Ich bin mal eben wieder tot - Nicholas Müller - E-Book

Ich bin mal eben wieder tot E-Book

Nicholas Müller

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Beschreibung

So offen hat es noch niemand beschrieben, wie das ist, wenn einem Angst und Panikattacken das Leben schier unmöglich machen wie Nicholas Müller. Und das ausgerechnet auf dem Höhepunkt der Karriere seiner Band Jupiter Jones. Der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck steigt, der Atem wird schneller, kalter Schweiß bricht aus. Ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Ein Tumor? Der erfolgreiche Liedermacher Nicholas Müller kann die Symptome nicht deuten, als sie zum ersten Mal auftreten. Nach vielen medizinischen Untersuchungen erst erhält er die Diagnose: generalisierte Angststörung mit starken Panikattacken, Hypochondrie und depressiven Episoden. Zehn Jahre lebt er mit der Krankheit, doch dann geht nichts mehr. Zu diesem Zeitpunkt ist sein Song "Still" das meistgespielte Lied im Radio. Nicholas Müller begibt sich in Therapie, zieht sich aus allem raus. Wie Nicholas Müller es schafft, die Angst zu überwinden und mit seiner neuen Band von Brücken wieder Auftritte zu wagen, erzählt er in diesem Buch radikal ehrlich und mit kraftvoller Sprache. Ein Buch, mit dem der erfolgreiche Musiker Nicholas Müller all jenen Mut macht, die ebenfalls unter einer Angststörung leiden, und in dem er Wege aufzeigt, mit Angst zu leben.

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Seitenzahl: 352

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Nicholas Müller

Ich bin mal eben wieder tot

Wie ich lernte, mit Angst zu leben

Knaur e-books

Über dieses Buch

Der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck steigt, der Atem wird schneller, Schweiß bricht aus. Ein Herzinfarkt? Ein Schlaganfall? Ein Tumor? Nicholas Müller kann die Symptome nicht deuten, als sie zum ersten Mal auftreten. Nach vielen medizinischen Untersuchungen erst die Diagnose: generalisierte Angststörung mit starken Panikattacken, Hypochondrie und depressiven Episoden. Zehn Jahre lebt er mit der Krankheit, bis gar nichts mehr geht. Sein Song »Still« ist zu diesem Zeitpunkt das meistgespielte Lied im Radio, da begibt er sich endlich in Therapie und zieht sich aus allem raus. In seinem Buch erzählt Nicholas Müller offen und kraftvoll über seine Erkrankung. Er macht all den Menschen Mut, die ebenfalls an einer Angststörung leiden.

Inhaltsübersicht

WidmungWändeProlog: Der Tod kann mich mal am Abend besuchenTeil 1: Ich bin mal eben wieder tot1. Ich fange mal von vorne an2. Die SacheErster AktZweiter AktDritter AktFinaler AktStill3. Die Sache nach der Sache4. Sauhatz oder: Wie ich mich sehe, wenn ich eigentlich nichts mehr sehe und so sehr ich selber bin, dass ich mich nicht mehr erkenne.5. Reisetagebuch6. Das Erste, was ich knutschte, war ein e-Moll7. Die RanchErster Tag8. Life on the RanchZweiter Tag9. Marianengraben10. Keiner flog übers Kuckucksnest11. KomfortzonenDamit das irgendwann endetTeil 2: Wie ich lernte, mit Angst zu lebenVorwort: Angst zum Frühstück12. Komm du mir nach Hause.Dann sammle ich Steine (L.K.M.)13. von Brücken (mit kleinem »v«)14. Von der Genesung einer Liebe nach ihrer Beisetzung15. Eine ErregungEin Einschub16. Das geht in dich rein. Das muss aus dir raus.Noch ein Einschub17. Wie ich sterben werdeEin TraumDie ParadeEpilog: Gesund
[home]

Für meine Tochter.

Für L.K.M.

Bleib neugierig.

[home]

Wände

Spaceman Spiff

du kamst für den strand

unter den füßen

und gingst mit sand in den schuhen

die zukunft in deinem blick

kam in der gegenwart zu ruhen

du rennst erst im kreis und dann gegen

dieses leben aus beton

und dein mut baut sich

ein fahrrad aus zweifel

und fährt darauf davon

lass dir vom rausch nur

die sinne betör’n

und vom kater danach dann

das leben erklär’n

deine augen sprechen bände

deine narben ein bücherregal

doch du läufst weiter gegen wände

nur noch wände überall

es läuft sich ganz gut

mit gebrochenen beinen

ein gebrochener wille

schlägt dich zu brei

auf deinem weg

zwischen stöcken und steinen

hast du was verlor’n

und es fehlt überall

es kämpft sich ganz gut

mit gebrochenen armen

ein gebrochener wille

schlägt dich zu brei

man könnte meinen

du hast deinen willen

nicht mehr dabei

und ich auf meiner insel

in diesem meer aus allem was kommt

doch meine angst baut sich

ein u-boot aus neugier

und taucht darin davon

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Prolog: Der Tod kann mich mal am Abend besuchen

Sometimes I get this feeling, that I won’t be on this planet for very long

Ben Folds – Don’t change your plans

 

Ich bin in den letzten zehn Jahren zwischen vierundzwanzig und fünfunddreißig, zwischen 2006 und 2017, mindestens tausend Mal gestorben. Keine Angst, ich schreibe Ihnen nicht aus dem Orkus. Das hier ist keine zwischenweltliche Erfahrung oder Ähnliches. Genau genommen sitze ich in einem kleinen Studio am Münsteraner Hafen, aus meinen Boxen klimpert Meditatives, und wenn ich den Blick schweifen lasse, dann sehe ich durch das Fenster zu meiner Linken den rümpeligen Innenhof der benachbarten Wohnungsverwaltung und rechts ein paar Irre, die bei Lauskälte Wasserpolo spielen. Mein Rücken schmerzt wie immer, daran hat auch der unbequeme Hightech-Aktivsitz-Stuhl nichts geändert, den ich mir für teuer Geld hab aufschwatzen lassen. Irgendwie schmerzt heute auch mein linkes Knie, und es würde mich nicht wundern, wenn ich die Arthrose meines Vaters geerbt hätte. Alles in allem eine sehr weltliche Erfahrung. Ich glaube nicht, dass im Jenseits orthopädische Sitzmöbel und Knochenleiden noch eine Relevanz haben. Ich will es zumindest schwer hoffen.

