»Ich bin Trainer, kein Diplomat!« - Hans-Ulrich Thomale - E-Book

»Ich bin Trainer, kein Diplomat!« E-Book

Hans-Ulrich Thomale

0,0

Beschreibung

Wie man zum »Jahrhunderttrainer« wird Mitreißender Rückblick eines erfolgreichen Fußballlehrers Innenansichten des Fußballbetriebs in Ost und West Ein Muss für Fußballbegeisterte Hans-Ulrich »Ulli« Thomale gehört zu den erfolgreichsten deutschen Fußballtrainern. In der DDR begann seine Trainerlaufbahn zunächst im Nachwuchsbereich von Halle und Jena. Als Cheftrainer coachte er Wismut Aue, das er bis auf die Europacupplätze führte, und Lok Leipzig, mit dem er je zweimal FDGB-Pokalsieger und Vizemeister wurde und 1987 das Finale im Europacup der Pokalsieger erreichte. Nach der Wiedervereinigung war er einer der ersten »Osttrainer« im Westen, trainierte etwa den KSV Hessen Kassel und den FC 08 Homburg. Besonders erfolgreich war er beim Grazer AK in Österreich, mit dem ihm 1995 der Aufstieg in die 1. Liga gelang. Zum Gründungsjubiläum 2002 wählten ihn die Fans als Trainer in die Grazer »Jahrhundertmannschaft«. Zusammen mit seiner Frau Regine, die in Ost und West als Lehrerin tätig war, und seinem Sohn Michael hat er im Gespräch mit dem Autor und Fußballfachmann Frank Willmann prägende Ereignisse seines Lebens Revue passieren lassen, wozu neben einem kurzen Ausflug in die chinesische Fußballwelt auch das Überleben der Tsunamikatastrophe 2004 gehört. Daraus ist nicht nur eine abwechslungsreiche und authentische Trainerbiografie, sondern ebenso ein spannender und emotional berührender Rückblick auf die jüngste deutsche Geschichte entstanden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 304

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Coverfoto: Uwe Jacobshagen

Der Verlag und die Autoren haben sich bemüht, alle Rechteinhaber von Abbildungen ausfindig zu machen; sollten dennoch bestehende Rechte nicht berücksichtigt worden sein, bitten wir um Kontaktaufnahme.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek registriert diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten im Internet unter https://dnb.de.

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Freigrenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage

© 2021 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale) www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 978-3-96311-595-0

Inhalt

1. Kapitel: Intro Kassel, Winter 2020

2. Kapitel: Sörnewitz – Ulli Hatte Glück

3. Kapitel: ÜBer Meissen Nach Dresden

4. Kapitel: Nva Und Regine

5. Kapitel: Dresden, Riesa, Halle

6. Kapitel: Jena 1972 – Auf Dem Weg Zum Spitzentrainer

7. Kapitel: Der Letzte Schliff in Aue

8. Kapitel: 1985 Lok Leipzig – Kampf um die Spitze in Der Ddr-Oberliga

9. Kapitel: Auf Dem Weg Ins Europacup-Finale

10. Kapitel: Drama im Zentralstadion

11. Kapitel: Agonie im Fussball Und Politische Wende in Der Ddr

12. Kapitel: Zurück Nach Deutschland

13. Kapitel: Im Reich Der Mitte

14. Kapitel: Heimkehr Nach Leipzig

15. Kapitel: Tsunami

Sportlaufbahn Hans-Ulrich Thomale

Glossar

Personenregister

1. KAPITEL

INTRO KASSEL, WINTER 2020

FRANK WILLMANN | 25. Februar 2020. Kassel-Harleshausen. Sonne, Schneeglöckchen, Faschingszeit. Ich bin zum Brunch bei Familie Thomale eingeladen. Sie wohnt am Rand von Kassel, eine ruhige Gegend. Im Sommer weiden hinter dem Haus der Thomales Pferde. Unser Ziel ist eine ehrliche Biografie von Hans-Ulrich „Ulli“ Thomale, in der man die Höhen und Tiefen des Lebens wiederfindet. Wir nähern uns an.

