Honig im Blut - Kirsty Everett - E-Book

Honig im Blut E-Book

Kirsty Everett

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Beschreibung

Die kleine Kirsty ist neun Jahre alt und gilt als begabte Turnerin. Als sie einen großen Turnwettbewerb gewinnt, wird ein Talentscout auf sie aufmerksam. Ihr Traum von Olympia scheint mit einem Mal zum Greifen nah! Doch am nächsten Tag geht es Kirsty schlecht. Sie kann kaum aufstehen und hat starke Schmerzen. Im Krankenhaus erhält sie dann die Schockdiagnose: Sie hat Leukämie. Die Therapie wird mindestens zwei Jahre in Anspruch nehmen, an Turntraining ist während dieser Zeit nicht zu denken. Kirstys großer Traum findet ein jähes Ende. Nun geht es nicht mehr um Medaillen, sondern das reine Überleben ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung1. Kapitel: Nur für den Tag2. Kapitel: Vorher3. Kapitel: Die Diagnose4. Kapitel: Kinder hören alles5. Kapitel: Das Wesen im Spiegel6. Kapitel: Spritzen müssen sein7. Kapitel: Fragen ohne Antworten8. Kapitel: Ich, die Attraktion im Einkaufszentrum9. Kapitel: Ein kurzer Heimweg10. Kapitel: Das brennt11. Kapitel: Pigeon House Mountain12. Kapitel: Methotrexat-Mörder13. Kapitel: Noch eine letzte Runde14. Kapitel: Die Vorzeigepatientin15. Kapitel: »Mission Remission«16. Kapitel: Jungs und Nacktschnecken17. Kapitel: Stigma Krebs18. Kapitel: Splash-a-thon19. Kapitel: Ein ganz besonderer Abend20. Kapitel: Ein Nebel aus Schmerz21. Kapitel: Ungewöhnlich22. Kapitel: Liebesflut23. Kapitel: Ein neuer Kittel24. Kapitel: Snugglepot und Cuddlepie25. Kapitel: Klebrige Luft26. Kapitel: Schwestern27. Kapitel: Bis heute nicht egal28. Kapitel: Wir werden gewinnen29. Kapitel: Klopf, klopf!30. Kapitel: Wasserfeen31. Kapitel: Familienbande32. Kapitel: Besuch33. Kapitel: Alles ist möglichEpilog: Das Leben nach dem KrebsDanksagung

Über dieses Buch

Die kleine Kirsty ist neun Jahre alt und gilt als begabte Gymnastin. Als sie einen großen Turnwettbewerb gewinnt, wird ein Talentscout auf sie aufmerksam. Ihr Traum von Olympia scheint mit einem Mal zum Greifen nah! Doch am nächsten Tag geht es Kirsty schlecht. Sie kann kaum aufstehen und hat starke Schmerzen. Im Krankenhaus erhält sie dann die Schockdiagnose: Sie hat Leukämie. Die Therapie wird mindestens zwei Jahre in Anspruch nehmen, an Turntraining ist während dieser Zeit nicht zu denken. Kirstys großer Traum findet ein jähes Ende. Nun geht es nicht mehr um Medaillen, sondern das reine Überleben …

Über die Autorin

Kirsty Everett wurde 1981 in der australischen Stadt Caringbah geboren. Schon früh galt sie als vielversprechendes Gymnastiktalent. Ihr Traum von einer Sportlerkarriere wurde jäh durch eine Leukämieerkrankung beendet, den Lebensmut hat Kirsty trotzdem nie verloren. Heute arbeitet sie als Autorin und Aktivistin für Krebsvorsorge und -therapie.

Kirsty Everett

HONIG IM BLUT

Meine Kindheit imSchatten der Leukämie

Aus dem australischen Englisch vonSimone Schroth

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Kirsty Everett

Titel der australischen Originalausgabe: »Honeyblood«

Originalverlag: HarperCollins Publishers Ltd.

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Jakob Arnold, Düsseldorf

Titelillustration: © Plainpicture/Almag

Umschlaggestaltung: Tanja Østlyngen

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1857-8

luebbe.de

lesejury.de

Für Peter James Everett und Benjamin Malesev – die wirklich guten Männer.Und für all die jungen Menschen, die nicht mehr am Leben sind, weil sie der Krebs ihren Familien geraubt hat. Ich kann euch nicht alle in meinem Medaillon unterbringen, aber ihr habt immer einen Platz in meinem Herzen.

1. Kapitel: Nur für den Tag

»Oh, gut, da kommt Kirsty! Gleich werdet ihr staunen. Sie rollt sich immer perfekt zusammen und braucht keine Betäubung.«

Diese Art Termin wurde »Nur für den Tag« genannt, und das bedeutete, dass man lediglich tagsüber bei der Behandlung war, statt über Nacht im Krankenhaus zu bleiben. »Nur für den Tag« bestand aus einem großen Raum ganz am Ende einer Station. Ich weiß nicht, warum nicht alle ein eigenes Zimmer bekamen, denn zu dieser Zeit stand jedes zweite auf der Station leer und wurde nicht genutzt. Vielleicht wollte man uns Krebskids einfach alle an einem Ort haben.

»Nur für den Tag« bestand aus acht Betten, sieben davon Einzelbetten. In sechs von ihnen lag jeweils ein glatzköpfiges Kind, und das bedeutete, dass das siebte Bett für mich bestimmt war. Auf dem achten – direkt neben der Tür – fand die Behandlung statt. Auf diesem Altar wurde unsere Unschuld den Krebsgöttern geopfert. Es war weniger ein Bett als eine kaum gepolsterte Bank, wie ein großes Bügelbrett. Daneben befand sich ein Vorhang, den man als Sichtschutz rundherum zuziehen konnte, sobald jemand auf der Bank lag.

