Hochsensibel geboren - Prinzessin Märtha Louise - E-Book

Hochsensibel geboren E-Book

Prinzessin Märtha Louise

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Beschreibung

Die Prinzessin auf der Erbse. Eine wahre Geschichte.

Was es bedeutet, mit der besonderen Gabe der Hochsensibilität im öffentlichen Interesse zu stehen, musste die norwegische Prinzessin Märtha Louise bereits früh erfahren. Sie und ihre Freundin Elisabeth Nordeng spüren und erleben vieles ungefiltert und intensiv: Farben, Geräusche, Gefühle. Ihre Sinne sind auch in vermeintlich alltäglichen Situationen besonders empfangsbereit, was jedoch schnell zur Belastung werden kann. Wie die Autorinnen gelernt haben, diese Wahrnehmungen positiv für sich und ihr Umfeld zu nutzen und sich gleichzeitig abzugrenzen, wenn alles zu viel wird, davon erzählt dieses intime Bekenntnis. Das sehr persönliche Buch einer der beliebtesten Vertreterinnen des norwegischen Königshauses.

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Seitenzahl: 303

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Prinzessin Märtha Louise und Elisabeth Nordeng

HOCHSENSIBELGEBOREN

Wie Empfindsamkeit stark machen kann

In Zusammenarbeit mitKristin M. Hauge

Aus dem Norwegischenvon Hedwig M. Binder

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die norwegische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Født sensitiv« im Verlag Cappelen Damm, Norwegen.1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Juli 2018

© der deutschsprachigen Ausgabe Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

© 2017 der Originalausgabe Prinzessin Märtha Louise und Elisabeth Nordeng

Umschlaggestaltung: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © Mona Nordøy

Lektorat: Annette Gillich-Beltz

SSt ∙ Herstellung: cb

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-22472-1V001www.goldmann-verlag.de

»Die Tanzenden wurden für verrückt gehalten von denjenigen, die die Musik nicht hören konnten.«

Nietzsche zugeschrieben

Inhalt

Vorwort

Was ist Hochsensibilität?

Kindheit

Es ist ein Mädchen

MÄRTHA

Meine Geschichte

Es riecht nach Senf

Die Prinzessin auf der Erbse

Das ungestüme Gewissen

Privatsphäre

Angst vor der Dunkelheit

Das Mädchen mit den vielen Spiegeln im Kopf

ELISABETH

Das Chamäleon

Allein

Scharfe Sinne

Jugend

Freundschaft

MÄRTHA

Rollen

Überstimuliert

ELISABETH

Wahl des Weges

Staatstrauer

MÄRTHA

Begegnung mit dem Tod

Der Wendepunkt

Erwachsen

MÄRTHA

Verletzlichkeit

ELISABETH

Mutterrolle

Fragile Übergänge

Ehrlichkeit

Kleine Entscheidungen

Arbeitsleben

Der Knall

MÄRTHA

Mit Kritik zurechtkommen

Lampenfieber

ELISABETH

Märthas Schatten

Empfindsame Männer

Offene Landschaften

Eine überstimulierende Welt

MÄRTHA

Der Werkzeugkasten

Nähe zu Tier und Natur

MÄRTHA

Das Mädchen auf dem Baum

Die Waldfrau

Meine Pferde

Beziehungen

Der Mittelgang

MÄRTHA

Liebe spüren

Sensibler Alltag

Empfindsame Beziehungen

Der Scheideweg

Deshalb kannst du die Gedanken anderer fühlen

ELISABETH

Wenn alles stimmt

Begegnung mit Sinn

Abschluss

Wie geht es dir?

MÄRTHA

Dazugehören

ELISABETH

Erkenne deine Grenzen

Zeig anderen, wo deine Grenzen sind

Finde deine Ladestation

Übernimm Verantwortung für dich selbst

Mach Empfindsamkeit zu einer Stärke

MÄRTHA

Der Sinn des Ganzen

Nachwort

Tipps für den Alltag und Übungen

Tipps für den Alltag

Übungen

Anhang

Vorwort

»Ach herrje, was bist du überempfindlich!« »Verträgst du denn gar nichts?« »Jetzt überreagierst du aber!«

Das alles haben wir schon zigmal gehört. Die negativen Kommentare, wie mimosenhaft wir seien, wie wir auf alles überreagierten, von Gerüchen und Stimmen über Geräusche und Lärm bis hin zu Stress.

Andere hielten sehr viel mehr aus. Andere vertrugen etwas. Andere kamen klar. Andere sahen über etwas hinweg. Sie nahmen nicht alles in sich auf. Spürten nicht ständig so viel. Wurden nicht so überwältigt.

Wir beide kommen aus zwei sehr verschiedenen Milieus. Märtha wurde als Prinzessin geboren, mit Eltern, die über hundert Tage im Jahr auf Reisen waren, und eine Nation als Arbeitgeber hatten. Elisabeth ist in einer gewöhnlichen Kernfamilie in einer Wohnung im Osloer Viertel Røa aufgewachsen, ihre Mutter war nicht berufstätig, ihre Zukunft offen. Als wir uns kennenlernten, glaubten wir, nichts miteinander gemein zu haben. Bis auf eine wichtige Sache: Beide hatten wir immer schon das Gefühl, ein klein wenig anders zu sein.

Viele Jahre machte es uns fix und fertig, dass wir zu empfindlich auf die Welt um uns herum und die Gefühle anderer reagierten. Als 2013 das Buch Sind Sie hochsensibel? der Psychologin Elaine N. Aron auf Norwegisch erschien, unterhielten wir uns darüber, wie gut wir uns in Arons Forschungen und ihren Gesprächen mit hochsensiblen Menschen wiedererkannten. Wir machten jede für sich, Märtha in London, wo sie gerade lebte, und Elisabeth auf Nesodden, Arons Test für Highly Sensitive Persons (HSP). Dabei fügten sich für uns beide sehr viele Teile zusammen und ergaben ein stimmiges Gesamtbild. Arons Forschungsergebnisse bewiesen uns, dass wir ganz normale, gewöhnliche Menschen waren, nur eben ganz besonders empfindsam.