Deutschland 2020. Noch hat Corona das Land nicht im Griff. Ein Dorf weiter fuhr vor wenigen Stunden ein Mann in einen Karnevalszug. 154 Verletzte, darunter viele Kinder. Fünf Tage vorher hatte ein rechtsradikaler Täter in Hanau zehn Menschen ermordet. Am 25. Februar ist Kassel voller Polizei in Kampfmontur.

„Meine Heimat ist Sachsen, in Kassel bin ich zu Hause“, sagt Ulli. Später spazieren wir zum modernen Stadion der Stadt. Hier begann und endete Ullis Trainerkarriere im Westen der Bundesrepublik. Im Kasseler Auestadion ist der Rasen feucht. Ein Schild warnt: Platz gesperrt, Leiter Sportamt. Ullis Lieblingsschild aus alten Tagen. Er und der Leiter des Sportamts wurden 1990 keine Freunde. Drei Schneeflocken, und das Sportamt schlug Alarm. „Scheint sich nichts geändert zu haben“, sagt Ulli und geht schmunzelnd weiter.

25.000 Zuschauer sahen hier 1991 ein Spiel seines KSV Hessen Kassel gegen den SV Werder Bremen im DFB-Pokal. Wir besuchen den Zeugwart Uwe. Ulli geht lächelnd auf ihn zu. Der Trainer Thomale hat alle Leute gleichbehandelt. Weil man seine Ziele im Fußball nur gemeinsam erreicht. König oder Bettler, im Fußball zählte für Ulli nur das wir. In Kassel spielen aktuell wenige Vollprofis, der Rest sind Studenten und Teilzeitkicker. Der KSV Hessen Kassel ist in der Oberliga gelandet, schafft aber in der Coronasaison 2019/20 den Aufstieg in die Regionalliga Südwest. Wir absolvieren einen Rundgang im Vereinsheim. Uwe zeigt uns Trophäen vergangener Fußballfeste und Schlachten. Beim Wort Schlachten müssen wir grinsen. Das Wort wirkt heute aus der Zeit gefallen.

In Duschanbe hat der KSV 2010 als Gastgeschenk einen gestickten Mantel bekommen. Der Mantel ist das Prunkstück der Sammlung. Die Kasseler – zu einem Trainingslager eingeladen – wurden damals in der tadschikischen Hauptstadt mit staatsmännischen Ehren empfangen.

Später treffen wir noch Platzwart Alfred. Er erkennt meinen Begleiter sofort. Ulli hat Spuren hinterlassen. Kurzes Verweilen, Fachsimpelei. War früher alles besser? Möglicherweise. Oder auch nicht. In der Geschäftsstelle des KSV folgt das nächste große Hallo. An der Wand hängt ein Lokomotive-Leipzig-Wimpel. Er stammt von einem Altherrenspiel in den Nullerjahren, als Ulli jeweils eine Halbzeit Lok und den KSV als Trainer betreute. Lokomotive Leipzig! 22. April 1987, rund 125.000 Zuschauer. Unvergessenes Halbfinale im Europapokal der Pokalsieger. Beim Elfer von René Müller implodierten in der DDR die Fernseher zwischen Saßnitz und Suhl. Offiziell waren es 72.000 Zuschauer, sagt Platzwart Alfred. Wir lachen. Wir klopfen uns auf die Schulter und können nicht aufhören zu lachen. Ulli Thomale ist ein perfekter Zeitzeuge des politischen Umbruchs. Er erlebte die DDR und die BRD. Er war Trainer zu einer Zeit, als der Fußball noch halbwegs unschuldig war und nicht zerrieben wurde von Profitgeiern und überbezahlten Stars, die längst den Kontakt zur Straße verloren haben.