Ich setzte mich auf das letzte freie Bett, holte ein Buch hervor – Unreal von Paul Jennings – und begann zu lesen. Mum knallte ihre Handtasche auf den Boden und holte die aktuelle Ausgabe der Women’s Weekly heraus. Dann ließ sie sich in einem beigefarbenen Sessel neben mir nieder.

»Wo ist denn der Lutscher für Bradley? Wir sollten Kirsty bitten, Bradley mal zu zeigen, wie das Ganze funktioniert.«

Die Krankenschwester, die das sagte, hieß Karen. Karen war immer hier. Das strähnige lange Haar hing ihr als fettiges, verknotetes Durcheinander zu beiden Seiten des Gesichts herunter. Mum meinte oft, es sehe aus, als könne es »eine ordentliche Wäsche samt Trockenföhnen« gebrauchen. Karen hatte einen riesigen Hintern, der so heftig wackelte, dass er sie manchmal durchs Zimmer zu jagen schien. Dann ging sie mit schnellen Schritten auf eines von uns Kindern zu, und ihr Hintern merkte plötzlich, dass er nicht zurückbleiben durfte. Karen wühlte kurz in ihren Taschen und förderte dann einen roten Lolli zutage. Damit ging sie zu dem zweijährigen Bradley, der den Kopf zurückwarf, den Mund weit aufriss und einen schrillen Schrei ausstieß. Wie alle Kinder hier hatte Bradley eine Glatze. Außerdem hatte er dunkelbraune Augen, geisterhaft blasse Haut und einen geschwächten, unterernährten Körper. Wahrscheinlich war es gut, dass man hier kein Fenster öffnen konnte, denn Bradley wäre vom ersten Windstoß davongeweht worden.

Seine Eltern standen machtlos und starr wie Statuen daneben, wie alle Eltern im »Nur für den Tag«.

»Wenn du ein braver Junge bist, bekommst du diesen Lolli«, verkündete Karen.

»Ich glaube, Karen hat es mit den Lollis selbst ein bisschen übertrieben«, murmelte Mum in meine Richtung, und wir kicherten diskret über Karens Hintern.

Jetzt begannen auch die fünf anderen Kinder zu schreien, genau wie Bradley. Der Chor heulender Krebskinder erfüllte das Zimmer. Ich saß still da, das Buch im Schoß, und gab keinen Ton von mir. In meinen Ohren schrillte es, und ich versuchte mich auf die Wörter im Buch zu konzentrieren, doch die Schreckensschreie ließen meine Hände zittern, und die Wörter sprangen wild auf der Seite umher.

»Dann müssen wir das Ganze wohl auf die harte Tour erledigen.« Karen steckte den Lutscher zurück in die Tasche und winkte eine weitere Krankenschwester heran. Als sich die zweite Frau näherte, schrie Bradley noch schriller. Er wusste, was jetzt kam. Wir alle wussten es. Gänsehaut breitete sich explosionsartig auf meinen Armen aus.

Karen versuchte, ihn hochzuheben. Er trat und schlug nach ihr, und schon hielt die zweite Krankenschwester seine Beine fest. »Komm schon, Bradley«, sagte Karen. »Mach es uns doch nicht so schwer.«

Einen Augenblick lang hielt Bradley inne, doch die anderen Kinder weinten aus Solidarität weiter. Als er das Behandlungsbett erreichte, wo eine Assistenzärztin auf ihn wartete, fing er an zu jaulen, als würde er ermordet. Das Schrillen in meinen Ohren wollte einfach nicht verstummen. Ich hörte ein Rauschen, als man den Vorhang um das Behandlungsbett zog. Jetzt konnten wir Bradley nicht mehr sehen, aber wir hörten ihn noch. Die anderen Kinder wurden still. Bradley lag jetzt auf dem Altar, und niemand von uns konnte ihm mehr helfen.

Ich hörte, wie die Ärztin sagte: »Kann ihm mal jemand eine Hand auf den Mund legen? Ich bekomme die Nadel nicht rein, wenn er so schreit.« Jemand tat es, doch ich konnte Bradley hinter der Hand immer noch schreien hören. Quälend langsam vergingen die Minuten. Der Vorhang öffnete sich. Bradley schrie nicht mehr, sondern schluchzte laut, als ihn sein Dad zu seinem Bett trug, während Karen die Infusionen am Ständer hinterherschob.

»Hier hast du deinen Lolli«, zwitscherte sie und hielt Bradley die Süßigkeit direkt vors Gesicht. Er griff danach und warf sie auf den Boden. »Wer ist als Nächstes dran?«

Das war nicht ich. Sie holten sich das jüngste Kind zuerst und arbeiteten sich dem Alter entsprechend hoch. Ich würde viel Zeit haben, zu lesen und den schrillen Schreien zu lauschen, bevor ich auf den Altar musste.

Eines nach dem anderen wurden die Kinder geholt und erhielten ihre Behandlung. Irgendwann kam Karen dann an mein Bett.