Ich habe mal eine Stunde in einem Floating-Tank verbracht. Das ist so eine New-Age-Maschine, in der extrem salziges und perfekt auf die Körpertemperatur abgestimmtes Wasser dafür sorgt, dass man auf der Oberfläche treibt und sich nach wenigen Minuten selbst nicht mehr spürt. Das Ganze geschieht in totaler Dunkelheit und mit Unterwasser-Lautsprechern, die Klangschalengeräusche und Waldgeplänkel von sich geben. Zumindest dann, wenn man der Dame vom New-Age-Institut Folge leistet. In meinem Fall hat Peter Gabriel für mich gesungen. So oder zumindest sehr ähnlich stelle ich mir die Architektur des Jenseits vor. Irgendwo rumschweben, und im Hintergrund läuft »Wallflower« in der Orchester-Version. Das wäre voll okay so.

Aber es ist noch nicht so weit. Ich bin hier, existiere. Ich denke, also bin ich. Ich hab Rücken, also bin ich. Und so weiter.

Um sie und mich restlos davon zu überzeugen, ertaste ich gerne genau jetzt meinen Puls. Geben Sie mir ein paar Sekunden. Jipp, da ist er. Eins, zwei, drei, dreieinhalb – Extrasystole – vier, fünf … Irgendwie paukt der heute ganz ordentlich. Ich lasse das lieber. Das macht mich am Ende nur besorgt.

Wir wissen also: Ich lebe. Wider jegliche Erwartung. Zumindest dann, wenn man von meiner Erwartung ausgeht. In meiner Erwartung hatte ich schon alles möglichst Tödliche. Herkömmliche Lebensbeender wie Herzinfarkte, Schlaganfälle, Aneurysmen, Hepatitis A bis Z, Krebs, vom Scheitel bis zu Sohle. Hirnhautentzündungen, spontane Epilepsie. Ich bin schon überall heruntergefallen, mit allem abgestürzt, vor jede Mauer gekracht. Meine aus der Jugendzeit rübergerettete Adipositas hat mir die Arterien verstopft, mein Zigarettenkonsum die Lungen schwarz gestrichen. Nicht etwa, dass mich das zum Asketen gemacht hätte.

Nein, so konsequent bin ich nicht. Schade eigentlich.

Nun, ich habe mir auch schon Absurdes und Obskures gefangen. Denguefieber, weil der Freund eines Bekannten das aus dem Urlaub mitgebracht hatte. Die Krätze, von diesem einen Mal, als ich den Junkie im ICE von Hamburg nach Münster davon abgehalten habe, sich die Haut vom Arm zu kratzen und das Zugabteil zu demontieren, und ich dafür zwei Getränkegutscheine vom Zugbegleiter als Dankeschön bekam. All das hatte ich schon. Und dann wieder nicht. Superseltene Erbkrankheiten, für die es an meinem Stammbaum nicht einen einzigen, noch so winzigen Ast elften Grades gab, der Anlass zur Sorge gegeben hätte. Aber vielleicht war das einfach nicht entdeckt worden?! Die meisten meiner Vorfahren sind ja schon vor zig Jahren gestorben.

Gestorben sind sie!

Ja, warum eigentlich? Müsste man das als gewissenhafter Chronist nicht dazuschreiben? Onkel Heinz *1870, †1950 – litt an Abetalipoproteinämie, starb bei Fenstersturz. Es hätte mich auf merkwürdige Weise beruhigt. Warum? Weil ich gerne das Leben berechnen würde, aus Liebe zu ihm getrost all die Eventualitäten und alles Ungeklärte streichen würde. Weil ein Dasein in einer Blase keine Option, der Wunsch danach aber durchaus vorhanden ist. Denn ich hasse Überraschungen und Kontrollverlust. Und ich will hier nicht weg. Und weg ist irgendwie das Gegenteil von Leben.

Ich liebe es, jawohl! Mit all seinen Unwegsamkeiten, mit den ganzen Untiefen, mit seiner Unberechenbarkeit, mit allen »Un«s. Aber nicht wegen ihnen. Verstehen Sie?

Ich bin keiner dieser Zweckoptimisten, die sich in jede Tragödie einen höheren Sinn quatschen, um sie besser zu ertragen oder um überhaupt ein Quäntchen Sinn zu finden. Im Leiden, na: Glückwunsch! Ich glaube an Gott und an einen Ort hinter oder über diesem hier, und ich gehe davon aus, dass es dort besser ist, aber ich möchte das nicht als Ziel sehen. Ziel wäre es, den Tod zu überlisten.

Bei meiner Musterung damals bin ich einfach mit einem unfassbaren Stapel von Attesten aufgekreuzt, die allesamt klarstellten, dass ich wegen krummer Knie und generellem Schiefwuchs noch nicht mal dazu geeignet war, mich selbst, geschweige denn das Land zu verteidigen, und habe sie dem Amtsarzt auf den Tisch geknallt. Der hat nur mit den Augen gerollt, las all die Befunde kurz quer und schickte mich in Bausch und Bogen heimwärts. So sollte es mir auch mit dem Tod ergehen. Müller?

Völlig untauglich! Hier, frag die Experten, frag Gevatter Sensenmann. Der hat die Hose so gestrichen voll, mit dem hast du nur Ärger. Echt jetzt.

Und da haben wir es, hier löst sich alles auf, hier scheißt der Bär in den Weizen: Ich habe Angst. Ein ganzes Jahrzehnt lang zirkulierte mein Leben wie ein Trabantenplanet um die Angst herum, war Anhängsel statt Selbstzweck, wie sich das eigentlich gehört hätte. Angst vor allem Möglichen. Lähmende Hypochondrie, Panikattacken, Phobien noch und nöcher.

Dass das krankhaft war, stand wie der berühmte rosa Elefant im Raum. Er brauchte nur noch einen Namen. Irgendwo ist er, der große Karton voller Diagnosen und Anamnesebögen zu meiner Person in feinstem Fachlatein. Ein Dschungel aus Seelen-Kladderadatsch, über den ich zwischenzeitlich komplett den Überblick verlor und der mir absolut undurchdringbar schien ob der schieren Anzahl verschiedener Namen für ein großes Gefühl des Verlorenseins. Ich brauchte einen Oberbegriff, eine Zusammenfassung, einen Endgegner. Irgendjemanden oder wohl eher irgendetwas, dem ich zumindest meine Wut entgegenschleudern konnte.

Also kam der Tag, an dem ich mir Stift und Papier nahm, all die Probleme, die Malessen und Neuröschen untereinander aufschrieb wie in einer einfachen Gleichung. Ich strich die irrationalen Ängste und die wüstesten Seelenschwurbeleien, um sie den Profis zu überlassen, fantasierte einen Masterplan für die Dinge, die ich im Alleingang zu beheben plante, vermaß meine Sorgen bis auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, und unterm Strich stand in scharlachroten Lettern: TOD.

