Hitler, Stalin, meine Eltern und ich - Daniel Finkelstein - E-Book

Hitler, Stalin, meine Eltern und ich E-Book

Daniel Finkelstein

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Beschreibung

 Daniel Finkelsteins bedeutendes Buch ist ein eindringliches Porträt seiner Mutter und seines Vaters und ihrer erschütternden Erfahrungen von Verfolgung, Widerstand und Überleben im Zweiten Weltkrieg.   Daniels Mutter Mirjam wurde in Berlin geboren. Ihr Vater Alfred Wiener war der Erste, der erkannte, was für eine Gefahr von Hitler für die Juden ausging. Ab 1933 katalogisierte er die Nazi-Verbrechen minutiös. Er floh mit der Familie nach Amsterdam und verlegte seine Bibliothek nach London. Aber noch vor der Übersiedlung von Frau und Kindern marschierten die Deutschen in Holland ein und schickten sie nach Bergen-Belsen.  Daniels Vater Ludwik kam in Lwiw als einziges Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie zur Welt. Nach der Aufteilung Polens durch Hitler und Stalin 1939 wurde die Familie von den Kommunisten zusammengetrieben und zur Zwangsarbeit in einen sibirischen Gulag geschickt. Ludwik arbeitete in einer Kolchose und überlebte die eisigen Winter in einem winzigen Haus aus Kuhdung.

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Seitenzahl: 615

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Daniel Finkelstein

Hitler, Stalin, meine Eltern und ich

Eine unwahrscheinliche Überlebensgeschichte

Aus dem Englischen von Barbara Schaden

Hoffmann und Campe

Für Anthony und Tamara

Für Sam, Aron und Isaac

Und für Nicky, natürlich

»Ich bin bereit zu vergessen, sofern sich alle anderen erinnern.«

Alfred Wiener

Vorwort

Die Wahrheit liegt zu Füßen der Freiheitsstatue.

Wenn ich in New York bin, wohne ich immer in Midtown, wo ich mir ein Hotel in der Gegend suche, in der mein Großvater während des Kriegs gewohnt und für den britischen Geheimdienst und die amerikanische Regierung gearbeitet hat. Am zweiten oder dritten Tag meines Besuchs steige ich an der Grand Central Station in die U-Bahn und fahre hinunter nach Bowling Green, und von dort ist es nur ein kurzer Fußweg zum Terminal der Staten-Island-Fähre.

Kurz darauf sehe ich, was meine Mutter sah, als sie an Deck des Rote-Kreuz-Schiffs heraufkam, das sie nach Amerika und in Sicherheit brachte. Vor mir liegt der Anblick, den sie kurze Zeit später in einem Schulaufsatz schilderte – es war einer ihrer frühesten, aber bemerkenswert selbstbewussten Vorstöße in die englische Sprache: »Das Allererste von Amerika, das ich sah, waren einige riesige Wolkenkratzer in New York, und das Nächste war die Freiheitsstatue, die Neuankömmlinge begrüßen; als ich dieses schöne Symbol sah, wusste ich, das ich wirklich im ›Land der Freien, der Heimat der Tapferen‹ war.«1

So bewegend es immer wieder ist – es ist nicht der Grund, weshalb ich diese Wallfahrt unternehme. Ich komme her, weil hier die Wahrheit liegt. Ich komme her, weil hier meine Tante Ruth die Kriegsmedaillen meines Großvaters ins Wasser geworfen hat.

 

Im Herbst 2012 räumten wir unser Wohnzimmer auf, liehen uns ein im Internet entdecktes Partyzelt und bestellten im Lokal um die Ecke Essen für die Gäste. Dann feierten wir meinen Fünfzigsten.

Gekommen waren die Menschen, die mir am meisten bedeuteten. Meine Familie natürlich. Ein paar Kollegen, mit denen ich befreundet bin. Aber die Mehrzahl gehörte zu der Gruppe, die meine Frau Nicky »alle« nennt. Leute, die sie seit der sechsten Klasse kennt und mit denen auch ich mich angefreundet habe, weil meine Schwester ebenfalls zu »allen« gehört. So haben Nicky und ich uns kennengelernt. Über Tamara.

Natürlich gab es Unterschiede zwischen uns. Aber wichtiger war, worin wir uns glichen. Wir führten alle ein glückliches, stabiles, sicheres, ziemlich erfolgreiches Leben im Londoner Umland. Außerdem waren die meisten von uns jüdisch, viele aus Familien, die erst seit zwei Generationen hier lebten.

Als Kind wurde meine Schwester bei einer Schwimmgala einmal von einem anderen Kind gefragt: »Wo ist eigentlich deine Mum her?« Tamara war verblüfft; nie war ihr aufgefallen, dass unsere Mutter einen leicht ausländischen Akzent hatte. Nie war ihr in den Sinn gekommen, dass jemand uns als »nicht aus Hendon« empfinden könnte. Und die meisten meiner Geburtstagsgäste hätten auf die Frage, wo sie herkämen, wohl »London« gesagt oder »gleich nördlich von London«. Dabei »kamen« die meisten keineswegs von dort.

Deshalb schienen mir meine Gäste das richtige Publikum für das, was ich zu sagen hatte.

Wir schnitten die Torte, die Nicky beim Konditor in der High Street bestellt hatte. Darauf thronte eine Marzipanfigur, die mich zeigte: auf einem Sofa, eine Dose Diet Coke in der Hand, fernsehend. Dann hielt ich eine kurze Rede, in der ich allen für ihr Kommen dankte.

Ich erklärte Nicky meine Liebe, sagte meinen Freunden und meinen Angehörigen, wie viel sie mir alle bedeuteten, bedankte mich für meine Geschenke; und am Ende fügte ich Folgendes hinzu:

Dankbar bin ich auch noch für etwas anderes. Als meine Eltern und meine Großeltern in meinem Alter waren, hatten sie alles verloren, was sie hatten. Ihre Heimat, ihr Zuhause, ihren Besitz. Sie mussten in einem fremden Land und einer fremden Sprache neu anfangen.

Wir leben hier in Frieden, liegen nachts nicht wach, weil wir Angst haben, dass jemand an unsere Tür hämmert und uns aus dem Bett holt. Wir haben keine Angst, dass unsere Kinder in einen fernen Krieg geschickt werden. Wir haben keine Angst vor Verhaftung oder Exil.

Stoßen wir also an auf das Sunrise Café in North Harrow und die U-Bahn-Station und auf das Einkaufszentrum Brent Cross und die chemische Reinigung um die Ecke. Auf uns alle, die wir dieses Land und seine wenig hochtrabenden Ideen lieben und nicht wollen, dass es von populistischer Begeisterung oder revolutionärem Eifer fortgerissen wird.

Auf das Land, das meine und eure Familien aufgenommen hat. Auf das Londoner Umland und euch alle, die ihr hier lebt.

Ich glaube nicht, dass ich, fände die Party heute statt, diese Rede noch einmal so halten würde.

Nicht, weil ich der Ansicht bin, dass wir vor dem sozialen Kollaps stehen. Aber das letzte Jahrzehnt hat – so unbehaglich mir bei dem Eingeständnis ist – meine Gewissheit etwas angekratzt. Heute erschiene es mir vermessen, so zu reden. In zu vielen Gegenden der Welt hat der soziale Kollaps bereits stattgefunden, und zu viele Menschen sind ihm zum Opfer gefallen. Im Nachhinein kommt mir die Zuversicht, die ich damals an den Tag legte, selbstgerecht vor. Die Idee, dass der hohe Wert von liberaler Demokratie und Recht und Freiheit und Toleranz eine Lektion sei, die wir ein für alle Mal gelernt hätten und die nicht mehr in Vergessenheit geraten könnte, halte ich aus heutiger Sicht für maßlos und unangemessen optimistisch.

Was meinen Eltern widerfahren ist, wird mir nicht so leicht widerfahren. Auch nicht meinen Kindern. Aber könnte es passieren? Ja. Auf jeden Fall.

 

Daher meine ich, es ist an der Zeit, dass ich die Geschichte meiner Eltern und meiner Großeltern erzähle. Dass ich schildere, was ihnen widerfahren ist; warum es so kam und warum es eine Rolle spielt.

Meine Eltern – Mirjam und Ludwik – suhlten sich nicht in ihren Erlebnissen, machten aber auch kein Hehl daraus. Ich konnte sie alles fragen, was ich wollte, und das tat ich. Gleichzeitig vertrat besonders meine Mutter die Ansicht, dass wir nicht leiden müssten, nur weil sie gelitten hatte.

Kurz bevor meine Mum starb, erschien unter dem Titel Survivor ein Buch des Fotografen Harry Borden mit Bildern von Holocaust-Überlebenden. Begleitet wurden die Bilder von kurzen handgeschriebenen Kommentaren der Porträtierten.

Auf einem der Fotos ist meine Mutter zu sehen, die an der Tür unseres Esszimmers steht. Auf der Seite gegenüber steht in Mums großer, ordentlicher Schrift: »Ich sehe mich zuallererst als Person, als Ehefrau und Mutter und erst zuletzt als Überlebende.«2

Daran hat sie sich immer gehalten, sie ließ sich nicht bestimmen von dem, was ihr widerfahren war; sie behielt das Heft in der Hand.

Als der US-Präsident Ronald Reagan 1985 die Kriegsgräberstätte Bitburg in Rheinland-Pfalz besuchte, erntete er Kritik im In- und Ausland, weil auf dem Friedhof auch Soldaten der Waffen-SS bestattet sind. Ich saß Radio hörend in meinem Zimmer und erfuhr, dass Reagan zwecks Glättung der Wogen nun auch die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen besichtigen wollte.