»Auf geht’s, Kirsty. Du bist dran.«

Ich schwang die Beine über den Bettrand und ging auf den Foltertisch zu, Mum folgte mir. Karen zog ein sauberes Plastiklaken über das Bett. Ich benutzte den kleinen Schemel, um auf die harte Oberfläche zu kommen, und rollte mich sofort auf der Seite liegend zusammen, weil ich wusste, sie würden zuerst die Knochenmarkbiopsie durchführen, eine sogenannte »KMB«. Rasch zog Karen den Vorhang um das Bett. Mum stand am Fußende, um niemandem im Weg zu sein, doch sie achtete immer darauf, ihren Blick auf dieselbe Stelle zu richten wie ich. Sie wollte nicht sehen, was sie mit mir machen würden. Das hätte niemand sehen wollen. Der Vorhang war knallorange und mit Comicfiguren bedruckt – nicht mit Goofy oder Donald Duck, sondern mit seltsamen Kreaturen, die den beliebten Disney-Figuren nur entfernt ähnelten. Rote Lollis machten eine Biopsie nicht leichter, und blöde Comicfiguren auf einem Vorhang auch nicht.

Die Assistenzärztin stand direkt neben mir. Nahe genug, dass ich sehen konnte, wie ihre Hände zitterten. Sie wirkte sehr jung, wie ein Teenager. Ihr Gesicht war ganz weiß, und ein Schweißfilm glänzte darauf. Das kurze Haar stand ihr in Stacheln vom Kopf ab.

»Kirsty ist anders als die anderen«, erklärte ihr Karen. »Sie wird stillhalten. Sie braucht nicht einmal etwas zur Betäubung. Kirsty macht alles Cold Turkey.«

Die Augen der Ärztin weiteten sich, und sie gab ein ungläubiges Grunzen von sich.

»Sie ist ganz brav«, pflichtete Mum Karen bei. »Sie weiß, dass sie unbedingt stillhalten muss, und sie mag den Lachgasgeruch nicht.« Durch Karens und Mums Hilfe sah es so aus, als hätten wir die Ärztin zu etwa vierzig Prozent von meiner Fähigkeit überzeugt, still liegen zu bleiben, während man die unglaublich schmerzhaften medizinischen Prozeduren an mir durchführte. Und sie würde sich auf keine lange Diskussion einlassen. Lachgas kostete Geld. Wir schrieben das Jahr 1991, und manchmal gab es in »Nur für den Tag« nicht einmal Lachgas, deswegen mussten sie benutzen, was da war, um dem Entsetzlichen das Entsetzen zu nehmen – auch wenn das kaum half. Manchmal gaben sie einem Pethidin, das die Kinder in schlaffe Puppen verwandelte. Wenn es kein Pethidin gab, bekamen wir Promethazin.

Mit ihren kalten, schwieligen Händen schob Karen Stück für Stück meine Trainingshose herunter, sodass mein rechter Hüftknochen für die Ärztin freilag. Eine kalte Flüssigkeit wurde mir auf die Haut gespritzt, und ich spürte, wie sie mir den Rücken herunterlief und auf der Liege einen feuchten Fleck bildete. Es roch so stark nach Desinfektionsmittel, dass meine Augen zu tränen begannen. Während ich eine irre Micky-Maus-Version anstarrte, wurde eine kleine Plastikplane mit einer Aussparung von fünf Zentimetern Durchmesser über meinen Körper gebreitet. Das Loch befand sich genau dort, wo die Nadel in meine Haut dringen würde. Die Biopsienadel, die sie gleich in meinen Körper rammen würden, glänzte silbern und war ziemlich dick, etwa wie eine Tintenpatrone. Damit man das Knochenmark erreicht, muss die Nadel mit großer Wucht durch den Knochen gestoßen werden, und das tut unglaublich weh. Um die Patienten nicht zu großen Schmerzen auszusetzen, erfolgt das üblicherweise nach einer Betäubung, aber ich schien mir den Ruf erarbeitet zu haben, dass ich alles schweigend ertrug. Ich schrie nie, und ich lag immer ganz still, deswegen bekam ich nichts. Schritt eins meiner heutigen Behandlung würde gleich beginnen.

Die Ärztin rammte mir die Nadel in die Hüfte. Ich blinzelte, als mich der Schmerz durchfuhr. Es fühlte sich an, als verabreichte einem ein Blitz einen Wespenstich. Einige Tropfen Knochenmark wurden in einem Plastikröhrchen aufgefangen, und dann zog man langsam die Nadel aus mir heraus. Es brannte, als sie meinen Körper verließ. Das Plastiklaken mit dem Loch wurde heruntergenommen. Karen verteilte noch mehr Desinfektionsmittel über der Einstichstelle, wischte sie mit ein wenig Gaze ab und drückte mit dem Daumen ein kreisrundes Pflaster auf die Wunde.

Nun war es Zeit für Schritt zwei, die Lumbalpunktion, »LP« genannt – die Prozedur hinter dem Vorhang, die ich am schlimmsten fand. Bei einer Lumbalpunktion wird eine Nadel in die untere Wirbelsäule eingeführt. Man sammelt Rückenmarkflüssigkeit, und dann wird der Stoff für die Chemotherapie in die Wirbelsäule injiziert. Das machte man sehr oft mit mir.

»Schauen Sie sich das nur an«, kommentierte Karen. »Sie war Turnerin, bevor sie krank wurde. Darum kann sie sich so zusammenrollen.« Niemand reagierte darauf.

