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Die ausgewählten Texte in diesem Buch zeugen von der faszinierenden Ausstrahlung des vielseitigen, vielstimmigen literarischen Schaffens namhafter Autorinnen und Autoren palästinensischer Herkunft mit unterschiedlichem historischem Kontext. Sie erzählen ungeschönt und phantasievoll aus dem oft absurden Alltagsgeschehen, von ergreifenden Schicksalen, von Kindheitserinnerungen, von Trauer und Verlust, aber auch von Momenten des Glücks. In ihren Romanen, Erzählungen, biographischen Aufzeichnungen oder Gedichten schreiben sie alle gegen das Vergessen an.
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Seitenzahl: 109
Veröffentlichungsjahr: 2024
Die ausgewählten Texte in diesem Buch zeugen von der faszinierenden Ausstrahlung des vielseitigen, vielstimmigen literarischen Schaffens namhafter Autorinnen und Autoren palästinensischer Herkunft mit unterschiedlichem historischem Kontext. Sie erzählen ungeschönt und phantasievoll aus dem oft absurden Alltagsgeschehen, von ergreifenden Schicksalen, von Kindheitserinnerungen, von Trauer und Verlust, aber auch von Momenten des Glücks. In ihren Romanen, Erzählungen, biographischen Aufzeichnungen oder Gedichten schreiben sie alle gegen das Vergessen an.
Palästinensische Stimmen
Lenos Verlag
E-Book-Ausgabe 2024
Copyright © 2024 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Coverfoto: John Theodor / Shutterstock
eISBN 978 3 03925 718 8
www.lenos.ch
Basman Derawi: Die Welt spinnt
Ghassan Kanafani: Ein Bericht aus Gaza
Dschabra Ibrahim Dschabra: Der erste Brunnen
Sumaya Farhat-Naser: Ich wurde 1948 geboren
Machmud Darwisch: Weil ich Samîr seit unserer Kindheit kenne
Machmud Darwisch: Wo ist die Zeitung?
Ghassan Kanafani: Bis wir zurückkehren
Machmud Darwisch: Du willst eine Wohnung mieten?
Dschabra Ibrahim Dschabra: Jûssufs Vorschlag
Dschabra Ibrahim Dschabra: Mit dreizehn Jahren betrat ich die Schwelle
Asmaa al-Atawna: Mutter weckte uns im Morgengrauen
Asmaa al-Atawna: In der Region Schûna fuhr Vater
Machmud Darwisch: Du willst nach Jerusalem fahren?
Sumaya Farhat-Naser: Sieben Jahre nach der Besetzung
Asmi Bischara: Eine Lektion in gutem Benimm
Emil Habibi: Seit die El-Al-Maschine auf dem Flughafen aufgesetzt hatte
Machmud Darwisch: Ich gehe auf einer Strasse
Ghassan Kanafani: Plötzlich tauchte das Haus auf
Ibtisam Azem: »Ich habe allein gelebt«
Ibtisam Azem: Ich bin wütend auf dich!
Machmud Darwisch: Du willst nach Griechenland fahren?
Emil Habibi: Wer in unserem Land ins Gefängnis kommt
Machmud Darwisch: Du willst schlafen?
Sumaya Farhat-Naser: 1986 wurde ich erstmals zu einem Fernsehgespräch eingeladen
Ibtisam Azem: Während seines Militärdienstes
Machmud Darwisch: »Sag mir, lieber Machmûd …«
Autorinnen und Autoren
Textnachweis
Die Welt spinnt
Ich schau vom Himmel auf die Welt herab. Sie spinnt noch immer.
Ich starb im Krieg, und mein Zuhause ist noch immer verwundet.
Dunkelheit. Sie haben sogar das Licht getötet.
Und doch seh ich, wie meine Mama weint.
Ein Augenblick nur, und mein Leben war vorbei.
Es gibt keine Wahrheit auf Erden, dort seh ich meinen Mörder mit der Waffe in der Hand.
Am 13. März 2017 gepostet.
Aus dem Englischen von Lorenz Oehler
Ein Bericht aus Gaza
Lieber Mustafa!
Gerade habe ich den Brief erhalten, in dem du mir mitteilst, du habest alles Nötige für meinen Aufenthalt in Sacramento erledigt. Ausserdem erhielt ich den Bescheid, ich sei an die Ingenieursabteilung der Universität von Kalifornien zugelassen. Ich bin dir, lieber Freund, für all das wirklich sehr dankbar.