Das war so simpel, dass ich schon wieder erschrak. Tod also, der Erzfeind. Ja, natürlich! Ja, Sapperlot! Aber was tun? Bei allem Gewünsche und Gehoffe auf medizinischen Fortschritt, der lässt sich nicht verhindern. Da muss sich geeinigt werden, ein Kompromiss muss her! Mobilisiert die Diplomaten, spitzt die Stifte und schreibt Pamphlete dagegen, hier muss lösungsorientiert gehandelt werden! Kann ja nicht sein! Also, eine derart rationale Furcht kann ich mir nicht erlauben. Der ganze Rest, das ganze »einen an der Klatsche haben« – das lässt sich behandeln.

Aber TOD? TO-HOD? Ich bitte Sie!

Es ist nichts Besonderes, Angst davor zu haben. Sie, die Angst, als allgegenwärtigen Begleiter mit sich zu führen, ist aber schon weit über die Grenze hinaus anstrengend. Die fatalistischste aller Lösungen musste her.

Ich sterbe im Schlaf. Das habe ich so beschlossen. Soll mal einer versuchen, mich davon abzuhalten! Meine Oma sagte gerne »Der kann mich mal am Abend besuchen«, wenn sie vornehm ausdrücken wollte, dass irgendwer sie gepflegt am Arsch lecken konnte. So halte ich es jetzt auch mit der Ablebe: Der Tod kann mich mal am Abend besuchen. Dann merke ich das nicht, dann wache ich einfach nicht auf.

Verstehen Sie wieder? Vielleicht ist das eine Milchmädchenrechnung, aber im Grunde genommen geht sie auf. Wenn der Tod das Problem und die Angst das Symptom ist, das mir das Leben verleidet, dann muss ich die beiden trennen. Im Hier leben und im Fort sterben. Dann kann’s von mir aus schon heute passieren, was kümmert es mich?!

Guter Gott, ist das ein widerlich egoistischer Gedanke. Ich habe eine Familie, die mich braucht, wie ich sie brauche. Eine kleine Tochter, die ich mehr liebe, als ich jemals Furcht verspüren könnte. Und ich Kotzbrocken sitze hier und hacke ein »Mir doch egal« in die Tasten. Eine absurde Kampfansage an das nicht zu Bändigende. Ich fühle mich fürchterlich dabei, und dennoch erscheint es mir als einzig sinnvolle Lösung, um meine Tage hier unbeschwert zu verbringen.

Vielleicht ist das der Grund, warum ich so selten schlafe.

Stellen Sie sich mein Leben bitte wie eine Säule vor. Wie einen dieser langen Tetris-Steine, bei denen man nie so recht weiß, wie man sie unterbringen soll. Sie fällt vertikal ins Spiel, da ist die passende Lücke, dann kommt man aus Versehen auf den falschen Knopf, dreht sie längsseits, und in letzter Sekunde schafft man es noch, sie hektisch um weitere neunzig Grad zu drehen, und sie passt wieder, steht aber kopf. Man bemerkt das nicht, denn sie sieht oben wie unten gleich aus, doch die Säule denkt sich: »Na, schönen Dank, du Depp. Jetzt häng ich hier und gehöre eigentlich andersherum.« Das ist mir schon mehrfach passiert. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht mehr so recht, wo am Anfang oben war und ob mein Oben jetzt als das ursprüngliche Unten gedacht war, aber das schert mich wenig, denn es geht mir gut. Irgendwie.

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Teil 1: Ich bin mal eben wieder tot

1. Ich fange mal von vorne an

We can shape but can’t control These possibilities to grow

Seryn – We will all be changed

 

Nein, mir geht’s nicht so gut, da will ich ehrlich sein. Ich schreibe dies hier im Wahn. Die Zeiten sind nicht leicht. Ich habe meine Frau verlassen, nein, umgekehrt, aber es liest sich so viel besser. Liest sich, als wäre das eine Entscheidung gewesen, auf die ich irgendeinen Einfluss gehabt hätte. Hatte ich nicht. Auf das Davor vielleicht. Mein Leben versinkt im Chaos, meine Post bleibt ungeöffnet, meine Rechnungen mahnen unbezahlt. Meine Legitimation dafür bin ich selbst, mein Charakter, und das fühlt sich ein bisschen dreckig an. Nur meine Wohnung, die ist immer sauber. Und ich.

Fangen wir also vorne an. Als mein Puls das erste Mal so raste, dass ich dachte, er wolle die lebendige Scheiße aus mir herausprügeln, da saß ich gerade in einer kalten Kirche in dem Eifeldorf, in dem ich meine Kindheit, meine Jugend und meine erste Idee vom Erwachsensein erlebte. Siebenhundert Seelen; alle paar Wochen ein Markt mit billigen Guns n’ Roses-Shirts, Salzsteinlampen und Küchenhobeln; ein Edeka, eine Metzgerei und ein Orchidarium. Das ist ’ne Gärtnerei für feine Leute oder will es zumindest sein. Die Realität bestand aus Männern in reingestopften Hemden, die im breiten Stand ihre hypertonen Rotschädel ins Licht der Bierstände hielten und krachend lachten, sobald irgendwer eine Zote ins Rund warf. Freitags schlug man sich zur Beschäftigung gegenseitig die Gesichter zu Klump, um sich dann samstags zu vertragen und erstmal zusammen ’ne Cola-Asbach zu schlürfen. Nein, ich tat das nie. Ich besoff mich mit Freunden auf Äckern und Parkbänken, rauchte wie ein Großer und hörte dabei Musik aus Seattle von traurigen Männern mit Zigaretten im Mundwinkel und Problemen im Nacken. Die beinahe obligatorische Frage meiner Generation stellte Nick Hornby: »Bin ich traurig, weil ich Popmusik höre, oder höre ich Popmusik, weil ich traurig bin?« Oder so ähnlich. Ich kann es nicht recherchieren. Hier, im Wahn, bin ich fünfunddreißig und habe keine Kopie von »High Fidelity« mehr im Regal. Die hab ich irgendwann verliehen, nie wiedergesehen und auch nie vermisst. Aber die Frage nach der Traurigkeit, ja, die Frage kann ich beantworten: Ich habe keine Ahnung, und es ist mir egal. Weil es so unerheblich romantischer Quatsch ist. Bullshit. Wenn dein Puls rast, als wollte er die lebendige Scheiße aus dir rausprügeln, dann ist dir das egal. Dann ist das Quatsch. Und wenn es dir bis dahin eigentlich gut ging und dein Leben zwar wenig spannend, aber doch so schön war, dann stellt sich diese Frage nicht mal mehr. Dann ist die Musik nur noch traurig, und du frisst Pathos wie Cornflakes, und irgendwann frisst das Pathos dich, und dann schreibst du Sätze wie diese und Lieder, wie ich sie schreibe.