Dass man sich bei der Lumbalpunktion ganz fest zusammenrollt, ist wichtig, weil die Nadel zwischen die Wirbel platziert werden muss. Wenn man aufrecht steht oder gerade daliegt, sind alle Wirbel zusammengeschoben, aber wenn man sich zu einem Ball zusammenrollt, lässt man kleine Zwischenräume zwischen den Wirbeln entstehen. Ich umfasste meine Knie und rollte mich so gut wie nur irgend möglich zusammen. Die Ärztin berührte jetzt mit ihren eiskalten Fingern meine untere Wirbelsäule und drückte darauf herum, um einen Spalt zu finden, an dem sie mit der Nadel eindringen konnte. Dann hielt sie inne, und erneut verteilte Karen kaltes Desinfektionsmittel über meinem gesamten Rücken, sodass die Pfütze, in der ich lag, noch größer wurde. Ein weiteres Plastiklaken mit Aussparung wurde über meinen Rücken gelegt. Ich spürte, wie die zweite Nadel meine Haut durchdrang. Die LP-Nadel wird nicht in den Körper gerammt wie die Biopsienadel. Stattdessen drückt man sie ganz langsam hinein. Es ist sehr wichtig, dass sich der Patient oder die Patientin nicht bewegt, weil es sonst zu einer dauerhaften Schädigung der Wirbelsäule kommen kann.

»Festhalten!«, stieß die Ärztin plötzlich hervor.

»Aber sie bewegt sich nie.« Ich hörte die Stimme meiner Mum aus der Richtung meiner Füße, konnte sie aber nicht sehen. Ich hatte den Blick auf eine verzerrte Donald-Duck-Version gerichtet.

Die Ärztin ignorierte meine Mutter und wandte sich an Karen. »Können Sie bitte die Beine so festhalten, dass sie an der Brust bleiben?«

Karen trat an meine Seite und drückte auf meine Knie.

Zack!

Die Metallnadel stieß auf Knochen. Die Ärztin hatte danebengestochen. Sie würde es noch einmal versuchen müssen.

Ich starrte einfach den komischen Donald Duck an. Wieder stach die Ärztin in meine untere Wirbelsäule. Sie kam nicht weit, sondern traf erneut auf Knochen.

Eine Serie von Einschlägen wanderte meine Wirbelsäule hoch. Ich bewegte mich nicht. Auf meiner Oberlippe bildeten sich Schweißperlen. Die Ärztin hatte ihr Ziel ein zweites Mal verfehlt. Sie würde es immer wieder versuchen müssen, bis sie es hinbekam.

»Sie muss sich bewegt haben«, beschwerte sich die Ärztin.

»Versuchen Sie’s einfach noch mal«, erwiderte Karen. »Kirsty macht es nichts aus, wenn es nicht gleich klappt.«

Ich war ein kompakt zusammengerollter Kugelkörper von einem Mädchen, und diese Ärztin versuchte immer und immer wieder, die Nadel richtig einzuführen. Mit jedem Mal tat es schlimmer weh, und jedes Mal, wenn sie auf Knochen traf, arbeitete sich ein furchtbar schmerzhaftes Gefühl meinen Rücken hoch. Heiße und kalte Schauer wechselten sich auf meiner Haut ab. Mein Gehör spielte mir einen Streich, und ich nahm plötzlich alles mit einem Echo wahr. Zwischen den Versuchen der Ärztin bewegte ich ganz vorsichtig meine Finger und Zehen. Das hatten uns die Krankenschwestern geraten, wenn es wehtat. Meine Wirbelsäule stand in Flammen, aber wenn ich meine Zehen und Finger behutsam bewegte, konzentrierte sich mein Gehirn auf etwas anderes. Ich durfte nicht zulassen, dass mich das Feuer in meiner Wirbelsäule überwältigte. Die Frau brauchte zwölf Versuche, bis Karen mit ruhiger Stimme vorschlug, jemand anderen dazu zu holen.

Karen machte sich auf die Suche, und die Ärztin seufzte laut und frustriert.

»Sie bewegt sich doch. Solche Probleme habe ich sonst nie.« Die Ärztin mit dem Stachelschweinhaar stürmte davon.

Plötzlich wurde der Vorhang vor mir aufgerissen, und es erschien ein dicker Mann mit rosigen Wangen, der roch, als hätte er in Kölnisch Wasser gebadet. Hinter ihm stand Karen.

»Ist es in Ordnung für dich, wenn ich es einmal versuche?« Er fragte mich um Erlaubnis!

»Geht in Ordnung«, gab ich zurück.

»Dann fühle ich erst mal vor.« Er zog die Plane mit dem Loch von meinem Rücken und presste seine dicken warmen Finger in meine untere Wirbelsäule. Dort pulsierte alles von den vergeblichen Versuchen. »Es tut mir leid, Kirsty, du hast jetzt sicher große Schmerzen. Okay, ich zähle jetzt bis drei, und dann probieren wir’s noch mal. Eins, zwei, und drei!«

Bei »drei« stach er zu, und das tat schrecklich weh, doch er stieß nicht auf Knochen.

»Geschafft!« Er war ganz aufgeregt.

Ich atmete aus. Dabei merkte ich, dass ich die Luft angehalten hatte.

Er zählte die Tropfen meiner Rückenmarksflüssigkeit, als er sie in einem weiteren Plastikröhrchen auffing. Dann brachte er eine Spritze mit der chemischen Flüssigkeit an der Nadel an, die sich immer noch in meiner Wirbelsäule befand. »Wenn ich dir jetzt das Methotrexat verabreiche, wirst du glauben, du müsstest mal, aber ich verspreche dir, das wird nicht passieren. Es fühlt sich nur so an, weil ich einen hohen Druck auf deine Wirbelsäule ausübe, wenn ich dir das Medikament gebe. Okay?«

»Okay.« Dieses seltsame Phänomen kannte ich schon.

