Ich bin tausendmal nichts - Emma La Spina - E-Book

Ich bin tausendmal nichts E-Book

Emma La Spina

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Beschreibung

"Eine Sache ist mir wichtiger als alles andere. Die Familie."

Nach Jahren als Heimkind steht Emma eines Tages, kurz vor dem Abitur, allein auf der Straße. Nun soll sie sich ein eigenes Leben aufbauen. Doch sie spürt bald, dass die schreckliche Zeit im Heim sie unwiderruflich geprägt hat. So stürzt sie sich in schädliche Beziehungen, erlebt immer wieder Lieblosigkeit, Missbrauch und Misshandlungen. Sie muss vor Gericht um ihre Kinder kämpfen und ihre Familie mit miesen Jobs über Wasser halten. Doch sie steht immer wieder auf und kämpft: Für ein gutes Leben. Und vor allem für ihre geliebten Kinder.

Die Geschichte einer unbeugsamen Frau.

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Seitenzahl: 348

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Inhalt

CoverInhaltÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumAnmerkung der AutorinEinleitung: Frau und doch ein kleines Mädchen 1. Kapitel: Bei der Geburt verstoßen2. Kapitel: Eine gescheiterte Ehe 3. Kapitel: Gianlucas Liebe4. Kapitel: Zweifache Entführung5. Kapitel: Mutter und Sklavin zugleich6. Kapitel: Isolation und Flucht7. Kapitel: In einer betreuten Wohngemeinschaft 8. Kapitel: Eine einsame Mutter9. Kapitel: Ivan10. Kapitel: Wieder allein und immer stärker11. Kapitel: Ich, meine Kinder, meine ZukunftZum Schluss

Über das Buch

»Eine Sache ist mir wichtiger als alles andere. Die Familie.«

Nach Jahren als Heimkind steht Emma eines Tages, kurz vor dem Abitur, allein auf der Straße. Nun soll sie sich ein eigenes Leben aufbauen. Doch sie spürt bald, dass die schreckliche Zeit im Heim sie unwiderruflich geprägt hat. So stürzt sie sich in schädliche Beziehungen, erlebt immer wieder Lieblosigkeit, Missbrauch und Misshandlungen. Sie muss vor Gericht um ihre Kinder kämpfen und ihre Familie mit miesen Jobs über Wasser halten. Doch sie steht immer wieder auf und kämpft: Für ein gutes Leben. Und vor allem für ihre geliebten Kinder.

Über die Autorin

Die Sizilianerin Emma la Spina wurde 1961 geboren, als zehntes von elf Kindern. Wie schon ihre neun Geschwister vor ihr wird sie direkt nach der Geburt ausgesetzt, kommt zuerst ins Waisenhaus und dann mit drei Jahren ins Kinderheim, zu den Nonnen vom Orden der „Barmherzigen Schwestern“. Heute hat Emma la Spina einen Job, vier Kinder, die sie liebt, und ein erfülltes Leben.

EMMA LA SPINA

ICH BIN

TAUSENDMAL

NICHTS

Wie ich in meiner Dienstfamilie gedemütigt wurde

Aus dem Italienischen von Julia Schott

BASTEI ENTERTAINMENT

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

© Copyright 2010 Edizioni Piemme S.p.A. Milano, Italy

Originalausgabe: »Mille volte niente«

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unterVerwendung von Motiven © shutterstock: Borisb17 | LeventeGyori

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-1110-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Anmerkung der Autorin

Unabhängig von all dem, was man über dieses Buch sagen wird, liegt es mir am Herzen, zu erläutern, aus welchem dringenden Bedürfnis heraus ich dieses Buch geschrieben habe.

Ich möchte allen bewusst machen, dass Schäden, die Kinder durch Misshandlungen in Waisenhäusern erleiden, nach der Entlassung aus dem Heim nicht etwa vorübergehen, sondern für immer bleiben.

Die Personen, die dieses Buch füllen, sind im Grunde schlichte Komparsen. Geschwister, Sozialarbeiter, die entscheidenden Personen, die mich in der Erzählung umgeben, sind – wenngleich es sie wirklich gab – Geister, Marionetten, die an den Fäden eines vorherbestimmten Schicksals bewegt werden.

Tatsächlich ist nicht etwa ihre Anwesenheit das Entscheidende meiner Geschichte. Ein Ereignis folgt dem nächsten, ganz unabhängig von den Figuren. Auch wenn die Personen andere gewesen wären, mein Leben hätte sich genauso entwickelt. Dies verdeutlichen die Lebensgeschichten meiner Heimgefährtinnen, die sich zwar von der meinen unterscheiden, jedoch ins gleiche Leid getaucht und mit den gleichen Fehlern durchzogen sind.

Einleitung

Frau und doch ein kleines Mädchen

Ich bin eine Frau und doch ein kleines Mädchen. Eine Frau, die geprägt ist von einer Kindheit und Jugend in Erziehungsheimen für Waisenkinder.

Dabei bin ich nicht einmal Waise.

In jenen finsteren Räumen wurde ich misshandelt, beschimpft, geschlagen. Die schönen ersten Lebensjahre, die großartigen Momente des Heranwachsens, die Bewunderung für die Welt – all das wurde mir geraubt. Im Gegenzug habe ich Schmerz und Demütigung erfahren, und Wissen wurde mir vorenthalten. Durch meine Familie, Männer, Gefühle, das Leben.

Deshalb bin ich seither, selbst als die Tür jener Räume weit offen stand, Frau und zugleich ein kleines Mädchen geblieben. Jede Kleinigkeit musste ich lernen, während die anderen längst alles wussten. Für meine Minderwertigkeit habe ich mit ungeheurem Leiden bezahlt. Mein Dasein trägt die Spuren der harten Lektionen, die mich das Schicksal hat lehren wollen.

Die Erzählung meiner Geschichte knüpft dort an, wo ich sie unterbrochen hatte.

Eines Morgens im Frühjahr, einen Tag nach meinem achtzehnten Geburtstag und nicht lange vor meiner Abiturprüfung, werde ich aus dem Erziehungsheim entlassen. Mitten auf eine Straße gesetzt, im wahrsten Sinne des Wortes. Ein grausames Gesetz, über das mich nie jemand unterrichtet hatte. Wortlos öffnet die Ordensschwester die Tür und schließt sie wortlos wieder.

Ich bin ganz allein, ohne Geld, ohne Ziel. Mein einziges Hab und Gut sind ein Tagebuch, ein Schulbuch und die Kleidung, die ich trage.