Heute existiert der Fußball in einer Zweiklassengesellschaft. Trainer und Spieler treten wie aufgedonnerte Filmschauspieler oder Konzernmitarbeiter auf, der Fußball hat seine Ideale 2020 endgültig an die Finanzwelt verkauft. Früher bestand eine Mannschaft aus elf Freunden. Heute tänzeln elf Egos über den Platz, jeder mit eigenem Friseurteam, Nasenputzerin und einem Koch, der weiß, wie man ein vergoldetes Steak zubereitet. Die Kommerzialisierung des Fußballs hat eine rasante Entwicklung genommen, es bleibt offen, wie der Lieblingssport der Deutschen in Zukunft aussieht. Wer in der Gegenwart über die deutsche Fußballgeschichte spricht, meint selten die der DDR. Die folgenden Seiten werden der deutschen Fußballgeschichte ein paar Fußnoten schenken.

Es geht um Ruhmestaten im Europapokal und das Menschlichbleiben in diktatorischen Zeiten, ums Fußball spielen, ums Götterfunkenhaschen. Und um den Tsunami 2004, der Ulli um ein Haar zum Verhängnis wurde.

Tauchen Sie ein.

2. KAPITEL

SÖRNEWITZ – ULLI HATTE GLÜCK

FRANK WILLMANN | Als Hans-Ulrich Thomale am 6. Dezember 1944 in Sörnewitz geboren wird, tobt der Zweite Weltkrieg noch und verwandelt Deutschland in ein Trümmerfeld. Mitten in diesem Chaos kräht Baby Ulli fröhlich seinen ersten unschuldigen Schrei und kündet damit gleichsam an, dass es nun Zeit für Frieden sei, weil der Fußballsport wahrscheinlich darauf wartete, von ihm erobert zu werden. Langsam, langsam! Natürlich dauert es noch einige Zeit, bis Ulli dem ersten Fußball begegnet. Trotzdem sind sich alle einig, Baby Ulli, dieses Kind des nahenden Friedens, dieser kuschlige Wonneproppen, soll es einmal besser haben als Mutter und Vater. Sörnewitz ist seit 1950 ein Ortsteil von Coswig und liegt in Sachsen. Direkt an der Elbe, unterhalb von Meißen. Mit dem Rad sind es fünfzehn Minuten bis dorthin. Dresden ist nur einen Hechtsprung entfernt. Ulli findet Abenteuer im Weinberg, beim Baden in der Elbe, beim Sammeln vierblättrige Kleeblätter. Die bringen bekanntlich Glück. Das braucht er als Kriegskind. Hinter dem Dorfkern beginnt das Spaargebirge, das kleinste Gebirge Sachsens. Es ist drei Kilometer lang und zweihundert Meter breit. Die Sörnewitzer lieben ihren Lockwitzbach. Der Ortsname Sörnewitz stammt vom altsorbischen Zornowica und bedeutet Mühlenort. Ulli ist die zweitwichtigste Persönlichkeit des Ortes nach Annemarie Dose, der Gründerin der Hamburger Tafel. Die größte Attraktion des Ortes war die Fähre nach Scharfenberg.

Der milde Singsang dieser Gegend bleibt Ulli ein Leben lang erhalten. So klingt er auch in unseren vielen Gesprächen, zu denen später auch seine Frau und sein Sohn hinzukommen. Ich höre allen zu.

ULLI THOMALE | Geboren bin in ich Meißen, das Entbindungsheim stand auf’m Berg. Und der zählte schon zu Meißen, und daher bin ich gebürtiger Meißener. Aber aufgewachsen bin ich nicht in Meißen, sondern in Sörnewitz, das ist wiederum ein Ortsteil von Coswig. Aber nicht das Coswig in Anhalt, da gibt’s auch’n Coswig.

Coswig – ein Dorf? Ne, ne. Das war der größte Industriestandort im Kreis Meißen. Im oberen Teil der Stadt lagen die Betriebe, in der Mitte war ’ne Siedlung, da bin ich groß geworden. Und unten Richtung Elbe wurde Landwirtschaft betrieben. So muss man sich das vorstellen.