»Dann fange ich jetzt an.« Ein unsichtbarer Fuß in einem Stahlkappenstiefel stellte sich auf meine Blase. Mein ganzer Unterleib wurde von einem starken Stechen erfüllt. Meine Blase schrie förmlich auf. »Und jetzt ziehe ich die Nadel raus, drei, zwei, eins! Okay, gut gemacht.«

Jetzt blieb nur noch Schritt drei. Mein Körper wagte, sich ein wenig zu entspannen. Ich stützte mich vorsichtig auf und saß mit baumelnden Beinen auf dem Krebsaltar.

»Die Kanüle kann ich einführen!« Die Ärztin kehrte zurück, und ich versteifte mich wieder. »Jetzt muss das Mädchen aber stillhalten, damit ich auch eine Vene finde.«

»Also gut«, sagte der fröhliche LP-Guru. »Dann überlasse ich Ihnen wieder das Feld.« Ich spannte vor Verzweiflung Schultern und Hals an, als er davonging.

Karen verdrehte die Augen.

»Ich nehme ihren linken Handrücken, das ist am einfachsten für mich.« Sie packte mein Handgelenk und drückte darauf herum. Mit der anderen Hand schlug sie mir auf den Handrücken, damit die Venen besser an der Oberfläche erkennbar wurden.

»Kirstys Venen im linken Arm sind völlig kollabiert«, erklärte Karen leise.

»Ich finde schon eine.«

Die Ärztin umklammerte mein Handgelenk so fest, dass ich meinte, meine Hand würde explodieren. Jetzt schlug sie noch stärker auf meinen Handrücken. »Ich kann eine Vene erkennen«, verkündete sie, und dann legte sie den Anzug an.

Wenn jemand einem Chemopatienten eine intravenöse Injektion verabreicht, trägt er oder sie eine Art Raumanzug. Das ist ein langärmliger Kittel, der den ganzen Körper und die Arme bis zu den Handgelenken bedeckt. Auf den Kopf setzt man sich eine dieser medizinischen Kappen, die wie Badekappen aussehen. Dann noch zwei Paar Handschuhe. Mund und Nase kommen hinter eine Maske. Der Grund dafür ist, dass Chemoflüssigkeit wie Säure wirkt, und wenn sie die Haut berührt, kann sie einem richtiggehend die Haut verbrennen. Der Patient oder die Patientin jedoch – in diesem Falle ich – wird überhaupt nicht abgedeckt.

Die Ärztin verteilte grob Desinfektionsmittel auf meinem Handrücken und setzte die Nadel an. Das Ganze fühlte sich an wie ein ausgedehnter Bienenstich, und ich wusste sofort, dass sie die Vene verfehlt hatte. Wenn es gut funktioniert, schießt Blut heraus. Aber da floss nichts. Mir troff der Schweiß von der Stirn.

»Ich weiß, da ist eine Vene«, sagte die Ärztin. Sie fuhr fort, die Nadel zu bewegen, hin und her, versuchte, in die Vene zu kommen. Unter meiner Haut brannte der Schmerz. Sie hatte die Vene wieder verfehlt, und wir alle wussten das, aber niemand sagte etwas. Ich weinte nicht und bewegte mich auch nicht. Gerne würde ich berichten, dass dies der einzige Tag war, an dem die Ärztin ihre Arbeit nicht besonders gut machte. Aber so lief es jedes Mal ab. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendein Assistenzarzt jemals beim ersten Versuch eine Vene in meinem Körper gefunden hätte.

Die Ärztin schwankte ein wenig. »Kann sie mal jemand festhalten? Mir ist ein bisschen schwindlig.«

Schnell zog Karen Handschuhe über und kümmerte sich um die Nadel. Gerade noch rechtzeitig, denn plötzlich fiel die Ärztin ohnmächtig um. Personal eilte herbei, sammelte sie auf und brachte sie nach draußen. Sobald das geschehen war, zog Karen die Nadel heraus und presste einen Wattebausch auf die Wunde. Ich war erleichtert, weil ich die Nadel nicht mehr am Handrücken hatte, wusste aber, dass ich immer noch meine intravenöse Chemobehandlung brauchte, sonst wäre ich nicht fertig für heute.

Mehrere andere Assistenzärzte betraten den Raum, alle versuchten es mit der Vene, aber niemand schaffte es. Manche probierten beide Handrücken, manche das Handgelenk, und wieder andere die Mitte meines Arms. Niemand hatte Erfolg, und ich fragte mich langsam, ob ich jetzt wohl nach Hause durfte. Nach vierzehn vergeblichen Versuchen erschien plötzlich der fröhliche dicke Mann, der meine Lumbalpunktion so erfolgreich erledigt hatte.

»Wie wär’s, wir suchen uns eine Vene, und du kannst nach Hause?«, schlug er vor.

»Ja, bitte«, antwortete ich.

Er schaute sich meine Arme und Hände an, die inzwischen mit Stichen übersät waren, und dann glitt sein Blick an meinem Bein hinab, bis er bei meinen Füßen anlangte. Er nahm meinen rechten Fuß in seine großen warmen Hände. Mit einer Hand umfasste er meinen Knöchel und klopfte vorsichtig auf den oberen Teil meines Fußes. »Ich sehe hier ein paar gute, dicke Venen. Das wird anders wehtun als bei deinen Armen und Händen, aber diese Venen sind richtig saftig, also werde ich die Kanüle schnell und ohne Probleme reinbekommen. Was meinst du?«

Ich nickte. Inzwischen war mir alles egal. Ich wollte einfach Schritt drei hinter mich bringen und weg von hier.