Wir hören, was du sagst. Aber wir hören und sehen auch alles andere.

Dieses Buch, Hochsensibel geboren, ist unser ganz persönlicher Bericht, wie es ist und war, als außerordentlich sensibler Mensch zu leben. Wir hoffen, dass unsere Erfahrungen und Geschichten besonders Sensiblen – und denen, die mit solchen Menschen zusammenleben – zu neuen Einsichten verhelfen und sie sich darin wiedererkennen können. Bei der Arbeit an diesem Buch haben wir überdies mit Frauen und Männern gesprochen, die uns ein neues Verständnis vermittelt und uns dazu inspiriert haben, all die Stärken dieses Persönlichkeitsmerkmals zu sehen.

Wenn du weißt, dass du hochsensibel bist, kannst du mit diesem Charakterzug meist leichter leben und ihn positiv nutzen. Dann weißt du, warum die Dinge so heftig auf dich einstürmen und warum du schneller überwältigt und überstimuliert bist als andere. Es gibt auch Werkzeuge, die dir dabei helfen, mit dem Alltag besser zurechtzukommen. Das Wissen um diesen Charakterzug ermöglicht dir, dein Leben reicher zu machen und deine Grenzen zu erkennen. Zu sehen, welche fantastischen Eigenschaften du in Wirklichkeit hast.

Pionierin auf diesem Gebiet ist die amerikanische Spezialistin für klinische Psychologie, Elaine N. Aron, die über den Charakterzug Hochsensibilität bislang auch am meisten geforscht hat. Sie bezeichnet sich selbst als hochsensibel, stellt seit den 1990er-Jahren Untersuchungen über außerordentlich sensible Personen an und führt Interviews mit ihnen. Sie und weitere Forscherinnen und Forscher auf der ganzen Welt haben unter anderem herausgefunden, dass das Persönlichkeitsmerkmal Hochsensibilität zwischen Mädchen und Jungen gleich verteilt ist.

Früher wurden verletzliche und sensible Menschen oft als schüchtern bezeichnet. Das eine hat mit dem anderen aber nicht unbedingt etwas zu tun.

Arons Untersuchungen in Nordamerika zufolge sind drei von zehn Hochsensiblen extrovertiert. Sieben von zehn sind introvertiert. Eigenschaften wie Schüchternheit, Ängstlichkeit oder Weltoffenheit entwickle man, so Aron, mit ihnen werde man nicht geboren. Hochsensibilität dagegen sei angeboren und gehe nicht zwangsläufig miteinander einhern.

Obwohl es ein typisches Merkmal hochsensibler Personen ist, dass sie schnell überstimuliert sind, lieben viele Hochsensible auch den Nervenkitzel. Marvin Zuckerman und sein Forschungsteam führten in den 1970er-Jahren den Begriff High Sensation Seeker (HSS) ein. Damit bezeichneten sie die Persönlichkeit von Menschen, die viele Stimuli suchen, die Adrenalinkicks, Geschwindigkeit und neue Herausforderungen lieben. Sowohl Märtha als auch Elisabeth besitzen dieses Persönlichkeitsmerkmal.

Märtha ist hochsensibel und kontaktfreudig. Sie hat Bungee-Jumping gemacht und ist Fallschirm gesprungen. Sie fährt gern rasant Ski, und in großen Gesellschaften mit guten Freunden ist sie ganz in ihrem Element. Dem Risiko, mit einem Pferd über 1,60 Meter hohe Hindernisse zu springen, hat sie sich liebend gern ausgesetzt. Elisabeth betrachtet sich ebenfalls als High Sensation Seeker, aber auf etwas andere Weise. Sie ist zurückhaltender und braucht viel Zeit für sich allein, aber sie ist auch abenteuerlustig und möchte ständig Neues erleben. Sie wird schnell rastlos. Sie ist neugierig und sehr daran interessiert, neue Orte, Menschen und Erlebnisse zu erkunden. Obwohl sie sensibel und zurückhaltend ist, hat sie keine Angst vor Unbekanntem.

Inzwischen haben wir Techniken gelernt, die unsere Energien schonen, sodass wir nicht mehr so erschöpft und zerbrechlich sind. Diese Techniken haben uns enorm geholfen, und wir betrachten es als unsere Lebensaufgabe, sie weiterzugeben.

Hochsensibel geboren zu sein ist nicht anormal, keine seltsame Diagnose, die nach Zurechtrücken oder Schutz verlangt. Sie ist schlicht und einfach eine gewöhnliche, angeborene Feinfühligkeit der Sinne, die dich rund um dich herum mehr Nuancen bewusst werden lässt. Und dieses Feingefühl kann zu deiner allergrößten Stärke werden.

Was ist Hochsensibilität?

Stell dir vor, du wärst eine App auf einem Smartphone: Du wirst in einem fort aktualisiert. Buchstäblich jede Sekunde lädst du weitere Informationen herunter. Auch nachts. Und neben dir werden permanent andere Apps mit anderen Funktionen aktualisiert. Auch davon wirken welche auf dich ein.

Oder vielleicht arbeitest du in einer offenen Bürolandschaft. Es wird erwartet, dass du effektiv bist. Du sollst es schaffen, dich auf deine Arbeit zu konzentrieren, auch wenn zwei Kollegen an der Kaffeemaschine stehen und sich laut über das letzte Fußballspiel von Liverpool unterhalten. Der Kollege neben dir tippt selbstsicher und schnell auf der PC-Tastatur. Er hat Kopfhörer auf, die nicht schalldicht sind, und hört in voller Lautstärke Musik, die dir nicht gefällt. Rechts hinter dir in der Ecke braut sich ein Personalkonflikt zusammen. Irgendwelche Leute flüstern hitzig miteinander.