Damit werde ich mich auf den Weg machen, ohne zu wissen, welcher das sein wird, ohne auch nur zu wissen, ob es überhaupt irgendwo einen Weg für mich gibt. Ich weiß nichts, kenne nicht einmal die natürlichsten Dinge im Leben. Sie alle werde ich am eigenen Leib erfahren. Ich werde verzweifelten oder unbekümmerten Frauen begegnen. Männern, die meinen Körper mit grausamster Gewalt, mein Inneres durch Misshandlungen demütigen. Ich werde flüchtige, mitunter freundliche, öfter noch kurzlebige Begegnungen erfahren. Langsam werde ich lernen, mich zu verteidigen. Doch es wird Jahre dauern, und vielleicht fühle ich mich noch immer nicht ganz gefestigt, trotz der Erfolge, die ich verzeichnen kann. Im Laufe der Zeit werde ich vieles begreifen, angefangen bei den natürlichsten und selbstverständlichsten Dingen.

Eine Sache ist mir wichtiger als alles andere.

Die Familie. Die, aus der ich stamme und die ich nie gehabt habe. Mit einer Mutter, die mich bei der Geburt nicht anerkannt hat. Mit einer hübschen und klugen Schwester, die sich für mich schämte. Mit vielen Geschwistern: flüchtige Bekanntschaften, ständige Hoffnung auf Zuneigung, die nie erfüllt wurde.

Die Familie, die ich mir nach meinen Vorstellungen zu schaffen versucht habe. Ganz ist es mir nicht gelungen, meinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Meine Familie ist zerplatzt, gespalten in unterschiedliche Persönlichkeiten. Sie ist der Ausgangspunkt, der meinen gesamten Weg bestimmt.

Und all denen, die mich fragen, was ich erreicht habe, antworte ich: Nichts, nichts und wieder nichts.

Kapitel 1

Bei der Geburt verstoßen

Es ist ein schöner Abend im Mai. Die Sonne geht gerade unter, die Luft ist lau, der Himmel in rotes Licht getaucht. Ich sitze auf einer Bank inmitten irgendeiner Piazza. Ich kenne meinen Namen kaum, ich weiß nichts über die Personen, die in dieser Stadt herumwuseln. Ich bin eine Außerirdische von einem anderen Planeten, abgegeben auf der Erde, an irgendeinem beliebigen Ort. Mein Planet ist der mit den Erziehungsheimen für Waisenkinder. Ich bin ein achtzehnjähriges Mädchen, achtzehn seit gestern. Heute haben mich die liebevollen Ordensschwestern vor die Tür gesetzt. Ohne Rücksicht. Ohne finanzielle Mittel. Ohne Anweisungen.

Auf der Piazza herrscht geschäftiges Treiben, es wimmelt nur so von hektischen Passanten und Menschen, die auf den Bus warten. Auf den Parkbänken sitzen ältere Leute, alles Männer, und meine Anwesenheit macht sie neugierig. Ich bin allein und wehrlos, merke, wie ihre Blicke meine Haut durchbohren: Ich habe schreckliche Angst.

Von meinen beiden älteren Schwestern, Vanessa und Clotilde, käme mir keine zu Hilfe. Vanessa ist ein ganzes Stück älter als ich, und ihr Mann kann mich nicht ausstehen. Clotilde und ich sind ungefähr gleich alt und waren lange Zeit in denselben Erziehungsheimen. Jetzt besuchen wir auch dieselbe Schule: Dort könnte ich zu ihr gehen. Aber sie war immer abweisend, gleichgültig. Oft habe ich gedacht, sie hasst mich. Ich weiß nicht, wo sie wohnt, und bin sicher, sie würde mich zurückweisen.

Also bleibe ich stundenlang auf einer Parkbank sitzen, regungslos und nicht fähig nachzudenken. Hin und wieder stehe ich auf, um aus dem Blickfeld der Alten zu verschwinden. Ich drehe eine Runde um die Piazza, dann setze ich mich wieder auf denselben Platz.

So vergeht die Zeit, gekennzeichnet vom Glockengeläut der alten Kirche auf der gegenüberliegenden Seite der Piazza. Ich hoffe, für eine Weile in eben dieser Kirche Unterschlupf zu finden, aber die Tür ist verriegelt. Es wird Nacht, und der Platz leert sich allmählich. Ich bin noch immer dort, wie versteinert: die gelegentlichen Passanten werfen mir seltsame Blicke zu.

Mir ist kalt und ich habe Angst. Die Glocken läuten jede Stunde, ich schaue unentwegt zur Kirchentür, in der Hoffnung, dass sie sich öffnen möge, aber vergebens.

Ich zerbreche mir den Kopf und denke immer wieder: »Warum hat mir niemand von dieser grauenvollen Sache erzählt? Warum hat mir niemand erklärt, was passiert, wenn man achtzehn wird?« Ich finde keine Antwort, noch heute ist mir der Grund für dieses Schweigen unbekannt. Ich werde nie erfahren, warum die Ordensschwestern und Clotilde nichts gesagt haben.

So verbringe ich meine erste Nacht als freie Frau: draußen, auf der harten Parkbank, ohne auch nur eine Sekunde Schlaf.

Am frühen Morgen bin ich immer noch dort, verzweifelt. Ich verspüre weder Hunger noch Durst. Seit gestern war ich nicht mehr auf der Toilette. Als die Kirche ihre Türen öffnet, gehe ich hinein und bemerke den Priester, der sich für die Messe bereitmacht. Ich bete von ganzem Herzen zu Gott, dass mir dieser Mann zu Hilfe kommen möge; als ich ihn genauer ansehe, erstarre ich. Er sieht aus wie Pfarrer Cantalamessa, mein alter Beichtvater: Sein Verhalten macht den Anschein, als hätte er es eilig, als wollte er die Arbeit so schnell wie möglich zu Ende bringen. Ich habe nicht die Kraft, zu ihm zu gehen, und hoffe, dass er mich bemerkt. Es ist ein Werktag, und die Kirche ist fast leer. Ich bete, dass es so geschehe, ich flehe die Seelen meiner toten Geschwister an, dass der Pfarrer in meine Richtung kommen möge. Er jedoch würdigt mich keines Blickes.

»Gehet hin in Frieden!«

»Amen!«

Ich höre mir die Messe mehrmals an. Mechanisch erwidere ich den Segen. Dann gehe ich entmutigt zurück, hinaus auf die Piazza.

Ich verspüre ein beißendes Hungergefühl. An einem Obst- und Gemüsewagen lege ich mich auf die Lauer, aber ich schaffe es nicht einmal, einen Apfel zu klauen.