Umso seltsamer wird dich aber das anmuten, was ich dir jetzt mitteile – doch kannst du sicher sein, Mustafa, dass ich völlig überzeugt bin, das Richtige zu tun, ja, ich kann wohl behaupten, niemals zuvor die Dinge so klar gesehen zu haben: Ich habe meinen Entschluss geändert, Mustafa. Ich werde dir nicht dorthin folgen, wo es, wie du schriebst, »grünes Land, reichlich Wasser und heitere Gesichter« gibt. Ich werde hierbleiben, und ich werde nie weggehen.
Es bedrückt mich wirklich, Mustafa, dass wir unseren Weg nicht gemeinsam fortsetzen. Ich höre dich noch, wie du mich an unser Gelübde gemahnt hast, gemeinsam weiterzumachen; auch wie wir uns einst immer versicherten: »Wir werden einmal reich sein!« Aber ich kann nicht anders, lieber Freund! Ja, ich erinnere mich noch sehr genau an jenen Tag, an dem ich auf dem Flughafen in Kairo stand, deine Hand drückte und auf die Irrsinnsmaschine starrte. Damals drehte sich alles wie jener dröhnende Motor. Da standst du vor mir, schweigend, mit deinem runden Gesicht. Es war das gleiche Gesicht wie damals, als du im Schadschija-Viertel in Gaza aufwuchst, nur ein paar Fältchen hatten sich eingestellt. Ja, wir sind zusammen aufgewachsen, wir haben uns aufs beste verstanden, und wir haben einander gelobt, bis zum Ende gemeinsam zu gehen. Doch dann …
»Noch eine Viertelstunde bis zum Abflug. Starr doch nicht so ins Leere! Hör zu! Nächstes Jahr gehst du nach Kuwait. Du sparst von deinem Verdienst so viel, dass du von Gaza nach Kalifornien übersiedeln kannst. Wir haben gemeinsam begonnen, und so müssen wir weitermachen …«
Ich betrachtete deine Lippen, die sich rasch bewegten. So hast du immer gesprochen, ohne Punkt und Komma. Aber ich hatte das unbestimmte Gefühl, du seist nicht so recht glücklich über deine Flucht. Du hast nie auch nur drei gute Gründe für sie aufzählen können. Auch ich war innerlich zerrissen, aber am stärksten war der Gedanke: Warum verlassen wir nicht dieses Gaza und fliehen …? Warum? Nun ja, mit dir war es aufwärtsgegangen. Du hattest vom kuwaitischen Erziehungsministerium einen Vertrag erhalten, ich dagegen nicht. In meiner tiefsten Verzweiflung, die ich durchlebte, kam hin und wieder etwas Geld von dir. Du wolltest, ich solle es als Darlehen betrachten, weil du fürchtetest, ich würde mich erniedrigt fühlen. Doch du hast meine familiären Verhältnisse nur zu genau gekannt. Du hast gewusst, dass mein kärglicher Lohn an den UNRWA1-Schulen nicht ausreichte, für meine Mutter, meine verwitwete Schwägerin und ihre vier Kinder zu sorgen.
»Hör gut zu! Schreib mir jeden Tag … jede Stunde … jede Minute. Das Flugzeug fliegt gleich ab. Leb wohl! Oder besser: auf Wiedersehn … auf Wiedersehn!«
Deine kalten Lippen streiften meine Wange. Du wandtest dein Gesicht weg von mir zum Flugzeug. Als du dich gleich darauf wieder zu mir hindrehtest, habe ich deine Tränen gesehen …
Danach erhielt ich vom kuwaitischen Erziehungsministerium einen Vertrag. Ich brauche dir nicht in allen Einzelheiten zu wiederholen, wie sich meine Existenz dort gestaltet hat. Ich habe dir ja immer alles geschrieben. Mein Leben war klebrig und leer, wie eine kleine Muschel, verloren in drückender Einsamkeit, gefangen in einem zähen Kampf gegen eine unerforschlich dunkle Zukunft, eine eklige Routine, eine abstossende, widerliche Zeit. Alles war klebrig und heiss. Mein ganzes Leben war Unsicherheit und bestand nur noch im sehnsüchtigen Warten auf das Ende des Monats.