Am Arbeitsplatz ist es erwünscht, dass du sprühend und sozial bist. Viele Eltern hören bei Entwicklungsgesprächen in der Schule vom Lehrer: »Es wäre schön, wenn der Junge/das Mädchen etwas aufgeschlossener wäre.« Es ist ein Ideal unserer Zeit. Uns kommt es so vor, als wären die beliebtesten Menschen der Welt extrem flink und effektiv. Es ist nachgerade so, als sprühten sie pausenlos vor Kreativität und könnten problemlos mehrere Dinge gleichzeitig erledigen. Aus den sozialen Medien gewinnen wir den Eindruck, dass solche Supermenschen direkt von der Arbeit zu Geselligkeiten ziehen können, wo sie im Mittelpunkt stehen und dass sie Meister darin sind, sich zwanglos unter die Leute zu mischen.

Selbstverständlich ist die Realität nuancierter. Doch ist es zweifellos zu einer Anforderung des modernen Arbeitslebens geworden, Veränderungen rasch und anpassungsfähig zu bewältigen. In einer immer kleiner werdenden, aber sich ständig schneller drehenden Welt ist Veränderungsmanagement eine eigene Disziplin. Umstellung ist das Normale. Und vieles soll bei voller Lautstärke stattfinden.

Uns Hochsensible kann ein solcher Alltag völlig überwältigen und auslaugen. Unerwartete und große Veränderungen beeinflussen uns stark und können unter anderem zu Konzentrationsschwierigkeiten führen. Wir nehmen die Arbeit und die Begegnungen mit nach Hause. Im Bett gehen uns alle Gespräche und Eindrücke unablässig im Kopf herum, wir sind hellwach und schwer beschäftigt, aber auch fix und fertig.

Elaine N. Arons Forschungen zufolge teilen wir dieses Persönlichkeitsmerkmal mit 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Das heißt, jedes fünfte Kind wird mit einem sensibleren Nervensystem geboren. Diese Kinder sind um einiges empfänglicher für Sinneseindrücke. Da sie alles tiefer und umfassender verarbeiten als andere, brauchen sie mehr Zeit und Ruhe dafür. Sie sind schneller überstimuliert und besitzen großes Einfühlungsvermögen.

Hochsensibilität gibt es in allen Kulturen und Völkern. Es handelt sich also keineswegs um eine Diagnose für empfindsame Damen über vierzig. Und es ist auch ganz und gar keine Schwäche, von der »einer von fünf befallen« wird, wie die Zeitung VG einmal schrieb. Während in asiatischen Ländern Sensibilität als gute Eigenschaft gilt, wird sie in der westlichen Kultur als Schwäche betrachtet.

Der norwegische Schauspieler Henrik Mestad beschrieb seine Hochsensibilität einmal damit, dass er das Gefühl habe, in seinem Kopf liefen sieben Filme gleichzeitig. Für ihn sei es wichtig, sich jeweils auf einen Film zu konzentrieren und Pausen einzulegen, um »seinen privaten Klang«, wie er es nannte, hören zu können. In einer solchen Beschreibung erkennen wir uns gut wieder. Unser privater Klang geht in all dem Lärm um uns herum nämlich schnell unter.

Hochsensible bringen es womöglich nicht einmal fertig, beim Kundendienst eines Unternehmens anzurufen, weil wir zuerst in der Warteschleife mit Musik berieselt werden und dann mit gestressten Kundenberatern sprechen müssen. Oft sind im Hintergrund auch noch Lärm und andere Stimmen zu hören. Drei Stunden im Einkaufszentrum halten viele von uns einfach nicht aus. Unbewusst und bewusst versuchen wir, Orte mit viel Lärm und vielen Impulsen zu meiden. Für uns ist es eine Herausforderung, dass wir, genau wie die oben beschriebene App, ununterbrochen alles erfassen, aktualisieren und verarbeiten. Und nicht immer schafft es unser feinfühliges Nervensystem, jede Information und alle Eindrücke schnell genug zu sortieren und zu verdauen.

Es kommt zu einer ständigen Überlastung, von der wir oft nicht wissen, wie wir sie abstellen sollen. Und wie bei einem Smartphone, dessen Logdatei nicht täglich gelöscht wird, ist der Akku schnell leer.

Läuft man lange bei geringer Akkukapazität, erschöpft das nicht nur, es deprimiert auch noch. Viele bekommen Schlafprobleme. Im Nu ist man ausgebrannt, überanstrengt – und sitzt am Ende wieder heulend und ohne jede Energie da. Vielen Hochsensiblen ist nicht klar, warum sie so erschöpft sind. Sie begreifen die Ursache nicht, die darin liegt, dass sie ihre Empfindsamkeit ignoriert haben. Insbesondere wenn sie zu den extrovertierten Hochsensiblen gehören, so sind sie es gewohnt, sich weiter anzutreiben, statt innezuhalten, Pause zu machen und auf sich selbst zu hören.

Wenn beispielsweise eine App auf deinem Handy abstürzt oder langsamer wird, kannst du den Fehler suchen. Du kannst auf dem Telefon Platz freiräumen. Oder herausfinden, ob die Probleme von einer neuen App herrühren, die du heruntergeladen hast.

Den Fehler zu suchen bedeutet, auf sich selbst zu hören. Platz freizuräumen, Zeit für sich selbst zu schaffen, Zeit, um alles zu verarbeiten, was man erlebt. Ist es etwas Neues, was du heruntergeladen hast, das dich beunruhigt? Es ist wichtig herauszufinden, ob das, was du für ein Auftanken gehalten hast, in Wirklichkeit etwas ist, was dich aufreibt.

In einem Kinosaal sind wir Hochsensiblen leicht zu erkennen. Oft bleiben wir nämlich, von Gefühlen überwältigt, nach dem Film noch sitzen. Wir müssen uns sammeln, bevor wir der Welt außerhalb des Kinos wieder begegnen können. Nach Konzerten kann das ebenfalls so sein. Wir sind kaum in der Lage zu sprechen, so stark hat uns die Musik ergriffen.