Die Stadt ist voller Menschen. Ich kenne niemanden. Dann, am Nachmittag, sehe ich auf einmal Agata, eine meiner Klassenkameradinnen. Ganz aufgeregt laufe ich auf sie zu, als wäre sie mein Rettungsanker. Mir stockt der Atem, ich bringe kein Wort heraus. Aber da hat mich Agata schon bemerkt und sagt gelassen: »Hallo! Warum warst du denn heute gar nicht in der Schule?«

»Sie haben mich aus dem Internat weggeschickt«, erkläre ich ihr mit dünner Stimme, »ich weiß nicht wohin und habe keine Bleibe. Kannst du mir helfen?« Sie scheint nicht besonders betroffen von meiner Lage.

Sie zeigt sich verantwortungslos, wie es unter Jugendlichen oft der Fall ist, und sagt, sie wisse nicht, was sie für mich tun könne.

»Meine Familie ist arm, bei mir kannst du nicht wohnen.«

Dann verabschiedet sie sich mit derselben Gelassenheit und verschwindet. Und mit ihr schwindet auch meine Hoffnung.

Aber hierbleiben und die Bank in ein Zuhause verwandeln kann ich nicht. Mir kommen die Jungs in den Sinn, mit denen ich in der Erziehungsanstalt Musik gemacht habe … Filippo, Luca, Michele und Armando … ja, Armando, Armando Russo.

An seinen Nachnamen erinnere ich mich noch. Er war der Schlagzeuger. Ich muss ihn finden. Ich suche mir eine Telefonzelle, greife hektisch nach dem Telefonbuch. Und wie viele Russos ich dort entdecke! Egal, ich rufe sie alle an. Zum Glück weiß ich genau, wie. Einfach auf den Münzbehälter einschlagen. Wenn das nicht funktioniert, dann den Gabelumschalter je nach Anzahl der Ziffern, die man wählen muss, herunterdrücken.

Dieser Trick funktioniert nicht immer, dieses Mal nicht. Aber ich muss telefonieren. Ich muss. Ich gehe wieder hinaus und bitte die Leute um Hilfe, die dort auf den Bus warten. Ich fühle mich zutiefst gedemütigt. Manche tun so, als würden sie mich nicht hören, andere reagieren unfreundlich. Schließlich finde ich jemanden, der mir eine Münze gibt.

Ich rufe einen Haufen Leute an, und jedes Mal frage ich: »Ist Armando da? Der Schlagzeuger?« Sie antworten, ich hätte mich verwählt. Sie wüssten nicht, wer das sein soll. Nirgends gibt es einen Armando. Dann, endlich, wie durch ein Wunder, die Stimme einer älteren Person: »Warte, ich gebe ihn dir.« Ich merke, wie es mir eiskalt den Rücken

hinunterläuft. Dann erkenne ich den Klang, den Ton in der Stimme wieder: Es ist wirklich Armando.

»Wer ist da?«

»Emma La Spina.«

»Wer? Ich kenne keine Emma La Spina.«

Ich überwinde meine Verzweiflung und starte einen Erklärungsversuch.

»Na klar kennst du mich! Meine Schwester Clotilde und ich haben Gitarre gespielt, als du mit deinen Freunden ins Internat kamst. Weißt du noch?«

Stille. Dann endlich kann er sich erinnern: Er hat verstanden, wer ich bin.

»Ja und? Was willst du?«

Ich halte inne. Das ist eine schwierige Frage. Tränen steigen in mir auf, und es schnürt mir die Kehle zu. Mit gebrochener Stimme erkläre ich, dass ich Hilfe brauche.

Ich habe Angst, dass er wie Agata reagiert. Aber im Gegenteil.

»Sag mir, wo du bist, ich hole dich ab.«

Ich warte ungeduldig, zehn, zwanzig Minuten, eine Stunde, während der Abend erneut seine Schatten über die Piazza wirft; und schließlich kommt er, in einem kleinen grünen Fiat 126. Ich steige ein, wir fahren los.

»Wo willst du hin? Soll ich dich zu irgendwelchen Verwandten bringen?«

»Ich habe keine.«

Er wartet einen Moment. Überlegt. Schließlich gibt er sich einen Ruck.

»Dann nehme ich dich mit zu mir.«

So begebe ich mich in seine Hände. Ich weiß nichts über diesen Jungen. Ich habe ihn nur ein paar wenige Male gesehen, habe ihn nur angerufen, weil er der einzige war, dessen Nachnamen ich überhaupt noch wusste. Hätte ich jemand anderen angerufen, dann hätte mein Dasein eine ganz andere Wendung genommen. Das weiß ich jetzt. Aber an diesem Tag hatte ich niemanden sonst, den ich hätte kontaktieren können, ich hätte nicht anders handeln können. Mein Weg war vorherbestimmt.

Armando wohnt in einer beliebten Gegend der Stadt, in einem historischen Viertel mit engen Straßen und dicht nebeneinanderliegenden, renovierungsbedürftigen Häusern.

Wir steigen aus, ich gehe hinter ihm durch eine dunkle Eingangstür.

»Komm. Ich wohne mit meiner Familie im ersten Stock.«

Er geht ins Haus, ich folge ihm mucksmäuschenstill bis in ein Zimmer am Ende des Gangs. Dort gibt es einen Kleiderschrank, einen Schreibtisch und zwei Einzelbetten.

»Das ist mein Zimmer.«

»Kann ich aufs Klo?«, frage ich ihn sofort.

Vom Badezimmer aus höre ich eine autoritäre Stimme mit Armando sprechen. Ich mag die Stimme nicht und sehe gleich darauf, dass meine Angst nicht unbegründet ist.

Als ich wieder auf den Flur komme, steht ein älterer Mann vor mir. Er ist untersetzt, hat Geheimratsecken und eine Brille, durch die seine Augen riesig aussehen. Neben ihm steht eine Frau, die etwas ungepflegt wirkt: Auch sie ist schon älter. Mir wird klar, dass die beiden die Eltern von Armando sind, und ich unterziehe mich ihrer Prüfung. Der Mann stellt mir unzählige Fragen, herrisch und in einem Ton, der keine Antworten zulässt.

»Wer bist du? Warum bist du hier? Was willst du von uns?«

»Ich bin ganz allein und weiß nicht, wohin ich soll« ist alles, was ich herausbringe.

Dann setze ich mich auf einen Hocker, denn ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen und kann mich kaum noch auf den Beinen halten.

Doch das ist ein Fehler. Ich habe Platz genommen, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, und nun ist der Mann beleidigt, während die Frau keinen Ton sagt. Man sieht ihr an, dass sie unterwürfig ist, dass sie Angst hat.