Die Siedlung hieß zu Nazizeiten Horst-Wessel-Siedlung und zu DDR-Zeiten Ernst-Thälmann-Siedlung. Jetzt heißt sie Elbgau-Siedlung. Es gab einen zentralen Platz, dort stand ein Thälmann-Denkmal. Auf dieser freien Fläche haben wir Fußball gespielt, unter den Augen des Arbeiterführers. Wir kickten mit Lumpen, einem Tennisball, alles Ballähnliche wurde genutzt. Ringsum waren Gärten. Kann sich jeder vorstellen, was es immer für’n Theater gab, wenn unser Ball in den Beeten landete.

Später besaß ich einen Lederball mit Schnürung, tat beim Köpfen weh. Ich hab mir Knieschützer gebastelt, hatte die mal bei einem gesehen, und wollte so was auch. Also hab ich mir aus Stoffresten, Holz und gefundenem Kram Knieschützer gezaubert. Sie waren nicht perfekt, aber ich war stolz auf die selbst gebauten Dinger. Wenn das Dorf zu Ehren des Kommunismus an Feiertagen aufmarschierte, durften wir nicht kicken. O wehe!

In der Siedlung lebten unheimlich viele Kinder. Und gerade aus dieser Siedlung sind wie durch ein Wunder gute Fußballer hervorgegangen. Einer hat später in Jena gespielt. Ist später von Jena in den Westen abgehauen und hat sich Viktoria Köln angeschlossen. Das war’n großer, schwarzer, eleganter Fußballer.

Mein Vater ist vor Stalingrad halb zerschossen worden. Seine Kameraden hatten lange überlegt, ob sie ihn liegen lassen oder ob sie’n mitschleifen. Ich sag das, weil er sich bei Stalingrad die Nieren kaputtgemacht hat. Außerdem war ein Bein ständig entzündet, eine fortwährende offene Wunde. Letztendlich ist er 1965 im Alter von zweiundfünfzig Jahren an Nierenversagen gestorben.

Wir lebten in einfachen Verhältnissen: Mein Vater Kurt war ungelernter Arbeiter, aber ein sehr intelligenter Mensch. Er konnte gut zeichnen, hatte eine schöne Handschrift, konnte wunderbare Sätze formulieren.

Er war in Meißen geboren, seine Eltern kamen aus Schlesien. Die Familie war arm, er konnte nicht lange zur Schule gehen und musste frühzeitig dazuverdienen. Meine Mutter Ella, eine geborene Klunker, hat auch beizeiten arbeiten müssen, in einem Plattenwerk. Sie hat sich dort eine Staublunge zugezogen, die sie in der Folge schwer belastete. Wenn sie ’ne Treppe hochging, war sie fertig. Sie ist gerade mal siebzig geworden, ein Schlaganfall raffte sie hinweg.

Ich hatte drei Schwestern. Meine jüngste Schwester ist sehr früh verstorben. Die Älteste ist 1955 nach West-Berlin abgehauen. Da stand die Berliner Mauer noch nicht. Die zweitälteste ist vierzig Jahre in der Region um Meißen Lehrerin gewesen. Ich war das dritte Kind.

Mein Vater verdiente 320 Mark der DDR, später 390. Plus eine ganz geringe Schwerbeschädigtenrente, obwohl er zu hundert Prozent beschädigt war.

Während der alliierten Luftangriffe auf Dresden vom 13. bis 15. Februar 1945 lag Vater mit einem Beckendurchschuss in einem Lazarett in der Elbestadt. Das massive Bombardement forderte damals zehntausende Todesopfer, große Teile der Innenstadt und Teile der Dresdener Infrastruktur wurden zerstört. Vom Lazarett hat Vater sich fünfundzwanzig Kilometer nach Hause geschleppt, keine Ahnung wie er das geschafft hat.

Als die Russen Sörnewitz erreichten, versteckte sich unsere Familie im Keller. Ein Russe schenkte mir ’ne Schokolade, erzählte mir später meine Mutter. Als sie die Schwere der Verletzung meines Vaters sahen, ließen sie ihn in Frieden. Sie haben keinem von der Familie etwas angetan.

Wir hatten nicht viel Geld, aber ich bin sehr frei und in Liebe groß geworden. Ich hatte Glück, weil ich der Junge war und der Kleine.

