Honoré de Balzacs Universum oder: Wie man einen Menschen liest - Jürgen Glocker - E-Book

Honoré de Balzacs Universum oder: Wie man einen Menschen liest E-Book

Jürgen Glocker

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Beschreibung

Ein Romanverführer anlässlich Balzacs 225. Geburtstag 2024 // Victor Hugo pries ihn, Oscar Wilde hob ihn in den Himmel: Honoré de Balzac (1799–1850) ist einer der ganz Großen der Weltliteratur. Zusammen mit Stendhal und Flaubert begründet er den Realismus und erschafft mit seinem Romanzyklus „Die menschliche Komödie“ einen vielfarbigen Kosmos. Balzac, der „Lehrer“ von Zola und Proust, hat wie kein Zweiter die Gesellschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermessen. Er erzählt von Adligen, Bürger- und Kleinbürgertum, Soldaten, Geistlichen, Verbrechern, Beamten, Bauern, Künstlern und Kurtisanen. Meist stehen leidenschaftliche und skrupellose Menschen im Mittelpunkt seiner Geschichten, korrupte Politiker, trickreiche Finanzleute oder raffinierte Aufsteiger. Balzac zeigt uns eine Gesellschaft, die durch die Revolution von 1789 in Bewegung geraten ist, eine Gesellschaft im permanenten Wandel. Nicht zuletzt stachelt er die Lust am Lesen an. Der Literaturwissenschaftler Jürgen Glocker hat eine ebenso informative wie vergnügliche Einladung für alle Leserinnen und Leser geschrieben, sich in Balzacs Romane und Erzählungen zu vertiefen.

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© 2024 Morio Verlag Heidelberg

Morio Verlag, ein Imprint der mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH

www.morio-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlagabbildung: Honoré de Balzac (1799–1850), Holzschnittporträt von Achille Ouvré (1922) nach der bekannten Daguerreotypie von Louis-Auguste Bisson aus dem Jahr 1842

Satz: Tiesled Satz & Service, Köln

Lektorat: Dr. Wolfgang Delseit

ISBN 978-3-949749-16-2

Printed in the EU

Im Jahr 1827 handelte auf dem Markt von Fougères ein von seiner Frau begleiteter alter Mann mit Vieh, und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, obwohl er mehr als hundert Menschen ums Leben gebracht hatte.

Honoré de Balzac

Inhaltsverzeichnis

1. Eine geschwinde Reise von den Schneealpen nach Angoulême

2. Ein Porträt des Künstlers als Toter, als Kind, zäher Bursche und Frauenfreund

3. Die Geburt eines Kosmos

4. Eine sich auflösende Welt unter einem kalten Blick

5. Von Sehfehlern und anderen Gebrechen

6. Kleiner französisch-deutscher Grenzverkehr

7. Literarische Diagnostik

8. Kammerspiel in Grau, oder: Die rechtschaffene Bosheit

9. Schuld und Sühne

10. Wie man einen Menschen liest

11. Die Anatomie der modernen Gesellschaft

12. Der neue Dante und die Panoramen von Paris

13. Literatur als Lebenshaltung

14. Öffentliche Duelle und Aufmerksamkeiten

15. Die Antiquitäten der Provinz

16. Hochmut kommt vor dem Fall

17. Die Metropole unterm Durchleuchtungsapparat

18. Pöppenrader Getreide und Pariser Parfums

19. Madame La Cafetière und die Folgen

20. Auf hoher See und vor Gericht

21. Geld, Geld, nur du allein …

22. Neue Töne

23. In den Fangnetzen der Kleinbürger

24. Liebe, Gesellschaft, Politik

25. Un Palais littéraire

26.  Ein Elefant in eigener Sache

27. Ein Roman unter Einfluss

28. Landverschnitt

29. Der Graf von Forzheim und die bucklige Verwandtschaft

30. Verkehrte Welt

Epilog

Benutzte Quellentexte

Benutzte Literatur

1. Eine geschwinde Reise von den Schneealpen nach Angoulême

Meine Zeit vor Balzac war schwierig. Sie liegt ein paar Jahre zurück. Damals habe ich regelmäßig bis tief in die Nacht hinein an meinem Rechner gearbeitet, über viele Monate hinweg bis zur Erschöpfung beschäftigt mit der Vorbereitung eines Buchs, dessen Gegenstände mit dem Fortschritt meiner Recherchen allmählich unabsehbar wurden. Ich konsumierte immer mehr Espresso, doch das half nur wenig gegen meine Müdigkeit und meine miserable Laune, denn ich war regelrecht ausgelaugt, meine Batterien buchstäblich leer. Eine Zeit lang merkte ich trotzdem nicht, dass ich mich in einem rasanten Abwärtsstrudel befand.

Irgendwann, als ich mich kaum noch konzentrieren konnte und mein Herz mitten in der Nacht immer öfter zu galoppieren begann, zog ich die Zügel an und beschloss, eine Auszeit zu nehmen. Ich fuhr mit kleinem Gepäck in die Alpen und mietete mich in einer Berghütte ein, die, einsam am Fuß eines dreitausenddreihundert Meter hohen Massivs gelegen, gute Voraussetzungen zum Ausspannen zu bieten schien. Das Wetter war prächtig. Ich unternahm zahlreiche Skitouren, und die Erholung ließ nicht lange auf sich warten. Tag für Tag durfte ich die Trikolore aus tiefbauem Himmel, weißem Schnee und rot glühender Abendsonne genießen. Bücher rührte ich nicht an.

Doch dann zeigte sich eines Nachmittags eine graue Wolkenfront über dem südwestlichen Horizont, dem »Wettereck« der Gegend, und am nächsten Morgen begann es leicht zu schneien, zuerst nur fein und schwach. Gegen Mittag aber wurde es dunkler, der Schnee fil jetzt so dicht, als ob Mehl in Strömen auf uns herabkäme, und nahm einem die Sicht. Der Flockenwirbel hüllte die Hütte bald ein wie ein Kokon, Wind kam auf und trieb den Schnee waagrecht vor sich her. An eine noch so kleine Skitour war nicht mehr zu denken.

So ging das etliche Tage. Der Wintersturm tobte weiter, ein unheimliches, ein tumultuarisches Geschehen war das, wie ich noch keines erlebt hatte, der Wind pfiff und heulte ums Haus, dass es eine Art hatte, und mein Logis versank mehr und mehr in den weißen Massen. Die Lawinengefahr wuchs. Ich hatte nichts zu tun, konnte aber auch nicht abreisen, da nicht nur die Berghütte, sondern das gesamte Hochtal von der Außenwelt abgeschnitten war. So holte ich meinen kleinen Büchervorrat hervor, den ich bisher aus guten Gründen nicht angetastet hatte, und vertiefte mich in das erstbeste Buch, das obenauf lag: Balzacs Großroman Verlorene Illusionen.

Anders als Stendhal, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant, Émile Zola oder Marcel Proust hatte ich Honoré de Balzac seit einiger Zeit nicht mehr ernsthaftgelesen. Nun aber hielt ich die neue, die glänzende Übersetzung der Verlorenen Illusionen von Melanie Walz in der Hand. Ich schlug die erste Seite auf und war sofort gefesselt. Von einem Augenblick auf den anderen fühlte ich mich aus meiner winterlichen Wüstenei in eine andere Welt versetzt. Ich zog mich mit einer großen Kanne Tee in mein gemütliches Zimmer und in Balzacs bunte Welt zurück, vergaß das weiße Chaos vor meinem Fenster und las und las.