Er zog sich den Chemoraumanzug an, tropfte ein kleines bisschen Desinfektionsflüssigkeit auf meinen Fuß und sagte dann: »Eins, zwei, drei!« Er stach die Nadel in meinen Fußrücken. Er hatte nicht gelogen. Es fühlte sich anders an als sonst – viel schmerzhafter. Sofort schoss dunkles Blut heraus. Ich genoss meine Erleichterung. Er hatte die Nadel sofort in die Vene bekommen. Das Stechen hörte auf, und er schraubte eine Spritze an. Dann injizierte er etwas Salzlösung in die Vene. Ich spürte, wie etwas Kaltes meinen Fuß durchflutete.

»Und jetzt das Vincristin«, kündigte er an. Vincristin erhielt ich oft. Diese klare Flüssigkeit kam in einer großen Spritze. »Das wird sich kalt anfühlen, weil es gerade erst aus dem Kühlschrank geholt wurde, und wenn ich es injiziere, wirst du einen starken Metallgeschmack im Mund spüren.« Nun fühlte es sich so an, als breitete sich Eis unter meiner Haut aus, und auf meiner Zunge gab es eine wahre Speichelexplosion. Es war, als hätte ich ein Bonbon aus bitterer Orangenschale im Mund.

Er zog die Nadel heraus, und mein Körper sackte vor Erleichterung und Erschöpfung in sich zusammen. Er klebte mir ein Pflaster auf den Fuß und hob mich vom Bett. »Geschafft! Das hast du sehr gut gemacht.«

»Sie sind einfach großartig«, gab ich zurück. Lachend winkte er mir zum Abschied zu.

Die Heimfahrt von »Nur für den Tag« bestand aus einem Nebel des Unwohlseins, und ich hörte zu, als Mum schief bei Chers Hit If I Could Turn Back Time mitsang.

Ich schaute auf die Uhr am Armaturenbrett. Schon 16:37 Uhr. Den ganzen Tag hatte ich nichts gegessen, aber Hunger hatte ich keinen. Ich spürte allmählich die Chemomedikamente. Mein Inneres summte und schmerzte gleichzeitig, und ich merkte, vielleicht würde ich mich übergeben müssen. Ich konnte die Desinfektionsflüssigkeit riechen, die man über meinem Rücken, meiner Hüfte und meinen Armen verteilt hatte. Meine Kleidung stank nach Krankenhaus.

Sobald wir zu Hause ankamen, schlurfte ich zur Wohnzimmercouch und warf mich neben meinen fünfjährigen Bruder. Matthew hatte den Blick starr auf den Fernsehbildschirm gerichtet. Ich riskierte einen kurzen Blick auf meinen Körper. Meine Hände und Arme wirkten durchsichtig, und die Einstiche der Nadeln in meinen Armen, Händen und Handgelenken bildeten schon blaue Flecken aus. Mein ganzer winziger zehnjähriger Körper war von Blau und Lila in verschiedenen Schattierungen bedeckt, und da gab es auch übel aussehende Gelbtöne! Jedes einzelne Nadelstichloch war von seinem eigenen Kreis aus Farbe umgeben. Ich legte mich auf die linke Seite, schob mir ein Kissen unter den Kopf und richtete den Blick auf die Teenage Mutant Ninja Turtles, die auf dem Fernsehbildschirm den bösen Shredder besiegten. Dank sei Gott für die Erfindung des Fernsehens.

Plötzlich spürte ich, wie mir heißer, flüssiger Rotz aus den Nasenlöchern quoll. Es war, als hätte man in meiner Nase einen Hahn aufgedreht. Ich wischte mit dem Handrücken darunter herum, doch als ich hinsah, stellte ich fest, dass er mit Blut bedeckt war.

»Matt«, sagte ich. »Ich brauche Taschentücher.«

Mein Bruder sprang auf, und seine braune Haut verfärbte sich grau, als er rasch nach einer bereitstehenden Schachtel griff. »Mum!«, rief er. Ich hörte die Angst in seiner Stimme.

Immer wieder zog Matt eine ganze Handvoll Taschentücher aus der Schachtel und gab sie mir, und ich durchweichte sie sofort mit meinem Nasenbluten. Die Taschentücher reichten nicht, und inzwischen wirkte Matt ganz grün um die Nase.

Mum stand im Türrahmen und schaute um die Ecke. »Scheiße.« Sie verschwand, kam mit einem großen Badetuch zurück und half mir, es vor mein Gesicht zu halten.

Armer kleiner Matt, dachte ich. Es ist nicht richtig, dass er seine große Schwester so bluten sehen muss.

»Das liegt einfach daran, dass du nach der Chemo von heute weniger Blutplättchen hast«, erklärte Mum. »Wahrscheinlich wirst du morgen eine Blutplättchentransfusion brauchen.«

Matt saß bei mir, und wir warteten darauf, dass das Nasenbluten aufhörte. Das tat es immer irgendwann. Ich hatte einen weiteren Aufenthalt im »Nur für den Tag« überlebt.

2. Kapitel: Vorher

Mit ihren muskulösen Armen zog Mum den Plastikkamm durch mein langes, dickes Haar. Die Leute sagten mir immer, ich sei erdbeerblond, dabei hatte mein Haar gar keine Erdbeerfarbe.

»Als ich neunzehn Jahre alt war, hatte ich auch so langes Haar«, erzählte Mum.