Ich ging hinunter in die Küche, wo Mum beim Abspülen war, und berichtete aufgeregt: »Mum, Präsident Reagan fährt nach Bergen-Belsen!« Sie antwortete gelassen und ohne sich umzudrehen: »Na und? Da war ich auch.«

Auch mein Vater konnte das, was er erlebt und erlitten hatte, mit einem gewissen Humor betrachten. So sehr, dass ich seine Witze gelegentlich für Realität hielt. Hatten er und seine Mirjam tatsächlich einen sowjetischen Bahnaufseher mit einer Flasche Parfum bestochen, das sich »Stalins Atem« nannte? In den Geschichten, die sie uns in unserer frühen Kindheit erzählten, waren die Russen, die sie festnahmen, immer stümpernde Bürokraten und Idioten und vom Widerstand meiner Großmutter gnadenlos überfordert. Konnte das stimmen?

Die Herangehensweise meiner Eltern brachte es mit sich, dass mir nicht viel von ihrer Geschichte vorenthalten wurde. Aber sie stellte mich vor ein anderes Rätsel. Warum waren sie so? Wie hatten sie es fertiggebracht, ein derartiges Trauma zu überstehen und so normal zu bleiben?

Warum waren sie nicht wütender? Feindseliger? Wie konnte mein Vater, als er in der DDR einen Vortrag hielt und erfuhr, dass an jenem Tag gewählt wurde, lächelnd sagen: »Wenn es für Sie in Ordnung ist, bleibe ich nicht so lange auf, bis die Ergebnisse vorliegen.« Wie brachten sie es fertig, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie uns erzogen haben?

Erst jetzt beginne ich das alles zu verstehen, wie ein Erwachsener es verstehen würde. Denn wenn man jung ist, stellt man den Eltern nicht so viele Fragen. Sie sind einfach die Eltern.

 

Heute kann ich vollkommen verstehen, warum meine Schwester erschrak, als jemand an der Sprechweise unserer Mutter einen irgendwie ausländischen Akzent wahrnahm. Der leise Anklang von Holländisch (oder war es Deutsch?) in ihrem perfekten Englisch, diese leichte Sprachmelodie – war das nicht einfach der Tonfall unserer Mum?

Und ja, unser Vater konnte etwas förmlich sein. Er trug auch am Wochenende ein Sakko und richtete seine Krawatte, bevor er ans Telefon ging. Auf einer USA-Reise zu meinem Onkel, der dort lebte, verabredeten sie sich einmal zum Essen in einem Highway-Restaurant der Kette Denny’s. Mein Onkel, ohnehin ziemlich lässig gekleidet, meinte, sie sollten sich vor dem Essen doch noch kurz umziehen. Als sie sich später trafen, trug Ted einen Jogginganzug, während mein Vater sein übliches Jackett mit Krawatte gegen einen noch formelleren Geschäftsanzug eingetauscht hatte. Sogar am Strand war Dad immer vollständig bekleidet, sein einziges Zugeständnis an den Ort war, dass er Anorak und Wanderschuhe trug.

Seine Förmlichkeit war nie Kälte gegenüber anderen, am wenigsten gegenüber seinen Kindern. Und nie störte es ihn, wenn man ihn auf den Arm nahm, denn er konnte durchaus über sich lachen. Er gab zu, dass er in seiner Jugend immer der Ernsteste und Feierlichste unter den Gleichaltrigen gewesen war; einmal wollte ein Mädchen auf seinem Schoß sitzen, woraufhin er aufstand und ihr seinen Platz anbot. Jedoch behauptete er – nicht zu Unrecht –, mit den Jahren hätten ihn die anderen nach und nach an Ernst überholt; im Alter entwickelte er sich zu einer Stimmungskanone, während alle anderen hauptsächlich von ihren Krankheiten erzählten.

Eigenschaften, die, wie ich heute weiß, in Wahrheit sein Vorkriegs-Polentum waren, erklärten wir uns als leichte Schrulligkeit: Sie gehörten für uns in dieselbe Kategorie wie die Tatsache, dass er morgens geistesabwesend die Kaffeemaschine einschaltete, ohne zuvor die Reste vom Vortag zu leeren, sodass am Ende alles danebenging. Und tags darauf machte er genau dasselbe wieder. Oder dass er, wenn wir spazieren gingen und ihn etwas fragten, augenblicklich stehen blieb und über seine Antwort nachsann, sodass wir erst weitergehen konnten, wenn zwei seiner Kinder hinter ihn traten und ihn anschoben.

Sogar als Kindern war uns klar, dass Dad ungewöhnlich intensiv mit Fragen des Geistes beschäftigt war, viel mehr als andere Väter; schließlich war er Professor und Pionier seines Fachs, der Steuerungs- und Messtechnik. Doch war für ihn Bildung mehr als nur berufliche Tätigkeit – sie machte ihn aus. Beim Frühstück warf er politische und philosophische Fragen auf, und später, beim Abendessen, nahm er zu den Punkten Stellung, die man morgens vorgebracht hatte, nachdem er in der Zwischenzeit Autoritäten aus seiner umfangreichen Bibliothek konsultiert hatte. Zu seinen Geburtstagen schenkten wir ihm gern Enzyklopädien – der Mechanik, der Antike, des politischen Denkens –, und er las sie wie Romane von Anfang bis Ende.

Dementsprechend war sein Wissen. Wurde in einem Zeitungsquiz gefragt, in welchem Jahr der Londoner Triumphbogen Admiralty Arch errichtet worden sei, gab er die Antwort anhand der lateinischen Inschrift, die er auswendig wusste: Er sagte sie uns vor, übersetzte sie und teilte dann das Entstehungsjahr mit. Als Dad gestorben war, sagte einer seiner Enkel: »In Zukunft müssen wir Google fragen.«

Außerdem konnte er neun Sprachen. Als Kind dachte ich nicht darüber nach, wie er sie sich angeeignet hatte. Stattdessen blamierte ich mich einmal, als ich einer Delegation russischer Politiker begeistert erklärte, mein Vater könne Russisch. Als sie gleichermaßen begeistert wissen wollten, wo er das gelernt habe, musste ich antworten: in russischer Gefangenschaft.

Aber es gab auch Lücken. Er besaß Tausende Bücher, doch nur sechs Schallplatten (und eine war eine Platte mit einem Hörspiel für Kinder, weshalb ich ziemlich sicher bin, dass sie mir gehörte). Er hatte keinerlei Interesse an Vereinssportarten und keines an Prominenten, auch nicht an jenen seiner eigenen Zeit. Es war nicht so, dass er ein Verächter der Popkultur gewesen wäre, er konnte nur nichts damit anfangen.

Aus meiner heutigen Sicht sind mir die Gründe dafür klar. Er war nie ein richtiger Teenager gewesen, weil er in den Jahren seiner Jugend darum hatte kämpfen müssen, in einem fremden Land Fuß zu fassen, überhaupt zu überleben. Als ich ihn einmal fragte, welche Fußballmannschaft er unterstützt habe, behauptete er, er sei Fan von Eintracht Pipidówka gewesen, und erst viele Jahre später fiel bei mir der Groschen, als ich erfuhr, dass Pipidówka im Polnischen ein Scherzname ist, mit dem man unbedeutende Provinzkäffer bezeichnet.

Eine Ausnahme von seiner Gleichgültigkeit gegenüber der Popkultur gab es allerdings: Er liebte Krimiserien. Wenn der kahle Kommissar mit dem Lolli im Mund im Fernsehen kam, fragte er Mum, ob sie ihm böse wäre, wenn er schon mal vom Esstisch aufstand, bevor alle fertig waren, damit er nicht den Anfang der neuen Folge von Kojak verpasste. Einmal kam ich zum Ende einer Quincy-Folge ins Wohnzimmer: Der Mörder hatte gemordet, indem er sämtliche Snacks an Bord einer Luxusjacht vergiftete. Der Ausruf »Beschafft mir jedes einzelne Tortillachip auf diesem Boot« wurde zum geflügelten Wort in der Familie. Genau wie Dads Schwäche für John Wayne. Filme, in denen Gute und Böse zusammentreffen und das Gute gewinnt, liebte er. Natürlich.

Und dann war da noch Granny, unsere Großmutter. In meiner Kindheit schaute Dad jeden Morgen, bevor er zur U-Bahn-Station Hendon Central ging, um mit der Northern Line zur City University zu fahren, bei seiner Mutter Lusia* Spricht sich »Luscha«. vorbei, die ganz in unserer Nähe wohnte. Seit Ende der vierziger Jahre, als sie ihren ersten festen Wohnsitz in England fanden, hatten weder Dad noch Lusia mehr als dreihundert Meter vom Hendon Way und voneinander gewohnt. Wir alle, meine Mutter und meine Geschwister, akzeptierten diese enge Beziehung und die Abneigung gegen eine größere räumliche Trennung, ohne uns Gedanken darüber zu machen, woher das kam. Dads enges Verhältnis zu seiner Mutter übernahmen erst meine Mum, dann auch wir.

Wenn mein Dad zur Arbeit gefahren war, ging meine Großmutter tadellos gekleidet, mit weißen Handschuhen, schönem Stoffmantel und schickem Hut in den Milchladen und zum Metzger. Wir amüsierten uns über dieses Missverhältnis, waren insgeheim aber auch ein bisschen stolz. Jeder Ladeninhaber kannte sie als die Lady von Hendon Central.

Gegenüber ihren Enkeln war sie von unerschöpflicher Langmut, doch kannten wir auch ihre Unverblümtheit und Gnadenlosigkeit. Einmal, als ich im Zuge einer Wahlkampagne im Viertel um Wählerstimmen warb, berichtete mir ein Wahlhelferkollege, es habe ihm eben eine Dame versichert, sie werde nie im Leben unsere Partei wählen, weil unser Kandidat eine »dämliche Frisur« habe. Ich wusste auf Anhieb, dass besagte Dame meine Granny war. Sie hatte zahlreiche Freundinnen und plauderte vergnügt mit ihnen am Telefon, meist auf Polnisch, aber wenn ihr langweilig wurde, legte sie kurzerhand den Telefonhörer auf den Tisch und ging weg, um sich Kaffee zu machen, während es hinter ihr aus der Leitung quasselte.