Viele Künstlerinnen und Künstler, viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Schauspielerinnen und Schauspieler, Musikerinnen und Musiker besitzen diese hochsensiblen Sinne. Wenn Kunst, Musik oder Literatur sie ergreift, können sie das körperlich, als physische Reaktion wahrnehmen. Sie werden diese Musik, während andere das Gleiche hören oder sehen – und überhaupt nichts empfinden.

Einige Psychologen haben hochsensible Menschen als Personen mit extrem hoher Musikalität beschrieben. Sie lauschten auf alle Saiten, seien für alle Töne empfänglich. Das Kind, das allein am Rand des Schulhofs sitzt, und das Kind, das sich dem ungestümen Spiel immer wieder entzieht, beide können genau dieses angeborene Persönlichkeitsmerkmal haben. Sie besitzen eine mächtige Innenwelt und denken viel nach. Oft sind sie überaus intuitiv. Sie sehen zuerst die Antwort und finden danach die Argumente.

Das Wichtigste für so ein Kind ist, dass nicht nur die Klassenkameradinnen und -kameraden, die Lehrkräfte und die anderen Eltern es verstehen, sondern dass es sich auch selbst versteht. Und sich selbst genau so mag, wie es ist.

Kinder, die weinen, wenn sie mit der ganzen Klasse einen Ausflug in die »Laserzone« gemacht haben, können überstimuliert sein. Wenn sie auf Filme und Computerspiele voller Gewalt heftig reagieren, sind sie nicht unbedingt »Schisser«. Sie sind womöglich nur besonders sensibel. Häufig sind die am meisten bewunderten Kinder diejenigen, die sozial sind und an vielen Aktivitäten teilnehmen. Hochsensible Kinder verweigern sich dagegen oft Unternehmungen mit mehreren anderen Kindern, etwa Übernachtungspartys. Dies kann bitter sein, denn sie haben ja eigentlich Lust dazu – es wird ihnen nur einfach zu viel.

Uns selbst Grenzen zu setzen, um eine Überstimulierung zu vermeiden, und diesen Grenzen auch Geltung zu verschaffen, war ein sehr schwieriger Prozess. Wir hatten beide das Bedürfnis, in unserem Leben ordentlich aufzuräumen. Und wir mussten unbedingt Werkzeuge finden, Struktur und Sinn, damit die Tatsache, ohne Filter geboren zu sein, möglichst zu einem Vorteil statt zu einem Hemmschuh werden konnte.

Wie bereits erwähnt, ist Hochsensibilität angeboren. Elaine N. Aron und andere Forscherinnen und Forscher meinen, dass manche Menschen eine genetische Disposition für diese Empfindsamkeit haben, auch wenn wissenschaftlich kein spezielles Sensibilitätsgen nachgewiesen werden könne. Aron zufolge haben diese Kinder eine eingebaute Tendenz, heftiger als andere auf externe Stimuli zu reagieren. Bei einem Gehirnscan lässt sich sehen, dass Hochsensible stärker als andere auf negative, auf positive und auch auf neutrale Bilder reagieren. Sehen sie das Bild eines leidenden Menschen, wird ihr Gehirn noch heftiger reagieren als bei Nichthochsensiblen. Sehen sie ein schönes Bild eines Menschen, dem es gut geht, fällt ihre Reaktion ebenfalls stärker aus.

Die Ursache liege darin, dass diese Personen in der Amygdala, das ist der Bereich des Gehirns, der unsere Gefühle steuert, eine höhere Aktivität aufweisen, schreibt The Journal of Neuroscience. Die Zeitschrift beruft sich dabei auf die Studien von Rebecca Todd, Psychologieprofessorin an der University of British Columbia, und Adam Anderson, Professor an der Cornell University. Todd, die hinter den neuesten Forschungen auf diesem Gebiet steht, vermutet, dass die erhöhte Gehirnaktivität bedeutsam ist für die Art, wie Hochsensible die Welt sehen. Alles, was ihre Gefühle beeinflusse, bemerken sie schneller, ob Positives oder Negatives. Sie könnten also glauben, die Welt halte mehr Belohnungen und mehr Gefahren bereit, sagt Todd. Mit anderen Worten: Hochsensible freuen sich mehr – und fürchten sich mehr.

Gehirnforscher der University of British Columbia und der Cornell University haben also Unterschiede zwischen dem Gehirn von Hochsensiblen und dem von Nichthochsensiblen nachgewiesen. Weil das Nervensystem Hochsensibler feinfühliger ist, muss ihr Gehirn mehr Prozesse verarbeiten. Deshalb lautet der wissenschaftliche Terminus für dieses Persönlichkeitsmerkmal sensory-processing sensitivity.

Hochsensibilität lässt sich biologisch als Überempfindlichkeit gegenüber Lärm und Sinneseindrücken erklären. Sie hat also nichts mit Angst, Depression, Versagensangst oder der Fähigkeit, mit Gefühlen umzugehen, zu tun. Elaine N. Arons Forschungen zeigen beispielsweise, dass hochsensible Kinder, die eine normale Kindheit durchleben, für Angst, Depressionen oder Schüchternheit nicht anfälliger sind als nicht hochsensible Kinder. Weiß man sie richtig zu nehmen, werden sie sich als Menschen entfalten.

Dr. Tom Boyce ist Professor für Pädiatrie und Psychiatrie an der University of California in San Francisco und hat viel darüber geforscht, wie außerordentlich sensible Kinder – auch Orchideenkinder genannt – auf äußere Stimuli reagieren. Während sogenannte Löwenzahnkinder eine angeborene Fähigkeit besäßen, zu überleben und sich zu entfalten, ohne Rücksicht darauf, welchem Milieu und welchem Schicksal sie ausgesetzt seien, besäßen Orchideenkinder eine angeborene Sensibilität, die bewirke, dass sie stärker noch als andere auf mangelnde Fürsorge reagierten. Gleichzeitig würden sie bei guter Fürsorge viel besser als andere wachsen und gedeihen, meint der amerikanische Forscher.