Mein Name ist Nicholas, in einer Fernsehsendung wurde meine Biografie mal mit den Worten »Sein Job war Popstar« zusammengefasst, und ich weinte innerlich vor Lachen, bevor ich dann meine Geschichte erzählte. Die Geschichte, wie plötzlich alle starben und ich kurze Zeit darauf eine Angststörung entwickelte, die sich gewaschen hatte.

Von vorne. Das hält ja niemand aus.

Die Geschichte, wie meine Familie aus Duisburg in die Eifel zog, liest sich für mich wie eine Mär. Mein Uropa beschloss damals, dass er jetzt Platzwart auf einem Campingplatz am Rand der Welt werden wollte, und packte meine Uroma, meine Oma und meine Mutter ein, erstand eine Gulaschkanone und kochte darin dicke Erbsensuppe, die er zwischen den Wohnwagen verkaufte, wenn er nicht gerade irgendeinen Rasen mähte oder irgendetwas reparierte, derweil Oma und Mama im Service der Kneipe arbeiteten, zwischen Eiche Rustikal und Frittiergeruch. Irgendwann traf meine Oma ihren zweiten Mann, einen Frankfurter, ein Seelchen mit Schnauzbart und Rolex, und wurde ein zweites Mal schwanger. Nicht allzu lang danach lernte dann auch meine Mutter meinen Vater kennen, ich passierte irgendwie, und somit musste was Neues her. Ein Haus, ein Domizil für diese Mischpoke aus Binnenmigranten und Irgendwie-Eifelern.

Wir zogen in eine ehemalige Gendarmerie nahe der Grenze zu Luxembourg, die zwischendurch wohl auch einmal ein Waisenhaus gewesen war. Wir kratzten mindestens acht Lagen Tapete von den Wänden und machten es uns schön. Ein wunderbarer Klotz von Haus, anno 1890 erbaut und mit so dicken Mauern, dass man sich vorkam wie in einer Burg. Im Untergeschoss gab es sogar noch zwei Kerkerzellen aus Gendarmerie-Zeiten. Zugemauert und vertäfelt zwar, aber doch der Grund für manchen Albdruck. Der Garten war mehr Park, und mittendrin vertümpelte ein lächerlich großer Teich, auf dem beizeiten sogar Enten wohnten. Ein Stück den Hang hinauf stand ein Apfelbaum, dahinter lagen Gemüsebeete. Ein pragmatischer Gedanke hatte zwei Garagen in den Innenhof gestellt, auf denen im Sommer die Teerpappe klebrig wurde und von denen man den perfekten Ausblick in die Gärten der Nachbarn hatte. Bärlatsch wucherte meinen Vater an den Rand der Verzweiflung, schließlich war der giftig und verursachte Pusteln, die fürchterlich juckten. Zwei renitente Bassets und zwei Katzen, von denen niemand so recht wusste, wo sie eigentlich herkamen, streunten ums Haus, und ein Haufen Kröten quakte des Nachts Sonar-Geräusche in die Stille.

Wir waren zu acht. Vatermutterkind, Großmutter und Vize-Opa, Urgroßeltern und meine Tante. In der Eifel kein ungewöhnliches Familienmodell, und so legten wir wohl unseren Exotenstatus als Ruhrpott-Städter relativ schnell ab und integrierten uns. Es gelang uns gut, auch wenn wir stets eine Art Enklave bleiben sollten. Zumindest fielen wir nicht groß auf. Das Abnormste lieferte wohl mein Urgroßvater Alois ab, als er mit beinahe neunzig Jahren plötzlich begann, den Metallschrott vom Sperrmüll im Dorf zu sammeln, um daraus abstrakte Skulpturen herzustellen.

Das ganz große Drama blieb mir lange Zeit – je nach Maßstab vielleicht sogar stets – erspart. Nein, wirklich. Ich bin keiner von der Sorte, der von seiner hervorragenden Kindheit erzählt, um seinen Lieben keinen späten Kummer zu bescheren. Ich hatte eine hervorragende Kindheit. Irgendein Rabauke war immer zu Besuch. Der Garten war rund um die Uhr geöffnet. Wir brachen uns Beine, beim Bäumeerklettern, und Arme, bei dem Versuch, Tricks auf dem vom Kommunionsgeld ersparten BMX-Fahrrad zu lernen. Wir weitpinkelten, wir kirschkernspuckten uns durch unsere Huck-Finn-Kindheit, und, Gott behüte, schreib ich ihn doch, diesen Satz: Wir dachten, das bleibt immer so.

Die Grundschule in unserem Dorf war eine Waschbeton-Trutzburg aus den Siebzigern, also zu der Zeit relativ modern. Ich war ein guter Schüler. Tafeldienst, Vorlesewettbewerbserster, Tuschegeruch an den matritzenblauen Fingern. Meine Klassenlehrerin drückte mir irgendwann eine alte Gitarre in die Hand, und der Tag, an dem ich »Sloop John B« spielen konnte, war ein Tag des Triumphes.

Die Empfehlung zur weiterführenden Schule war obligatorisch, die Wahl eines privat geführten, katholischen Gymnasiums dann auch. Das lag meiner Mutter im Blut. Sanftes Verbiegen von dem, was alle taten, in der Hoffnung, dass es uns und mich weiterbrachte.

Dass wir integriert waren, bedeutet nicht, dass wir das auch wollten. Mama war immer ein bisschen neben der Norm, aber nie exzentrisch. Unser Dorf mit seinen paar Hundert Geistern war damit schon eine der größeren Gemeinden im Umkreis. Das Gymnasium war gute vierzig Busminuten entfernt, in der nächsten und einzigen Stadt. Der Bus fuhr um 06:50, und wenn mal Schnee lag oder der Busfahrer krank war und deswegen nicht auftauchte, dann durfte man nach zwanzig Minuten des Wartens nach Hause gehen, was ich zu Anfang für völlig abwegig hielt. Schließlich war ich ein tüchtiges Kerlchen.

Das sollte sich nicht allzu lange halten. Dieselben Hormone, die den Moschusgeruch bei flaumbärtigen Halbstarken verursachen, wie ich einer war, trieben mich recht früh in die ersten Liebeskummer-Jammertäler und von dort aus direkt in die Arme der passenden Musik. Mit zwölf verfiel ich dem Grunge. Diese alles infrage stellenden Typen aus den Staaten. Pearl Jam, Nirvana, Stone Temple Pilots. Ich schnitt die Beine meiner Jeans ab, trug unförmige Flanellhemden und Doc-Martens-Stiefel in Senfgelb-marmoriert. Ich liebte gut einmal im Monat unsterblich. Fußball interessierte mich nicht, ich wollte den Knochenbrecherschmerz von verschmähter Liebe und nicht den von Stollenschuhen am Schienbein. Beinahe aus Trotz, weil ich eigentlich höchstens die Hälfte verstand, saß ich mit Büchern von Hesse und Bukowski im Bus und kämpfte mit den Gleichlaufschwankungen, die alte Batterien in Walkmen verursachen.