Und ich begann, den Wegen von Lucien Chardon und David Séchard während der Restauration durch das südfranzösische Provinzstädtchen Angoulême zu folgen: Zu der Zeit, da diese Geschichte beginnt, hatten sich die Stanhope-Druckpresse und die Walzen zum Auftragen der Druckerschwärze in den kleinen Provinzdruckereien noch nicht durchgesetzt. Mit diesem Satz setzt der Roman ein, und mit einer Begeisterung, die mich selbst überraschte, ließ ich mich vom Erzähler über das Druckereigewerbe am Anfang des 19. Jahrhunderts informieren, ein Berufsfeld, das Balzac nicht nur aus eigener Anschauung, sondern auch praktisch, aus persönlicher Erfahrung, bestens vertraut war. Ich erfuhr von Bären und Affen, also von Druckern, Setzern und ihren Arbeiten: Die Bewegung vor und zurück, mit der die Drucker sich von ihrem Kübel mit Druckerschwärze zur Druckerpresse und von der Presse zur Druckerschwärze bewegen, haben ihnen vermutlich diesen Spitznamen eingebracht. Zur Rache haben die Bären die Setzer ›Affen‹ getauft, wegen der ständigen Gymnastik, die diese Herren betreiben, um der Lettern in ihren einhundertzweiundfünfzig Kästchen habhaft zu werden. Ich beobachtete, wie der allzu gutherzige David von seinem ebenso gerissenen wie abstoßenden Vater ein ums andere Mal übers Ohr gehauen wird, und ich nahm fasziniert zur Kenntnis, wie Balzac schon auf den ersten Seiten ein kleines erzählerisches Feuerwerk der Extraklasse zündet. Ich wollte das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

Alles beginnt, in einer Rückblende, mit der Französischen Revolution, genauer: mit dem Schreckensjahr 1793. Der alte Séchard ist zu jener Zeit Druckergeselle, etwa fünfzig Jahre alt und verheiratet. Alter und Zivilstand ersparen ihm die Mobilmachung. So bleibt er allein in der Druckerei zurück, deren Besitzer vor Kurzem gestorben ist. Aber der Geselle Séchard hat ein gravierendes Problem: Er ist zwar Drucker, doch er kann weder lesen noch schreiben. Dennoch verleiht ihm ein Volksvertreter, weil er die Dekrete des Konvents so schnell wie möglich unters Volk bringen muss, das Patent eines Meisterdruckers und verpflihtet ihn zum typografischen Dienst an der Republik.

Obwohl für ihn hochgefährlich, nimmt Séchard das Patent an, entschädigt die Witwe seines Meisters mit dem Spargroschen seiner Frau, das heißt, er erwirbt die Druckmaschinen zum halben Preis. Freilich muss er ein noch größeres Problem bewältigen, nämlich den fehlerfreien und pünktlichen Druck der republikanischen Dekrete: In dieser schwierigen Situation hatte Jérôme-Nicolas Séchard das Glück, einen Adeligen aus Marseille kennenzulernen, der nicht emigrieren wollte, denn das hätte ihn um Grund und Boden gebracht, sich aber auch nicht zeigen durfte, denn das hätte ihn um Kopf und Kragen gebracht, und der zum Broterwerb einer Arbeit nachgehen musste. Der Graf von Maucombe schlüpfte folglich in den bescheidenen Kittel eines Druckereifaktors in der Provinz; er setzte, las und korrigierte eigenhändig die Erlasse, die den Citoyens, die Adelige versteckten, den Tod androhten; der […] Bär druckte sie und ließ sie anschlagen; und beide blieben unbehelligt. 1795 war der Schwall der Terreur versiegt, und Nicolas Séchard musste sich einen neuen Helfer suchen, der als Setzer, Korrektor und Faktor dienen konnte. Ein Abbé, der später unter der Restauration Bischof wurde, und sich seinerzeit geweigert hatte, den Eid auf die Verfassung zu leisten, ersetzte den Grafen von Maucombe, bis der Erste Konsul die katholische Religion wieder einsetzte.

Später, so wird weiter berichtet, treffen sich Graf und Bischof auf derselben Bank in der Pairskammer. Und der alte Séchard hat 1802 so viel Stoff auf die hohe Kante gelegt, dass er sich einen angestellten Setzer leisten kann. Nicolas wittert die Chance, ein Vermögen zu ergattern, und sein Geschäftsinn macht ihn in geradezu grotesker Weise gierig, geizig und misstrauisch: Er hatte sich angewöhnt, den Preis einer Seite oder eines Bogens auf Augenschein nach den Schriftt pen zu schätzen. Seinen unwissenden Kunden legte er dar, dass große und dicke Lettern zu bewegen teurer zu stehen komme als kleine; und wenn es um kleine Lettern ging, erklärte er, diese seien schwieriger zu handhaben.

Schon anhand einer winzigen Passage wird deutlich, auf welche Weise Balzac uns zeigt, wie Politik funktioniert, welche Auswirkungen die politischen Verhältnisse auf das Leben der Menschen haben, dass die Revolution Welt und Gesellschaftdurcheinanderwirbelt. So gelangt ein Handwerksgeselle in eine Position, für die ihm jegliche Kompetenz fehlt, und ein Graf sowie ein späterer Bischof werden zu subalternen Mitarbeitern eines illiteraten Druckers.

Ich las weiter und weiter und traf auf Lucien Chardon, den Sohn eines Apothekers und Forschers, einen selbstsüchtig-naiven Menschen, der glaubt, ein Dichter zu sein, dem es aber letztlich nur um seinen gesellschaftlichen Aufstieg geht und dem jedes Mittel dazu recht ist, die soziale Leiter emporzuklimmen. Koste es, was es wolle. Während er, mit der fianziellen Hilfe seines Freundes David Séchard, nach Paris geht, um dort sein vermeintliches Glück zu machen, bleibt der Sohn des Druckers in der Provinz und widmet sich seinen Forschungen, die neuen Methoden der Papierherstellung gelten, und beide büßen im Lauf der Zeit ihre je eigenen Illusionen ein und ruinieren sich gründlich. Selbst das Liebesgespräch zwischen David und Ève, Luciens Schwester, wird nicht zum geringsten Teil von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Politik, in diesem Fall vom Zusammenbruch des Kaiserreichs, beherrscht, das heißt: von der Herstellung des Papiers und ihren Kosten …

Je tiefer ich in Balzacs umfangreiches Buch vordrang, desto begeisterter wurde ich. Und ich begann allmählich zu begreifen, worin das Geheimnis seiner Schreibweise und der Interpretation der Wirklichkeit bestand, allerdings ohne deren Grundlagen zu kennen. Selbst erzählerische Nebensächlichkeiten, vergleichsweise unbedeutende Randerscheinungen fesselten mich, wie das Setting für Davids und Èves Liebesgeflüster, wenn der Sohn des Druckers allzu naiv schwärmt: Lassen Sie mich die Atemluft atmen, das Quaken der Laubfrösche hören, die Mondstrahlen bewundern, die auf dem Wasser beben; lassen Sie mich von dieser Natur Besitz ergreifen, in der ich mein Glück allen Dingen eingeschrieben glaube und die mir zum ersten Mal in all ihrem Glanz erscheint, von der Liebe beglänzt, durch sie verschönert. Der Leser ahnt vielleicht bereits, dass ein ironisches Lächeln über der Szene schwebt. David hingegen weiß noch nicht, welche Schläge ihm bevorstehen, dass Ève und er erst einmal gründlich, bis auf die Knochen, ruiniert werden, bevor sie am Ende, nach langen Torturen, dank einer Erbschaft, doch noch in ein glückliches, materiell abgesichertes Leben entlassen werden. Das hat freilich nichts mehr mit Davids Erfidung zu tun, auf die er all seine Hoffnung setzt. Dazu jedoch später.

Als der Blizzard nicht mehr tobte und die Straßen nach ein paar Tagen wieder passierbar waren, schulterte ich meinen Rucksack, verließ die Berge und fuhr nach Hause. Denn dort hatte ich die Comédie humaine in der zwölfbndigen französischen Ausgabe der Bibliothèque de la Pléiade und in zwei deutschen Gesamtübersetzungen stehen. Doch ich wollte jetzt »alles« von Balzac um mich versammelt haben. Wirklich alles. Also bestellte ich mir auch noch die bereits erschienenen Bände der Œuvres diveres und Balzacs umfangreiche Korrespondenz. Ich ließ all meine anderen Themen, so gut es eben ging, beiseite und widmete mich ganz der Lektüre, die ich nur für Arbeitsaufträge unterbrach.

Und dann fasste ich ziemlich bald den Entschluss, mich so gründlich mit Balzac zu beschäftigen, dass daraus ein kleines Buch werden konnte, freilich keine literaturwissenschaftliche Abhandlung, sondern eine Art Einladung, ein Band für passionierte Leserinnen und Leser. Das schien mir notwendiger denn je, denn ich hatte schnell gemerkt, dass der französische Romancier, dieser literarische Gigant, im deutschsprachigen Raum, nach Phasen größerer Popularität, längst wieder ein bekannter Unbekannter geworden war, der viel zu wenig gelesen wird. Das ist nicht nur vollkommen unangemessen und ungerecht, sondern nachgerade dumm.