»Wirklich? So langes wie ich?« Ich schaute auf ihre kurze schwarze Dauerwelle. Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen. Meine Mum mit langem Haar. Mir war zum Lachen zumute, als ich mir das auszumalen versuchte.

Wir saßen im hinteren Garten in der Morgensonne, obwohl Winter war. Mum flocht mir die Haare zu Zöpfen, denn heute war ein wichtiger Tag für mich. Heute sollte ich den Staat New South Wales bei einem Turnwettbewerb vertreten. Mit dem Turnsport hatte ich im Alter von vier Jahren angefangen. Mein Körper stellte eine schlaue Verbindung aus meiner Mum und meinem Dad dar. Durch Mums DNA bekam ich meine robuste Stärke. Durch Dads DNA erhielt ich Fokus und Entschlossenheit. Mein Körper schien mit jeder Herausforderung zurechtzukommen, die man an ihn stellte, ob es darum ging, in den Spagat zu gleiten oder am Barren zu schwingen, während ich den Körper mit ausgestreckten Armen und nach unten deutenden Zehen in einer geraden Linie hielt. Ich konnte im Handstand bleiben, nachdem alle anderen Mädchen schon aufgegeben hatten und hingefallen waren. Ich konnte ein Rad nach dem anderen schlagen, und Salti rückwärts und Purzelbäume, ohne dass mir schwindlig wurde. Diese Übungen versetzten mich jedes Mal in ein Hochgefühl, und es war so, als könnte jede einzelne Zelle in meinem Körper nur ganz lebendig sein, wenn ich ihn durch alle möglichen Übungen bis an seine Grenzen forderte.

Ich war neun Jahre alt und wollte olympische Turnerin werden. Die Beste wollte ich werden. Von Wettbewerben kam ich nie ohne eine Medaille nach Hause, und heute war ich fest entschlossen, mir die Goldmedaille zu holen.

»Autsch!« Ein Knoten im Haar. Mit einem beherzten Zug erledigte Mum das Problem. Ganz kurz spürte ich einen Schmerz auf der Kopfhaut. Mum flocht mir zwei Zöpfe und verwendete dabei grüne und goldene Bänder, damit meine Frisur zu meinem Turnanzug passte.

Ich schaute an meinen Beinen herunter, und dabei hoffte ich, dass ich durch die Sonne keine neuen Sommersprossen bekam. Meine Beine sahen blass und dünn aus, außerdem waren viele kleine blaue Flecke darauf zu sehen – ganz runde Markierungen in Blau- und Lilatönen.

»Schade, dass deine ganzen Arme und Beine damit so voll sind«, kommentierte Mum, als sie den Kamm neben sich ins Gras legte.

»Solche blauen Flecke haben alle beim Turnen. Das kommt einfach, weil wir so hart trainieren.«

Mum wirkte nicht so, als würde sie mir glauben. »Hast du Kopfschmerzen? Du siehst müde aus.« Mit einem Blick inspizierte Mum rasch meinen ganzen Körper. Sie war auf der Suche nach etwas.

»Ja.« Lieber hätte ich gelogen, aber das merkte sie immer sofort.

»Kopfschmerzen bei Frauen, das liegt bei uns in der Familie. Hoffentlich verwächst sich das bei dir«, meinte Mum. Aber sie schaute besorgt aus. »Ich muss nur noch meine Schuhe anziehen, dann können wir los.«

Sie ging ins Haus und trat dabei kräftig mit den Fersen auf, wie sie es immer tat. Ich schloss die Augen und richtete mein Gesicht nach oben. Einige Sekunden lang fühlte es sich herrlich an, wie die Sonne meine blasse, sommersprossige Haut küsste. Ich holte tief Atem. Jedenfalls versuchte ich es. Beim Einatmen konnte ich spüren, dass es die Luft nicht ganz bis in meine Lungen schaffte. Ich umfasste meine Beine und legte einige Sekunden lang den Kopf auf die Knie. Meine Kopfschmerzen fühlten sich an, als wollten sie sich mit Faustschlägen einen Weg aus meinem Schädel bahnen. Klopf, klopf, klopf. Bei jedem Herzschlag hallten die Kopfschmerzen nach.

Ich muss mich zusammenreißen.

Ich hob den schweren Kopf und öffnete die Augen. Mein zwölfjähriger Bruder, Brett, und Matt saßen im Gras neben mir.

»Was machst du denn da?«, fragte Brett.

»Gar nichts. Ich sitze einfach nur da«, gab ich zurück. »Ich habe Kopfschmerzen, und ich bin nervös wegen heute.«

»Ich habe Kopfschmerzen, und ich bin nervös wegen heute!«, äfften sie mich nach.

»Lasst mich bloß in Ruhe.«

Für zwei Jungen, die so unterschiedlich aussahen – der rothaarige Brett mit seinen Sommersprossen, Matt mit seinem tiefschwarzen Haar und dem olivfarbenen Teint – wenn es darum ging, sich über mich lustig zu machen, waren sie auf einer Wellenlänge.

»Lasst Kirsty in Ruhe!«, brüllte meine sechzehnjährige Schwester Danielle von der Hintertür aus. Was das Aussehen betraf, glich Danielle Brett, denn sie hatte kupferfarbenes Haar und Sommersprossen, aber sie war nie gemein zu mir und beschützte mich vor meinen Brüdern, wann immer sie konnte.