Meine ältere Schwester hat später viel für unsere Eltern getan. Und die zweite auch. Die mittlere Schwester Ursula war nie verheiratet. Als mein Vater starb, ist sie bei der Mutter geblieben. Das vergess ich ihr nie. Ich konnte meinen Weg gehen. Sie hat sich für die Familie aufgeopfert, jetzt ist sie allein.

1955, mit zehn Jahren, habe ich angefangen, für Motor Sörnewitz zu kicken. Meine Eltern haben mir alles ermöglicht. Mein Vater hat über meine beginnende Fußballerlaufbahn ein Tagebuch geführt. Darin notierte er meine Spiele, wo ich was für Tore gemacht hatte, die aktuelle Tabelle. Ich las es erst, als er starb. Auf Seite eins stand: Wer etwas Großes leisten will, muss tief eindringen, scharf unterscheiden, vielseitig verbinden und standhaft beharren.

Was stand sonst noch drin? Mein Motor Sörnewitz schoss in einer Saison über 209 Tore, davon habe ich 102 gemacht. In einem Spiel auch mal zwölf Stück. Ich war’n richtiger Torjäger, technisch sehr gut, schnell und beweglich.

Es gab damals eine gemischte Jugendmannschaft, die ging von vierzehn bis achtzehn, also jedenfalls bei uns in Sörnewitz gab’s das. Dort kickte ich dann schon als Vierzehnjähriger mit den Großen, weil ich so gut war. Ich hab die Abwehrspieler genarrt, Hacke, Spitze, eins, zwei, drei!

Es gab bei Sörnewitz einen Berg, die Bosel. Dort sind wir immer Ski gefahren. Oben war ein Restaurant. Wir saßen zur WM 1954 in dem Restaurant. Alle haben Radio gehört. Als das drei zu zwo für die BRD fiel, ging erst einer hoch vor Freude, dann noch einer, dann alle.

Westfernsehen gab es in unserer Ecke nicht, wir hatten auch gar keinen Fernseher. Als DDR-Bürger in den fünfziger Jahren, bist du mit West-Fernsehen-Gucken nicht so gut gefahren.

Das erste Mal Westen geguckt habe ich als Spieler in Riesa, um 1970. Wir hatten ’ne Antenne auf dem Balkon aufgestellt, der Sexauer mit der Hitparade, riesig, da haben wir wegen der Musik ein bissel Westfernsehen geguckt.

Als ich Anfang der siebziger Jahre in Jena wohnte, hatten die Leute, die bei Zeiss und in der Partei das Sagen hatten, begriffen, dass es scheiße aussieht, wenn jeder in Lobeda seine Antenne auf dem Balkon des Plattenbaus gen Westen ausrichtet, um Westfernsehen zu gucken. Sie haben das inoffiziell-offiziell folgendermaßen geregelt: Auf dem Dach wurde eine Gemeinschaftsantenne installiert und somit konnte jeder Westen gucken, fertig.

In Sörnewitz bin ich acht Jahre zur Schule gegangen. In der achten Klasse schlug mich mein Klassenlehrer für eine weiterbildende Schule vor. Eigentlich waren drei Mädchen besser. Ich war nur draußen, ich war in der Natur, ich bin mit dem Bauern mitgefahren, hab auf’m Feld rumgemacht oder Fußball gespielt. Aber ich war ein guter Schüler, nicht besonders fleißig, aber mit großer Auffassungsgabe.

Die weiterbildende Schule hieß damals Mittelschule, sie war im Nachbarort Brockwitz, dort hab’ ich zehnte Klasse gemacht. Ich war in der Schule ’n bisschen der Rebell. Ich bin einige Male angeeckt.

Betragen: drei. So hin und wieder. Ich war der Maßstab für Lehrer, die sich nicht mit Konsequenz durchsetzen konnten. Wir hatten einige ältere Lehrer, die mussten trotz Erreichung des Rentenalters weiterarbeiten, es herrschte seinerzeit Lehrermangel. Einer von diesen Methusalemlehrern schrieb mal mit zittriger Schrift über mein Verhalten ins Klassenbuch: „stört, ungehorsam, freck“. Ich war seiner Ansicht nach mitunter kein frecher, sondern ein frecker Junge.