Ich verstand und verstehe Balzacs Comédie humaine als erstklassiges Medium zur Diagnose nicht nur des 19. Jahrhunderts, sondern auch unserer Gebrechen, nahezu zweihundert Jahre später. Denn im (vermeintlich) Fremden ist es leichter, der eigenen Zeit ins Gesicht zu schauen. Balzac hat den ganzen sozialen Kosmos vermessen, von den Gaunern, Concierges, Kutschern, Kurtisanen, Wucherern, Soldaten, Kleinhändlern und kleinen Angestellten über Journalisten, Künstler, Schriftteller, Musiker, Kauflete, Richter, Anwälte, Ärzte bis hinauf zu den gesellschaftlichen Spitzen, dem Hochadel und der Großfianz. Und er hat die gesellschaftlichen Triebkräfte kenntlich gemacht und präzise beschrieben. In einer geradezu gigantischen jahrzehntelangen Anstrengung hat Balzac ein höchst lebendiges, ein dynamisches Panorama seines Zeitalters entworfen, das noch unseren Blick zu schärfen in der Lage ist und dem allenfalls die Romane seiner Nachfolger Gustave Flaubert, Émile Zola und Marcel Proust an die Seite gestellt werden dürfen. Sie fußen auf ihm, und Flaubert oder Proust mögen ihn in mancher Hinsicht übertreffen. Mag sein. Aber dieser erste große realistische Weltentwurf und der unbestechliche Blick auf die Wirklichkeit, insbesondere im Spätwerk, sie gehören ihm. Ganz abgesehen davon, dass die Lektüre seiner Bücher ein großes Vergnügen ist, auf das man nicht verzichten sollte.

Ja, Balzac war ein Gigant, und als solchen hat ihn nicht zuletzt Auguste Rodin gesehen. Rainer Maria Rilke beschreibt ausführlich die schrittweise Entstehung seiner Porträtskulptur, von der jahrelangen Beschäftigung mit Balzacs Werk und den Bildern, die von ihm existieren, bis hin zu den Vorstufen seiner eigenen Plastik. Und dann heißt es: Er sah eine breite, ausschreitende Gestalt, die an des Mantels Fall alle ihre Schwere verlor. Auf den starken Nacken stemmte sich das Haar, und in das Haar zurückgelehnt lag ein Gesicht, schauend, im Rausch des Schauens, schäumend von Schaffen: das Gesicht eines Elementes. Das war Balzac in der Fruchtbarkeit seines Überflusses, der Gründer von Generationen, der Verschwender von Schicksalen. Das war der Mann, dessen Augen keiner Dinge bedurften; wäre die Welt leer gewesen: seine Blicke hätten sie eingerichtet. Das war der, der durch sagenhafte Silberminen reich werden wollte und glücklich durch eine Fremde. Das war das Schaffen selbst, das sich der Form Balzac’s bediente, um zu erscheinen; des Schaffens Überhebung, Hochmut, Taumel und Trunkenheit.

Zu Beginn unseres gemeinsamen literarischen Spaziergangs steht, in Abwandlung von Dantes Inschriftüber dem Höllentor, ganz entschieden, das Motto: Lasst, wenn ihr nun weiterlest, alle Bedenken fahren! Denn es geht hier nicht um romanistische Fachsimpelei, nicht um trockenes Erbsenzählen, nicht um Philologie im engeren Sinn, sondern darum, dass wir genau lesen und uns von Literatur, von Balzac und den Verrücktheiten in seinen Büchern und in seinem Leben verführen lassen und einen Autor neu entdecken, der uns nach wie vor viel zu sagen hat. Es geht um Erzählungen und Romane als Lebensmittel.

Literatur wurde im 19. Jahrhundert und wird heute nicht für Fachwissenschaftlerinnen, Kritiker und Rezensenten, sondern sie wird für Leserinnen und Leser geschrieben. In ihren Dienst möchte ich dieses Buch stellen, und wenn es mir ein kleines Stück weit gelingt, meine Begeisterung für Balzac auf die Leserinnen und Leser zu übertragen sowie sein Werk und sein Leben in seiner Zeit zu verorten und auf unsere Verhältnisse hin durchsichtig zu machen, wäre schon viel erreicht. Um nicht mehr und nicht weniger geht es. Um die Lust und die Freude am Text.

Das vorliegende Buch ist also eine Einladung an Menschen, die sich für Literatur interessieren, mit Balzacs Universum Kontakt aufzunehmen. Um der besseren Lesbarkeit willen wurde auf Zitatnachweise und Fußnoten verzichtet. Der Anhang listet jedoch die Publikationen auf, die benutzt wurden. Wer will, wird also in die Lage versetzt, nach Belieben weiterzulesen und die Voraussetzungen meiner Aussagen kennenzulernen; wer bereits orientiert ist, weiß ohnehin um die Schultern, auf denen ich stehe.

Für Zitate benutze ich die deutsche Ausgabe von Verlorene Illusionen in der Übersetzung von Melanie Walz, Ursule Mirouët und Cousine Bette in der Übertragung von Nicola Denis, Glanz und Elend der Kurtisanen in der Übersetzung von Rudolf von Bitter, die elegante Übertragung von Modeste Mignon durch Caroline Vollmann, Die Theorie des Gehens und die Abhandlung über moderne Stimulanzien, die von Andreas Mayer ins Deutsche gebracht wurden, sowie die Lettre sur Kiew in der Ausgabe von Nicola Denis und Brigitte van Kann. Bei einigen Erzählungen zu musikalischen und künstlerischen Themen lege ich die Ausgabe von Stefan Zweifel zugrunde, bei allen anderen Romanen und Erzählungen Balzacs zitiere ich die Gesamtübersetzung der Comédie humaine von Ernst Sander, die ich bei Bedarf neu gefasst und präzisiert habe. In der Regel gehe ich chronologisch vor, folge den Daten der Erstpublikation, behandle aber die Texte nach der Ausgabe letzter Hand beziehungsweise der Referenzausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade, nach der sich Ernst Sander gerichtet hat. Balzacs Korrespondenz zitiere ich nach der Ausgabe von Roger Pierrot und Hervé Yon und die Lettres à Madame Hanska nach der Edition von Roger Pierrot; die Übersetzung der zitierten Briefstellen stammt meist von mir.

2. Ein Porträt des Künstlers als Toter, als Kind, zäher Bursche und Frauenfreund

Parallel zu meiner bisweilen besessenen Balzac-Lektüre begann ich, mich in die Biografiedes Schrifttellers zu vertiefen. Sie ist nicht mein Thema, es liegen etliche gute Arbeiten zum Leben Balzacs vor, doch es geht nicht anders: Ich werde immer wieder auf seine Biografie zurückkommen. Vor allem zu Beginn.

Honoré der Große starb am 18. August 1850. Als er zwei Tage später, wie er es testamentarisch verfügt hatte, in Paris auf dem Friedhof Père-Lachaise im Rahmen eines Armenbegräbnisses beigesetzt wurde, hielt einer der Literaturfürsten jener Jahre, hielt Victor Hugo die Grabrede, in der er, aus seiner Sicht, die Bedeutung des Toten herausarbeitete. Gerichtet an Meine Herren (Damen waren also offenbar nicht anwesend, was man kaum glauben mag, denkt man etwa nur an die Ehefrau des Verstorbenen und an seine Schwester), sagte er, dass Balzac jener mächtigen Generation von Schrifttellern des 19. Jahrhunderts angehörte, die nach Napoleon kam, als gebe es in der Entwicklung der Kultur ein Gesetz, das den Herrschern durch das Schwert die Herrscher durch den Geist nachfolgen lässt. In der Tat hatte Balzac im Laufe der Jahre und Jahrzehnte nahezu die ganze Welt erobert. Mit seinen Mitteln.

Balzac sei einer der Ersten unter den Größten, sagte Hugo, er sei einer der Höchsten unter den Besten gewesen. Er habe sein Werk als »Komödie« betitelt, er hätte es aber auch, und das hätte Balzac gefreut, da bin ich sicher, als »Historie« bezeichnen können, ein Werk, das aus Beobachtung und Fantasie zugleich bestehe: Der Verfasser jenes unermeßlichen und seltsamen Werkes gehört ohne sein Wissen und Wollen und vielleicht ohne daß er es vielleicht je geahnt hat, zu der kraft ollen Rasse der revolutionären Schriftteller. Balzac, und Hugo spricht sehr bewusst im Präsens, gehe geradewegs auf sein Ziel los, er packe die moderne Gesellschaft, Körper für Körper. Allen entreiße er etwas, den einen die Illusion, den andern die Hoffnung, diesen einen Schrei, jenen die Maske: Er durchwühlt das Laster, er seziert die Leidenschaft. Er höhlt den Menschen aus und sondiert die Seele, das Herz, die Eingeweide, das Gehirn, den Abgrund, den jeder in sich hat. Victor Hugo hat ohne Zweifel bereits einiges von dem wahrgenommen, was wir Heutigen so sehr an Balzac und seinen Romanen schätzen.