Für weitere Streitereien blieb keine Zeit, weil Mum wieder in den Garten kam. »Also gut, Jungs, benehmt euch heute«, wies sie die beiden an, als wir uns auf den Weg zur Vorderseite des Hauses machten. »Wenn ihr das hinbekommt, können wir heute Abend was beim Chinesen holen.«

»Au ja, lecker!«, rief Matt. »Auch Krabben in Honig?«

»Das sehen wir dann«, sagte sie. Mums »Das sehen wir dann« bedeutete üblicherweise »Nein«.

Dad umarmte mich. Bei Dad gab es zwei Regeln für das Umarmen. Erstens: Ich kann eine Umarmung bekommen, wann immer ich will. Zweitens: Er lässt als Erster los. Umarmungen von Dad waren die besten.

Während ich Dad ganz fest drückte, atmete ich seinen Duft ein. Er roch nach Zahnpasta.

»Alles Gute, Kirsty, viel Glück«, riefen Danielle, Brett und Matt im Chor.

Ich lächelte, obwohl in meinem Schädel noch immer die Kopfschmerzen hämmerten.

Rückwärts fuhr Mum unseren weißen Mitsubishi aus der Einfahrt, und vom Vordersitz aus schaute ich zu, wie Matt und Brett im Vorgarten herumrannten. Sie schubsten sich. Das taten sie ständig. Bei diesem Spiel ging es darum, den anderen so heftig wie möglich zu schubsen. Verloren hatte, wer zuerst auf dem Hintern landete.

Als Mum unser Familienauto auf die Straße lenkte, brüllten Matt und Brett aus vollem Hals: »Viel Glück bei der Gymspastik!«

»Kleine Mistkerle«, murmelte Mum.

***

Ich lächelte so breit, dass mir die Kiefer wehtaten. Fremde drängten sich um mich herum, schüttelten mir die Hand und gratulierten mir. Dann schob sich ein Mann mit gigantischen Muskeln durch die Menge und nahm meine Hand in seine riesige Erwachsenenhand.

»Du hast heute etwas ganz Außerordentliches geleistet, und ich denke, es wäre eine sehr gute Idee, wenn du zum Trainieren zu mir kommst. Würdest du gern bei Olympia mitmachen?«

Ich bekam nur ein Nicken zustande. Dabei konnte ich es gar nicht glauben. Nicht nur hatte ich eine Goldmedaille gewonnen, sondern der Mann, von dem wir alle wussten, dass er Mädchen für die Olympiade trainierte, meinte, ich solle olympische Turnerin werden.

»Hier ist meine Karte. Sag deiner Mum oder deinem Dad, sie sollen mich nächste Woche anrufen, damit wir uns unterhalten können, okay?«

»Okay, vielen Dank.«

Heute ist der schönste Tag meines Lebens!

Als wir nach Hause kamen, gratulierten mir Brett und Matt nicht zu meinem Sieg. Dafür freuten sie sich sehr, dass es wirklich Chinesisch zum Abendessen geben würde. Sogar Krabben in Honig.

Während des ganzen Essens durchzuckten mich immer wieder Kopfschmerzen. Die hatten den ganzen Tag nicht nachgelassen, und jetzt spürte ich auch noch ein Kribbeln in Händen und Füßen. Ich hatte keinen Appetit und bekam nur ein paar Mundvoll gebratenen Reis und eine Frühlingsrolle herunter, obwohl ich während des Wettbewerbs überhaupt nichts gegessen hatte. Meine Mutter hatte gemeckert, weil ich die Vegemite-Brote und den Apfel nicht wollte, die sie für mich mitgenommen hatte.

»Du isst aber doch noch etwas?«, erkundigte sich Mum, und dabei erschien ein besorgtes Stirnrunzeln zwischen ihren Augenbrauen.

»Tut mir leid, Mum. Ich habe keinen Hunger. Ich bin sehr müde und will nur noch ins Bett.«

»Ins Bett?!«, rief Brett. »Es ist doch erst halb sieben, wer geht denn so früh ins Bett? Du bist wirklich komisch.«

»Brett …«, warnte ihn Dad.

Sofort hielt Brett den Mund.

»Bevor du dich hinlegst, möchten dein Vater und ich dir noch etwas geben«, sagte Mum.

Ich war überrascht. Normalerweise bekamen wir nur an Geburtstagen und zu Weihnachten Geschenke. Dad hielt mir eine kleine weiße Schachtel hin.

»Was ist denn das?«, wollte ich wissen.

»Du hast in letzter Zeit sehr hart trainiert, und da dachten wir, wir schenken dir etwas, damit du weißt, wie stolz wir auf dich sind«, erklärte Dad.

Ich öffnete die Schachtel. Darin lag ein zierliches herzförmiges Silbermedaillon mit einer winzigen Blumengravur. Innen drin gab es Platz für ein Foto. So ein Medaillon hatte ich mir schon immer gewünscht.

»Hoffentlich hebst du das auf, bis du ganz erwachsen bist. Dann kannst du das Foto von jemand ganz Besonderem darin aufbewahren.« Dad nahm das Medaillon aus der Schachtel und legte mir die Kette um den Hals.

Eine Goldmedaille, ein Medaillon und ein olympischer Traum, der in Erfüllung geht, alles an einem Tag.

Ich legte die Visitenkarte des Coaches unter mein Kissen, und als ich ins Bett ging, hatte ich das Medaillon und die Medaille um den Hals. Obwohl in meinem Schädel ein Tier zu toben und an meinem Gehirn zu kratzen schien, fühlte ich mich wie ein Champion.

3. Kapitel: Die Diagnose