Chemieunterricht: Da kommste rein, da war ’ne Säule, dann kam das Pult, dort, wo’de so ein bissel experimentieren konntest. Der Chemielehrer hatte mich mal wegen Ungehorsam vor die Tür gestellt. Ich bin heimlich rein, hinter die Säule, hab Faxen gemacht, alle haben gelacht. Solch’n Mist.

Ich war schon ein temperamentvoller Schüler. Einerseits war ich der leistungsstärkste Schüler, andererseits war ich einem Schabernack nicht abgeneigt. Die zehnte Klasse hab ich mit gut beendet. 1960, ich war sechzehn.

Elektrowärme Sörnewitz, das war ein großer Betrieb, ganz früher auch eine Außenstelle von Siemens. Die haben Kochplatten hergestellt. Gleichrichter hieß das damals, Elektroherde. In der Berufsschule wurde etwas Neues eingeführt: Berufsausbildung mit Abitur.

Man wollte eigentlich eine reine Mädchenklasse. Sie fanden aber nur zwei interessierte Mädchen. Die Leistungen der Jungs waren schlechter. Der Vater eines der Jungen arbeitete als technischer Zeichner bei Elektrowärme Sörnewitz, der andere Vater übte den Beruf eines Zerspannungsmeisters aus. Eigentlich ungerecht: Es ging nicht nach Leistung, sondern über Beziehungen. Die zwei Jungs hatten sie aufgenommen, und dann kriegten sie keine Mädels. Plötzlich durfte ich mit in diese Klasse. Mein Vater war ein kleiner Angestellter in dem Betrieb.

Also lernte ich den anspruchsvollen Beruf eines Formenbauers mit Abitur. Das ist so was wie Werkzeugmacher. Es ging um Folgendes: Wenn du eine Steckdose aus Plastik herstelltest, brauchtest du eine Form. Das war ein filigraner Beruf, und ich bin froh, dass ich das gelernt habe. Die Frage der Zerspanung, der Umgang mit Metallen und mit ganz feinen Messgeräten. Das hat mir Spaß gemacht. Aber mir ging’s mehr ums Abitur, ich wollte später studieren. Die Lehre ging drei Jahre. Ich bekam etwas Lehrlingsgeld und lebte bei meinen Eltern. Wir hatten drei Zimmer. Ein Schlafzimmer; meine große Schwester hat bei den Eltern geschlafen, ich war mit meiner jüngeren Schwester in einem Zimmer, wir haben zusammen in einem Bett geschlafen, einer so rum, einer so rum. Das war aber ganz am Anfang. Später haben sie mir das Zimmer gegeben. Ich hatte ein Zimmer allein, und meine mittlere Schwester hat dann bei den Eltern geschlafen. Dann hatten wir eine Wohnküche. Dort stand ein Herd. Aber auch eine Couch und ein Tisch mit Stühlen. Ofenheizung. So war das. Die Toilette ist im Winter immer eingefroren.

Wir hatten unten im Garten ’nen Schuppen, wo ich mit meinen Kumpels bastelte. Dort stand ein Schraubstock. Wir haben gern Indianer gespielt. Am Schraubstock hab ich mir Pfeile gebaut, scharfe Spitze, hinten mit Federn. Dazu besaß ich einen richtigen Köcher aus Fell und einen Bogen. Ich war immer irgendwo unterwegs.

Ich hab’ das Abitur gut gebaut. Ich kann dir aber heute nicht erklären, worum es bei der Integralrechnung geht, verstehst? (LACHT)

Ich hatte in der zehnten Klasse in Mathematik ’ne Eins. Flächenberechnung, das war für mich logisch. Aber Integralrechnung … ein Buch mit sieben Siegeln. Ich hab’ mich auch nie zum Lernen hingesetzt. Ich war talentiert in Sprachen, Russisch hatte ich ’ne Eins, Englisch hab ich fakultativ gemacht, aber du konntest es ja nie anwenden. Russisch konntest du auch kaum anwenden. Ich kann allerdings heute noch sagen: „Wie heißt du?“, „Wie spät ist es?“ Das krieg’ ich noch hin.