Wenn wir in die Ferien fuhren, kam Granny oft mit. Meine Schwester erinnert sich an eine Wanderung auf dem Land – Dad mit Krawatte, Granny mit Hut –, bei der eine Kuh auf uns zutrabte. Granny trat vor und schlug die Kuh mehrfach mit ihrer Handtasche aufs Maul, sodass diese sich abwandte und ging. Tamara war baff, aber man wird weniger überrascht sein, wenn man etwas mehr von Lusia weiß.

Ich glaube, diese Konstellation – mein vergeistigter Vater, seine Mutter, die Lady von Hendon Central, die immer ganz nah wohnte, die polnische Konversation und das polnische Essen, das Fehlen einer erweiterten Familie in erreichbarer Nähe – hätte einem auffallen müssen und wäre einem tatsächlich auffällig und recht sonderbar erschienen, wäre meine Mutter nicht gewesen.

Mein Vater war beruflich erfolgreich und nicht im Geringsten abgehoben. Er hatte im Kohlebergwerk und im Labor ebenso gearbeitet wie später im Hörsaal und war überall beliebt bei den Kollegen, so unterschiedlich sie sein mochten. Aber es war, glaube ich, meine Mum, die den größten Anteil daran hatte, dass unsere Familie im modernen Großbritannien Wurzeln schlug, weil sie uns nicht als letzten gestrandeten Rest einer sterbenden kontinentalen jüdischen Kultur sah, sondern als Teil von etwas Neuem.

In mancher Hinsicht war meine Mutter sehr konventionell. Sie betrachtete es als ihre Aufgabe, den Haushalt zu schaukeln und ihrem berufstätigen Mann den Rücken freizuhalten. Gekocht hat fast ausschließlich sie, und sie war stolz darauf, dass sie jederzeit Abhilfe schaffen konnte, wenn ein Kind kurz vor der Schule oder vor einer Party Panik schob, weil sich in letzter Minute herausgestellt hatte, dass Zeichendreieck, Socke oder Faschingskostüm fehlte (»Ein grünes Kamel? Klar. Mit einem Höcker oder zwei?« war ihr Scherz bei solchen Gelegenheiten). Sie war auch die Fahrerin der Familie, denn Dad war zu zerstreut, als dass man ihm am Steuer hätte trauen können. Zur Teezeit war sie fast immer da und verfügbar, um bei Hausaufgaben zu helfen.

Das ist natürlich alles andere als eine vollständige Beschreibung der Person, die sie wirklich war, und wird dem Eindruck, den sie auf ihre Kinder machte, nicht annähernd gerecht. Angefangen hatte sie als Wirtschaftschemikerin (immer wenn ich behauptete, etwas rieche nach echtem Leder, erinnerte sie mich daran, dass sie einmal mit der Herstellung künstlicher Lederaromen ihren Lebensunterhalt verdient hatte) und wurde danach Mathelehrerin. Die Mathematik nahm sie sehr ernst. Es mochten fünfundvierzig Minuten am Esstisch damit vergehen, dass wir ausrechnen mussten, wie viele Getränkedosen in einen Kühlschrank mit einem bestimmten Fassungsvermögen passten. Immer war Mum diejenige, die mit solchen Gesprächen anfing, obwohl doch mein Vater der Experte in Sachen Messtechnik war. Ich erinnere mich, wie fassungslos beide die (damals?) verbreitete Ignoranz gegenüber der Tatsache machte, dass der Zentimeter kein Maß nach dem Internationalen Einheitensystem ist. Mums Empörung war allerdings größer.

Ihre wissenschaftliche Ausbildung ging mit einem offenen Geist einher. Die moderne Welt, junge Leute, neue Technologien fand sie ungeheuer spannend. Sie kaufte neue technische Geräte, weil sie es liebte, die Gebrauchsanweisungen zu studieren und zu ergründen, wie das Ding funktionierte. Sie ließ sich von mir zu einem Popkonzert mitnehmen, weil sie wissen wollte, wie so was ist, und als sie vierundsiebzig war, gingen wir auf ihren Wunsch zu einem Spiel von Chelsea gegen West Ham United, weil sie noch nie im Stadion gewesen war. In ihrem letzten Lebensjahr, als sie nicht mehr viel aus dem Haus kam, rief sie mich oft an und forderte mich auf, irgendeiner politischen Meinung, die sie der Presse entnahm, entgegenzutreten, damit sie keiner trägheitsbedingten Voreingenommenheit erläge. Außerdem suchte sie sich bewusst Bücher aus, die ihren, jedenfalls bei Menschen ihrer Generation erwartbaren Ansichten widersprachen.

Ihre womöglich bemerkenswerteste Eigenschaft war ihr Sinn für Verhältnismäßigkeit. Nie hätte sie sich erlaubt, mit Nachbarn über Belanglosigkeiten zu streiten, vom Synagogenrat zurückzutreten oder die Partnerwahl eines ihrer Kinder zu missbilligen. Die Schrullen anderer Leute nahm sie mit dem Kommentar hin: »Sind wir nicht alle ein bisschen meschugge?« Zerwürfnisse innerhalb der Familie kamen für sie nicht infrage, und uns allen war klar, dass es inakzeptabel war, sich über Angehörige abfällig zu äußern – oder auch nur zu denken.

Dies stand in enger Verbindung mit ihrem Humor. Ihr Lieblingsscherz war der Spruch: »Abgesehen davon, Mrs Lincoln, wie hat Ihnen das Theater gefallen?«, denn er drückte genau das aus, was sie für den Gipfel der Lächerlichkeit hielt: Dass sich Leute bei der Schilderung dessen, was sie im Krieg erlitten hatten, gegenseitig überboten, schien ihr ebenso absurd wie tragisch. »Das ist doch kein Wettbewerb«, sagte sie dann. Dies ist einer der Gründe, weshalb sie nicht über den Holocaust sprach, solange sie nicht explizit dazu aufgefordert wurde. Ein anderer Grund war ihre Sorge, andere womöglich zu langweilen. Vor einem ihrer ersten Vorträge zu dem Thema fragte sie mich, ob sie erwähnen sollte, dass sie Anne Frank gekannt und in Bergen-Belsen getroffen habe. »Meinst du, das interessiert die Leute?«

So bestimmte meine Mutter die Atmosphäre im Haus; sie erschuf uns ein Familienleben und eine glückliche Kindheit, die sie selbst nie hatte erleben können. Sie liebte meinen Vater von Herzen, aber zu herrschen erlaubte sie ihm nicht. Sie sorgte dafür, dass Dad, sollte er je in die Versuchung geraten, sich niemals zu ernst nahm. Als sie in ihren späteren Jahren gemeinsam den Vorsitz eines Vereins übernahmen, sagte mein Vater zu den Mitgliedern: »Sie werden feststellen, dass Mirjam die Löwin ist, ich steuere nur das Brüllen bei.«

Sogar unser jüdisches Leben, das wir als Kinder auf Vaters starkes intellektuelles Interesse an der Judaistik (nach seiner Pensionierung studierte er an einer Rabbinerschule und schrieb eine Dissertation über das fortschrittliche Rabbinat von Warschau) schoben, war, wie ich heute sehe, zumindest im gleichen Maß das Werk unserer Mutter.

Der Glaube an den Wert der Zugehörigkeit war der Kern ihres Judentums. Auf die Frage, ob der Holocaust ihren Glauben erschüttert habe, antwortete sie stets: Nein, sie habe noch nie an einen übernatürlichen Gott geglaubt, der in den Lauf der Welt eingreife. »Der Mensch macht das, er muss es machen«, sagte sie. Sie war darum aber nicht weniger jüdisch.

Der Mittelpunkt unseres Familienlebens war das gemeinsame Essen am Freitagabend im elterlichen Speisezimmer in Hendon. Auch als Erwachsene mit schon eigenen Kindern versäumten wir es selten, und auch Lusia war, solange sie lebte, immer dabei. Mein Vater segnete reihum seine Kinder und Enkel, dann wurde die Challa angeschnitten, und es folgten, unvermeidlich, die Hühnersuppe meiner Mutter mit Matzeknödeln darin und ein Hauptgang, der Gulasch sein konnte oder ein anderes kontinental beeinflusstes Gericht. Für Mum war es harte Arbeit, zugleich aber zutiefst lohnenswert. Mit Sicherheit war es für sie ein Triumph über Hitler; während Lusia und mein Dad es nach der Katastrophe, die sie um ein Haar vernichtet hätte, als Wiederherstellung der Familie Finkelstein empfanden.

 

So also wuchsen wir auf, mein älterer Bruder Anthony, meine jüngere Schwester Tamara und ich. Eine Kindheit in Hendon, in der wir Schallplatten bei Hounsom am Watford Way und nebenan Schreibwaren bei Batty’s kauften, Tennis und Minigolf im Shirehall Park spielten, mit der 7. Hendon-Pfadfindergruppe zelten gingen, Ferien in britischen Küstenstädten und in windumtosten Moor-Cottages machten, im Unterricht alles über die britischen Könige und Königinnen lernten und uns von Mum Geschichten über Paddington und Pu den Bären vorlesen ließen.

Meine Eltern hatten ein ausgefülltes, zugleich aber schlichtes Gesellschaftsleben – etwa einmal in der Woche kamen ein paar Freunde zum Abendessen oder nachmittags zum Kuchen. Die liebste Gesellschaft waren sie einander. Was sie schätzten, waren ein häusliches Abendessen aus (unerklärlicherweise) harten Eiern in Currysauce aus der Dose mit Reis und ein morgendlicher Ausflug mit dem Auto zum Café des örtlichen Supermarkts. Vorstadtleben.

Aber vor Zeiten hatte es ein Leben anderswo gegeben, ruhige Stadtviertel, Kindheitslektüren in anderen Sprachen, Könige und Königinnen, die andere, fremde Länder regierten. Dieses Buch erzählt davon, wie dieses Leben zerstört wurde und wie es noch einmal zurückkam und gut wurde.