Dass Balzac nach dem Ende seines allzu kurzen Lebens eine Grabrede aus berufenem Munde zuteilwerden sollte, die solchermaßen auf Superlative abzielte, war ihm ebenso wenig in die Wiege gelegt wie die Tatsache, dass er ein Œuvre von weltliterarischem Rang schaffen würde. Sein Kinderbettchen stand im Haus seiner Eltern Bernard-François Balssa (1746–1829), der einer Familie von Bauern, Winzern und Landarbeitern aus dem Languedoc entstammte, und seiner Ehefrau Anne-Charlotte-Laure, geborene Sallambier (1778 [!]–1854), die einer wohlhabenden Familie von Leinwandhändlern und Tressenfabrikanten aus dem Pariser Stadtviertel Marais angehörte. Gesellschaftlich waren die Sallambiers den Balzacs fraglos überlegen; doch sowohl Joseph Sallambier, Laures Vater, als auch Bernard-François Balzac (ehemals Balssa) hatten in der Armee dem »Verpflegugscorps« angehört, das schweißte zusammen. Bernard, der sich seit 1802 nach einer adeligen Familie Balzac d’Entragues, mit der er keineswegs verwandt war, bisweilen de Balzac nannte, hangelte sich peu à peu wirtschaftlich und gesellschaftlich recht weit nach oben. Er machte am Ende des Ancien Régime Karriere als Sekretär beim Conseil du Roi, später als Militärintendant bei der Nordarmee.

Bernard-François heiratete im Jahr 1797 also die Tochter seines Vorgesetzten Sallambier, dem er es, wie der Unterstützung von Daniel Doumerc (1738–1816), einem »homme politique«, Financier und reichem Immobilienbesitzer, zu verdanken hatte, dass er im selben Jahr zum Direktor der Heereslieferungen bei der 22. Division in Tours ernannt wurde. Dort war er in der Folge als Beigeordneter des Bürgermeisters und als Finanzdirektor des Spitals tätig. Sallambier und Doumerc waren nicht nur befreundet, sondern beide waren sie Freimaurer, und sie waren es, die Bernard-François nach seiner Hochzeit in die Loge einführten. Hier werden ansatzweise Verbindungen sichtbar, wie sie in der Menschlichen Komödie (und nicht nur dort) allenthalben am Werk sind; heute würde man von Seilschaften oder Netzwerken sprechen.

Über den jüngsten, 1766 geborenen Bruder von Bernard-François, das will ich nur kurz erwähnen, über Louis Balssa verhängte das Schwurgericht von Tarn am 14. Juni 1819, also in jenem Jahr, in dem sich Honoré anschickte, Schriftteller zu werden, die Todesstrafe. Louis Balssa war des Mordes an Cécile Soulié, der Tochter eines Bauern, angeklagt worden, die er verführt und geschwängert haben soll. Sie wurde während der Schwangerschafterwürgt. Im Juli kam Jean-François Balzac (1783–1862), Notar in Mirandol bei Albi und Neffe von Bernard, nach Paris, um ein Gnadengesuch für Louis zu stellen. Aber es half nichts. Am 16. August wurde Louis Balssa in Albi guillotiniert, obwohl er möglicherweise unschuldig war.

Früh schon zählten die Balzacs in der Hauptstadt der Touraine zu den sogenannten besseren Kreisen. Sie lebten dort in einem Milieu, das man sowohl als in hohem Maße provinziell als auch in gewisser Weise als kosmopolitisch bezeichnen kann, denn ihm gehörten unter anderem die Priester des Klosters Saint-Gatien, ihre irischen Nachbarn und jene Kriegsgefangenen an, die nach dem Bruch des Friedens von Amiens (1802) verpflihtet waren, sich in Tours aufzuhalten. Angesichts des großen Altersunterschieds der Eltern überrascht es nicht, dass das Familienleben der Balzacs einigermaßen konflktreich verlief. Man weiß, dass einer der Kriegsgefangenen in ihrem Umkreis, der Spanier Ferdinando Heredia, Comte de Prado-Castellane, der Liebhaber der jungen Madame Balzac wurde. Honoré muss schon recht bald von dieser Affre seiner Mutter erfahren haben. Später sollte er in seiner Novelle La Grande Bretèche auf Heredia anspielen, in der ein Spanier namens Féredia auf Befehl des gehörnten Ehemanns bei lebendigem Leib eingemauert wird.

Etwa zur selben Zeit wie mit Heredia unterhielt Madame Balzac eine Beziehung zu Jean-François-Alexandre (de) Margonne, der ihr ihr letztes Kind schenkte, das 1807 geboren wurde: Henry Margonne war offenbar eine Art Krautjunker, angesiedelt irgendwo zwischen Bürgertum und Kleinadel. Ihm gehörte die Seigneurie von Saché und Valsne, die sein Großvater Jean Butet erworben hatte; Honoré besuchte ihn dort zwischen 1825 und 1848 häufi. Einmal schrieb er Ève Hanska, seiner Geliebten und späteren Ehefrau: Ich gehe dorthin wegen ihm. Während Balzac seinen Halbbruder Henry nicht ausstehen konnte, mochte er dessen Vater durchaus. Die Anrede seiner Briefe an ihn lautete Monsieur et ami, mein Herr und Freund. Seit 1951 ist im Schloss Saché ein Musée Balzac mit circa 2.300 Exponaten untergebracht.

Als erstes Kind von Bernard-François Balzac und seiner Frau Laure kam am 20. Mai 1798 Louis-Daniel zur Welt; er wurde wohl zu Ehren seines Großvaters mütterlicherseits und Daniel Doumercs, des Gönners des Vaters, so genannt. Louis-Daniel lebte nur dreiunddreißig Tage und starb möglicherweise infolge von Stillproblemen der Mutter. Vielleicht verweigerte sie aus diesem Grund ihren anderen Kindern die Brust. Allerdings entsprach es dem bürgerlichen Stil der Zeit, den Nachwuchs zur Versorgung und Erziehung außer Haus zu geben. Ganz abgesehen davon, dass die Beschäftigung mit ihren Kindern Madame Balzacs erotischen Bewegungsdrang nur behindert hätte. Und nach den harten, entbehrungsreichen Jahren der Revolutionszeit hatte die Lebenslust Nachholbedarf – gerade im Fall einer jungen Frau, deren Mann mehr als dreißig Jahre älter war als sie.

Honoré wird exakt ein Jahr nach Louis-Daniel am Honorius-Tag, dem 20. Mai 1799, in Tours geboren. Am selben Tag erhält das Directoire ein neues Mitglied: Emmanuel Joseph Sieyès. Gewissermaßen in Klammern will ich hinzufügen, dass am 18. Brumaire VIII des französischen Revolutionskalenders, also am 9. November 1799 ein Staatsstreich stattfidet: Das Direktorium und die Französische Revolution enden. Mithilfe des Militärs, seines Bruders Lucien und weiterer Verwandter löst Napoleon das Direktorium auf und sprengt den Rat der Fünfhundert. Die beiden Revolutionshistoriker François Furet und Denis Richet halten fest: Leclerc, Bonapartes Schwager, und Murat, sein zukünftiger Schwager, führen das Familienunternehmen zum eindrucksvollen Abschluß. Am Eingang zum Saal der Fünfhundert, wo ihm lauter Protest entgegenschallt, gibt Murat seinen Soldaten den knappen Befehl: ›Setzt mir die Leute alle an die Luft.‹ Fünf Minuten später ist der Saal leer. Die Vertreibung der Fünfhundert bedeutet den Sieg der Verschwörung; denn nun ist es auch mit dem Taktieren des Rates der Alten vorbei. Er beschließt, das Direktorium durch einen aus drei Mitgliedern bestehenden provisorischen Exekutivausschuss zu ersetzen. Aber, wie es Sieyès vorausgesehen hat, haben die Ereignisse dieses Tages das Eingreifen der Armee etwas zu auffällig gemacht. Jetzt sind Sieyès und Lucien Bonaparte darauf bedacht, der ganzen Angelegenheit einen ›legaleren‹ Anstrich zu geben. Sie werden alle Hebel in Bewegung setzen, um die in die Schenken und Gastwirtschaften von Saint-Cloud geflüchteten und merklich abgekühlten Mitglieder des Rates der Fünfhundert aufzustöbern und zu überreden, eine letzte Sitzung abzuhalten. Etwa hundert Abgeordnete finden sich dazu bereit. Bei Kerzenlicht läßt Lucien sie im Saal der Orangerie, wo es nach den Krawallszenen geradezu gespenstisch zugeht, eine Dankadresse an die Generäle verabschieden und die Schaffung eines ›konsularischen Exekutivausschusses‹ beschließen, ›der sich aus den ehemaligen Direktoren Bürger Sieyès und Bürger Roger Ducos sowie dem General Bürger Bonaparte zusammensetzt, die den Titel Konsuln der Republik führen‹.