In der Mitte des Jahres, jenes Jahres, führten die Israelis einen Schlag gegen den Sabha-Distrikt. Sie bombardierten auch Gaza mit Granaten und Brandbomben. Dieses Ereignis hätte auf meine Routine verändernd wirken können, doch ich schenkte all dem nicht viel Aufmerksamkeit. Ich würde diesem Gaza ja doch den Rücken kehren. Ich würde ja doch nach Kalifornien gehen und dort, nach all der Quälerei, ganz für mich selbst leben. Ich hasste Gaza mit allem darin. Alles und jedes in dieser abgeschnittenen Stadt erinnerte mich an verunglückte, grau in grau gehaltene Gemälde eines kranken Menschen. Ja, ich hatte meiner Mutter und der Witwe meines Bruders allemal ein wenig Geld geschickt, um ihnen etwas zu helfen, aber ich würde mich auch von dieser letzten Bindung lösen, dort, im grünen Kalifornien, fern vom Geruch der Niederlage, der mir seit sieben Jahren nicht aus der Nase weicht. Die Zuneigung, die mich an meines Bruders Kinder, deren Mutter und meine eigene Mutter bindet, reichte niemals aus, den bleischweren Verlauf dieser meiner Tragödie zu rechtfertigen. Sie durfte mich nicht unten festhalten, nicht noch mehr, als sie es schon getan hatte. Ich musste fliehen.
Du, Mustafa, kennst diese Gefühle. Du hast sie, weiss Gott, durchlebt. Was hat uns auf so unerklärliche Weise an Gaza gebunden und uns den Mut zur Flucht genommen? Warum haben wir uns da etwas vorgemacht? Warum haben wir nicht der Niederlage mit all ihren Wunden den Rücken gekehrt und ein heiteres und befriedigenderes Leben begonnen? Warum? Wir haben es selbst nicht gewusst.
Als ich im Juni dann Urlaub nahm – es drängte mich zu all den kleinen Dingen, die das Leben erfreulich und farbig machen, und so packte ich schnell alle meine Besitztümer zusammen –, fand ich Gaza genau so vor, wie es immer schon gewesen war: in sich geschlossen und nach innen gerichtet, wie die Schneckenhäuser, die die Wellen immer an den klebrigen Sandstrand nahe dem Schlachthaus spülten. Dieses Gaza war beengter als die Brust eines Schläfers, den ein schrecklicher Albtraum heimsucht, dieses Gaza mit seinen engen Gassen, in denen jener besondere Geruch liegt, der Geruch von Niederlage und Armut, mit seinen Häusern mit den vorspringenden Balkonen … dieses Gaza.
Doch was ist dieses Unerklärliche, Undefinierbare, das jemanden zu seiner Familie, seinem Haus, seinen Erinnerungen hinzieht, wie eine Herde von Ziegen zur Quelle? Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, dass ich eines Morgens meine Mutter in unserem Haus besuchte. Als ich dorthin kam, empfing mich die Frau meines verstorbenen Bruders und bat mich unter Tränen, den Wunsch ihrer Tochter Nadja, die mit einer Verletzung im Krankenhaus lag, zu erfüllen und sie noch am selben Abend zu besuchen. Du kennst doch Nadja, die hübsche dreizehnjährige Tochter meines Bruders?
Am Abend kaufte ich ein Pfund Äpfel und ging ins Krankenhaus, Nadja besuchen. Ich wusste, dass meine Mutter und meine Schwägerin mir etwas verheimlicht hatten, etwas, was sie nicht über die Lippen brachten, etwas Seltsames – doch was, konnte ich mir ganz und gar nicht vorstellen. Ich liebte Nadja, schon weil ich diese ganze Generation liebe, die Niederlage und Vertreibung mit der Muttermilch eingesogen hat und längst glaubt, ein glückliches Leben sei so etwas wie ein gesellschaftliches Fehlverhalten.
Was sich damals abspielte? Ich weiss nicht recht. Vollkommen leise betrat ich das weisse Zimmer. Kranke Kinder haben etwas Heiliges an sich, ganz besonders wenn sie an einer schmerzhaften, grausamen Wunde leiden. Nadja lag im Bett, ein weisses Kissen im Rücken; ihr Haar war hingebreitet wie ein dicker Pelz; in ihren grossen dunklen Augen lag eine unergründliche Ruhe, tief darin schimmerte eine Träne. Ihr Gesicht war ruhig und gelöst, jedoch beredt wie das Gesicht eines gefolterten Propheten. Nadja ist noch ein Kind, doch sie schien mehr zu sein als ein Kind, viel mehr; auch älter als ein Kind, viel älter.