Es ist eine Geschichte von Liebe und Mord. Es erzählt, wie die gewaltigen Kräfte der Geschichte als Tsunami über das Leben zweier glücklicher Familien hereinbrachen; wie sie die Menschen erfassten und umherwarfen und die Überreste schließlich an Land spülten. Es ist eine Geschichte von Einfallsreichtum, großer Tapferkeit und nahezu unglaublichen Zufällen.

Es ist eine Geschichte von heimlichen Archiven und eisiger Ödnis; von Fälschung und Diebstahl; Konzentrationslagern und Gulag. Vom Bösen und den Folgen des Bösen. Und von Freiheit und dem Lohn der Freiheit.

Es ist die Geschichte davon, wie meine Familie eine Reise unternahm, die glücklich in Hendon endete, mit knusprigen Buttersemmeln im Tesco-Café nahe der Autobahn M1, allerdings nach einem Umweg durch die Hölle.

IVorher

Mum

Alfred und Grete

An einem Wochenende im März 1920 machte sich in Berlin ein Wagen mit Diplomatenflagge auf den Weg zum deutschen Reichskanzler. Doch der Mann, der zur Reichskanzlei fuhr, war kein Diplomat, kein Treffen war vereinbart, und der deutsche Kanzler war nicht der Kanzler, er behauptete es lediglich.

In den turbulenten Stunden vor diesem sonderbaren Ereignis hatte in Berlin ein Putschversuch stattgefunden. Feldmarschmäßig kamen Soldatenkolonnen mit Stiefeln und gemaltem Hakenkreuz auf dem Helm nach Berlin und besetzten die Regierungsgebäude,3 das Kabinett floh im Konvoi nach Dresden, und anstelle der Regierung wurde Wolfgang Kapp, der behäbige, stiernackige zweite Vorsitzende der Deutschen Vaterlandspartei und Galionsfigur militanter rechtsgerichteter Militärangehöriger, zum Reichskanzler ausgerufen.

Die Gründe des Putschversuchs waren vielfältig, die Ziele der Meuternden wirr, doch Alfred Wiener, mein Großvater mütterlicherseits, war sicher, dass die Machtübernahme nur Ärger bedeuten konnte. Die Putschisten waren genau die Sorte Charaktere, vor denen er seine Mitmenschen seit seiner Rückkehr von der Front immer wieder gewarnt hatte: extremistische Verfechter der Dolchstoßlegende, jener Verschwörungstheorie, der zufolge die Niederlage im Ersten Weltkrieg keine militärische gewesen sei, sondern Ergebnis heimtückischen Wirkens oppositioneller Kräfte in der Heimat, wie Sozialdemokratie und »bolschewistischen Judentums«, und – aus Alfreds Sicht das Schlimmste – der Behauptung, die Juden seien die Wurzel allen Übels im Land.

Daher, so seine Überlegung, musste etwas geschehen. Er überredete einen Freund – Alfred war ein großer Überredungskünstler –, ihm seinen Diplomatenwagen zu leihen, mit dem er sich direkt durch die Reihen bewaffneter Rebellen fahren ließ. Vor der Reichskanzlei stieg er aus, verlangte, mit Kapp zu sprechen, was ihm bemerkenswerterweise auch gelang, und beschwerte sich bei ihm über den herrschenden Antisemitismus.4

Unter den gegebenen Umständen konnte sich Alfred womöglich glücklich schätzen, dass der Kapp-Putsch bereits nach wenigen Tagen gescheitert war und Kapp in einem Taxi, seine Habseligkeiten in einem Tuch auf dem Dach befestigt, die Flucht ergriff.5 Wäre der Putsch erfolgreich gewesen, hätte Alfred wahrscheinlich nicht lang überlebt.

Die Konfrontation mit Kapp war klassisches Alfred-Verhalten: Es war physisch verwegen, fast draufgängerisch; es war scharfsichtig, geboren aus der Einsicht in die Gefahr, die Extremisten für die deutschen Juden darstellten; es war vorausahnend, früher als andere erkennend, was die Juden womöglich erwartete; es übernahm persönliche Verantwortung für das Schicksal seiner jüdischen Landsleute; und es zeugte von seinem nahezu grenzenlosen Vertrauen, seinem nahezu grenzenlosen Optimismus, dass man die Welt verändern kann, wenn man sich rational mit ihr auseinandersetzt und sich auf Fakten beruft.

Diese Eigenschaften waren der Grund dafür, dass sein Leben und seine Laufbahn vom Erfolg zur Katastrophe und zurück zum Erfolg führten. Sie wurden gerühmt als die Merkmale eines großen Charakters und kritisiert als völlig naive Überzeugungen und Verhaltensweisen. Ihretwegen stieg er zu einem der Wortführer des deutschen Judentums auf und behielt diese Stellung durch die stürmischen zwanziger und bis in die dreißiger Jahre hinein, als die Gefahr durch die Nazis rasant wuchs. Und nach einem Zusammentreffen mit Hermann Göring, dessen bedrohliches Nachspiel ihm klarmachte, dass er nicht länger in Deutschland bleiben konnte, nahm er sie mit ins Exil.

 

Ende 1918 war Alfred Wiener nach mehr als drei Jahren Dienst an der Front nach Berlin zurückgekehrt. Er brachte die Erkenntnis mit, dass seine Schlachten überhaupt erst begannen.

Im April 1915 war er einberufen worden und ohne das geringste Zögern oder Bedenken eingerückt.6 Er war von einem starken Patriotismus und Pflichtgefühl beseelt, umso mehr, als er, wie viele Deutschjuden, die Niederlage Russlands herbeisehnte, des Landes, in dem barbarische Pogrome veranstaltet wurden.7 Alfred kämpfte sowohl an der West- wie an der Ostfront mit schwerer Artillerie und Panzerfahrzeugen, diente im deutsch-türkischen Feldzug als Dolmetscher und gab in Jerusalem und Damaskus die Militärzeitung heraus. Und er wäre fast gestorben. Anfang 1917 beendete die Ruhr nicht nur seinen Feldzug, sondern beinahe auch sein Leben.8 Er wurde mit zwei Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet, dem Eisernen Kreuz zweiter Klasse und dem Eisernen Halbmond. Beide Medaillen und sein Rang waren eher solide als spektakulär, doch Alfred war stolz, an der Front gedient zu haben.

Es wurde alles Mögliche über ihn gesagt – dass er humorvoll sei, belesen, arbeitsam, eigensinnig, kahl schon in ganz jungen Jahren, dass er leicht Freundschaften schließe; nach seinem Tod war die Presse voller Nachrufe, die seine Erscheinung und seine Persönlichkeit einzufangen versuchten und der Frage auf den Grund gingen, was eigentlich sein Charisma sei – aber wäre er selbst gefragt worden, hätte er an den Beginn jeder Beschreibung gestellt, dass er Deutscher sei.

Er kam 1895 in Potsdam zur Welt, und eine seiner engsten Mitstreiterinnen, die große Soziologin Eva Reichmann, schrieb nach seinem Tod:

Allein wenn er den Namen »Potsdam« aussprach, vernahm man in seiner sonoren Stimme den fernen Nachhall eines Fanfarenstoßes. Er liebte Potsdam und war erfüllt von seiner geschichtlichen Tradition. Bis in seine letzten Lebensjahre pflegte er einmal im Jahr den einen oder anderen ehemaligen Klassenkameraden zu treffen; er war so überzeugt von dem mysteriösen »Geist Potsdams«, wie er ihn verstand, dass er einmal, als ich ihn fragte, ob unter den alten Knaben nicht auch Nazis sein könnten, wie aus der Pistole geschossen und so, als verkünde er eine unbestreitbare Maxime, antwortete: »Natürlich nicht, sie sind doch vom Potsdamer Gymnasium.«9

Das starke Gefühl der Zugehörigkeit zu seinem Land und seiner Kultur behielt er sein Leben lang bei. Was ihm widerfahren war – Exil, Verlust der Staatsangehörigkeit, Holocaust, der seine Familie verschlang, Vernichtung der liberalen Werte, die er mit dem anderen, dem besseren Wesen seines Landes verband –, war eine umso ergreifendere Tragödie, als er im Grunde seines Wesens einer tief romantischen Vorstellung von seiner Nation anhing.

Aber Alfred war natürlich ein Deutscher von besonderer Art, er war deutscher Jude, jüdischer Deutscher, Deutschjude: ein Doppelbegriff, der für ihn eine selbstverständliche Einheit bildete. Als er drei war, zogen seine Eltern nach Bentschen, eine Marktgemeinde, damals nahe der polnischen Grenze und heute in Polen, wo sein Vater ein Kurzwarengeschäft führte. In diesen frühen Jahren, vor seiner Rückkehr nach Potsdam mit zwölf, nahm Alfreds recht ungewöhnliches Judentum Gestalt an.

Bentschen, erinnerte sich Alfred später, »hatte eine hübsche Synagoge, die in den Jahren, die ich dort lebte, mithilfe meines seligen Vaters schön renoviert und feierlich eingeweiht wurde«, doch »das jüdische Leben übernahm der sogenannte moderne Teil der Gemeinde, jene, die das Gotteshaus nur an den hohen Feiertagen besuchten«.10

Alfreds Judentum blieb für immer eine eigenwillige Mischung aus Moderne und Orthodoxie. Er war Traditionalist, der sich nicht an die Speisevorschriften hielt und selten in die Synagoge ging. Seine Religiosität war echt und tief – er studierte an der Berliner Akademie für die Wissenschaft des Judentums und hatte sogar einmal die Absicht, Rabbiner zu werden –, ihren Kern aber bildete nicht die Einhaltung religiöser Vorschriften, sondern die geistige Tradition, die Gelehrsamkeit, die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. In seiner Familie wurde freitagabends stets das Schabbatmahl gefeiert, doch aßen sie nicht unbedingt koscher. Er hatte großes Interesse an der jüdischen Erziehung seiner Kinder und achtete darauf, dass sie speziellen Unterricht erhielten, blieb aber zu Hause, wenn alle anderen in die Synagoge gingen.