Als Erster Konsul wird Napoleon faktisch zum Alleinherrscher. Das ist für unsere literarischen Zusammenhänge nicht unwichtig, denn bis 1814/15 wächst Honoré mit Napoleon auf, wächst er in eine vom späteren Kaiser geprägte Welt hinein. Napoleons Stern geht auf, er wird zu Honorés Leitstern. Der Junge hat ihn vielleicht sogar gesehen, bei einer Parade oder einer Truppenbesichtigung während der Hundert Tage. Und ein Leben lang wird er den Kaiser bewundern.

Am 29. September 1800 kam Balzacs Lieblingsschwester Laure, am 18. April 1802 Laurence zur Welt. Die Wiegen der Kinder standen in Wahrheit nicht im Elternhaus, denn sowohl Honoré als auch Laure und wahrscheinlich Laurence wurden nach der Geburt einer Amme im Nachbardorf Saint-Cyr-sur-Loire übergeben, die in unmittelbarer Nähe eines Besitzes mit dem Namen La Grenadière wohnte; noch im Jahr 1846 beschrieb der Schriftteller seine einstige Nährmutter als Gendarm. Bei ihr blieb Honoré bis zum Sommer 1803. Während sein Halbbruder Henry von seiner Mutter offenbar abgöttisch geliebt wurde, fühlte sich Honoré von ihr und ihrer Kälte zurückgestoßen. Seine Korrespondenz und seine Romane sind voller Anspielungen auf seine »schlechte Mutter«, mit der er freilich nie gebrochen hat und die ihm, gerade in seinen späteren und späten Jahren, in vielerlei Hinsicht zu Diensten war.

Von 1804 bis 1807 war Honoré externer Schüler des Internats Le Guay in Tours, im Juni 1807 schickten ihn die Eltern in das von den Oratorianern gegründete, unter der Revolution säkularisierte Collège in Vendôme im Loiretal, wo Honoré bis zum April 1813 blieb. Das Internat wurde von den Direktoren Lazare-François Mareschal und Jean-Philibert Dessaignes geleitet; beide hatten der Nation den Eid geleistet, beide hatten geheiratet, doch sie hielten dem katholischen Glauben die Treue.

Es muss in Vendôme eine schlimme Zeit für den jungen Balzac gewesen sein, die von klösterlicher Strenge, von Prügelstrafen, Karzer und Unterdrückung geprägt war. Der früheste Brief, der von Balzac überliefert ist, stammt aus dem Jahr 1809. Er ist an seine Mutter gerichtet. Darin heißt es: Ich denke, dass mein Papa untröstlich war, als er erfuhr, dass ich im Alkoven war. Ich bitte Dich, ihn zu trösten, indem Du ihm sagst, dass ich ein Akzessit erhalten habe. Der Alkoven war eine Arrestzelle in einem kleinen Kämmerchen unter einer Treppe, das Akzessit meint einen Preis, der Honoré am 30. April verliehen wurde.

Man hat versucht, Balzacs Roman Louis Lambert, dessen gleichnamiger Protagonist ein Internatszögling der Oratorianer von Vendôme ist, als Quelle für Honorés Jugend zu nutzen. Dabei war man sich häufignur allzu unzureichend bewusst, wie problematisch ein solches Verfahren ist, aus einem Stück Literatur auf die tatsächlichen biografischen Gegebenheiten zu schließen – wie reizvoll das auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Schulverwaltung hielt demgegenüber lapidar fest: Nr. 460. Honoré Balzac, alt acht Jahre und einen Monat. Hat die Pocken gehabt, ohne nachwirkende Schädigungen. Charakter vollblütig, erhitzt sich leicht und ist gelegentlich Hitzefiebern unterworfen.

Freilich kann es keinen Zweifel daran geben, dass der Roman Louis Lambert stark autobiografisch geprägt ist und zahlreiche Elemente des Schulalltags in sich aufgenommen hat. Noch in einem Brief an Madame Hanska vom 2. Januar 1846 erinnerte sich Balzac an seine Zeit voller Einsamkeit: Ich hatte keine Mutter mehr […] während sechseinhalb Jahren, ich wurde nach Vendôme geschickt, dort bin ich geblieben bis 1813, als ich vierzehn Jahre alt war; in dieser Zeit habe ich meine Mutter nur zweimal gesehen. Dass Balzac von diesen Jahren ein Gefühl von Leiden, Verlassenheit und Bitterkeit zurückbehielt, dürfte unabweisbar sein.

Druck erzeugt Gegendruck oder bringt Ausweichbewegungen hervor, und für seine Biografiewurde das Leben im Internat so zu einer eminent wichtigen Phase. Was den offizllen Unterricht anging, war der junge Balzac offenbar ein miserabler Schüler. Doch Honoré hatte freien Zugang zur Bibliothek; Hyacinthe-Laurent Lefebvret, sein Nachhilfelehrer am Collège und Bibliothekar des Gymnasiums, stellte Honoré unzählige Bücher zur Verfügung, die er in seinem Arrest-Alkoven oder anderswo auf dem Internatsgelände verschlang. Der junge Schüler begann, sich durch die verschiedensten Wissensgebiete zu lesen. In den klösterlich-gefängnisartigen Verhältnissen von Vendôme, die ebenso welt- wie lebensfremd waren, eignete er sich mit einer zügellosen Besessenheit, die vielleicht schon ein wenig seiner späteren Arbeitswut als Schriftteller entsprach, ein ungeheuer großes Wissen, eine Welt der Fantasie und seinen Hang zur Esoterik an, die für ihn bedeutsam werden sollten. Und schon damals begann er mit Schreibversuchen.

Auf Dauer hielt Balzacs Körper den Lebensbedingungen und Belastungen im Collège nicht stand. Er magerte extrem ab, wurde apathisch, war irgendwann kaum noch ansprechbar. Schließlich alarmierte die Schulleitung seine Mutter, die ihn am 22. April 1813 abholte. Zurück in Tours, begann er sich rasch zu erholen. Doch Honoré durfte nicht lange zu Hause bleiben und das freie Leben genießen. Zu Beginn des Sommers übergaben seine Eltern ihn dem bürgerlichen Pensionat Ganser im Pariser Marais-Viertel, und er besuchte nun in der Hauptstadt das Lycée Charlemagne. 1814, im Zuge des Zusammenbruchs des Kaiserreichs, holte seine Mutter, die die Invasion der Alliierten fürchtete, Honoré wieder ab und brachte ihn nach Tours zurück, wo er im Collège de la Ville die Schulbank drücken sollte. Im Herbst wurde Bernard-François Balzac, die Familie Doumerc machte es möglich, zum Leiter des Proviantamts der Ersten Division in Paris ernannt, und mit dem Umzug der ganzen Familie kehrte Honoré ins Marais und bis Sommerende 1816 in das Gymnasium Charlemagne zurück.

Danach beginnt ein neuer Abschnitt. Der junge Balzac immatrikuliert sich an der juristischen Fakultät. Er arbeitet zudem, wie vor ihm bereits Eugène Scribe, als dritter Anwaltsgehilfe in der Kanzlei von Guillonnet de Merville, den er in der Menschlichen Komödie als Rechtsanwalt Derville mehrfach porträtieren wird, und anschließend bei einem Freund seines Vaters, dem Notar Victor Passez. Der duale Ausbildungsgang entsprach den juristischen Gegebenheiten der Zeit.

