ich wollte weiter trinken. Jedoch machte der Wirt uns darauf aufmerksam, dass er in einigen Minuten die Kneipe für heute schließen würde und forderte uns auf, zu gehen und morgen wieder zu kommen.

„Klar, ich bin dabei“, lallte ich.

Ich hatte ja sowieso nichts zu tun. Der potentielle Job – wer weiß, ob ich den überhaupt kriegen würde – war ja noch weit hin. Deshalb konnte ich hier in meiner neuen Heimat erst einmal rumdümpeln.

„He, ich komme morgen wieder“, rief ich dann in die Runde rein. „Ihr seid klasse, Leute. Wisst ihr was, ich bin auch klasse. Ich bin ein ganz Großer“, warf ich nach.

Die Leute lachten. Ob sie sich für mich freuten, mit mir lachten oder mich einfach auslachten, das war mir egal.

„Ich habe hier in Solingen eine Freundin“, rief ich. „Sie liebt mich.“

„Du bist voll“, stellte der Wirt fest.

„Sie liebt mich wirklich“, sagte ich. „Ich habe einen tollen Job. Ich bin Geschäftsmann. Wie mein Vater. Der ist auch Geschäftsmann. Wir haben viel Geld. Und wo das herkommt, da ist noch mehr.“

„Haha“, meinte einer der Gäste. „Dann kannst du es ja morgen wieder in die Kneipe tragen. Wir freuen uns.“

„Ja“, sagte ich zu ihm. „Was willst du?“, ging ich ihn plötzlich aggressiv an. „Bist du nicht zufrieden, wenn ich Runden schmeiße? Du kannst wohl keine Runden schmeißen.“

„He“, meinte der Mann. „Ich habe auch Runden geschmissen, weißt du?“ Er lachte und sah mich dann ernst an. „Mir gefällt deine Visage nicht“, sagte er schließlich.

„Und jetzt?“, meinte ich mutig. „Was willst du tun?“

„Hier ist man nicht frech.“

„Ich? Frech?“, sagte ich. „He, Mann, du machst mich an? Ich bin frech?“

„Hör mal“, sagte der Wirt schließlich zu mir. „Komm morgen wieder. Für heute hast du genug.“

„Ich habe nicht genug“, brüllte ich. „Ich weiß selbst, wann ich genug habe. Komm schon, mach mir noch ein Bier. Ihr seid doch meine neuen Freunde.“

„Morgen!“, brüllte der Wirt.

„Tolle Freunde“, schnaubte ich.

Dann wankte ich, nachdem ich fast vom Barhocker fiel, zu der Tür, die ich für den Ausgang hielt und prallte dagegen.

Verflixt, dachte ich mir. Aber das war mir egal. Ist mir schließlich schon tausendmal passiert.

Irgendjemand half mir dann durch die Türe, und ich torkelte die Straße hinüber zu dem Hügel, wo der Weg war, der zu meinem Haus führte.

„Aaah…“, rief ich in die nächtliche Kälte heraus. „Solingen, was willst du von mir? Ich bin jetzt hier, du Arschloch. Die kriegen mich nicht mehr. Fick’ dich, Mutter. Schwester. Vater. Fickt euch. Ich bin weg, endlich weg. Ich mache, was ich will. Verdammte Scheiße, ich lebe hier. Solingen… hallo, hörst du mich?“

Wie ich an diesem Abend im Bett – besser gesagt, auf meiner Matratze – gelandet bin, wusste ich nicht mehr. Das Einzige, was ich noch wahrnahm, als ich so da lag, war ab und an das Pfeifen von Joey, meinem Vogel, der in seinem Käfig saß und sich anscheinend über mich kaputtlachte.

Ich wollte mich nicht zurückverwandeln in den schüchternen hilflosen Jungen. Nein, das wollte ich nicht. Ich wollte besoffen bleiben. Am Liebsten für immer.

KAPITEL 2: VERLOREN

Für Anfang Februar war es heute eigentlich recht mild draußen, so um die 15 Grad. Das war das letzte Mal vor vier oder fünf Jahren so. Ich saß gegen Abend ein bisschen auf dem Balkon und versuchte, abzuschalten.

Jenny hatte sich schon seit zwei Wochen nicht gemeldet, und langsam wurde ich unruhig. Sie sagte ja letztens, dass sie momentan wegen ihrer Arbeit wenig Zeit hätte. Aber sie kam sonst immer alle zwei oder drei Tage her und blieb dann für mehrere Stunden.

Seit zwei Wochen kam sie nicht mehr. Sie rief auch nicht an. Anfangs dachte ich mir nichts dabei, aber nach einigen Tagen geriet ich immer mehr ins Grübeln.

Hatte ich was falsch gemacht? Hatte ich irgendetwas Verkehrtes zu ihr gesagt oder sie verletzt?

Je mehr ich grübelte, desto mehr Vorwürfe machte ich mir. Das war ein ganz typisches Verhalten für mich. Ich hatte es ja nie anders gelernt. Früher, wenn ich irgendetwas verbockt hatte und sogar, wenn ich nicht schuld war, machte man mir nur Vorwürfe.

„Du kannst das nicht.“

„Du bist zu schwach.“

„Du machst alles falsch, du kriegst es nicht auf die Kette.“

Meine Gedanken schweiften ab, in eine Richtung, die ich nicht sehen wollte.

„Was glaubst du, warum du keine Freunde hast“, hörte ich meine Mutter sagen. „Sie mögen einen wie dich nicht. Die einzige Person, die dich je mögen wird, ist deine Mutter. Carina geht irgendwann weg. Du bleibst für immer bei deiner Mutter. Du kannst nicht alleine leben. Du brauchst deine Mutter. Du bist abhängig von mir.“

Ich wusste nicht mehr, wann sie das zum ersten Mal sagte. Früher sagte sie es immer durch die Blumen, aber irgendwann machte sie mir ganz direkt klar, dass ich ohne sie ein Nichts bin. Und das war bis kurz vor meinem Auszug noch so.

Jetzt saß ich hier auf meinem Gartenstuhl und hätte eigentlich froh sein sollen, dass ich die ganze Scheiße in Bielefeld hinter mir gelassen hatte. Aber ausgerechnet jetzt meldete sich Jenny nicht mehr. Und ich fühlte mich wieder ganz alleine. Ich hasste mich selbst dafür, vor allem, weil ich es nicht verstand, dass ich gerade jetzt wieder an diese blöde Familie denken musste, aus der ich kam.

Wäre Jenny jetzt hier, wäre das sicher nicht so.

Plötzlich klingelte das Telefon.

„Jenny?“, fragte ich, als ich abnahm.

„Wer ist Jenny?“, hörte ich die Stimme meiner Schwester Carina am anderen Ende.

„Wieso rufst du an?“, wollte ich wissen.