Alfred war in vielerlei Hinsicht ein unkonventioneller Mensch. Ungewöhnlich waren allein die Tiefe und Intensität seiner geistigen Interessen. Ein Freund sagte Jahre später über ihn: »Es trieb ihn eine regelrechte Ehrfurcht vor der Macht, ja der Magie des gedruckten Wortes; alles Gedruckte war ihm heilig, und der Papierkorb wurde selten gebraucht.« Er »war unablässig mit Büchern beschäftigt, von denen er schier alles wusste, was es zu wissen gab«.11

In seinen frühen Zwanzigern war er studienhalber nach Ägypten, Syrien und Palästina gereist und hatte sich in den Nahen Osten verliebt, und nach seiner Rückkehr schrieb er eine Doktorarbeit im Fach arabische Literatur.12 Bei der Hochzeit meiner Eltern hielt er die Standardrede, die der Brautvater zu halten hat, bemerkte aber nach den ersten Sätzen seinen Freund Paul Kahle unter den Gästen, den Philologen und Mitherausgeber des hebräischen Bibeltextes, und wechselte spontan das Thema. Bis zum Ende seiner Ansprache ging es nur noch um Ägyptologie.

Das alles mag ungewöhnlich gewesen sein, einzigartig war es nicht. Alfred gehörte einer kleinen und identifizierbaren Gruppe deutschjüdischer Intellektueller an – Philosophen, Anwälte, Ärzte, Physiker und Psychoanalytiker –, die Hitler zu vernichten suchte, und dies mit weitgehendem Erfolg. Diese Gruppe war Teil des jüdischen Bürgertums, das, nachdem ihm im Lauf der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts endlich die Staatsbürgerrechte zuerkannt worden waren, die bürgerliche und gesellschaftliche Emanzipation endlich uneingeschränkt umsetzen wollte.

Die Juden Deutschlands hatten sich hauptsächlich in den großen Städten niedergelassen, wo sie Kunst- und Kulturschaffende und -interessierte wurden, Geschäfte gründeten, ihren Kindern Studien ermöglichten und unter den wohlhabendsten und kultiviertesten Mitgliedern der Berliner Gesellschaft zahlreich vertreten waren.13 Nun hatten sie Aussicht auf volle gesellschaftliche und bürgerliche Gleichheit, auf volle Akzeptanz, die ihnen noch immer versagt war.

Zurück vom Militärdienst, sah Alfred weniger Grund zu Optimismus. Bei aller Kameradschaft, die er während des Kriegs erlebt hatte, bei aller Freundschaft ehemaliger Frontkämpfer, mit denen er in Panzern und Gräben gesessen hatte, sah er auch, was die Niederlage seinen Kameraden angetan hatte, wie verbittert sie waren, wie sehr sie auf der Suche nach einem Schuldigen waren. Und er konnte auch sehen, dass die deutschen Juden womöglich keine Zukunft erwartete, in der sie von Gleich zu Gleich akzeptiert wurden, sondern Gefahr und Tod. An dieser Front musste er als Nächstes kämpfen.

»Ein mächtiger antisemitischer Sturm ist über uns hereingebrochen, ein Sturm, der nicht nach den Gesetzen der Physik entstanden ist, sondern durch unbegrenzte Gelder in den Händen geschickt geführter Organisationen, die ihn angeregt und gefördert haben und eifrig voranzutreiben suchen«, hieß es in der Einleitung zu Vor Pogromen?, dem Buch, das er 1919 als seinen ersten größeren Beitrag zu diesem Kampf veröffentlichte.14

Es war, da sind sich die Experten für die damalige Zeit einig, eine auf unheimliche Weise weitsichtige Einschätzung.15 Früher als die meisten anderen erkannte er die heraufdämmernde Katastrophe. Damit kann Alfred für sich beanspruchen, dass er als Erster in Europa Alarm schlug.

Noch zwanzig Jahre später waren sich nicht viele darüber im Klaren, wie ernst der Antisemitismus in Deutschland tatsächlich war und wohin er führen konnte. Alfred jedoch warnte schon wenige Monate nach dem Waffenstillstand vom November 1918:

Es mag sein, dass unsere »anständigen Antisemiten« es ablehnen, das jüdische Problem mit Gewehren und Knüppeln zu lösen, aber was interessiert das die »Männer der Tat«, die mehr oder minder unumwunden in Flugblättern – und recht furchtlos bei Geheimtreffen – feststellen, dass sie die Polen und Rumänen um ihre Pogrome beneiden, und die systematisch daran arbeiten, es ihnen auch hier in unserem teuren Vaterland gleichzutun? Aus diesem Grund bezeichnen wir die antisemitische Hetze unserer Zeit als Aufruf zu Pogromen.

Er erkannte die Zeichen. Die Redner auf den Straßen, die von der »erwünschten Plünderung jüdischer Geschäfte, Mord und Totschlag« sprachen; die Flugblätter, in denen »wir Juden wieder einmal der rituellen Morde zum Zweck der Ziegenwurstherstellung beschuldigt werden« und die vor »Geschlechtsverkehr mit Juden und anderen Rundköpfen«16 warnten; die Boykottaufrufe gegen jüdische Geschäftsleute; die offenen Briefe, in denen es hieß, die Juden verdienten den Tod; die öffentliche Versicherung, dass »wir uns in Kürze vollständig und gnadenlos von diesen jüdischen Blutsaugern befreien werden«.17 Und dahinter erkannte er das Geld, das antisemitische Bürgerwehren finanzierte und Aufwiegler bezahlte, damit sie Arbeiterräte ins Visier nahmen.

Ist das, fragte er, »der Dank des Vaterlands an Tausende und Abertausende jüdischer Soldaten, die ihr Blut vergossen für uns alle, ohne Ansehen von Religion und Herkunft und jetzt unter dem Rasen der Friedhöfe liegen«? Wie knapp er selbst dem Friedhof entronnen ist, verschweigt er.

Und er schloss mit einem Aufruf an die anständigen Deutschen, unter denen er seit je gelebt zu haben meinte, die Zeichen der Zeit zu erkennen und zu handeln:

Die Moral aller anständigen Menschen verlangt, das Gute zu fördern und dem Bösen zu widerstehen. Jeder, der nicht sehen will, wie das Blut von Bürgern durch die Straßen rinnt oder die Geschichte von bestialischen Morden und Gewalt gegenüber unseren Nachkommen zu berichten haben wird, sei bereit, gegen antisemitische Pogrome zu kämpfen. Antisemitische Hetze ist der Vorläufer von Anarchie.

Doch das Gute wurde nicht gefördert, dem Bösen wurde nicht widerstanden, und die Geschichte berichtet von bestialischen Morden und Gewalt gegen Alfreds Nachkommen.

 

Unter dem Titel Vor Pogromen? stand auf dem Titelblatt seines Buchs aus dem Jahr 1919 der Untertitel Tatsachen für Nachdenkliche. Lügen und Falschauslegungen versuchte Alfred den Boden zu entziehen, indem er die Argumente und Verleumdungen seiner Gegner minutiös auseinandernahm und ihnen die Fakten gegenüberstellte. Dabei waren seine Texte häufig leidenschaftlich und zutiefst persönlich, worin sich sein Einsatz für Liberalismus und sein Glaube an das emanzipierte Deutschjudentum spiegelten – aber auch noch etwas anderes: die Sorge um die eigene Sicherheit und die seiner Familie.

Alfred Wiener kämpfte nicht nur für die Verbesserung der bürgerlichen Rechte beziehungsweise, wie er es sah, für die Verteidigung der Zivilisation gegen die Barbarei, sondern auch für etwas ganz Einfaches: Er wollte in Frieden leben dürfen, mit seinen Büchern und seiner Forschung und seinen wissenschaftlichen Debatten mit seinen Freunden. Und mit seiner Frau und seinen Kindern.

Denn nach seiner Rückkehr von der Front mochte er zwar Hass erfahren haben, doch er hatte auch Liebe gefunden. Und im Sommer 1921 war die Hochzeit meiner Großeltern.

Seine künftige Frau hatte er durch einen seiner Frontkameraden kennengelernt, Jan Abraham, der ihn zu sich nach Hause eingeladen hatte, um ihn Gertrud Saulmann vorzustellen, die er zu heiraten beabsichtigte. Trudes jüngere Schwester Margarete war ebenfalls anwesend, und es dauerte nicht lang, bis sie und Alfred ein Paar waren.

Äußerlich betrachtet, wirkten Alfred und Grete unvereinbar. Sie war fast genau zehn Jahre jünger und ein gutes Stück größer (Grete an die eins achtzig, Alfred gut zehn Zentimeter kleiner). Geistig und kulturell jedoch passten sie sehr gut zusammen.

In Hamburg geboren als Tochter eines Fabrikbesitzers und Geschäftsmanns, hatte Grete früh ihre akademische Eignung unter Beweis gestellt und beherrschte, als der Krieg ihrer Ausbildung ein vorläufiges Ende setzte, vier Sprachen. Die Jahre 1914 bis 1917 verbrachte sie in ihrer Heimatstadt und arbeitete beim Roten Kreuz am Hamburger Hauptbahnhof, von wo Soldaten an die Front geschickt und wohin Verwundete zurückgebracht wurden. Später begann sie mit der Arbeit, die sie ihr ganzes weiteres Leben ausübte, sie unterstützte Familien, die durch Konflikte mittellos geworden waren. Als ehrenamtliche Mitarbeiterin im Frauenausschuss der Hamburgischen Kriegshilfe engagierte sich Grete im Küchendienst, für den sie günstige Lebensmittel organisierte, und im zentralen Warenlager, das gespendete Sachen aller Art verteilte – Kleidung, Schuhe, Haushaltsartikel.18 Es diente ihr gleichsam als Übung für die Zeit, in der sie selbst Flüchtling war und andere in der gleichen Lage unterstützte.