Aus diesen Erfahrungen heraus halten wir es für unglaublich wichtig, das Augenmerk auf diesen Charakterzug zu legen. Wenn Eltern und Lehrer die Hochsensibilität eines Kindes beachten, können sie in seinem Leben schon von klein auf einen enormen Unterschied bewirken. Nicht weil das Kind anders behandelt oder in eine bestimmte Schublade gesteckt werden soll, sondern weil hochsensible Kinder wie alle, die sich ein wenig anders verhalten als erwartet, Unterstützung und Verständnis brauchen.

Seit Elaine N. Aron 1996 erstmals den Begriff Hochsensibilität benutzt hat, wurde weltweit viel darüber geschrieben. Zwanzig Jahre später, 2016, ist dieser Begriff ein wenig umstritten, obwohl es nicht kontrovers ist zu sagen, dass jemand sensibler ist als andere. Bereits 1913 hat Carl Gustav Jung von angeborener Empfindsamkeit gesprochen. Auch die Theorie von den fünf Persönlichkeitstypen (The Big Five) beschreibt diese angeborene Empfindsamkeit, jedoch mit anderen Worten.

Der Däne Poul Videbech, Professor für Psychiatrie hält es gegenüber videnskab.dk, einer dänischen Website für Forschungsnachrichten, für einleuchtend, dass jemand empfindsamer sei als andere, sonst würden wir Menschen in Stresssituationen nicht so unterschiedlich reagieren. Allerdings gefalle ihm der Begriff Hochsensibilität nicht.

In Dänemark haben vier Psychologinnen das Buch Særlig sensitiv – eller særligt utfordret (Besonders sensibel – oder besonders herausgefordert) geschrieben. Diese vier – Barbara Hoff Esbjørn, Sofie Wille Østergaard, Marie Tolstrup und Nicoline Normann – stehen Elaine N. Arons Theorie und Testmethode kritisch gegenüber. Sie halten Arons Forschungen für mangelhaft und behaupten, es gebe keinen wissenschaftlichen Beleg dafür, Personen als besonders sensibel zu klassifizieren. Sie befürchten, dass Kinder überbehütet würden, wenn sie das Etikett hochsensibel verpasst bekämen – oder dass ein solches Etikett dazu führe, andere Probleme zu übersehen.

»Wir sind nicht darauf aus, nicht gelten zu lassen, dass es Personen gibt, die sensibler sind als andere. Das ist ein Teil der allgemeinen Persönlichkeitsmerkmale. Es gibt nur keinen validen Nachweis dafür, dass 20 Prozent der Bevölkerung besonders sensibel sind«, sagt Barbara Hoff Esbjørn auf videnskab.dk.

Wir verwenden in dem vorliegenden Buch das Wort hochsensibel, beziehen zu der Debatte über Forschung, Methodik und Begriffe aber keine Stellung. Unser Ziel besteht darin, das zu teilen, was wir selbst erfahren und gelesen haben, was wir für relevant erachten und was ein Licht auf unsere persönliche Geschichte wirft. Auch sind wir bei unserer Arbeit mit Soulspring ungeheuer vielen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen und Erlebnissen wie den unseren begegnet.

Viele Hinweise auf Artikel, Bücher, Filme, Organisationen und andere Quellen finden sich am Ende des Buches.

Kindheit

Es ist ein Mädchen

22. SEPTEMBER 1971

Das Kronprinzenpaar nahm einen privaten Saab, um von Skaugum zum Rikshospital zu fahren. Die beiden wollten keine Aufmerksamkeit erregen. Kronprinz Harald saß selbst am Steuer und fuhr bewusst einen Umweg. Ihr erstes Kind sollte zur Welt kommen. Sie wünschten größtmögliche Ruhe, bestmögliche Kontrolle.

Kronprinzessin Sonja hatte im Sommer davor durch eine Fehlgeburt ein Kind verloren. Sie war schon in der Mitte der Schwangerschaft gewesen, als sie Blutungen und Krämpfe bekam. Es war in der Nacht passiert, auf der königlichen Jacht im Fahrwasser vor Østfold. Sie hatten auf Hankø König Olavs Geburtstag gefeiert. Die Kronprinzessin musste auf einer Trage längsseits des Schiffs abgefiert werden und wurde in einem kleineren Boot zum Festland und dann nach Fredrikstad ins Krankenhaus gebracht. Dort verlor sie das Kind, das Anfang 1971 hätte zur Welt kommen sollen.

Kronprinz Harald konnte nicht bei ihr bleiben. Er musste zurück nach Oslo, um am nächsten Tag den Ministerrat zu leiten. Doch als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, setzte er sich selbst hinters Steuer und holte sie ab. Er brachte Kronprinzessin Sonjas Hündin Cherie mit, einen langhaarigen Keeshond. Cherie sprang auf den blütenweißen Mantelschoß der Kronprinzessin und leckte ihr eifrig das Gesicht. Die durch das Autofenster aufgenommenen Fernsehbilder zeigen, dass das Tier sie zum Lächeln brachte.

»Was ist, wenn wir keinen Thronerben bekommen?«, schrieben die Zeitungen.

Im Jahr darauf gab das Schloss bekannt, dass die Kronprinzessin wieder schwanger sei. Alle sagten, es müsse ein Junge werden. Nach der Niederkunft sollte so schnell wie möglich der Stortingspräsident davon unterrichtet werden, dass dem Thron ein Erbe geboren worden sei. Danach würden der Ministerpräsident, der Präsident des Obersten Gerichtshofs, der Bischof von Oslo, die Streitkräfte und die europäischen Königshäuser benachrichtigt. Nach der Veröffentlichung der offiziellen Bekanntmachung des Hofes würde auf den salutpflichtigen Festungen, Forts und Kriegsschiffen der Streitkräfte Salut geschossen.

Als die Geburt näher rückte, bat das Schloss die Presse vorab zu respektieren, dass dies auch ein privater Moment sei. In sensiblen Situationen kann es hart sein, im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen. Trotzdem waren im und vor dem Krankenhaus viele Journalisten und Fotografen. Ein französischer Journalist in weißem Arztkittel war schon ein gutes Stück zur Frauenabteilung vorgedrungen, als er aufgehalten wurde, es stellte sich heraus, dass er kein Wort Norwegisch sprach.