Bei uns in der Nähe befand sich eine sowjetische Kaserne, die Soldaten durften nie raus aus der Kaserne. Die sind immer mit freiem Oberkörper und in Stiefeln und Reiterhosen mit Hosenträgern um die Kaserne gerannt. Kindern gegenüber waren die superfreundlich.

Irgendwann durften die Soldaten nicht mehr raus aus der Kaserne. Sörnewitz hatte eine Kneipe, dort ergab sich mal richtiges Theater, na ja, die hatten wohl alle zu viel Schnaps gesoffen. Ein paar Sörnewitzer sperrten die randalierenden Russen ein, rissen Latten vom Zaun und verprügelten die damit. Jedenfalls kam dann die Kommandantur, so nannte sich die Militärpolizei mit den weißen Handschuhen. Was denkste, wie brutal die ihren eigenen Leuten gegenüber waren. Die Soldaten und Offiziere sind wegen Nichtigkeiten ein halbes Jahr eingeknastet worden, die armen Schweine. Die Russen durften über Jahre nicht auf Heimaturlaub, die taten mir leid. Und wenn’s dann Schnaps gab, war alles vorbei.

3. KAPITEL

ÜBER MEISSEN NACH DRESDEN

ULLI THOMALE | Zwischendurch bin ich von Sörnewitz nach Meißen gewechselt. Zu Aufbau Meißen, das später in TSG Meißen umbenannt wurde. Aufbau war der beste Verein in Meißen, die Männer spielten in der Bezirksliga gegen Mannschaften wie Empor Wurzen. Im Nachhinein hat mir mal einer gesagt: „Mensch, was warst du für ein Topfußballer, wir haben immer auf dich geguckt.“

Das war mir gar nicht so bewusst als junger Kerl. Ich hab’ schon mal ’nen Hackentrick gemacht, wenn mich hinterher einer gefragt hat: „Wie hast du das gemacht?“, sagte ich: „Gar nicht.“ (LACHT)

Ich konnte auf dem Platz gut improvisieren. Ich wollte ein guter Fußballer werden, doch mein zweiter Berufswunsch lautete Koch. Meine Kochkenntnisse blieben leider bis heute kärglich.

Bei Aufbau führte ein hervorragenden Jugendleiter das Zepter, der Sportkamerad Erich Welz, er hatte einen Arm im Krieg verloren, der kannte nur Fußball. Ein wahnsinnig engagierter Mensch, lupenrein in seinem Lebenswandel. Seinerzeit fand regelmäßig der Fernwettkampf der Fußball-Jugend statt. Man musste im Kugelstoßerring jonglieren, ich hielt den Bezirksrekord im Jonglieren und den Bezirksrekord im Slalom mit Ball.

Welz hat uns richtig gut gefördert, er hat den Grundstein meiner fußballerischen Fähigkeiten gelegt. Ich bin mit dem Fahrrad von Sörnewitz die sechs Kilometer zum Sportplatz nach Meißen gefahren. Dort trainierten wir auf der sogenannten Jugendwiese, danach stieg ich wieder aufs Fahrrad und ab nach Hause. Gespielt habe ich mit der Männermannschaft später im Stadion Heiligengrund.

Mein Vater ist zu meinen Spielen gekommen, er konnte trotz seiner Kriegsbehinderung Fahrrad fahren, er hatte Spezialschuhe mit Schienen und einen Klumpfuß. Wenn ich spielte, radelte er zum Platz, hinten auf dem Gepäckträger schaukelte sein Stühlchen. Darauf hockte er sich, guckte die Spiele. Er hatte kaputte Nieren, und diese Anstrengungen gaben ihm wahrscheinlich den Rest. Mein Vater soll selbst ein sehr guter Fußballer gewesen sein.