»Ich arbeite auf dem Gemeindeamt«, sagt er, nachdem er seinem Ärger Luft gemacht hat, »ich kann dich nicht ernähren. Heute Nacht schläfst du hier, aber morgen früh musst du gehen. Ist das klar?«

Ich nicke, und er kehrt mir den Rücken, gefolgt von seiner Frau.

Armando hört zu, ohne auch nur einen Mucks von sich zu geben: Er hat Angst vor seinem Vater. Erst als der Wutausbruch vorüber ist, bringt er mich in sein Zimmer.

»Du kannst in dem Bett dort schlafen.« Mehr sagt er nicht.

Völlig erschöpft werfe ich mich darauf, ich möchte einfach nur meine Augen zumachen. Ich bin fast eingeschlafen, als die Mutter die Tür aufreißt: Sie bringt ein Tablett mit dem Abendessen für den Sohn. Sie stellt es auf dem Schreibtisch ab und geht wieder. Armando isst, ohne mir auch nur ein Stück Brot anzubieten. Dann schlüpft er in seinen Schlafanzug und legt sich neben mich. Ich frage mich, warum er sich mein Lager ausgesucht hat, obwohl es im Zimmer doch zwei gibt. Aber ich beachte ihn nicht, und er fasst mich nicht an.

Im Halbschlaf höre ich ihn mit jemandem sprechen. Für einen Moment fürchte ich, es sei sein Vater, aber der ist es nicht. Sondern ein etwa vierzehnjähriger Junge, der seinen Schlafanzug anzieht und sich ins andere Bett legt.

Ich war noch nie mit irgendwelchen Männern zusammen und jetzt, zwei Tage nach Verlassen des Internats, verbringe ich die Nacht mit zwei Fremden, von denen einer neben mir liegt, dicht an meinem Körper.

Tausende Gedanken und Ängste strömen mir in den Kopf.

Ich weiß nicht, wo ich hier gelandet bin. Ich frage mich, was für ein Typ Armando wohl ist und wer der andere wohl sein mag. Vor allem frage ich mich, ob seine Eltern mich wirklich vor die Tür setzen.

Mit diesen ungelösten Zweifeln im Kopf falle ich schließlich in einen unruhigen Schlaf ohne jegliche Erholung.

Am nächsten Morgen ist Armando sehr zeitig auf den Beinen. Ich werde wach und stehe ebenfalls auf.

»Ich arbeite in einer Druckerei, Schichtarbeit«, erklärt er mir, »ich muss früh aus dem Haus.«

»Darf ich in die Schule?«

Es sind nur noch wenige Tage bis zur Abiturprüfung. Ich möchte nicht fehlen.

»Klar, geh du ruhig in die Schule …«

Armando verlässt das Haus, und die Mutter befiehlt mir, alles aufzuräumen, bevor ich gehe. Ich gehorche.

»Darf ich mich von Ihrem Mann verabschieden?«, frage ich sie an der Tür. Aber er kommt mir zuvor und antwortet mürrisch aus dem Nebenzimmer: »Das ist nicht nötig.«

In der Schule fragt Agata mich, wo ich untergekommen bin.

»Ich wohne jetzt bei meinem Freund.«

Die Antwort kommt ohne Zögern, ich lüge und gebe mich selbstsicher: Jemandem, der mir kein bisschen Menschlichkeit entgegengebracht hat, möchte ich nichts erklären. Ebenso wenig möchte ich meinen Klassenkameradinnen unterlegen sein, die ständig von ihren festen Freunden erzählen.

Wie dem auch sei – mein Problem ist viel dringlicher: Ich habe schrecklichen Hunger. Ich löse es, indem ich in der Pause am Schulkiosk zwei Stück Pizza klaue.

Dann verfalle ich erneut in Panik. Zum ersten Mal wünsche ich mir, der Unterricht möge nie aufhören. Ich habe Angst davor, mich der Realität zu stellen und wieder in dieses befremdliche Haus mit dieser befremdlichen Familie zurückzukehren. Aber ich muss dorthin zurück, auch wenn sie mir gesagt haben, ich soll gehen, auch wenn ich weiß, dass sie nicht erfreut sein werden.

Genauso ist es. Kaum öffnet mir Armando die Tür, fällt sein Vater sofort über mich her. Es ist Mittagessenszeit, und ich nehme an, dass er sich auf das Klingeln an der Tür hin vom Tisch erhoben hat: »Du schon wieder? Wir wollen dich hier nicht haben! Du musst gehen!«

Aber das kann ich nicht. Ich brauche eine Bleibe. Ich flüchte in Armandos Zimmer und schließe mich ein, während hinter mir ein heilloses Durcheinander ausbricht. Der andere Junge ist bereits im Zimmer, und bald danach kommt auch Armando. Er ist verwirrt und verstört. Es ist nicht schwer zu begreifen, was gerade vor sich geht, und ich sehe mich schon auf der Straße. Verzweifelt fange ich an zu weinen, ich klammere mich an ihn.

»Ich mache alles, was du willst! Ich putze das Haus, ich verlange nichts. Aber schick mich nicht weg!«

Unsicher sieht mich Armando an. »Heute Nachmittag muss ich noch einmal in die Arbeit. Bleib du hier in meinem Zimmer. Du bist ganz allein – Luca ist Automechaniker und geht in die Werkstatt.«

Er erklärt mir, dass Luca, der andere Junge, der Sohn einer seiner Schwestern ist: Da sie arm sind, lebt er bei ihnen.

Am frühen Nachmittag verlässt Armando nach einer weiteren heftigen Diskussion mit seinem Vater das Haus. Die Stimme des Mannes, laut und zornig, lässt mich erschauern. Aber nichts passiert. Auch Luca geht, ich bleibe. Vielleicht haben sie ja Erbarmen mit mir. Vielleicht behalten sie mich bei sich, und ich habe eine Bleibe.

Ich setze mich an den Schreibtisch, um zu lernen, werde aber durch die Geräusche im Hof abgelenkt. Ich schaue aus dem einzigen Fenster nach unten.

Die Türen der unteren Stockwerke sind alle geöffnet. Nur von der Straße fällt dort Licht hinein.

Auf der Straße wimmelt es nur so von armen und verzweifelten Menschen: Fette, gewalttätig aussehende Männer mit nacktem Oberkörper, schwarz gekleidete, streitende Frauen, halb nackte und barfüßige Kinder. Kein ermutigendes Schauspiel.

Ich konzentriere mich auf die Bücher, denn mein einziges Ziel ist im Moment das Abitur, und als es dunkel wird, knipse ich die Lampe an. Doch das bemerkt Armandos Mutter: Sie kommt ins Zimmer und macht sie aus.