Mit gut fünfzehn Jahren küsste ich zum ersten Mal ein ganz bezauberndes Mädchen, da, wo es sich gehörte: am Lagerfeuer, im Zeltlager. Es war völlig klar, dass hiermit ein neues Zeitalter anbrechen sollte, und für mich als großen, krummbeinigen, dicken Jungen mit all den Talenten, die auf dem Land so wenig zählten, war das wie ein Sprengkörper. Ich trug meine Knutschflecken wie das Kreuz am Band. Sie lebte schier unüberwindbare sechzig Kilometer weit entfernt, und somit hatte ich alles, was ich brauchte. Unsterbliche Liebe und dazwischen den Marianengraben. All das Drama. Wie uns die Alten sungen.

Natürlich ging das in die Brüche. Unter Rotz und Wasser und Himmelsfäusten. Ich fühlte mich unheimlich erwachsen, und gerade, wo ich so reminisziere, wird mir bewusst, dass ich das immer noch nicht bin. Alle nannten und nennen mich Nicki, das ist irgendwann so passiert. Und passte doch nie wirklich zu meiner Statur, ab einem gewissen Punkt auch nicht mehr zu dem großen Maul, das ich vor mir hertrug. Es bleibt zu bemerken, dass ich in all den Jahren nicht eine einzige Schlägerei hatte, was in meiner alten Heimat als mittleres Wunder durchgeht. Ich hatte immer den nötigen Aplomb und – wahrscheinlich in erster Linie – die nötige Statur, um verschont zu bleiben. Das half ungemein, als ich beschloss, von nun an Punk zu sein, mir die Haare zu färben und Mutters Kajal auf die Lider zu schmieren. Ich gründete mit Freunden meine erste Band, versuchte, wie Eddie Vedder zu singen, und entgegen meiner guten Erziehung waren Autoritäten mir ein Graus. Nicht, dass ich jemals wirklich Schlimmes getan hätte. Mein kriminellster Moment war wohl der, als ich eine Woche lang den Unterricht schwänzte, um morgens in der Kneipe am nächstgelegenen Busbahnhof Apfelwein mit Cola zu trinken und dann mit Freunden im Haus der Jugend die fliederfarbenen Sperrmüll-Sofas weiter durchzusitzen.

Die Konsequenzen waren klar. Schulverweis, Enttäuschung zu Hause und ja, Herrgott, Enttäuschung bei mir selbst. Das Leben als Gesetzloser las sich ganz anders, und es hörte sich auch anders an, wenn Marlboro-Stimmen davon erzählten. Meine Eltern blieben ihrem Wort getreu, die Drohung wurde wahr gemacht: Sie forderten den Wechsel zur Hauptschule in meinem Dorf ein, um mich besser unter Beobachtung zu haben. Nicht falsch, aber schrecklich. Ich war inmitten von all dem, was ich für völlig unwichtig hielt, und jedes Stigma war mir recht, um mich zu isolieren. Der Schwule, der Drogi, der Asi. Ach, es wäre schön, wenn das stimmte. Tut es aber nicht. Das war mir des Revoluzzertums zu viel. Ich war im Niemandsland der Musikvereine und Traktoren. Ohne despektierlich wirken zu wollen: Die Grenzen waren eigentlich fließend, von der Schlaueleuteschule zum vermeintlichen Proletariat, aber irgendwie wurde mir bewusst, dass ich wohl Chancen vertan hatte, die ich gut hätte gebrauchen können.

Meine zweite Freundin war ganz klar verrückt. Und das machte sie für mich so unglaublich schön. Bunte Haare, viel zu große Jeans, abgerissene Shirts, dieser kleine, schwarze Fleck an der Oberlippe, bei dem ich bis heute nicht weiß, wo er herkam. Wir küssten uns unbeholfen bei der Party zu meinem sechzehnten Geburtstag und fummelten bis morgens um sechs auf dem Fußboden meines Kinderzimmers. Stufe zwei. Wir schafften es, ganze sechs Mal zu- und voneinander weg zu finden, ich schaffte es, mich ganze sechs Mal betrügen zu lassen, sie schaffte den Rest. Dennoch. Wir waren beide seltene Pflanzen. Sie mit ihrer bitteren Kleinstadtpunk-Grandesse, ich mit meinem melancholischen True-Love-Gefasel und der Tingelei mit meiner ersten Band.

Wir tourten durch die lokalen Tanzsäle und schafften sogar zwei oder drei Mal die magische Hundert-Kilometer-Grenze. Ich sang inbrünstig und in grausamem Englisch von all dem, was ich aus Büchern und Filmen und zuallererst Liedern kannte. Hauptsache, melancholisch, aber fürs Leben.

Ach, alles war gut. Wirklich. Richtig gut. Ich hing zwischen Idyll und selbstgewähltem Seelengeschwurbel-Purgatorium, und es konnte eigentlich nichts passieren, weil ja alles schon passierte. Aber so maßvoll. So unterm Schirm.

Ich begann eine Ausbildung zum Erzieher in der Jugendbildungsstätte, an deren Zeltlager-Lagerfeuer ich damals zum ersten Mal geküsst hatte, und verbrachte somit ein Jahr im Kloster. Ich wohnte zwischen Patres, sang sonntags beim Abschlussgottesdienst und unterhielt mich beim Abendbier mit Novizen über Masturbation und die göttliche Frage nach der Rechtmäßigkeit des Ganzen. Das war alles herrlich, im Wortsinne, und ich fand eine Art Basis, die mir lange Zeit gefehlt haben muss. Anders kann ich mir das nicht erklären. Aber erkläre mal einer Gnostik, ohne dabei abwegig und ein bisschen verrückt zu wirken. Mir war das damals egal. Es gab plötzlich ein Geländer am Leben. Praise the Lord!

Ich betete mit einem Mal. Gott hatte bis zu diesen Tagen höchstens den Stellenwert, den ein schnalzender Gürtel in den Händen eines Prügelonkels hatte. Ich war Gnostiker, aber abgeneigt und ängstlich. Der strafende Gott war der, den ich kannte, und da war es einfacher, ihn zu ignorieren. Zu diesem Zeitpunkt war ich dem Tod schon begegnet. Meine Uroma, meinen Uropa, den zweiten Mann meiner Oma, diverse Onkel und Tanten, all die hatte er schon Richtung Endlichkeit geschickt, aber die Frage nach dem »und dann?« hatte ich mir nie gestellt.