Zwei Oberärzte und eine Hebamme nahmen Prinzessin Märtha Louise schließlich in Empfang. Denn es wurde ein Mädchen. Kronprinz Harald war bei der Geburt dabei, er war es auch, der auf der Treppe draußen vor die Presse trat. Der frischgebackene Vater war ordentlich gekämmt, trug einen dunklen Anzug und zeigte den Presseleuten mit schnellen und etwas ungelenken Handbewegungen, wie groß das Baby war. 3590 Gramm schwer und 50 Zentimeter lang. Später sagte er noch, er stehe unter einem Glücksschock.

In Fernsehen und Rundfunk wurden die Sendungen unterbrochen, um die freudige Nachricht zu verkünden.

Im Alter von drei Tagen hatte Prinzessin Märtha Louise im Rikshospital ihren ersten offiziellen Fototermin. Als Kronprinzessin Sonja einige Tage später das Krankenhaus verließ, schirmte sie das Gesicht ihrer Tochter gegen die Blitzlichter ab.

Märtha

Meine Geschichte

Ich hatte immer schon gute Freunde und war stets von einer herzlichen, liebevollen Familie umgeben. Trotzdem fühlte ich mich in meiner Kindheit und Jugend einsam. Ich war anders. Ich war als Prinzessin geboren. Und ich war als besonders empfindsam geboren.

Ich war drei Jahre alt, als ich mit Großvater und dem Rest der Königsfamilie zum ersten Mal auf dem Schlossbalkon stand. Es gibt eine Reihe von Bildern und Filmaufnahmen von diesem 17. Mai, dem Nationalfeiertag, wo ich wie ein richtiger Griesgram mit einem schlaffen Fähnchen über dem Geländer hänge. In den ersten Jahren wäre ich viel lieber beim Umzug mitgegangen, statt nur ruhig dort oben zu stehen!

Manchmal erschien ich mit dicker Lippe auf dem Schlossbalkon, weil ich mit den Jungs gerauft hatte oder von einem Klettergerüst gefallen war. Ich war ein Kind, das aus dem Kindergarten abhaute, um der besten Freundin Vaters Kühe zu zeigen. Die meisten werden sagen, ich sei ein Wildfang gewesen. Ich war aber auch ein empfindsames Kind, das übermäßig viel in sich aufnahm – und das in diesen drei Stunden, die wir bei jedem Wetter auf dem Balkon standen, alle Antennen ausgefahren hatte.

Es war ein überwältigendes Gefühl, auf den Balkon hinauszutreten und das Menschenmeer unten zu sehen. Die vielen norwegischen Flaggen entlang der Paradestraße Karl-Johans-Gate, die vielen Kinder in ihren Musikkorpsuniformen und frisch gebügelten feinen Kleidern. Ganz am Ende in Richtung Storting und Freia-Uhr wirkte es wie ein dunkler Ameisenhaufen, in dem sich Tausende von Ameisen bewegten. Je näher sie dem Nationaltheater und Slottsplassen kam, desto deutlicher traten die Menschen in allen Formen und Farben hervor.

Ich hörte die Musik und die Hurrarufe. Und ich spürte auch die hohen Erwartungen und die tiefe Gemeinschaft. Ich war ergriffen, froh und demütig, wie ich dort stand. All dies lässt sich schwer beschreiben.

Ich erinnere mich, wie ich mich später auf den Umzug der Kinder zu konzentrieren begann. Wie ich mit denen, die unten auf dem Schlossplatz im Takt marschierten, Kontakt aufzunehmen versuchte. Ich wollte bei jedem Einzelnen sein. Wollte alle zufriedenstellen.

So dachten wir, die ganze Familie, glaube ich. Wir wollten, dass so viele der Kinder wie möglich das Gefühl hatten, wir winkten genau ihnen zu.

Es war schön, auf dem Schlossbalkon zu stehen. Obwohl der Ausblick auf die Masse mich überwältigte, befand sich die Menschenmenge in gebührendem Abstand. Dort oben besaß ich die Kontrolle. Anderswo war es schlimmer. Ich kann mich erinnern, dass ich als Zehnjährige eine Heidenangst hatte vor Mittelgängen und vor Menschen, die mir zu nahe kamen.

Mittelgänge in Kirchen waren am schlimmsten. Im Kulturhaus, in Sportstadien und anderen Versammlungsstätten hatte dieser Gang in der Regel einen Knick oder eine Kurve. Der Mittelgang in den Kirchen aber, ob in der großen Kirche in Asker oder in der kleinen Kapelle am Holmenkollen, hatte keinen einzigen Knick. Der war von hinten bis ganz vorn eine einzige gerade Linie. Und er war schmal.

Ich sehe es noch immer vor mir. Ohrenbetäubende Stille. Niemand rührt sich. Und dann kommt es: Rump … rumpumpumpumpump … rump. Dieses ganz eigene Geräusch, wenn alle Leute sich erheben. Große, schwere Türen gehen auf, sie eröffnen den Blick aus dem Licht draußen auf die lange gerade Linie in dem dunklen Raum. Die Stimmung ist ernst, leicht erhaben. Dann ziehen wir in einer Prozession ein. Langsam. Still. Feierlich.

Als Prinzessin hatte ich den niedrigsten Rang inne. Deshalb kam ich immer zuletzt. Hinter Großvater, Vater, Mutter und Haakon. Sicherlich war es gar nicht so, aber ich hatte das Gefühl, als richtete sich die Aufmerksamkeit von beiden Seiten des Mittelgangs nur auf mich, ganz massiv.

Schritt für Schritt ging ich mit gesenktem Haupt dahin. Mein Blick war auf den Kirchenfußboden geheftet, niemals wagte ich jemandes Blick zu begegnen. Ich war mir sicher, nicht nur beobachtet, sondern auch verurteilt zu werden. Und ich wusste nicht, ob ich das überleben würde.