»Strom ist teuer, wir müssen sparen!«

Ich erwidere nichts, wage es nicht. Ich bleibe im Dunkeln zurück. Das Lernen ist für diesen Tag also beendet. Ich stelle den Fernseher an, der für mich eine Neuheit darstellt. Doch wieder kommt die Frau, weist mich zurecht und schaltet auch ihn aus.

»Hier zahlt, wer verbraucht. Weißt du das nicht?«

Ich verstehe nicht, was sie meint, frage aber nicht genauer nach.

Ich bleibe allein im Dunkeln zurück. Da ich jetzt wirklich nicht mehr weiß, wie ich meine Zeit verbringen soll, lege ich mich ins Bett.

Später kommt Armando zurück. Er trägt seinen Schlafanzug und hält sich für das Abendessen bereit. Als die Mutter mit dem Essen auf dem Tablett ins Zimmer kommt, fragt er sie, ob sie etwas für mich zubereitet habe.

»Nein!«, antwortet sie schroff.

»Bring ihr auch was. Ich werde dir am Ende der Woche ein bisschen mehr geben.«

Er erklärt mir, dass sich in dieser Familie jeder an den Kosten beteiligt, wie in einer Art Pension. Jetzt verstehe ich. So komme ich zu einem Stück Brot und etwas Tomatensalat, was ich gierig herunterschlinge. Endlich bekomme ich etwas in den Magen.

Als auch Luca zu Hause ist, sind wir bereit zum Schlafengehen.

Sofort überfallen mich die üblichen Ängste. Die Erfahrung der letzten Sommermonate, die ich zum Arbeiten bei Privatleuten verbracht habe, hat mir gezeigt, dass alle Männer früher oder später versuchen, mich anzufassen, um dann komische Dinge zu tun, die ihnen gefallen und mich verletzen. Und ich weiß mit Sicherheit: Wenn die vorherige Nacht ruhig war, dann wird es diese nicht sein.

Genauso ist es. Die beiden Jungen sehen noch zwanzig Minuten lang fern, dann gehen auch sie zu Bett. Armando macht das Licht aus und legt sich neben mich. Ich drehe mich zur anderen Seite und kehre ihm den Rücken, aber er beginnt sofort, mich anzufassen.

Ich verhalte mich ruhig, denn ich schäme mich vor mir selbst und vor dem Neffen, der mit uns im Zimmer ist. Ich verhalte mich ruhig, lasse seine Aufmerksamkeiten über mich ergehen, als Ausgleich für so viel unglückselige Gastlichkeit. Es gelingt ihm jedoch nicht, den Akt vollständig zu beenden, denn ich bin so unerfahren, dass ich nicht weiß, wie es geht. Ich habe Angst und mache nicht mit.

In den darauffolgenden Tagen versuche ich, in der Schule mit jemandem zu reden. Ich habe das Bedürfnis nach Aufklärung, Erläuterungen, ich muss mich aus der tiefen Unkenntnis über sexuelle Begebenheiten befreien.

Ich trete an meine Klassenkameradinnen heran, aber das genügt nicht. Sie erzählen von festen Freunden, Küssen, Liebkosungen, zärtlichen Gesten, über Äußerungen, die so gut wie nichts mit denen gemein haben, die mir entgegengebracht werden.

Also versuche ich, Clotilde zu finden. Ihr kann ich vielleicht meine intimsten Probleme offenbaren. Doch als ich sie auf dem Gang entdecke, geht sie an mir vorbei und grüßt mich nicht einmal.

»Clotilde!«

Nichts. Sie tut so, als würde sie mich nicht sehen. Sie ist abweisend wie immer. Stolz und schön geht sie weiter, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Das ist meine Schwester. Eine völlig Unbekannte. Obwohl in uns dasselbe Blut fließt.

Ich verkrieche mich immer in Armandos Zimmer, außer wenn ich Hausarbeiten zu erledigen habe. Ich mache Ordnung in der Küche, wasche und bügle die Wäsche, wische den Boden und putze das Bad. Ich tue alles, um mich nützlich zu machen. Oder sogar unentbehrlich.

Trotzdem muss ich hungern. Im Flur steht ein großer hoher Schrank. Armandos Mutter bewahrt dort Nudeln, Brot und Konserven auf. Hin und wieder öffnet sie ihn, nimmt heraus, was sie braucht, und schließt ihn wieder. Den Schlüssel bewacht sie äußerst sorgfältig, und es ist mir unmöglich, an ihn heranzukommen. Das Gleiche gilt für den Kühlschrank. Zwar kann man ihn nicht abschließen, aber die Sachen sind abgezählt und geordnet. Fasse ich auch nur ein Stück Käse an, merkt die Frau das sofort.

Ich gehe wieder auf mein Zimmer und verstecke das Brot im Schrank.

Die nächsten zwei Tage wird es meinen Hunger stillen.

Gebannt lausche ich den Vertraulichkeiten meiner Klassenkameradinnen: Ich würde mir wünschen, Armando brächte mir die gleiche Zuwendung entgegen, wie sie die anderen Mädchen von ihren Freunden erhalten. Ich nehme mir fest vor, ihn in meinen Freund zu verwandeln, in einen wie die meiner Klassenkameradinnen, aber es gelingt mir nicht. Wenn er nach Hause kommt, schenkt er mir keinerlei Beachtung. Keine Küsse, keine zärtlichen Gesten. Er fragt mich nicht, wie es mir geht. Also mache ich ihm einen Vorschlag – überzeugt davon, die Initiative ergreifen zu müssen, mich ihm stärker annähern zu müssen.

»Lass mich heute Nachmittag mit dir zur Arbeit gehen«, sage ich. »Auf dem Weg sind wir allein, ohne deinen Vater und ohne deine Mutter, ohne Luca.« Ich hoffe, so etwas wie geistige Nähe zu erlangen (die körperliche nimmt er sich, wann immer er will).

Doch die wenigen Momente, die wir miteinander erleben, sind eine große Enttäuschung.

Immer rede ausschließlich ich, er sagt kein Wort. Ich habe das dringende Bedürfnis, mich zu öffnen und ihm meine Geschichte zu erzählen, meine Ängste, meine schlimmsten Erfahrungen. Ich sehne mich nach seiner Aufmerksamkeit, danach, dass er mir das Gefühl gibt, wichtig zu sein, dass er mich beschützt. Er wirkt jedoch gleichgültig. Er hat nicht das geringste Interesse, weder an meiner Vergangenheit noch an meiner Zukunft. Innerlich nehme ich ihn in Schutz. »Vielleicht kann er seine Gefühle nicht zeigen.« Nach und nach erst werde ich begreifen und mich damit abfinden: Ich bin Armando völlig egal.