Doch im Juli 1819 wirftHonoré, nach der ersten juristischen Prüfung, hin. Er will weder Anwalt noch Richter oder Notar und schon gar nicht, wie von der Familie geplant, Nachfolger von Victor Passez werden. Der junge Balzac gibt die juristische Laufbhn auf und erklärt seinen Eltern, er wolle auf die Literatur setzen und Schriftteller werden. Das war ganz sicher ein Donnerschlag. Zumal sich die Familie nach dem Zusammenbruch einer Bank, durch den sie eine größere Summe verlor, und angesichts der überraschend schmalen Rente von Balzac-Père, der am 1. April in den Ruhestand versetzt wurde, in einer ohnehin angespannten fianziellen Situation befand. Um Geld zu sparen, sehen sich die Balzacs gezwungen, in die vor den Toren von Paris liegende Kleinstadt Villeparisi umzuziehen.

Angesichts dieser Situation grenzt es an ein Wunder, dass die Familie, ja sogar die Mutter nachgibt und dem Sohn für eine Probezeit von zwei Jahren ein allerdings dürftiges Überbrückungsgeld gewährt. Honoré zieht in eine üble Mansarde in der Rue Lesdiguieres 9 im Marais, durch deren löchriges Dach der angehende Autor immerhin den Pariser Himmel bewundern kann, und hat am Tag einen halben Franc zu seiner Verfügung. Angetan mit einem alten Kutschermantel und einer Wollweste, versucht er sich an seinen ersten Texten, Schauspielen und Spielopern, und vor allem kapriziert er sich seit August 1819 auf ein Tragödienprojekt in Alexandrinern zu Oliver Cromwell, mit dem er krachend scheitern sollte. Drei offenbar kompetente Herren, Andrieux, Professor am Collège de France, Raynouard, Mitglied des Lesekomitees am Théâtre Français, und der Schauspieler Lafon fällen ein vernichtendes Urteil. Andrieux soll geäußert haben, der Verfasser möge sich beschäftigen, womit er will, nur nicht mit Literatur. Das Stück wurde erst 1925, fünfundsiebzig Jahre nach dem Tod des Autors, veröffentlicht. Balzac ließ sich jedoch nicht entmutigen: Tragödien sind nicht mein Fall; daran liegt es.

Von 1822 an publiziert Balzac unter den Pseudonymen Lord R’Hoone, einem Anagramm von Honoré, und Horace de Saint-Aubin seine ersten Romane. Sie sollten ihrem Autor Geld einbringen, aber das war nicht der Fall, die Bücher zeitigten keinen Erfolg. Balzac hat sie später nie zu seinem Werk gezählt.

Honoré führt ein kümmerliches Dasein, er ist ganz unten angekommen. Dennoch bleibt er unverdrossen und beginnt Rezensionen zu schreiben. Dann begeht er einen großen Fehler: Zusammen mit dem Verleger Urbain Canel (1789–1867) plant er im Jahr 1825, die Werke Molières und La Fontaines herauszugeben, jeweils in einem Band. Das Projekt zieht sich hin und erweist sich 1826 als Rohrkrepierer. Die Texte werden aus Platzgründen so klein gedruckt, dass sie kaum lesbar sind und im Handumdrehen zu Ladenhütern mutieren.

Balzac aber lässt sich weiterhin nicht unterkriegen. Zu Beginn der Tudor-Trilogie von Hilary Mantel ruftWalter dem verletzt am Boden liegenden Cromwell zu: Und nun steh auf! Balzac muss sich das unzählige Male gesagt haben. Er will wieder aufstehen, er will groß werden und vor allem will er reich werden und berühmt. Das Verlangen nach Reichtum, Ruhm und einem luxuriösen Leben ist zu diesem Zeitpunkt die Triebkraft ll seiner Tätigkeit.

Am 1. Juni 1826 erwirbt Balzac ein Druckerpatent und, zu äußerst ungünstigen Konditionen, eine Druckerei: sein nächster Fehler. Das Geld für ihn leiht er sich bei seiner Mutter und bei einer gewissen Madame de Berny, von der noch zu sprechen sein wird. Im Juli 1827 kommt eine Letterngießerei hinzu – wieder mit dem Geld von Madame de Berny. Man sieht: Balzac verstand etwas vom Druckgewerbe, als er die Verlorenen Illusionen in Angriffnahm. Das hinderte freilich nicht, dass er als Drucker scheiterte, denn gegen die aktuell grassierende Wirtschaftkrise war er ebenso machtlos wie gegen seine Unfähigkeit als Geschäftmann. Die Angelegenheit geriet ihm schnell zu einem fianziellen Fiasko. Im Februar 1828 zog sich sein Kompagnon André Barbier, der Techniker der Firma, aus dem erfolglosen Unternehmen zurück. Balzac musste seine Gießerei an einen Sohn von Madame de Berny abtreten, bald darauf verkaufte er die Druckerei an seinen ehemaligen Mitinhaber Barbier und blieb auf Schulden in Höhe von sechzigtausend Francs sitzen. Er wird von seinen Gläubigern gehetzt, taucht unter und zieht in eine Wohnung in der Rue Cassini 1, ziemlich weit draußen: nicht mehr ganz Metropole und noch nicht Provinz. Die Miete bezahlt Schwager Surville, der Mann seiner Schwester Laure.

Längst hatte Balzac, nachdem er über eine lange Zeit hinweg offenbar abgerissen herumgelaufen war, damit begonnen, einen aufwendigen Lebensstil an den Tag zu legen. So verwundert es nicht, dass, nachdem im Jahr 1829 die meisten Gläubigerforderungen aus dem geschäftlichen Bankrott ausgeglichen waren, immer noch ein Schuldenstand von über einhunderttausend Francs blieb. Der Kampf mit unzähligen Gläubigern, mit Wechseln und einer schier erdrückenden Schuldenlast: Dieses Thema wird Balzac nicht mehr los, denn er, der in einer vor Schmutz starrenden Mansarde angefangen hatte, wollte jetzt in Saus und Braus leben und gab Unsummen aus. Doch Wirtschaftkrise hin, Rezession her: Madame de Bernys Sohn, der Saint-Simonist Alexandre Deberny [sic!], verstand offenbar mehr von Geschäften als Balzac und brachte die Druckerei zu neuer Blüte; unter dem Firmennamen »Deberny & Peignot« und mit neuen Partnern existierte sie bis 1970.

Und nun steh auf, Balzac! Er tut es, er schafft es immer wieder. Im April 1829 erscheint der erste Roman, den der Schriftteller, überarbeitet, in die Menschliche Komödie integrieren wird: Der letzte Chouan oder die Bretagne im Jahr 1800. Bevor ich mich ihm zuwende, blende ich nochmals kurz zurück. Bereits im Jahr 1822 hatte Balzac seine erste große Liebe kennengelernt, und zwar im Umkreis seiner Eltern in Villeparisis: Louise Antoinette Laure de Berny, die Honoré, nach Ausweis seiner Briefentwürfe (die Briefe selbst wurden unmittelbar nach dem Tod seiner Angebeteten im Jahr 1836, wie von ihr verfügt, verbrannt) stets als »Laure« ansprach. Oder als seine »Dilecta«, die Vielgeliebte. Es ist auffllend, dass sich Frauen mit dem Vornamen Laure in Honorés Leben zu häufen begannen. Seine Mutter hieß Laure, seine Lieblingsschwester hieß Laure, und nun kam noch eine Geliebte hinzu, die denselben Namen trug wie Petrarcas Laura.

Madame de Berny kam am 23. Mai 1777 als Tochter des aus Wetzlar stammenden, am französischen Königshof tätigen Harfenisten Philipp Joseph Hinner und seiner Frau Marguerite Louise Amélie Guelpe de la Borde, einer Kammerdienerin Marie-Antoinettes, zur Welt. Als knapp Sechzehnjährige heiratete sie den um neun Jahre älteren Gabriel de Berny, der als kalt und zurückhaltend geschildert wird und mit dem sie die Revolutionsjahre mehr schlecht als recht überstand. Die neun- bzw. zehnfache Mutter (ein Kind stammte von André Campi, dem Sekretär von Lucien Bonaparte) hatte etliche Affren und war zweiundzwanzig Jahre älter als Balzac, der sie mit zahlreichen werbenden Episteln eroberte. Die wenigen von ihr überlieferten Briefe vermitteln das Bild einer von der Ehe enttäuschten, lebenshungrigen, klugen und sinnlichen Frau. Sie begegnete Balzac mit Leidenschaft und Bewunderung, aber ebenso mit einer mütterlichen Zuwendung, die ihn seine eigene Mutter hatte entbehren lassen.