Ich habe keine Ahnung, woher solche Gedanken kamen. Sie waren dramatisch und handelten oft von Schuld. Als Kind hatte ich ständig Angst, dass irgendetwas meine Schuld sei. Dass ich verkehrt sei.

Deshalb sah ich zu Boden.

Erst ein halbes Leben später bekam ich die erlösende Wahrheit zu hören. Hätte ich gewagt, den Blick zu heben, hätte ich nur ein einziges Mal versucht, zur Seite oder nach vorn zu schauen, so hätte ich etwas Schönes entdeckt. Ich hätte lächelnde Augen gesehen. Wohlwollende Gesichter.

Niemand wollte mir etwas Böses. Sie meinten es gut mit mir. Ich war lediglich ein Kind mit sehr intensiven Gefühlen. Ich hatte eine reiche Fantasie und riesige, auf die Welt gerichtete Antennen. Blickkontakt – und den Blicken anderer ausgesetzt zu sein, ohne dass ich die Kontrolle besaß – war für mich besonders schwierig.

Ich fühlte mich wie Freiwild in einer offenen, ungeschützten Landschaft.

Es riecht nach Senf

Als Kind war ich extrem geruchsempfindlich. Später habe ich erfahren, dass dies ein typisches Merkmal besonders sensibler Menschen ist. Wir bemerken den subtilsten Geruch. Wir finden den vergessenen schimmligen Brotkanten in einer Schublade oder reagieren heftig auf intensive, aber angenehme Aromen. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass wir einen besseren Geruchssinn besitzen als andere. Und es bedeutet auch nicht, dass ich üble Gerüche nicht ertrage. Den strengen Geruch nach Pferd und Schweiß, der in meiner dicken Reitjacke saß, habe ich geliebt. Die Jacke stank. Aber das war ein Geruch der guten Erinnerungen.

Als ich drei Jahre alt war, brachte Mutter aus London Geschenke mit, sie hatte bei Harrods eingekauft. Ich freute mich riesig aufs Auspacken. Bis mir der Geruch in die Nase stieg, der durch das Einwickelpapier drang. Mutter hatte Unmengen Play-Doh gekauft. Es war wirklich das beste Geschenk der Welt, wir hatten in Norwegen so etwas noch nie gesehen. Doch ich stand da und übergab mich.

Je mehr wir mit der Knete spielten, desto mehr roch es, und desto mehr würgte es mich im Hals. Kennst du diesen künstlichen, intensiven vanille- und mandelartigen Gummigeruch? Erinnerst du dich daran? Ich muss nach wie vor in einen anderen Raum gehen, wenn meine Kinder mit so einem Plastilin spielen. Von dem Geruch wird mir ganz schwindlig.

Der Citroën, den unsere Familie in den 1970er-Jahren auf Skaugum hatte, war noch so ein starkes Erlebnis. Es handelte sich um einen Citroën CX Prestige mit höherem Dach, modernen Nackenstützen hinten und sogenanntem einzigartigem Komfort, und es war bestimmt ein toller Wagen. Doch ich konnte seinen Geruch nicht ertragen. Das ganze Auto roch nach Senf! Es war so schlimm, dass wir es nur Senfauto nannten.

Noch schlimmer war es mit Parfüm. Zu Hause benutzte Mutter fast nie Make-up. Sie war eine sportliche Mutter, die nach frischer Luft und Natur roch, die mit uns in den Garten ging und auf Bäume kletterte. Wenn sie sich aber fein gemacht hatte, wenn sie das große Ballkleid angezogen und das fantastische Diadem aufgesetzt hatte und sich von mir verabschieden wollte, dann passierte es. Ein fremder orientalischer Geruch kündigte sie lange vorher an, umgab sie gewaltig wie eine Betonwand.

Der Geruch hieß Chanel N° 5.

Und dieser Geruch bewirkte, dass Mutter mir abhandenkam.

Wir sprachen nie darüber. Ich glaube, früher sprachen sehr wenige Familien über derlei Dinge. Ich war ein absoluter Gefühlsmensch, das wussten alle. Folglich war die Sache mit den Gerüchen eben eine meiner vielen Eigenheiten.

Selbst die schönen Märtha-Lilien habe ich in meiner unmittelbaren Nähe noch nie ausgehalten. Lilium longiflorum sind unbeschreiblich prachtvolle weiße Lilien, die bei uns Kronprinzessin Märthas Namen tragen. Sie wurden nach meiner Großmutter benannt, weil bei ihrer Hochzeit mit Kronprinz Olav ihr Brautstrauß daraus bestand. Mit diesen Lilien sind viele Symbole und Legenden verbunden. Sie riechen sehr intensiv. So intensiv, dass ich diese Blumen immer woanders hinstellen muss, wenn sie direkt in meiner Nähe platziert sind. Mir wird ganz schlecht davon.

Das heißt nicht, dass sie mir nicht gefallen, im Gegenteil. Die Märtha-Lilien begleiten mich schon mein Leben lang und haben eine ganz besondere Bedeutung für mich.

Die Prinzessin auf der Erbse

Ich war acht Jahre alt, als ich dachte, jetzt müsse ich doch mal herausfinden, ob es wahr ist. Ich wollte und musste wissen, ob ich eine richtige Prinzessin war.

Oft schon hatte ich das Märchen »Die Prinzessin auf der Erbse« gehört und gelesen. Es faszinierte mich gewaltig. Denk bloß, es gab einen Test, mit dem man herausfinden konnte, ob jemand wie ich echt war!

In diesem bekannten Märchen von H. C. Andersen geht es um einen Prinzen, der heiraten möchte, doch die Erwählte muss unbedingt eine wirkliche Prinzessin sein. Als eines Abends bei einem Unwetter ein Mädchen auftaucht, das behauptet, eine Prinzessin zu sein, beschließt die Königin, sie auf die Probe zu stellen. Sie legt eine Erbse auf den Boden des Bettes und darauf zwanzig Matratzen und zwanzig Eiderdaunendecken. Dort lässt sie das Mädchen schlafen. Falls es die winzig kleine Erbse unter dem enormen Berg von Matratzen und Federbetten spürt, ist es zweifellos eine wirkliche Prinzessin. Denn ganz sicher sind nur Prinzessinnen so empfindlich.