Seine Familie ist ziemlich groß: acht Geschwister, fast alle verheiratet. Hin und wieder kommt die eine oder der andere die Eltern besuchen, und ich werde als Armandos Verlobte vorgestellt. Regisseur dieses Schauspiels ist sein Vater, der sich bei allen benimmt wie ein Despot: Söhne und Töchter, Schwiegersöhne, Schwiegertöchter, Nichten und Enkel. Jeder von ihnen unterzieht mich einem regelrechten Verhör. Sie fragen, wer ich bin, woher ich komme, wer meine Eltern waren, ob ich Geschwister habe. Sie fixieren mich mit ihren forschenden Blicken und schütteln den Kopf.

Was macht sie? Sie lernt?

Sie sind entsetzt. Sie haben gerade die erste Klasse Grundschule hinter sich und halten Bücher für Zeitverschwendung.

Ich merke, dass sie gegen mich sind. Also ziehe ich mich zurück und gebe nichts von meinem Inneren preis. Ich sage nur, dass ich Waise bin und keine Geschwister habe.

Ich weiß, dass diese Lüge früher oder später auf mich zurückfallen wird, aber das ist mir egal. Ich möchte nicht, dass sie es wissen. Und als ihr Interesse nachlässt, gehe ich wieder in mein Zimmer.

Von dort aus höre ich, wie sie über mich beratschlagen.

»Sie ist eine unnötige Last für die Familie!«

»Richtig! Sie soll sofort arbeiten, sobald die Schule zu Ende ist!«

Auch über Heirat wird gesprochen.

»Sie müssen heiraten. Armando war mit ihr im Bett und ist schon sechsundzwanzig Jahre alt. Er muss das Mädchen heiraten!«

Irgendwann ist die Hochzeit beschlossene Sache. Armando wird ein Schlafzimmer kaufen, und Luca soll dann im Wohnzimmer schlafen.

Als der Vater uns die Entscheidung mitteilt, zeigt Armando keine Reaktion.

»Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«

Er bezieht keine Position dazu, sagt weder Ja noch Nein. Er ist ihrer Willkür völlig ausgeliefert.

Ich wiederum habe nicht die leiseste Ahnung von der Bedeutung und dem Gewicht einer Ehe. Ich lasse sie reden. Ich bin ein Mädchen, das nichts von der Welt weiß und nur zwei Dinge als wichtig erachtet: eine Bleibe zu haben und die Schule abzuschließen.

In dieser Zeit erfahre ich, was es heißt, allein auf der Welt zu sein.

Einmal bekomme ich Fieber, das zunächst vorübergeht und dann wiederkommt, in mehreren Schüben und jedes Mal heftiger.

Keiner in der Familie fragt mich, wie ich mich fühle. Keiner ruft einen Arzt. Keiner will wissen, warum ich nicht zur Schule gehe und im Bett bleibe.

Ich entschließe mich, in die Notaufnahme zu gehen.

Nach langem Warten untersucht mich dort ein Arzt und ist verwundert über meinen Gesundheitszustand.

»Ihnen geht es gar nicht gut, junge Frau. Ich lasse Sie einweisen, und wir entfernen Ihnen die Mandeln.«

Da ich nicht antworte, setzt er nach: »Würden Sie mir Ihre Versicherungskarte geben?«

»Ich habe keine.«

»Sind Sie allein hier?« Er sieht mich verdutzt an. »Haben Sie denn nicht Ihre Mutter oder Ihren Vater dabei? Oder irgendeinen anderen Erwachsenen, den man darüber aufklären kann, was los ist?«

Ich verneine, und er fordert mich auf, mit meiner Krankenkarte wiederzukommen. Bis dahin verschreibt er mir Medikamente. Da ich kein Geld habe, kaufe ich sie nicht. Keine Medikamente zu haben ist das wenigste. Dieser Vormittag ist der Beginn langer und beschwerlicher Behördengänge, auf den Spuren meiner schrecklichen Vergangenheit.

Für mich eine traumatische Erfahrung.

»Sie haben weder eine Familie noch ein eigenes Einkommen«, sagt man mir im Krankenhaus, »für die Versicherungskarte müssen Sie sich ins Armenverzeichnis eintragen.«

»Was?«, frage ich mit zitternder Stimme. Ich bin erstaunt. Ich weiß nicht einmal, dass es so ein Verzeichnis überhaupt gibt.

Am nächsten Tag im Gemeindeamt finde ich mich inmitten lauter dreckiger und verzweifelter Menschen wieder: Arme Leute, unendlich viele arme Leute, die staatliche Hilfe brauchen. Man fragt nach den Papieren, die ich nicht besitze, und schickt mich zum Einwohnermeldeamt. Am Schalter sitzt ein Beamter mittleren Alters, der – mitten im Sommer – an der linken Hand einen schwarzen Handschuh trägt. Das Handgelenk ist ganz steif, und mir wird klar, dass die Hand nicht echt ist. Er möchte Folgendes von mir wissen: »Vorname, Nachname und Geburtsdatum.«

Ich nenne ihm alles, und er startet eine eifrige Suche. Nach einiger Zeit hebt er den Blick.

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich!«, erwidere ich mit Nachdruck.

Aber nach einer weiteren Schnellsuche verkündet er: »Es existiert keine Person mit dem Namen Emma La Spina!«

Ohne die kleinste Atempause für eine Antwort verabschiedet er mich und ruft den Nächsten auf.

Eine ganze Weile kämpfe ich gegen den Schock an. Es fällt mir schwer, klar zu denken.

Dann fange ich mich wieder und sage mir, dass das alles keinen Sinn hat.

Tag für Tag stehe ich stur jeden Morgen vor dem Beamten mittleren Alters. Und mit jedem Morgen verliert er die Geduld etwas mehr und sagt: »Junge Frau, Sie existieren nicht!«

»Was soll das heißen? Das kann nicht sein!«

»Schauen Sie!« Er schiebt ein Verzeichnis in meine Richtung, mit dem ich nichts anfangen kann: »Sehen Sie? Niemand hat Ihre Geburt gemeldet. Also gibt es Sie nicht. Da kann ich nichts machen!«

Ich fange vor allen Leuten an zu weinen. Was fällt ihm ein, so grausame Sachen zu sagen? Ich bin hier, in Fleisch und Blut: Ich existiere. Aber das scheint niemanden zu interessieren. Die Leute regen sich auf, die Schlangen sind unendlich lang, man darf keine Zeit verlieren.

Ich schäme mich immer mehr, und fühle mich immer machtloser: Ich fühle mich der Welt schutzlos ausgeliefert.