»Nadja!«
Ich weiss nicht, war ich es, der es sagte, oder ein anderer hinter mir, doch sie blickte auf zu mir – und ich fühlte mich aufgelöst wie ein Stück Zucker in einem Glas heissen Tees. Sie lächelte matt, und ich hörte sie sagen: »Onkel! Kommst du direkt von Kuwait?«
Ihre Stimme brach in der Kehle. Sie richtete sich mit Hilfe ihrer Hände auf und reckte ihren Kopf zu mir hin. Ich klopfte ihr auf den Rücken und setzte mich neben sie: »Nadja! Ich habe dir Geschenke aus Kuwait mitgebracht, viele Geschenke. Ich werde warten, bis du wieder gesund und munter bist und aufstehen kannst; dann kommst du mich besuchen, und ich werde dir alles geben. Ich habe dir die rote Hose gekauft, um die du mich gebeten hast … Ja, ich habe sie gekauft.«
Es war eine Lüge, eine Verlegenheitslüge. Als ich sie aussprach, war ich überzeugt, zum ersten Mal die Wahrheit zu sagen. Doch Nadja zitterte wie vom Schlag getroffen. Mit schrecklicher Ruhe neigte sie den Kopf. Ich spürte ihre Tränen auf meiner Hand.
»Sag doch was, Nadja … Willst du denn die rote Hose nicht?«
Sie schaute mich an, wollte etwas sagen. Doch dann schwieg sie und biss die Zähne zusammen. Wie von fern hörte ich sie nochmals sagen: »Onkel!«
Dabei streckte sie die Hand aus, zog die weisse Decke beiseite und wies auf ihr Bein – es war am Oberschenkel amputiert.
Nie, lieber Freund, werde ich Nadjas amputiertes Bein vergessen. Nie werde ich die Traurigkeit vergessen, die jeden Zug ihres hübschen Gesichtes zeichnete.
Später verliess ich das Krankenhaus und ging durch die Strassen von Gaza. Fest in der Hand hielt ich, wie zum Spott, noch immer die Zweipfundnote, die ich Nadja hatte schenken wollen. Die Sonne ging gerade unter und hüllte Gaza in blutiges Licht, Gaza, welches plötzlich ganz anders erschien, als wir es je gesehen hatten. Die Steinhaufen am Eingang zum Schadschija-Viertel, dort, wo wir einst wohnten, sie schienen in einer besonderen Absicht dort zu liegen. Jenes Gaza, wo wir sieben Jahre lang mit all diesen guten Menschen in Not und Elend lebten, hatte sich verändert, und es gab mir zu verstehen, es sei nur ein neuer Anfang. Ich weiss nicht, warum ich dieses Gefühl hatte – auf dem Nachhauseweg bildete ich mir ein, die Hauptstrasse sei nur ein kleiner Anfang der langen, langen Strasse nach Safad. Durch Nadjas amputiertes Bein fiel über ganz Gaza eine Traurigkeit, die sich aber nicht mit Tränen und Trotz begnügte, sondern die Nadjas amputiertes Bein zurückforderte.
Ich ging hinaus in die Strassen von Gaza, Strassen voll gleissendem Sonnenlicht. Man erzählte mir, Nadja habe ihr Bein verloren, als sie sich über ihre kleinen Geschwister warf, um sie vor den Granaten und Brandbomben zu schützen, denen das Haus zum Opfer gefallen war. Nadja hätte sich in Sicherheit bringen können, hätte fliehen können, hätte ihr Bein retten können. Doch sie tat es nicht. Warum?
Nein, lieber Freund, ich werde nicht nach Sacramento kommen, und ich bereue es kein bisschen. Nein, ich werde nicht das vollenden, was wir einst in unserer Kindheit gemeinsam begonnen haben. Jenes unbestimmte Gefühl, das auch du hattest, als du Gaza verliessest, dieses Gefühl muss tief in dir wachsen, muss gewaltig werden. Du musst danach suchen, um dich selbst zu finden, und zwar hier, bei den hässlichen Trümmern unserer Niederlage. Ich werde nicht zu dir kommen; du komm zurück zu uns, damit du hier durch Nadjas amputiertes Bein erfahren kannst, wie das Leben wirklich ist und wie teuer man es erkaufen muss.
Komm zurück, lieber Freund, wir alle warten auf dich.
Kuwait 1956
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich
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