1917 nahm sie ihre Ausbildung wieder auf, studierte Wirtschaftswissenschaft in Bonn und errang mit ihrer Arbeit über die Vordenker des Freihandels und deren Beziehungen zur klassischen englischen Ökonomie den Doktortitel – alles andere als selbstverständlich bei einer Frau in den frühen 1920er Jahren. Es machte sie zur idealen Partnerin für Alfred, weil sie seine akademische Neigung teilte, ihn wissenschaftlich womöglich übertraf. Im Anschluss an ihr Studium wurde sie Sekretärin des Berufsverbands der Wirtschaftswissenschaftlerinnen in Deutschland, nahm am Kongress des Bunds Deutscher Frauenvereine teil und schrieb Artikel und Essays, in denen sie sich mit dem Wirtschaftsprogramm der NSDAP befasste.

Zwei weitere Faktoren kamen hinzu, die ihre Partnerschaft festigten. Das war einerseits die Ehe zwischen Alfreds Freund und Gretes Schwester. Trude und Grete waren mit nicht einmal zehn Monaten Abstand zur Welt gekommen und standen einander außergewöhnlich nahe. Die vier jungen Leute, Jan und Trude, Alfred und Grete, lebten fast wie eine Einheit, und wenn das eine Paar die Wohnung wechselte, zog das andere ganz in die Nähe. Zum anderen fühlten sich die Jungvermählten beide in gleichem Maß dem Judentum verbunden und hielten stolz ihre deutsche wie ihre jüdische Identität aufrecht, ohne die eine über die andere zu stellen. Grete neigte weniger der Orthodoxie zu als Alfred, hielt sich aber gewissenhafter an die religiösen Vorschriften. In dieser Hinsicht ergänzten sie einander perfekt.

Gretes und Alfreds Ehe mag partnerschaftlich gewesen sein, ganz gleichgestellt waren sie nicht, was sowohl am Altersunterschied als auch an der traditionellen Rolle von Mann und Frau lag. Grete trug Alfreds berufliche Last mit und unterstützte seine Ideale und Anliegen, doch sie tat es als seine Helferin und Sekretärin. Und als nach und nach die Kinder geboren wurden, leistete sie den Großteil der Erziehung. Wie ohnehin die Arbeit im Haus und in der Küche ihre Sache waren. Meine Mutter pflegte zu sagen, ihr Vater habe nicht einmal ein Ei kochen können, und als ich lachte, versicherte sie mir: »Nein, im Ernst, er konnte es nicht.«

Das erste Kind kam recht schnell. Ein erster Sohn, der nach Alfreds Vater Carl genannt wurde, kam 1922 zur Welt, starb aber mit fünf Jahren tragisch an einem Blinddarmdurchbruch. Erst Jahre später folgten die Kinder, die das Erwachsenenalter erreichten: Ruth, geboren 1927, und drei Jahre später ihre jüngere Schwester Eva. Infolgedessen wissen die beiden nicht mehr viel von ihrem Leben in Berlin-Charlottenburg, wo Grete und Alfred wohnten, bis sie 1934 gehen mussten.

Bis auf ein paar Bruchstücke: dass sie in einer Wohnung lebten, die nicht im Erdgeschoss war; dass sie Ausflüge an den Strand machten, wo Ruth einmal fast ertrunken wäre, hätte Alfred sich nicht voll bekleidet ins Meer gestürzt, um sie zu retten; dass (unweigerlich) Jan und Trude mit ihrem bald geborenen Sohn Fritz in der Nähe wohnten; dass die Wohnung voller schwerer dunkler Möbel und vor allem voller Bücher war; und dass die typische Haltung ihres Vaters war: über den Schreibtisch gebeugt, umgeben von Papieren und Zigarrenrauch.

Sofern er überhaupt anwesend war. Denn woran sich die Schwestern auch noch erinnerten, das war seine häufige Abwesenheit. Die Familie führte ein normales bürgerliches Leben, doch statt es zu genießen, suchte Alfred es zu schützen und war dafür den größten Teil seiner Zeit in der Welt unterwegs.

Gestern Abend war in Würzburg eine Massenversammlung mit dem Ziel, die gegen Juden gerichteten Ritualmord-Vorwürfe als Verleumdung zu entlarven. Die Versammlung fand unter der Schirmherrschaft des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens statt.

Alfred Wiener vom Vorstand des Vereins, Bürgermeister Hans Löffler und der evangelische Pfarrer Winkelmann verwarfen die Verleumdung als gänzlich haltlos, schilderten aber die Gewalttaten, die bei ihrer Verbreitung begangen werden. Damit er den Fall aus Sicht der Antisemiten schildere, wurde Herrn Holz, dem Herausgeber der antisemitischen Wochenzeitung »Der Stürmer« und Mitglied der NSDAP, das Wort erteilt.

Mehrere hundert Hitler-Anhänger, die in den Saal drängten, offensichtlich nicht um Aufklärung zu suchen, sondern um Unruhe zu stiften, lösten einen Tumult aus und zwangen die Polizei, die Versammlung aufzulösen.19

Seit 1919 arbeitete Alfred bei der größten und einflussreichsten jüdischen Interessenvertretung in Deutschland und stieg binnen weniger Jahre zu deren Generalsekretär auf. Dies bedeutete ein Leben ständiger Auseinandersetzungen, turbulenter Versammlungen, auch persönlicher Gefahr. Die von der Presseagentur Jewish Telegraphic Agency erwähnte Versammlung in Würzburg, bei der er, fern von seiner Familie, in direkter Konfrontation mit dem Feind stand, Lügen aufzudecken und Verleumdungen richtigzustellen versuchte, war exemplarisch für viele Abende, vielmehr ganze Tage in den 1920er Jahren.

Alfreds Arbeitgeber, ebenjener Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der meist CV oder C. V. genannt wurde, schätzte die Zahl seiner Mitglieder auf drei Viertel der rund 600000 Juden, die zur Zeit von Hitlers Machtergreifung in Deutschland lebten.20 Mit sechzig Mitarbeitern in Berlin und einer ähnlichen Zahl in den im ganzen Land verteilten Regionalbüros war der CV eine der wenigen Organisationen, die sich landesweit an die jüdische Gemeinde richteten – und die war in religiöser und politischer Hinsicht alles andere als einheitlich. Im Lauf der zwanziger Jahre zeigte sich immer deutlicher, wie notwendig diese Breite war.

Zu Anfang ebendieses Jahrzehnts war Deutschland politisch sehr instabil; linke und rechte Gruppierungen versuchten gleichermaßen an die Macht zu gelangen und waren geneigt, ihre Auseinandersetzungen mit Gewalt auszutragen.21 Dazu kam bald die Hyperinflation mit ihren verheerenden Folgen für die Lebensgrundlage aller, der Armen, der Rentner, der Kleinunternehmer, des Mittelstands. (Gretes Doktorarbeit, die zur Publikation vorgesehen war, fiel der Inflation zum Opfer: Die Druckereien druckten keine Bücher mehr, sondern Geldscheine.22) Auch als die Lage sich allmählich besserte, blieb die Stimmung fiebrig.

Und die angebliche Macht der Juden, Gegenstand von Argwohn und Vorurteil seit Jahrhunderten, lieferte eine bequeme Erklärung für die Sorgen des modernen Deutschlands.

Der CV gab sich alle Mühe, gegen dieses Vorurteil anzugehen: mit Hunderten von Veranstaltungen, manche regelrechte Kongresse wie in Würzburg, andere kleine Gesprächsrunden von Intellektuellen oder Geschäftsleuten; er bemühte sich um Einfluss auf die Massenpresse; er knüpfte Beziehungen zu Organisationen, die ihm wohlgesinnt waren und halfen, wie Alfred es formulierte, »die Ideen der Toleranz, des Liberalismus und der Gleichheit zu verbreiten«; er ging gerichtlich gegen Antisemitismus vor und übernahm die Verteidigung von Juden vor Gericht; und er betrieb Lobbyarbeit bei Ministern und Beamten, beriet und unterstützte die Gesetzgeber, die bereit waren, jüdische Rechte zu verteidigen.

Wie Alfred später zu Recht sagte, verstand der CV »die Gefahr von Rassismus und Nationalsozialismus nicht nur für das Weltjudentum, sondern für die Welt insgesamt … während die meisten anderen, Völker und Einzelne, die Wahrheit noch immer nicht sehen und die stetig wachsende Gefahr nicht erkennen wollten«.23

Alfred steckte bis über beide Ohren in seinen beruflichen Verpflichtungen. Vor Publikum zu reden machte ihm gar nichts aus, im Gegenteil (eine Zeitung bezeichnete ihn als »bekannten Versammlungsredner«, der »weder Zwischenrufer noch randalierende Nazis fürchtete«24), doch verwandte er nicht weniger Zeit auf journalistische Aufgaben. Der CV gab eine Wochenzeitung heraus, die CV-Zeitung (Blätter für Deutschtum und Judentum), die mit der Zeit zur auflagenstärksten jüdischen Zeitung in Deutschland aufstieg, und Alfred war sowohl Chefredakteur als auch regelmäßiger Mitarbeiter. Seine Beiträge kombinierten intellektuelle Streifzüge, Nachrichten aus der Gemeinde und Berichte über die Demütigungen, die Juden durch Antisemiten zu erleiden hatten.

Etwa aus dieser Zeit stammt ein jüdischer Witz: Zwei Juden sitzen auf einer Parkbank in Berlin, der eine liest den Stürmer, der andere die CV-Zeitung. Letzterer fragt seinen Nachbarn: »Wie können Sie nur diesen Nazidreck lesen?«, woraufhin der andere den Stürmer sinken lässt und antwortet: »Ganz einfach. Ihre Zeitung strotzt von Geschichten über Juden, die angegriffen, deren Rechte mit Füßen getreten, deren Geschäfte bedroht werden. In meiner steht, dass die Juden die Welt regieren.«

Nur sporadisch gelang es der Weimarer Republik, wirtschaftliche Stabilität herzustellen. Nie gelang es ihr, eine demokratische Kultur zu etablieren. Und die Krawalle der Aufrührer wurden immer zahlreicher. Ende 1923 trat ein neuer extremistischer Anführer auf den Plan, als nämlich Adolf Hitler nach seinem gescheiterten Putschversuch (»Bürgerbräu-Putsch«) wegen Hochverrats angeklagt wurde. Die Zeitungsberichte darüber lieferten ihm zum ersten Mal eine landesweite Plattform. Mit dem Hitler-Putsch, wie er alsbald im allgemeinen Sprachgebrauch hieß, begann die Konsolidierung der Rechtsextremen zur NSDAP.