Mit Gott als anerkanntem Chef und gleichzeitigem Fährmann sah das schon anders aus. Ich wurde mir einer Endlichkeit bewusst, die schon Besorgnis erregen konnte. Mit achtzehn. Kerngesund. Etwa zur selben Zeit entdeckte ich Marihuana als probates Mittel, um mir Spaß und weniger Sorgen zu machen. Ich kultivierte die Sache recht schnell und ausgiebig und wurde zu der Sorte, die morgens vor dem eventuellen Duschen noch schnell zwei Pfeifen rauchte. Das brachte mich dem Göttlichen nicht näher, aber es kaschierte mein latent schlechtes Gewissen wegen allem, was ich tat. Woher das kam? Nun, es wurde mir indoktriniert in Jahren ultrakatholischen Ankündigens der massiven Ohrschelle, die mir verpasst würde, sobald ich mit all meinem fallen gelassenen Samen und den kleinen großen Lügen vor den Schöpfer träte.

Ich hab mir oft die Frage gestellt, warum mein Innerstes sich gleich mit dem Allmächtigen anlegte, bevor ich mich erstmal weltlichen Hürden stellte. Das wird mein Hang zum Drama sein. Sei’s drum. Jedenfalls kiffte ich wie ein Besessener. Vor allem anderen hatte ich ordentlich Mores, deswegen fasste ich nie Chemie an und trank nicht mal. Kiffen war herrlich friedlich, und da es meist nichts zu verpassen gab, kam mir auch der angerauchte Schlaf gelegen. So vergingen die Stunden zwischen Arbeit und Wochenende, an dem man sich dann traf, um zu kiffen und nebeneinander auf der Couch einzuschlafen, nachdem wir führten, was wir für philosophische Gespräche hielten, über Weltpolitik und Idioten aus dem Nachbardorf und alteneue, bedeutungsschwere Bücher über den Sinn und Unsinn des Lebens. Gespräche, die meist auf ein »IchverstehedieWeltnichtmehr« hinausliefen. Ich glaube, da hat sich in der Welt der Adoleszenten in den letzten Jahren wenig geändert. Ich glaube sogar, das gehört so. »Every generation got it’s own disease – and I’ve got mine.« Fury in the Slaughterhouse, eine Band aus Hannover, sang das damals. Die waren so halbcool, in meinen Augen, also hörte ich sie heimlich.

Heimlich, das waren wir. Und die Welt lag uns zu Füßen.

2. Die Sache

Erster Akt

Die Sache hat sich im letzten Jahr zum zehnten Mal gejährt, und doch tut sie immer noch weh, Herz wie Hirn, und bringt mich immer dann um den Schlaf, wenn ich ihn am meisten bräuchte. Ich würde so gerne so oft um Rat bitten oder, wenn es keinen Rat gibt, um eine Umarmung. Neulich, als ich mich schockverliebte in diese wunderbar kluge und humorvolle, schöne Frau und sie mir dann sagte, dass das jetzt aber gerade ein ganz schlechter Zeitpunkt dafür wäre und sowieso auch in Zukunft, da hätte ich gerne gewusst, was es außer einem Frustrausch aus Alkohol und Selbstmitleid und ständigem Kopfschütteln zu tun gäbe. Ich hätte gerne gefragt, wie ich es immer tat, wenn so etwas passierte.

Immer, wenn ich etwas schaffe, von dem ich nie gedacht hätte, dass es zu schaffen gewesen wäre, würde ich gerne meinen Stolz teilen und zeigen, dass ich vielleicht ein Chaot geblieben bin, der nichts so wirklich gelernt hat, aber einer, der Talent hat und der bereit ist, das Zähe weich zu kauen. Dann würde ich gerne berichten. Als meine Tochter zur Welt kam, mit viel Aufregung, aber kerngesund, da hätte ich gerne nicht nur heulend vor der Klinik gestanden und aufgeregt geraucht und gejubelt, ich hätte gerne angerufen, sofort, um die Neuigkeit zu erzählen. Wenn ich mal wieder Mist gebaut habe, wenn ich mich mal wieder verrannt habe und deswegen alles schiefläuft und ich damit Leuten wehtue, denen nichts wehtun soll, dann würde ich gerne beichten und hören, dass ich mich entschuldigen und beim nächsten Mal alles besser machen soll. Und dann würde ich das so tun. Weil’s stimmt, weil man das so macht.

Die Sache macht das unmöglich. Als meine Mutter starb, war ich gerade vierundzwanzig. Das war ein Jahr nach dem Tod meiner Großmutter. Eine Woche vor der ersten großen Panik. Hier das Ende vorwegzunehmen ist dringend notwendig. Es geht nicht um Spannungsbögen und ums Grande Finale, es geht um die Notwendigkeit, das Ganze zu erzählen, damit meine Geschichte irgendwie einen verrückten Sinn macht, und es geht darum, dass ich’s eigentlich gar nicht erzählen will. Weil ich nicht fragen kann, ob das überhaupt in Ordnung ist, so privat und intim, wie es sich anfühlt. Meine Mutter würde nicht wünschen, im Mittelpunkt zu stehen. Das tat sie nie, und nun wird sie das aber kapitellang tun, und ihre Zustimmung fehlt mir. Und, Gott und Teufel, nehmt euch zurück, ich habe eine Heidenangst davor. Es fühlt sich an wie eine dieser Rückführungssendungen, die einige Zeit so beliebt waren, in denen Menschen ihr früheres Leben, ihre alten, toten Identitäten unter Hypnose von einem Medium erzählt wurden. Sie waren mal ein französischer Adliger, dem die Guillotine den Kopf abgesäbelt hat, dass das Läusepulver darin quer über den Marktplatz stob. Ich war der, dem der Kopf auch wegflog und nicht wieder aufzufinden war, zumindest die längste Zeit. Nun bin ich es wieder. Ich führ mich zurück, bin wieder Kind und kann es schwerlich ertragen. Gönnt mir ein Glas Wein, gönnt mir viel zu viele Zigaretten und die Krummbuckeligkeit, mit der ich an meinem Küchentisch sitze, weil Gram und Wortlosigkeit mir die Schultern zum Boden ziehen. Es tut weh. Mein Innerstes, das ich eh jeden Morgen neu sortieren muss, da ich im Moment ein fürchterlicher Schläfer bin, setzt sich völlig verkehrt zusammen, und meine Müdigkeit trifft die Aussicht auf all diese Erinnerungen und wirft mich in eine Traurigkeit, die alles dunkel streicht. Du weißt, wie wichtig etwas ist, wenn es eigentlich gar nicht mehr da ist und trotzdem noch jeden Tag seinen Platz in einem Leben fordert. Das ist grausam und schön zugleich, da auch ich mir wünsche, irgendwann in der Erinnerung von ein paar Ausgesuchten weiter zu existieren. Gerade macht es mir das Leben schwer.