Laure de Berny war für Balzac beides: Geliebte und Mutter, und so kommt es nicht ganz überraschend, dass er sie in einem Briefentwurf, der vermutlich von Anfang Mai 1822 stammt, als Ma pauvre Maman anspricht. Ihr verdankt er die Kenntnis der »Welt« und das Wissen, wie man sich in ihr verhält. Sie war es, die ihn mit Informationen aus erster Hand über das Ancien Régime, die Revolution, das Direktorium und das Kaiserreich ausstattete, Informationen, die sich für den Autor der Comédie humaine als unschätzbar erweisen sollten. Laure kannte den Pomp und das frivole Leben des Hofes wie die Stürme und Konspirationen der Revolutionszeit aus eigener Anschauung. André Maurois bewertete die Bedeutung von Madame de Berny für Balzac dementsprechend als herausragend: Gleichzeitig sinnlich, klug und zärtlich, war sie für ihn ein ›vom Himmel herabgestiegener Engel‹. Sie hat ihn geformt, gebildet, geleitet. Ohne sie wäre das Genie Balzacs vielleicht nie aufgeblüht. An die Adresse einer mysteriösen, noch immer nicht identifizieten »Louise«, offenbar eine Aristokratin, die unter allen Umständen anonym bleiben wollte, schrieb Balzac Ende August 1836, nach dem Tod von Madame de Berny: Die Person, die ich verloren habe, war mehr als eine Mutter, mehr als eine Freundin, mehr als was jedes Wesen für ein anderes sein kann. […] Sie hat mich unterstützt mit Worten, durch ihr Handeln, mit ihrer Aufopferung während der großen Unwetter. Wenn ich lebe, dann dank ihr, sie war alles für mich.

Doch all dies hielt Honoré nicht davon ab, mit der um fünfzehn Jahre älteren Duchesse d’Abrantès, einer weiteren Laure und Witwe des kaiserlichen Generals Andoche Junot, eine kurze Liaison einzugehen. Er half ihr bei der Redaktion ihrer Memoiren und war für sie gewissermaßen als literarisches Faktotum tätig; sie wiederum führte Balzac da und dort in die Gesellschaftein, zum Beispiel in den Salon von Juliette Recamier, dessen Zentralgestirn François-René de Chateaubriand war. Obwohl sie ihren alten Glanz längst verloren hatte, vermochte die Herzogin d’Abrantès den jungen Balzac zu beeindrucken, auch sie nicht zuletzt als historische Quelle, die er gut brauchen konnte. Diese Frau, sagte er einmal zu der Salonniere und Schrifttellerin Virginie Ancelot, hat Napoleon als Kind gesehen, sie hat ihn als jungen Mann gesehen, der noch unbekannt war, sie hat ihn gesehen, als er noch mit den gewöhnlichen Dingen des Lebens beschäftigt war, dann hat sie ihn gesehen, wie er größer wurde, sich erhob und seinen Namen in der Welt verbreitete! Sie ist für mich wie eine Heilige, die sich zu mir gesetzt hat, nachdem sie im Himmel, ganz nahe bei Gott, gelebt hatte.

Andere Frauen sollten hinzukommen, beispielsweise Claire de Castries (1796–1861), eine Marquise und spätere Duchesse, die sich mit Balzacs Werken beschäftigte und ihm schrieb; Honoré fig sofort Feuer, doch sie ließ ihn sexuell abblitzen, wofür er sich bei seiner »Dilecta« schadlos hielt; oder Caroline Marbouty (1803–1890), frustrierte Ehefrau des Gerichtsschreibers »en chef« von Limoges, die, in Männerkleidung, Balzac als dessen angeblicher Page Marcel im Jahr 1836 nach Italien begleitete; 1842 widmete Balzac ihr die Novelle La Grenadière mit den freundlichen Worten: Für Caroline, die Poesie der Reise, der dankbare Reisende. Seltsamerweise reagierte die Marbouty im Jahr 1844 unter ihrem Autorinnennamen Claire Brunne mit dem bissigen Roman Eine falsche Position, in dem der Autor nicht gerade im besten Licht erscheint; oder Zulma Carraud (1796–1889), Balzacs platonische Freundin, Briefpartnerin und Kritikerin, die, ganz anders als der Schriftteller, zeitlebens eine überzeugte liberale Republikanerin war, der er dennoch verbunden blieb und der er im Oktober 1838 die Novelle Das Bankhaus Nucingen mit folgenden Worten widmete: Sind Sie es nicht, Madame, deren hohe, beeindruckende Intelligenz für Ihre Freunde wie ein Schatz ist, Sie, die Sie für mich zugleich eine ganze Öffentlichkeit und eine nachsichtige Schwester sind […]? Oder Ève Hanska (1804–1882), die hochadlige, reiche Polin aus der Ukraine, die für Balzac zur Frau des Lebens werden sollte, die er freilich erst am 14. März 1850, also ein paar Monate nur vor seinem Tod, im fernen Berditscheff heiraten konnte: eine weitere Exzentrizität in einem Leben, das an Überspanntheiten und Verrücktheiten besonders reich war.

3. Die Geburt eines Kosmos

An dieser Stelle breche ich vorerst meine knappen biografischen Erläuterungen ab. Nicht als Selbstzweck habe ich einige Details zu Balzacs Leben notiert, sondern um anzudeuten, vor welchem persönlichen Hintergrund sich die Comédie humaine entwickeln und entfalten sollte. Das schrifttellerische Werk nimmt aber nicht nur immer wieder Bezug auf den eigenen Lebensweg, sondern vor allen anderen Dingen auf die historisch-politische Entwicklung seit dem Zusammenbruch des Ancien Régime und seit der Französischen Revolution. Balzacs Œuvre richtet seine Aufmerksamkeit auf das Empire, die Restauration und die Julimonarchie und zeigt, dass seit und dank der Revolution letztlich kein Stein auf dem anderen blieb, dass sich die Welt grundsätzlich verändert hatte und beständig weiter veränderte. Die einstmals starre, mehr oder minder fest gefügte Gesellschaftist in Bewegung geraten, neue Karrieren werden möglich, Reiche werden arm und sinken darnieder, Arme werden reich und steigen auf, der Adel besetzt nicht mehr allein, politisch und gesellschaftlich, Spitzenpositionen, andere Schichten gewinnen an Macht, Einfluss und ökonomischer Bedeutung. Um es auf einem abstrakteren Niveau und mit den Worten des Schrifttellers und Balzac-Bewunderers Jules Barbey d’Aurevilly zu sagen: Die gefallene Revolution lebte unter den Füßen ihrer Feinde weiter. Eines Tages ermüdeten diese Füße. Die Revolution richtete sich auf, erhob sich bedrohlich, stärker als früher, wie alles, was man nicht brechen konnte, weil sie für einen Moment unterdrückt worden war. Sie faszinierte die Regierungen mehr, als sie sie besiegte, weil diese sich nicht verteidigen wollten.

Balzac macht all diese Phänomene an seinen Themen, Motivketten, an Paradigmen fest, die eng mit seinem eigenen Leben verknüpft sind: dem Leben in Paris und in der Provinz, Liebe, Sexualität, Ehe und Moral; Geld, Geldverlust, Spekulation, den Kämpfen zwischen Schuldnern und Gläubigern, der Welt der Spieler, der Theater, der Boudoirs und der Kurtisanen, der Presse und ihrer Jobs, dem entfesselten Literaturbetrieb, dem Recht und seinen Winkelzügen, der Politik, den kleinen und den großen Verbrechen. Ja, sein eigenes Leben macht die neue Durchlässigkeit der Gesellschaft, die Aufstiegsmöglichkeiten deutlich: Ein zunächst vergleichsweise kleiner Bürgersohn, der in der Spätphase des Direktoriums zur Welt kommt und dessen Onkel als Schwerverbrecher hingerichtet wird, schwingt sich zum Liebhaber von Gräfinen und Herzoginnen auf, gibt den Lebemann und verkehrt in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen; am Ende gelingt es ihm, eine hochadlige, märchenhaftreiche Osteuropäerin zu heiraten, mit der er sich endlich fianziell absichert – auch wenn ihm das nichts mehr nützt, weil er schwer krank ist und bald sterben wird.