Dennoch boten die staatlichen Institutionen den Juden noch eine Zeitlang Schutz. Die jüdische Gemeinde zog viele Male gegen Nazis und andere Antisemiten vor Gericht,25 und bei einigen aufsehenerregenden Prozessen der Zeit spielte der CV, und damit zwangsläufig auch Alfred, eine zentrale Rolle.

Darunter stach besonders ein Verfahren heraus, der sogenannte Talmud-Prozess, mit dem Julius Streicher, Herausgeber des Stürmers und vielleicht radikalster Antisemit Deutschlands, zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt wurde. Der CV hatte monatelang sorgfältig Streichers Blatt nach Verstößen gegen deutsches Recht abgesucht und endlich genug Material beisammen, um ein Verfahren gegen ihn anzustrengen. Wiederholt hatte Der Stürmer Zitate aus dem Talmud, dem zentralen Text des rabbinischen Judentums, falsch ausgelegt oder sinnentstellt verwendet, hatte wiederholt behauptet, die jüdische Lehre fordere zu sexuellem Missbrauch und Ritualmorden an Nichtjuden auf und gestatte Juden den Meineid vor nicht jüdischen Gerichten. Solche Angriffe gegen die Religion, und zwar gegen jede Religion, waren gesetzlich untersagt.26

Lügen anhand logischer und sachlich fundierter Argumentation zu widerlegen, und dies vor möglichst breitem Publikum, zählte zu Alfreds bevorzugter Form des Widerstands gegen Nazis. Und seine Bemühungen fielen durchaus auf fruchtbaren Boden, auch wenn sie letztlich nicht ausreichten. Es kam nicht nur zu zahlreichen Haftstrafen, sondern die Kosten, die von der NSDAP für die Verteidigung ihrer Anhänger vor Gericht in Hunderten Fällen aufgebracht werden mussten, bedeuteten insgesamt eine nicht unerhebliche Belastung.27

Jedoch waren Siege vor Gericht ein zweifelhafter Segen, denn oft heizten sie den Kampfgeist der Nazis erst recht an. Als Streicher aus dem Gericht kam, wurde er von einer jubelnden Menschenmenge mit rassistischen Liedern und »Heil«-Rufen empfangen. Solche Reaktionen waren nicht ungewöhnlich, und Alfred war davon so beunruhigt, dass er die jüdische Gemeinde öffentlich beschwor, nicht jede Gelegenheit zur gerichtlichen Verfolgung zu nutzen, um den Antisemiten keinen Anlass zu geben, sich als Opfer jüdischer Verschwörung zu präsentieren.28

Alfred fand begreiflicherweise viel Zuspruch, eine breite Mehrheit der deutschen Juden unterstützte seine Aktivitäten. Aber nicht alle.

 

Es gab eine fundamentale Spannung in Alfreds Weltsicht, und die war so groß, dass sie ihn wenigstens zwei Mal in seinem Leben in den Zusammenbruch trieb.

Einerseits war er Romantiker. Seine Vertraute Eva Reichmann, die ihn sehr gut kannte, meinte, der Schlüssel zu seinem Wesen sei sein Enthusiasmus gewesen.

Denn hier lag eines der Geheimnisse dieser tätigen, vitalen, erfüllten Persönlichkeit, ein Geheimnis des Zaubers, mit dem er Menschen an sich zog: er glaubte ein durch ein langes Leben politischer Taktik ausgeglichener, kühler Skeptiker zu sein, und er war doch ein Enthusiast. Er war ein Enthusiast seiner Arbeit, seiner Liebe zu Menschen und Büchern, ein Enthusiast des Lebens … Aber der Urgrund seines Wesens war doch eine freundliche Heiterkeit von solcher ausstrahlender Aktivität, dass sie seine Welt nach seinem Bilde formte. Er nahm von Rückschlägen nur insofern Kenntnis, als er ihnen standzuhalten hatte. Er ließ sich nicht von ihnen niederwerfen.29

Seine Romantik aber musste mit seinem Realismus zurechtkommen, seiner wachsenden Beunruhigung angesichts der Beschuldigungen gegen Juden.

In seinen Reden versuchte er die Widersprüche der Antisemiten aufzudecken, die den Juden Kapitalismus und Kommunismus gleichzeitig vorwarfen. Anhand von Unterlagen aus Kriegsarchiven und Gefallenenzahlen widerlegte er die Behauptung, Juden hätten sich während des Krieges vor dem Dienst an der Front gedrückt. Und er bewies die Haltlosigkeit diverser Verschwörungstheorien wie etwa der lächerlichen Idee, sogar der Kaiser sei in Wahrheit Jude, Frucht einer Affäre seiner Großmutter, der englischen Königin Victoria, mit ihrem jüdischen Leibarzt.30

Dies alles legte er ruhig, logisch und mit einem Hauch von Humor dar, der alle seine Reden auszeichnete. Dennoch waren die Frustration und die Sorge, die ihn umtrieben, unübersehbar. Er arbeitete Tag und Nacht, unter Missachtung familiärer Verpflichtungen, sodass ihn sein Vorgesetzter, Dr. Ludwig Holländer, einmal warnte: »Arbeiten Sie nicht so viel, sonst kommt der Antisemitismus vorzeitig zum Ende.«31 Das war, wie wir wissen, das Einzige, worum er sich nicht zu sorgen brauchte.

Die Diskrepanz zwischen seinem optimistischen Temperament und seinem untrüglichen Gespür für die Gefahr, die den Juden drohte, war allerdings nur ein Teil der Spannung, die er jetzt empfand.

Die Zeitung Die Welt schrieb einmal, Alfred habe »seine Energien für das Ziel eingesetzt, das Misstrauen zwischen Deutschen und Juden auszuräumen«.32 Das ist allerdings ein Missverständnis. Denn für Alfred war es ein und dasselbe. Er war Deutschjude, für ihn eine unteilbare Einheit. Und diese Überzeugung bildete den Kern der Kampagne gegen den Antisemitismus, nicht nur seiner persönlichen, sondern auch der des CV. Alfred kämpfte gegen Extremismus und Antisemitismus nicht nur, um Juden zu verteidigen, sondern weil es ihm um den Schutz Deutschlands ging. Berühmt wurde sein Ausspruch: »Gäbe es einen Nobelpreis für deutsches Empfinden, so bekämen ihn die deutschen Juden.«33

Für ihn waren die Entwicklung eines modernen liberalen Deutschlands und die Entwicklung modernen Judentums jeweils voneinander abhängig, und ein Angriff gegen das eine war ein Angriff gegen das andere. Den Faschismus bezeichnete er gern als »Verschwörung gegen die Zehn Gebote«.34 Er war sicher, dass es, um das Unheil abzuwenden, genügend Deutsche gab, die mit ihm einer Meinung waren, vorausgesetzt, sie waren ausreichend informiert durch Personen, die über gesicherte Faktenkenntnis und entsprechendes Argumentationsvermögen verfügten.

Doch es waren ja nicht einmal alle Juden mit ihm einer Meinung. Er und der CV verteidigten ihren Standpunkt gegen dreierlei jüdische Kritik, und während die Mehrzahl der deutschen Juden zwar am CV festhielt, ist in Alfreds Schriften aus den 1920er Jahren der Druck der Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinde durchaus zu spüren.

Die am wenigsten streitlustige Gruppe der Andersdenkenden beunruhigte Alfred eigentlich am meisten. Einige Juden waren nämlich der Meinung, sie bekämen niemals die vollen Bürgerrechte in Deutschland, solange sie am jüdischen Glauben festhielten, und gaben daher still und leise ihre Religion auf und ließen sich taufen. Das war insofern nachvollziehbar, als eine Behauptung der Antisemiten lautete, man könne einen Juden riechen und die Taufe beseitige den Geruch.35 Alfred fand diese Reaktion verheerend, und der CV verwandte viel Energie darauf, unter seinen Mitgliedern ein Bewusstsein für ihre Abstammung zu wecken, gepaart mit Stolz auf ihre Vergangenheit, damit sie leichter zu ihrer Identität stehen konnten.

Viel lautere Kritik kam von den Kommunisten. Ihrer Meinung nach war der Schutz von Juden innerhalb eines kapitalistischen Systems unmöglich; sie hielten die Weiterentwicklung des Kapitalismus zum Faschismus für zwangsläufig. Der CV begreife nicht, was auf sie alle zukomme.

Der Angriff verdross Alfred und seine Mitstreiter verständlicherweise, und ihre Reaktion war entsprechend scharf. Die Vorstellung, dass die sehr kleine deutschjüdische Gemeinde – zumal sie politisch in sehr unterschiedliche Lager zerfiel – sich geschlossen hinter die Arbeiterbewegung stellen und Deutschland vom eingeschlagenen Kurs abbringen könnte, fand er abwegig.

Den zeitaufwendigsten internen Kampf aber führte Alfred mit der dritten Gruppe der Kritiker. Es waren die Zionisten.