Warum habe ich dem zugestimmt? Dieser Buch-Sache? Dieser Rückschau?

Niemand hat mich überredet, das war ich selbst, und sonst bin ich doch auch mal gerne nachlässig mit meinen Aufgaben. Ich hoffe, das geht gut. Oh, ich hoffe es. Ich hab Angst. Ich hab Angst.

Ich stehe in der Eichenküche meiner Oma und lehne am Herd. Ich bin gerade von der Arbeit gekommen, Heimatbesuch nach der Frühschichtfront, die Augen noch auf halb acht, müde vom Vortag und vor allem der Vornacht, die mir mal wieder nur drei Stunden Schlaf übrig ließ, weil in meiner WG die Meute aufgelaufen ist und die alten Sofas durchgesessen hat. Ich rieche nach Qualm und Desinfektion, eine Mischung aus Party und Dienst. So lehne ich da, und meine Mutter kommt herein und sagt, ich solle mir keine Sorgen machen. Ich solle mir keine Sorgen machen, weil sie gerade vom Arzt kommt und der etwas gefunden und herausgefunden hat. Dass der Knoten, den sie in ihrer Brust ertastet hat, von dem sie niemandem etwas verriet, um nur sich selbst Sorgen zu machen, tatsächlich Krebs ist. Und dann lächelt meine halbe Mutter, und die andere Hälfte lässt eine Träne rollen, die mit lautem Platsch auf den Fliesen landet und macht, dass ich sie sofort in den Arm nehmen muss. Ich greife irgendwie ins Leere, ins Leerste und drücke sie und streichele ihren Kopf und sag, dass alles gut wird. Sie sagt das auch, und ich spüre, wie wir uns gegenseitig glauben, uns das aber unheimlich schwerfällt. Das Leerste füllt sich für einen Moment, aber bitte gib mir einen weiteren.

Ich muss runter in mein altes Zimmer im Souterrain, dahin, wo immer noch die Poster hängen und die Bandlogos mit Edding an die Wand geschmiert sind, und muss eine rauchen. Muss die alte Pfeife stopfen und zuspachteln, was mir gerade so die Liebe versaut. Als ich ausatme und auf die Ruhe warte, schüttelt mich ein Schwindel, und ich heule wie ein Hund. Katharsis. Seelenreinigung. Dieses wunderschöne Wort. Ich habe immer gerne geheult, so seltsam falsch das klingt. Weil Wasser zum Waschen da ist. Dieses Mal bleibt’s dreckig. Aber wie soll es auch anders sein? Habt ihr schon mal das Undenkbare gedacht? Ich bin mir beinahe sicher. Dann wisst ihr doch, wie sich das anfühlt. All den Glücklichen, die das nicht kennen, werde ich das nicht erklären. Irgendein Schweinehund soll das erledigen, dass es geschehen wird, ist leider gewiss. Und dann finden wir gemeinsam raus, dass wir alle nichts Besonderes sind und somit normal. So normal, wie die Situation es scheinbar zu sein hat. Und dann treffen wir uns zum Tee und rufen das Universum an und fragen, was die Scheiße eigentlich soll. So machen wir das.

Ich gehe also wieder nach oben, mit rosa Kaninchenaugen vom Geheule und vom Dope, und wir setzen uns in die Runde und besprechen das weitere Vorgehen. Mein Vater ist da, meine Oma, meine Tante. Wir besprechen uns bei Kuchen, als sei das irgendeine merkwürdige Feier, und beschließen, dass getan wird, was getan werden muss. Was das genau sein soll, das wissen wir alle nicht, aber wir werden es herausfinden. Wir werden Bücher kaufen, in denen kluge Dinge stehen, und die werden wir beherzigen. Wir werden gemeinsam zum Arzt fahren und mitfühlen, wenn passiert, was unausweichlich ist.

Unausweichlich sind nun erstmal Chemo und Bestrahlung und ständige Blutabnahmen und bilanzierte Diäten, Pulver und Tabletten mit unaussprechlichen Namen und ein stechendes Warten, das schon jetzt wie ein unendlich hohes Pfeifen in unseren Hirnen dröhnt. Aber wir werden genau so gut und so schlecht im Warten sein, wie wir es sein können, und einer wird den anderen stützen, und vor allem wird meine Mutter gestützt sein. Immer. Zu jeder Sekunde. Es wird verdammt noch mal gut werden. Gestorben wird woanders, und seht euch die Bilanzen an, lest die Statistik, lasst keine Hoffnung fahren. Menschen schaffen das täglich. Wir also auch. Alles. Wird. Gut.

Der Onkologe meiner Mutter ist ein Schatz. Empathisch und sachlich und ein großer Erklärer. Er umreißt die möglichen Optionen und lässt nicht aus, dass ein trauriges Ende durchaus auch drin ist, das aber gerade nichts zur Sache tut. Ärmel hoch und raus mit dem Bastard. Dann führt er meine Mutter in den Raum mit den Stühlen, die ein bisschen aussehen, als hätte ein Friseur seinen Salon irgendwo im Weltraum eröffnet, um ihr dort eine Nadel in den Arm zu schieben und eine Flüssigkeit durch ihre Venen zu pumpen, die keiner von uns, selbst die, die sich den merkwürdigsten Substanzen hingeben, jemals freiwillig in ihren Körper ließe. Dort hinzusehen, schmerzt uns gemeinsam. Meiner Mutter zerfetzt es das Gemüt und scheinbar die Innereien, denn ihr wird unendlich schlecht und espenlaubig. Aber das soll helfen, und deswegen wird’s gemacht. Und dann wird wieder gelebt. Diese Routine soll nicht von Dauer sein. Es wird gelebt werden, da sind wir uns sicher, und wir machen es uns schön.

Mein Vater schenkt einen Strandkorb, weil meine Mutter doch so gerne am Meer ist und das Meer so weit weg, und Mama sitzt dort beinahe jeden Tag und guckt auf den Teich mit den Kröten und dem Bärenlatsch und liest ihre Krebsliteratur. Ich bastele ihr am Computer zwei Bilder, die sie ins Schlafzimmer hängt, um morgens als Erstes darauf zu blicken. Ein Zitat von Friedrich Schiller – »Es ist der Geist, der sich den Körper baut« – und das Hohelied der Liebe aus der Bibel, dem ersten Brief an die Korinther: »Was bleibt, sind Glaube, Liebe, Hoffnung«. Man muss kein Christ sein, um das zu verstehen, und so glauben, lieben und hoffen wir uns durch die Tage.