Am nächsten Morgen sagt die Prinzessin, sie habe schrecklich schlecht geschlafen. Sie habe auf etwas Hartem gelegen und sei am ganzen Körper gelb und blau. Da erkennen die Königin und der Prinz, dass sie eine echte Prinzessin ist, und der Prinz heiratet sie.

Das war ein einfacher Test. Es musste die einfachste Methode der Welt sein, irgendetwas zu beweisen. Zwar hatte ich nur eine Matratze und nur ein Federbett, aber ich dachte, das müsse reichen. Also ging ich hinunter in die Küche zur Köchin und bat sie um eine harte Erbse, so eine große gelbe Erbse, die nicht zerquetscht würde, wenn man etwas darauflegte. Am Abend steckte ich die harte, große gelbe Erbse unter die Matratze und legte mich schlafen.

Am nächsten Morgen wachte ich ganz erschrocken auf. Himmel, wie gut ich geschlafen hatte. Das sollte ich doch gar nicht!

Ich bekam Panik. Prüfte jeden Zentimeter Haut am Körper. Da sollte und musste doch ein blauer Fleck zu finden sein. Aber ich fand keinen einzigen!

Weinend lief ich zu meinem Kindermädchen, Berit Tversland, und rief: »Ich bin gar keine richtige Prinzessin! Ich bin nicht echt!«

Sie lachte nicht, sondern nahm mich ernst. Sie nahm mich auf den Schoß und brachte mir etwas über Märchen bei.

Berit hatte Literatur studiert und kam aus der Suttung-Bewegung, jener von der Schriftstellerin Ingeborg Refling Hagen ins Leben gerufenen literarischen Gemeinschaft. Diese beschäftigt sich mit Volksbildung und Kunst in dem Sinne, dass beides die Menschen stark mache. Berit verbrachte deshalb viel Zeit damit, uns vorzulesen und uns beizubringen, Texte auswendig vorzutragen.

Die Märchen und Legenden, die sie mir Abend für Abend vorlas, erklärte sie mir nie. Sie wollte, dass wir die Texte von allein verstehen, mit Leib und Seele – wenn wir so weit wären. Ganz im Sinne von Ingeborg Refling Hagen, die gerne Henrik Wergeland zitierte, der gesagt hatte, die Wahrheit sei eine Art der Erkenntnis des eigenen Wesens.

An jenem Morgen war ich jedenfalls ganz fürchterlich enttäuscht, und ich verstand diesen Prinzessinnentest nicht. Berit erklärte mir, dass man nicht alles wörtlich nehmen dürfe. Märchen könnten gedeutet werden. Symbole und Ereignisse könnten verschiedene Bedeutungen haben und Bilder für Gefühle sein. »Je mehr du liest, desto mehr wirst du dich selbst und andere verstehen.«

»Was glaubst du denn, bedeutete diese Erbse?«, fragte mich Berit.

Über ebendiese Frage habe ich viele, viele Jahre lang gegrübelt. Und ich bin ihr immer noch nicht ganz auf den Grund gekommen. Denn immer wenn ich im Lauf der Jahre das Märchen vorgelesen habe, hat es für mich einen neuen Sinn bekommen.

Lange habe ich gemeint, die Erbse symbolisiere die Presse. Dass ich eines Morgens plötzlich aufwachen könnte, ohne zu verstehen, warum ich so schlecht geschlafen habe. Dann aber entdeckte ich die Titelseiten der Klatschblätter, die ein neues Gerücht über mich verbreiteten. Oft mit negativem Vorzeichen. Da wusste ich, wie die »blauen Flecken« über Nacht zustande gekommen waren.

Inzwischen denke ich oft, dass es in dem Märchen von der Prinzessin auf der Erbse eigentlich um Sensibilität geht. Darum, die Erbse zu spüren, die sonst niemand bemerkt. Manche von uns sind so: empfindlich und besonders feinfühlig, was die Umgebung und die Menschen um uns herum angeht. Und erst wenn wir diese Empfindsamkeit akzeptieren und ernst nehmen, sind wir echt.

Das ungestüme Gewissen

Als Kind brauchte ich nur daran zu denken, mich in der Klasse zu melden, schon lief ich puterrot an. Ich war tüchtig in der Schule. Ich wusste, dass ich in der Regel die richtige Antwort hatte, wenn ich mich meldete. Trotzdem wurde ich rot. Es begann in der Brust und breitete sich über den Hals nach oben aus. Am Ende war das ganze Gesicht wie von einem brennenden Teppich bedeckt – von einem Ohr zum anderen.

Tommate nannten sie mich. Mit zwei M. Ich wurde rot, wenn etwas traurig war und wenn etwas lustig war. Ich wurde rot, wenn viele etwas sagten, und ich wurde rot, wenn niemand etwas sagte. Ich wurde rot, wenn ich glaubte, jemand würde mich missverstehen, wenn andere etwas über mich sagten oder wenn ich dachte, jemand würde etwas von mir denken, was nicht wahr war. Wenn ich Querflöte spielte und bei den hohen Tönen danebengriff, hatte mein rotes Gesicht das schon längst angekündigt.

Ich habe gelesen, dass irgendjemand Erröten als Form der nonverbalen Bitte um Entschuldigung beschrieben hat. Andere bezeichnen es als physische Stressreaktion in einem Kampf-oder-Flucht-Szenario. Charles Darwin schrieb, Erröten sei die eigentümlichste und menschlichste aller Ausdrucksformen.

Ich erkenne mich in all diesen Erklärungen wieder. Vielleicht war mein »Schlechtes-Gewissen-Knopf« nie ausgeschaltet. Der Alarm, der nicht wusste, weswegen ich ein schlechtes Gewissen haben sollte, und darum sicherheitshalber rund um die Uhr aktiviert war. Für den Fall, dass ich etwas falsch machte. Etwas Dummes sagte. Missverstehen würde, was alle anderen verstanden.