Wer ohnehin schon von einem jüdischen Staat in Palästina träumte, hielt die Idee, die Verbindung von Deutschtum und Judentum sei eine stabile oder nachhaltige, für eine hoffnungslose Illusion. Juden, die sich einbildeten, sie würden von den Deutschen eines Tages als gleichberechtigte Mitbürger akzeptiert, lögen sich in die eigene Tasche. Die einzige Antwort auf den europäischen Antisemitismus sei es, zu gehen. Alfreds und Gretes bürgerliche Existenz mit den Kindern im Kindergarten und in der Volksschule des Sprengels, wo Ruth rechtshändig schreiben lernte, wie der Staat es wollte, mit Gretes ehrenamtlichen Tätigkeiten, mit Cafébesuchen und Spaziergängen unter den Platanen des nahe gelegenen Kurfürstendamms – wem machten sie etwas vor? Das sei nicht die Zukunft des jüdischen Volks. Die Zukunft sei ein eigener Staat.

Alfred lehnte diese Auffassung rundheraus ab. Er hatte jedes Verständnis für Juden, die es nach Palästina zog und die dem Ruf auch folgten. Seit seiner Zeit als Student und Soldat im Nahen Osten war er dem Land und den Menschen in Zuneigung verbunden und nicht unempfänglich für den Reiz, den die Vorstellung einer jüdischen Heimat in Palästina hatte. Aber: Heimat, nicht Staat. Und vor allem kein Staat für jüdische Deutsche, die ja schon einen Staat hatten. Unterstützung des zionistischen Vorhabens untergrub nach seiner Ansicht das zentrale Argument des CV: dass die Juden im Land loyale Staatsbürger seien und so deutsch wie alle anderen.

Um dieses Argument zu untermauern, ging er vor wie immer, er begegnete Mythen mit Fakten, denn er war der Meinung, dass die Behauptung, der zionistische Staat sei funktionsfähig, oft genug reine Propaganda sei. 1926 begab er sich auf eine fünfunddreißigtägige Reise durch Palästina, die das Ziel hatte, die dortige Lage zu erkunden und darüber zu berichten. Grete, wie so oft seine Seelenfreundin, politische Verbündete und Sekretärin, kam mit.

Heraus kam ein Buch, das er 1927 unter dem Titel Kritische Reise durch Palästina veröffentlichte.36 Es war seine erfolgreichste Publikation, wurde mehrfach nachgedruckt und erschien in zahlreichen Auflagen, was dafür spricht, dass seine sachliche Herangehensweise geschätzt und seine skeptische Sicht des Zionismus von seinen jüdischen Landsleuten weithin geteilt wurde.

Auf dieser Reise trafen Alfred und Grete mit führenden Vertretern der zionistischen Bewegung in Palästina zusammen, besuchten die größten Siedlungen und sprachen mit möglichst vielen Siedlern; Grete hielt die Gespräche und Beobachtungen stichpunktartig fest.

Alfred war beeindruckt von dem freundlichen, ja herzlichen Empfang, der ihnen bereitet wurde, Grete vor allem davon, dass alle Juden, die sie trafen, offensichtlich am Schicksal des gesamten nationalen Projekts Anteil nahmen, nicht nur an dem des jeweiligen Berufsstandes oder des eigenen Spezialgebiets. Eines aber vermerkte sie ganz besonders:

Fast jeder hat seinen eigenen Plan, mit dem er das Land beglücken möchte. Weitgreifende Projekte werden bei einer geeigneten Wendung des Gesprächs entrollt, oft mit den leuchtenden Augen des Phantasten, oft im Tone kühler Sachlichkeit, als wäre der Plan seiner Verwirklichung so nahe wie das Heute dem Morgen.37

Gretes Beobachtung lieferte den Kern für Alfreds Kritik. Der Zionismus erschien ihm utopisch, und Utopisten, fand er, verschlössen die Augen vor praktischen Problemen. Zunächst einmal sei palästinensisches Land, zumal »kulturfähiger Boden«, zu schweigen vom jüdischen Besitzanteil daran, schlicht nicht groß genug, um das gesamte europäische Judentum aufzunehmen. Mehrere Seiten der Kritischen Reise sind mit Landkarten, Diagrammen, Zeichnungen gefüllt, die der Größe der palästinensischen und jüdischen Siedlungen die Größe der europäischen Nationen und ihrer jüdischen Bevölkerung gegenüberstellen. Allein die polnischen Juden kämen nicht vollzählig in Palästina unter: »Die Not der Juden des Ostens [kann] im wesentlichen großzügig nur im Osten selbst gemildert werden.«38

Alfred fragte sich auch, ob die Siedlungen in Palästina überhaupt jemals wirtschaftlich erfolgreich sein könnten. Er sei nicht sicher, räumte er ein. Nicht zu übersehen sei, dass die jungen Leute überaus motiviert seien und einen »prachtvollen Willen« an den Tag legten, und es wäre vorschnell, ihr Scheitern vorauszusagen. Jedoch geht er recht ausführlich auf die finanziellen Probleme diverser zionistischer Einrichtungen und auf deren Abhängigkeit von jüdischen Zuwendungen aus dem Ausland ein. Dafür macht er hauptsächlich den sozialistischen Idealismus vieler Zionisten verantwortlich, den er als »Eigensinn und Fanatismus« bezeichnet. Ihre Einstellung, wonach um jeden Preis in Palästina verwirklicht werden müsse, was im kapitalistischen Europa und Amerika nicht zu erreichen sei, stürzte ihn in Verzweiflung. »Diese Bemühungen haben wahrhaftig genug Geld aufgezehrt.«

Sorgen machte ihm auch der zionistische Chauvinismus. Schließlich war Alfred Arabist mit starkem Interesse am Islam und an der arabischen Welt. »Ein Volk, das eine so reiche Geschichte hat, ein Volk, dessen Länder noch heute mit den schönsten Denkmälern unvergänglicher Baukunst, glänzenden Kunsthandwerks geschmückt sind … dieses Volk sollte man nicht ignorieren oder gar verachten, sondern man sollte mit ihm möglichst in Freundschaft zu leben versuchen.«39 Während der gesamten zwanziger Jahre äußerte er diese Sorge immer wieder: Andernfalls sei zu befürchten, dass die Juden vehement zurückgewiesen würden und in der neuen Heimat Palästina nie sicher wären.

Der vielleicht aufschlussreichste Teil des Buches ist sein Beginn. Auf vielen einleitenden Seiten geht er auf die unwahren Berichte über seinen Besuch ein, die in der zionistischen Presse erschienen, und verurteilt einen vermeintlichen Versuch, ihn als »Sturmbock gegen die Centralvereins-Leitung« zu benutzen. Er schreibt auch von wiederholten Versuchen der zionistischen Bewegung, ihm passendes Propagandamaterial zukommen zu lassen. Auf der Reise durch Palästina entdeckte er an einem Bahnhof, von dem er nach Jerusalem fahren wollte, einen Kiosk mit allerlei Aufklärungsschriften, Zeitungen und Büchern über den Zionismus. Zu seiner Überraschung begrüßte ihn der Verkäufer mit Namen – was er deshalb tun konnte, weil ihm eine (täglich erneuerte) Liste mit den Namen und der jeweiligen Einstellung der zu erwartenden Reisenden vorlag, darunter eben auch »Dr. Alfred Wiener, Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, einer der Führer der deutschen Antizionisten«.40

Diese einleitenden Seiten zeugen anschaulicher als die übrigen von der Intensität, mit der innerhalb der jüdischen Gemeinschaft über den Zionismus und die Alternative, nämlich die Durchsetzung der jüdischen Rechte als europäische Staatsbürger, gestritten wurde. Fraktionskämpfe zwischen Menschen mit wesentlich gleichen Interessen sind oft die bitterste Form von politischer Zwietracht. Alfreds Bedenken wegen der Schwierigkeiten, vor denen die Juden bei der Umsetzung des zionistischen Projekts in Palästina standen, sind im Nachhinein weitgehend gerechtfertigt. Jedoch ist bei der Lektüre der Kritischen Reise leicht zu ermessen, welche mentale Strapaze es für Alfred bedeutet haben muss, als seine leidenschaftlichen Argumente für Deutschland als Heimat der deutschen Juden durch Hitlers Aufstieg zur Macht allesamt in sich zusammenfielen.

Das war Alfreds Tragödie. Die gesamtjüdische Tragödie geht darüber hinaus. Während innerhalb der Gemeinde noch darüber gestritten wurde, welche Lösung langfristig Frieden, Sicherheit und Akzeptanz garantieren könnte, offenbarte die Geschichte, dass es keine konnte. Dass es keine kann.

 

Wer Alfred in dieser Zeit kannte, Ende der 1920er bis ins nächste Jahrzehnt hinein, hätte ihn womöglich für einen Propagandareisenden gehalten. Er hatte immer ein Köfferchen bei sich. Und darin: Naziliteratur.

Im Sommer 1925 hatte Adolf Hitler sein autobiografisches Manifest Mein Kampf herausgebracht und entwickelte sich rasch zur Leitfigur der rechten Gruppierungen, vor denen Alfred seit 1919 gewarnt hatte. Alfred begann mit seinen Kollegen vom CV zu debattieren, damit sie erkannten, dass die Lage am rechten Rand sich veränderte, die Nazis jetzt die größte Gefahr für die Juden in Deutschland darstellten und dass alle anderen Anliegen des CV hinter der Notwendigkeit zurückstehen müssten, diese aufstrebende neue Kraft zu bekämpfen.

1928 legte er dem Vorstand des CV einen Bericht vor, der über die sich ausweitenden Aktivitäten von NS-Gruppen in ländlichen Regionen informierte: Analysen des Wahlverhaltens zeigten eine besondere Empfänglichkeit für die Nazipropaganda gerade bei den ärmeren Schichten auf dem Land. Der Vorstand erteilte ihm eine scharfe Abfuhr: Er lese zu viel in Einzelepisoden hinein.41 Doch irgendwann fanden seine Argumente dann doch Gehör, zumal angesichts der gleichzeitig von Goebbels angezettelten Kampagne gegen jüdische Kaufhäuser. Im CV war man sich einig, dass Alfred mit der Arbeit an einem Projekt beginnen solle, das ihn, in der einen oder anderen Form, dann bis ans Ende seines Lebens begleitete.42

Es wurde ein offiziell nicht dem CV