Meine Mutter weint oft, weil sie Schmerzen hat von all der Medizin und aus Angst vor all der Medizin und diesem Klumpen in ihrem Körper, der dort nicht hingehört. Aber den Mut verliert sie nie. Grundgütiger, so stark möchte ich werden. Ihre Haare fallen aus, ihr Gesicht mergelt sich, traurig anzusehen, und sie lässt sich eine Perücke anfertigen, die dann aber auf einem Styroporkopf im Schrank versteckt stehen soll. Sie kommt sich damit verkleidet vor. Es wird sich nicht verkleidet, auch wenn das so verständlich wäre. Kopftücher werfen keine Fragen auf, lassen keine falsche Scham entstehen. Sollen es alle wissen, schließlich ist es normal. Sie schließt sich dem Hilfsdienst in dem Krankenhaus an, in dem mein Vater seit Jahrzehnten arbeitet und in dem sie auch behandelt wird. Sie hilft anderen Patienten, gibt Rat und Tat, wo es ihr selbst daran mangelt, und wird zur Patientenfürsprecherin mit eigenem Büro und Namensschild. Sie verbringt Stunde um Stunde am selben Ort, an dem ihr immer wieder Kanülen im Arm stecken und Biopsien genommen werden, und gibt anderen ab, was sie abgeben kann. Das lässt scheinbar wachsen und schrumpfen gleichzeitig, denn eines Tages kommt sie nach Hause, und der Tumor ist nicht weg, aber ins Unbedenkliche gestampft, die Marker im Blut verheißen nur Gutes, und der Onkologe beglückwünscht. »Frau Müller, Sie sind nicht krebsfrei, das sind Sie frühestens in drei Jahren, wenn wir dem Protokoll folgen, aber Sie sind so gesund, wie Sie es gerade sein können. Sie werden leben.«

Es wird gefeiert. Nachbarn, Freunde, Verwandte. Wir sitzen, wann immer es geht, auf der Terrasse und grillen und heben die Gläser, hören Musik, freuen uns auf und übers Dasein. Der Strandkorb verwaist ein wenig, denn es gibt da draußen noch viel mehr zu sehen. Mama erstarkt, geht wieder arbeiten, behält ihre Aufgaben im Krankenhaus bei, berät andere Betroffene, macht kleine Urlaube mit meinem Vater und mittelfingert dem Tod ins Gesicht, weil er’s verdient hat, für all den Aufruhr, den er uns beschied. Wir feiern. Wie wir feiern!

Wir sitzen auf der Terrasse. Nachbarn, Freunde, Verwandte, und plötzlich erschrickt jemand, weil meiner Oma der linke Mundwinkel herabhängt. Ich verstehe erst nicht, was die Aufregung soll, als mein Vater das Telefon schnappt und den Notarzt ruft. Schlaganfall? Ernsthaft? Erklär mir jemand den Humor.

Zweiter Akt

Kein Schlaganfall. Kein Humor. Oma liegt auf einem Bett in der neurologischen Abteilung. Schon wieder dieses Krankenhaus. An ihrem Kopf ist ein Gestell angebracht, das wie eine dieser Zahnspangen aussieht, die man früher an die Köpfe von Kindern geschraubt hat, die wirklich schiefe Zähne hatten. Ein bisschen wie dieses Gestell, an dem Bob Dylan seine Mundharmonika befestigt, damit er die Hände frei hat. Ein kleiner Bohrer hat ihren Schädel geöffnet, und es wurden Proben entnommen. Proben von dem inoperablen Tumor, der so groß ist wie die Tischtennisbälle, die ich als Kind pausenlos gegen die aufgestellte Hälfte der Platte gespielt habe, wenn gerade keiner meiner Freunde Zeit hatte.

Ich darf in Schutzkleidung den Raum betreten und spreche mit meiner kahl rasierten Großmutter. Sie ist verwirrt und versteht nicht so recht. Weder das, was ich sage, noch das, was gerade mit ihr geschieht. Ihr Krankenhaushemd ist mit kleinen, blauen Blumen bedruckt, und ich frage mich, ob ich Blumen hätte mitbringen sollen, aber es sieht nicht so aus, als sei das der Ort, an dem man Vasen aufstellt. Das sterile Licht fällt auf sterile Fliesen, über die sterile Krankenschwestern huschen, um sterile Plastikbecherchen mit Tabletten und Tropfen zu verteilen. Kein Ort für Blumen, nein. Inoperabel also. Ein neues Wort im Kanon der alten Hilflosigkeit. Aber das soll jetzt nicht zählen. Ich würde ihr gerne einen Kuss auf die Stirn geben, aber da prangt dieses Edelstahlgestell, dessen Nutzen mir bis heute nicht klar ist, und so nehme ich ihre Hand und küsse und drücke sie. Tschüs, Oma. Bis morgen. Wir wollen jetzt nicht hilflos sein. Wir haben das schon mal geschafft.

Auf dem Weg nach draußen laufen mir Tränen wie Bäche in den Kragen, und ich verschanze mich in der Kliniktoilette, um leise heimlich weiterzuweinen. Schussfahrt, sagen die Leute. Ich rassele in meine eigenen Absperrungen und kann für einen Moment nicht mehr. Das hier kann sich nur jemand ausdenken, der nichts Gutes will. Gott und Teufel, nehmt euch zurück. Wer auch immer hier die Schuld trägt. Erinnert ihr euch an den Schwindel? Den, der mich ergriff, als meine Mutter mir ihre Neuigkeiten verriet? Da ist er wieder. Aber klar, was soll man da anderes tun, als zu wanken und zu schwanken, wenn der Boden weich wird und nicht mehr trägt. Wenn’s so unnormal wird, dann ist das fast beruhigend. Stumpf sein würde hier noch ätzender schmerzen. Das hier darf niemals normal werden, niemals gewöhnlich. Verdammt! Ich muss nach Hause.

Wieder der Küchentisch, wieder der Krisenstab, vielleicht sogar wieder Kuchen zum Trost. Ganz sicher aber Müdigkeit und Frust und zum ersten Mal die echte Verzweiflung. Ganz sicher wieder Kaninchenaugen. Lasst uns weitere Ergebnisse abwarten, und wenn es zum Äußersten kommt, dann holt sie ab. Bringt sie nach Hause, lasst sie bei ihren Lieben. Keine Palliativ-Station, kein Neon, kein Krankenhausgeruch. Aber bitte, bitte. Lasst uns weitere Ergebnisse abwarten. Die nächsten Wochen werden einiges erklären. Inoperabel heißt schließlich nicht unbehandelbar. Man kann nur nicht mit dem Skalpell da ran, weil der Tischtennisball an einer Stelle steckt, die man nicht verletzen darf. Lasst uns einfach abwarten. Was bleibt sonst?