Sein riesiges Zeitenpanorama, das ungefähr, zwischen 1789 und 1848, mehr als ein halbes Jahrhundert umfasst, präsentiert uns Balzac nicht etwa als eine starre Konstruktion, sondern als eine literarische Geschichte der Sitten, die in ständiger Bewegung begriffen ist, als ein vor Figuren und Ereignissen wimmelndes, unruhiges Bild, das fortlaufend weiterentwickelt wird. Damit befidet er sich auf der Höhe der Zeit. Mehr als das: Er ist wegweisend. Gustave Flaubert gibt seiner Madame Bovary, die 1857 erscheint, den Untertitel mœurs de province (Sitten der Provinz). Und das Tagebuch von Edmond und Jules de Goncourt hält am 14. Januar 1861 u. a. fest: Eines der außergewöhnlichsten Merkmale unserer Romane wird sein, daß sie die historischsten Romane dieser Zeit sind, jene (,) die die meisten wahren Fakten und Wahrheiten zur Sittengeschichte dieses Jahrhunderts beisteuern werden. Man sieht schon hier: Balzac begründete eine Art »Schule«. Aber er ist größer und meist lebendiger als seine Nachfolger. Das Lebenswerk, das er geschaffen hat, ist allerdings weit mehr als ein schlichtes Panorama der Sitten, sondern eine riesige und dazu bewegliche, fluide Romanarchitektur, die ihr Autor mit äußerster Kraftanstrengung über Jahre und Jahrzehnte hinweg geformt hat.

Mitte der Zwanzigerjahre, noch vor seinen desaströsen Erfahrungen als Drucker, beginnt Balzac sich literarisch neu zu positionieren und sucht, in Zusammenarbeit mit Horace Napoléon Raisson, Anschluss an moderne journalistische Schreibweisen. Gleichgültig wie die Zuschreibungsfragen bei manchen der anonym erschienenen Essays zu entscheiden sind, die als unterhaltsame Parodien des Code civil daherkommen, so ist doch klar, dass Balzac sich, etwa mit dem Code des gens honnêtes ou L’Art de ne pas être dupe des fripons (1825), den er nahezu allein verfasst, bereits den Themen der Menschlichen Komödie annähert. Das Gesetzbuch der ehrbaren Leute spielt mit den Ängsten des Bürgers vor dem Verlust seines Besitzes, vermittelt im Kontrast dazu aber auch Einblicke in gesellschaftliche Abgründe und bereitet, indirekt, Balzacs Paris-Romane mit ihren sozialen Panoramen vor.

Nachdem der Schriftteller damit begonnen hatte, unter seinem Namen (aber noch ohne Adelsprädikat) zu publizieren, brachte er 1829 (und vordatiert auf 1830) nochmals anonym (von einem jungen Unvermählten) die Physiologie du Mariage (Die Physiologie der Ehe) heraus, in Anlehnung an Jean Anthelme Brillat-Savarins Physiologie du goût (1825). Balzacs umfangreiche Studie über die Ängste der Ehemänner, von ihren Frauen betrogen zu werden, operiert unter anderem bereits mit der Physiognomik Lavaters und Galls (zu ihnen später). Das Brevier des ehelichen Machiavellismus, das vom Geist Sternes und Rabelais’ durchdrungen ist, entwickelt sich auf der Basis witzig instrumentalisierter statistischer Überlegungen und enthält eine Fülle von Anekdoten, Motiven, Szenen, Stoffen. Und so verfällt Balzac auf den glänzenden Gedanken, künftig kurze Erzählungen als Sittenstudien zu schreiben. Eine Art Protoidee für sein großes Werk war geboren.

Von der Physiologie du Mariage hatte Balzac schon im Juli 1826 eine erste Fassung angekündigt, aber nicht ausgeliefert. Man kennt nur ein Exemplar dieser präoriginalen Ausgabe. Das publizierte Werk machte Balzac dann, obwohl ohne den Namen des Autors erschienen (die Einführung war freilich mit H. B. gezeichnet), schlagartig bekannt, denn es war ein frappierend offenes, anstößiges Buch. Im Mai 1829 bereits war der Code conjugal von Horace Raisson herausgekommen, zu dem Balzac vermutlich viel beigetragen hat: eine Sammlung von Regeln, Gesetzen und ihren Anwendungsmöglichkeiten zur Kunst, in der Ehe glücklich zu sein. Balzacs eigene Veröffentlichung ist stärker gegliedert und besteht aus den Teilen Allgemeine Betrachtungen, Von den Verteidigungsmitteln im Inneren und nach außen und Über den Bürgerkrieg. Der erste Teil bietet eine Analyse der Ehekrise, die beiden folgenden entwickeln mögliche Gegenstrategien und Hilfsmittel.

Balzacs Physiologie der Ehe erwies sich als Trendsetter. Ihre Neuauflage im Jahr 1838 löste eine Welle von Physiologien des Ehelebens aus. Dessen ungeachtet basiert sein Ehetraktat auf dem wissenschaftlichen beziehungsweise pseudowissenschaftlichen Denken der Zeit. Man hat vermutet, dass Balzacs Sachwissen auf Mitteilungen und Erzählungen von Madame de Berny, der Herzogin d’Abrantès und der Schrifttellerin Sophie Gay (1776–1852) fußt, bei der er sich an anderer Stelle für die Anregung zu seinem Ball von Sceaux durch ihren Roman Anatole (1815) bedankt. Das mag sein. Wichtiger jedoch scheint mir die Frage, ob die Physiologie ironisch gelesen werden muss, denn die Ratschläge für den Ehemann laufen reihenweise auf Misserfolge hinaus. Innerhalb der Menschlichen Komödie nimmt sich die Physiologie auf den ersten Blick ein wenig seltsam aus. Man wird sie wohl als Zwischenstation auf Balzacs Weg zu seinem erzählerischen Universum verstehen dürfen, in dem Ehe und Liebe zentrale Konflktfelder sind.

Im April 1830 veröffentlicht Balzac, den man zu diesem Zeitpunkt schon von dem Roman Der letzte Chouan und von der Ehestudie kennt, Scènes de la vie privée, sechs Novellen in zwei Bänden, das erste Grundelement seines Großwerks. Im Mai 1832 folgt eine zweite Ausgabe in vier Bänden. Später, weiter unterwegs zu seiner Weltkomödie, beginnt Balzac zunächst Gruppentitel zu schaffen, unter die er seine Werke subsumieren will. So sollen unter dem Dach der »Sittenstudien« die Szenen aus dem Privatleben, jene aus der Provinz und jene aus Paris erscheinen, dazu jene aus dem politischen Leben, dem Soldatenleben und jene, die vom Landleben erzählen. Hinzu kommen die Philosophischen Studien und die Analytischen Studien.

Der Haupttitel taucht erst nach und nach auf, die ersten drei Mal in einem »Dossier préparatoire« (1839), außerdem in einem Brief an den Herausgeber Armand Dutacq (1810–1856), der wahrscheinlich ins Frühjahr 1839 zu datieren ist: Der Gesamttitel lautet »La Comédie humaine«, dann erst wieder am 1. Juni 1841 in einem Schreiben an Ève Hanska und im Vertrag mit den Verlegern Pierre-Jules Hetzel, Nicolas Jean-Baptiste Paulin, Jacques-Julien Dubochet und Charles Furne vom Oktober 1841, mit dem er sein Werk zum ersten Mal einem einzigen Verlagshaus anvertraut. Die Edition Furne ist die wichtigste Ausgabe, die zu Lebzeiten Balzacs erschien; in sein Handexemplar trug der Autor nachträgliche Korrekturen ein. Die sogenannte Édition Furne corrigée wurde daher später zur Grundlage aller maßgeblichen Textausgaben. Endlich, Cara, schreibt Balzac nach dem Vertragsabschluss an die Hanska, habe ich einen Kontrakt für eine Gesamtausgabe meiner Werke unterschrieben, die von einem großen Verlagshaus vermarktet und mit luxuriöser Ausstattung und zu einem besseren Preis veröffentlicht werden. Balzac kommt es aber nicht nur darauf an zu zeigen, dass sein Werk mehr darstellt als die einzelnen Romane; er geht noch einen wesentlichen Schritt weiter.

Verneigt euch vor mir, denn ich bin im Begriff, ein Genie zu werden! Als Balzac im Jahr 1834 diese Worte an seine Schwester Laure Surville richtet, übertreibt er nicht. Seine Idee ist tatsächlich genial. Bei der Niederschriftseines Père Goriot beginnt er damit, die Technik, Personen wiederholt auftreten zu lassen, die er schon in seinem anonymen Frühwerk benutzt hatte, systematisch anzuwenden. Er lässt zum Beispiel Rastignac wieder erscheinen, der bereits in La Peau de chagrin eine Rolle spielt, oder Madame de Beauséant, die man aus La Femme abandonnée kennt, oder er veränderte Namen älterer Figuren. Von den mehr als zweitausend Personen, die uns auf den Seiten der Menschlichen Komödie