Meine Rettung ist ein Aufseher des Einwohnermeldeamts, ein netter Mann mit väterlicher Ausstrahlung. Als ich eines Morgens wieder weine, hat er Mitleid mit mir und kommt näher.

»Was sind das für Dokumente, die du brauchst?«

»Ich benötige eine Geburtsurkunde für meine gesundheitliche Versorgung. Im Verzeichnis des Einwohnermeldeamts ist mein Name nicht erfasst.«

»Was weißt du über deine Herkunft?«

Ich schäme mich, diese Angelegenheit mit einem Fremden besprechen zu müssen, aber ich habe keine andere Wahl, und er scheint ein guter Mann zu sein. Also erzähle ich ihm von der Frau, die mich gezeugt hat und die mich nach der Geburt nicht mehr haben wollte.

Clotilde und ich nennen sie schon immer die »Dame«: »Einmal kam sie ins Heim. So haben wir erfahren, dass es sie gibt.«

Sie hat mir nie einen Kuss gegeben, mich nie liebkost. Ich kenne ihre Adresse nicht. Aber dem Aufseher genügt der Name des letzten Heims, in dem ich gewesen bin. Mehr braucht er nicht, um mit den Nachforschungen beginnen zu können.

Als das Büro schließt, spricht er mit dem Mann mit der hölzernen Hand und überredet ihn, uns zu helfen. Gemeinsam gehen wir in einen riesigen Raum. In endlos langen Reihen staubiger Regale stapeln sich Aktenordner, in denen das Papier überquillt. Aber zu meinem Fall finden wir nichts. Ich schweige, während der Aufseher für mich spricht, als verträte er mich als Anwalt. Er rät mir, in ein paar Tagen wiederzukommen. Beruhigt gehe ich weiterhin in die Schule. Nach einer Woche finde ich mich erneut im Einwohnermeldeamt ein. Der Aufseher bemerkt mich und winkt mich zu sich heran. Er hat einiges herausgefunden. Gemeinsam gehen wir ins Archiv. Er nimmt einen dicken Wälzer mit grauem Einband, schlägt ihn unter »La Spina« auf und zeigt mit dem Finger auf »La Spina Maria«. Daneben heißt es: »Familienstand ledig«. Dann der Satz, den ich nie vergessen werde: »Eine Frau, die die eigenen Kinder nicht anerkennen möchte.« Der Aufseher hat auch das Datum herausgefunden, an dem ich zur Welt kam. Mithilfe dieser Anhaltspunkte hat er bei verschiedenen Heimen der Stadt Informationen eingeholt und es so geschafft, meine Vergangenheit zu rekonstruieren, die er jetzt besser kennt als ich.

»Also, pass auf. Es war folgendermaßen: Bei deiner Geburt hat man dir irgendeinen beliebigen Namen gegeben, um dich von den anderen Kindern zu unterscheiden: Vincenza Virzì. Im Waisenhaus haben sie ihn geändert in Maria di Stefano. Im ersten Kinderheim, mit drei Jahren, warst du dann Emma Vizzini. Als du zehn Jahre alt warst, hat deine Mutter dich und deine Geschwister anerkannt, um Familiengeld vom Staat beziehen zu können. Da tauchte dein jetziger Name auf: Emma La Spina. Verstehst du?«

Unter der Last dieser Enthüllungen beginne ich zu taumeln.

Es fällt mir schwer, mich selbst wiederzuerkennen, aber ich weiß, dass der Aufseher recht hat.

Meinen Nachnamen habe ich an meinem ersten Tag in der Mittelschule erfahren. Im Erziehungsheim haben sie mich immer und ausschließlich beim Vornamen genannt, ich wusste überhaupt nicht, dass es auch Nachnamen gibt. So habe ich einmal meiner Lehrerin, als sie den Namen Emma La Spina aufrief, geantwortet, ich hieße Emma und kenne keine La Spina. Alle haben gelacht, und ich habe mich blamiert. Aber die Lehrerin hatte recht. Ich bin Emma La Spina.

Der Aufseher hilft mir dabei, rechtmäßig erfasst zu werden.

Ich bekomme einen Personalausweis, auf dem der Vermerk »Tochter von N.N.« ins Auge sticht. Seither antworte ich jedes Mal, ganz gleich auf welcher Behörde man mich nach meinem Vater fragt, gelassen: »Ich bin die Tochter von N.N.«

Es ist eine Floskel, deren Bedeutung ich nicht kenne und die eine gängige Abkürzung zu sein scheint, einheitlich für alle.

Ich bekomme auch einen Armenausweis – ein weiterer Umstand, dessen Konsequenzen ich nicht genau verstehe – und dementsprechend einen Arzt zugewiesen. So schließt sich am Ende der Kreis, und ich kann erneut zum Doktor. Das Wartezimmer ist voller armer Leute, nach mehreren Stunden Wartezeit werde ich ins Behandlungszimmer geführt. Der Arzt schielt, hat eine Glatze und ist hektisch. Seine Bewegungen sind beinahe ruckartig.

Er untersucht mich nicht, hört sich meine Gesundheitsprobleme nicht an. Er fragt nicht nach meinen Beschwerden, fragt nichts über mich. Hastig sagt er: »Möchtest du ins Krankenhaus? Ich stelle dir einen Antrag für die Einweisung aus.« Sonst nichts. Nachdem er ein paar Zettel ausgefüllt hat, verabschiedet er sich von mir. Langsam fange ich an, mich zu fragen: »Tochter von N.N.? Armenausweis?«

Wieder gehe ich zum Aufseher und bitte ihn um eine Erklärung. Er offenbart mir die Wahrheit, sagt mir auch, was »Tochter von N.N.« bedeutet und welche Ehre den Armen zuteilwird.

»Du bist die Tochter von niemandem.«

Nun fange ich an, mich zu schämen, ich bin nicht mehr unschuldig. Unschuldige schämen sich für nichts, weil sie sich nicht darum scheren, was die anderen denken. Mein Selbstwertgefühl ist verletzt, mein Stolz gekränkt. Ich verstecke den Ausweis mit den entwürdigenden Worten: »N.N.«, »arm«.

Erst jetzt fange ich an, mich der Welt zu stellen.

Kapitel 2

Eine gescheiterte Ehe

Die Aussicht auf Heirat hat keinerlei Einfluss auf Armando. Er wehrt sich weder, noch zeigt er sich besonders glücklich darüber. Er fragt mich gar nicht, ob ich ihn wirklich als meinen Ehemann möchte, und schmiedet keine gemeinsamen Pläne mit mir. Er lebt sein Leben weiter wie bisher, als ob nichts wäre. Er geht zur Arbeit, kommt nach Hause, isst zu Abend und geht ins Bett. Keinerlei Äußerungen der Zuneigung. Aber er verzichtet nicht – vor allem jetzt, da wir offiziell verlobt sind – auf die Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse.

Nach der Arbeit kommt er kurz nach Hause und trifft sich dann fast jeden Abend mit seinen Bandkollegen zur Probe. Ich bleibe allein, ohne Fernsehen, im Dunkeln, denn die Lampe darf ich nicht anknipsen. Ich öffne das Fenster und beobachte in der Abenddämmerung die elende und unzivilisierte Welt unten im Hof.

Gewalt – aus nichtigen Anlässen oder wegen Geldangelegenheiten – ist an der Tagesordnung. Während dieser Zeit ereignen sich im Hof drei Morde. Von meiner Beobachterposition aus kann ich einen davon sehen. Ein Mann schießt auf einen anderen und tötet ihn, unbeeindruckt vom Beisein der Frauen und Kinder. Die Kinder weinen, die Erwachsenen fluchen, Schreie, verzweifeltes Schluchzen. Schließlich geht die Polizei dazwischen.

Traumatisiert von diesen Szenarien flehe ich Armando an, er möge mich zur Bandprobe mitnehmen. Er ist nicht gerade begeistert, willigt aber ab und zu ein. So bewerte ich die Unterschiede zwischen uns und den anderen. Die Jungs aus der Musikgruppe gehen nett und liebevoll mit ihren Freundinnen um. Ich sehe die Blicke, die sie sich zuwerfen, die flüchtigen Küsse in den Pausen, ich schnappe liebe Wörter auf, spüre ihre gegenseitige Zuneigung.

Armando jedoch bleibt während der Pausen am Schlagzeug sitzen, meine Anwesenheit kümmert ihn nicht.

Nach dem Abenteuer im Gemeindeamt verspüre ich den starken Wunsch, meine Wurzeln kennenzulernen.

Also statte ich meiner Schwester Vanessa mehrere Besuche ab. Sie wohnt im selben Viertel wie Armando. Sie kann mir Fragen zu unserer Vergangenheit beantworten, und ein Treffen mit ihr erlaubt es mir zugleich, der bedrückenden Atmosphäre des Hauses, in dem ich wohne, zu entkommen.

Jedes Mal empfängt Vanessa mich mit demselben passiven Verhalten: Sie sieht traurig aus, ihr Blick ist leer.

Einmal sagt sie unvermittelt: »Im Erziehungsheim wohnen noch zwei kleine Brüder von uns. Sie heißen Roberto und Francesco.

»Du hast sie kennengelernt?«, frage ich erstaunt.

»Ja. Einmal war ein Sozialarbeiter hier und hat mich gefragt, ob ich mich um sie kümmern möchte. Aber du siehst ja, wie es uns hier geht. Ich hätte nicht gewusst, wie ich sie ernähren soll, und mein Mann hat sich quergestellt. Also habe ich gesagt, ich kann nicht. Ich habe sie nur besucht …«

Um meiner Schwester so wenig wie möglich zur Last zu fallen und um ihr zu helfen, gehe ich ihr im Haushalt zur Hand und kümmere mich um ihre beiden Töchter.

Zwischen mir, Elena und Gabriella entwickelt sich ein wunderbares Verhältnis. Wir machen zusammen Hausaufgaben und spielen miteinander. Innerhalb kürzester Zeit bin ich ihre Lieblingstante. Ich gehe auch mit ihnen draußen spazieren, wir laufen Hand in Hand, es sind unbeschwerte Momente. Wenn ich kann, kaufe ich ihnen Kaugummi und Bonbons vom wenigen Kleingeld, das von Armando für mich abfällt.

»Hier, nehmt!«

Die Hände voller Süßigkeiten, sehen sie mich glücklich an.

Nach und nach finde ich heraus, dass wir viele Geschwister in der Familie sind: ich, Vanessa, Clotilde, Roberto und Francesco – von deren Existenz ich keine Ahnung hatte –, Giancarlo und Pino.

Die zuletzt Genannten kenne ich schon eine ganze Weile.

Giancarlo ist älter als ich: Ein liebevoller Junge, jedoch auf die schiefe Bahn geraten, und obwohl er zupackt und arbeitet, hat er ständig Schulden.

Nur Pino, unser ältester Bruder, ist dem Elend entkommen. Er hatte Glück, durfte die Hilfe einer wohlhabenden Familie annehmen. Sein Leben hat eine andere Wendung genommen. Doch mittlerweile ist er so hochmütig, dass er uns vergessen hat. Er bildet sich ein, etwas Besseres zu sein, und meidet uns alle, außer Clotilde, die er anhimmelt und von der er sich auf eine seltsam krankhafte Art und Weise angezogen fühlt. Clotilde war immer schon sein Liebling, bereits zu der Zeit, als er uns im Heim besuchen kam. Er hatte nur Augen für sie.

Ich bin neugierig und versuche, meine kleineren Brüder, von denen ich nichts wusste, ausfindig zu machen. Laut Vanessas Erzählungen waren sie im selben Kinderheim wie ich als kleines Mädchen. Dieses Heim ist an keinem von uns Geschwistern vorübergegangen. Inzwischen wohnen die beiden Jungen in einer religiösen Erziehungsanstalt etwas außerhalb der Stadt.

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen und besuche sie. Sie sind noch so klein und bedürftig. Ich habe Mitleid mit ihnen.

Eines Nachmittags – ich habe mich in mein Zimmer verkrochen – klingelt es an der Tür.

Es dauert nicht lange, und Armandos Mutter kommt wütend herein, ohne anzuklopfen.

»Du Lügnerin! Du hast immer behauptet, du wärst ganz allein, und schon tauchen deine Geschwister auf.«

Erschrocken streite ich alles ab, sage, dass es nicht wahr sei. »Ich habe keine Geschwister!«

Sie schleift mich auf den Balkon hinaus und deutet hinunter auf zwei kleine Jungen. Ich erkenne sie wieder, es sind Roberto und Francesco. Weiß der Himmel, wie sie aus der Anstalt weglaufen und mich finden konnten. Auch sie erkennen mich wieder: Die Köpfe nach oben gerichtet, sagen sie mir Hallo.

Ich schäme mich zutiefst und erfinde für Armandos Mutter eine Ausrede.

»Ich … habe sie ganz vergessen! Ich habe sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Dürfen sie heraufkommen?«

Ihr Schweigen deute ich als Zustimmung und lasse die Kinder ins Haus.

Ich beäuge sie und erkenne mich selbst wieder. Sie sind klein, bedürftig und erregen Mitleid.