In der Jugend wurde ich als Meißner Spieler in die Bezirks-Auswahlmannschaft berufen. Neben mir zwei weitere Meißner. Mit dem einen bin ich hin und wieder mal abends weggegangen. So zu ’ner Tanzveranstaltung unter dem Motto: Fuchs musst du sein, aber kein Blechfuchs.

Also nichts ausgeben für die Mädels. Alkohol haben wir keinen getrunken. Auch nicht geraucht. Vorbilder hatte ich keine. Von Fritz Walters Hackentricks wusste ich natürlich. Ich war eher interessiert an praktischen Dingen und guten Tricks, die ich mir abguckte und kopierte. Ich wollte nie Pelé werden. Ich war ich.

Ich hab immer geträumt, dass ein Trainer kommt und meinen besten Trick sieht: Hier steht die Mauer und hier ist der Ball. Ich komme im höchsten Tempo, fintiere über den Ball, drehe ab, der Ball wird von einem Mitspieler zu mir gespielt, ich netze ein.

Das hab’ ich geübt, auf der Straße, mit Steinen. Und damit bin ich dann so drüber und dann hab’ ich – pfffft! – den Stein final versenkt. Den Freistoßtrick hat nie irgendjemand in einem Spiel versucht. Aber ich hab’s hin und wieder getan, und es gelang sogar manchmal. (LACHT)

Oder Effetbälle am Gartentor üben. Hab mir einen Ball genommen und Effetschüsse geübt. Ich muss jetzt in das Tor rein. Ich konnte gut Ecken schießen. Zwecks Ballannahmeübung hab ich den Ball aufs Dach gezimmert, und wenn der Ball runterkam, dann hab ich den eben mal so mitgenommen, fintiert und rumms aufs Gartentor.

Als junger Kerl, mit achtzehn oder neunzehn, spielte ich in der 1. Mannschaft Meißens mein erstes Spiel: Vorn standen die Veteranen. Dann kam ’ne Weile nichts. Und ganz hinten stand ich. Wir spielten gegen das große Empor Wurzen. Thomale machte zwei Tore. Ich rückte sofort vor in den Bereich der Altgedienten. Ich war ein frecher Spieler, wurde von ihnen anerkannt, war der junge Kerl, der es draufhatte. Erste Saison: 27 Spiele und 13 Tore.

In Meißen stand das Hotel Hamburger Hof, in dem oben im Saal, im Restaurant, regelmäßig Tanzabende veranstaltet wurden. Im Saal hingen Bilder der Meißener Mannschaft. In der Mitte stand der Mittelstürmer Thomale. Man sah, dass ich der Jüngste war, so’n bissel der Shootingstar. Das hat mich mit Stolz erfüllt.

REGINE THOMALE | Als ich Ulli kennenlernte, war ich sechszehneinhalb. Ich besuchte mit meiner zehnten Klasse eine Winterfreizeit in Voigtsdorf im Erzgebirge. Ulli war mit seiner Abiturklasse dort. Ich machte mein Abitur und erlernte nebenbei den Beruf einer Zierpflanzengärtnerin. Wir haben uns in Voigtsdorf sehr lose befreundet, es war nichts Festes. Das mit uns hat sich erst mit der Zeit entwickelt, ich habe beizeiten verstanden, das ist ein junger Mann, für den steht Fußball an erster Stelle. Das hat er mir auch manchmal gesagt. Wenn ich mit sechszehneinhalb, siebzehn Tanzstunde nahm und Lust verspürte, am Wochenende irgendwo aufzuschlagen, da hatte der keine Zeit. (LACHT) Da bin ich eben anderweitig unterwegs gewesen.

Ich durfte zu Hause nicht sagen, dass ich einen Freund hab. Mein Vater war sehr konservativ, sehr streng. Er hat mir gesagt: „Bevor du’s Abitur nicht in der Tasche hast, kommt mir hier kein Kerl ins Haus.“

Ich wuchs im Tal der Ahnungslosen auf, so nannte man das Elbtal, weil es ohne Westfernsehen und Radio auskam. Für mich war die DDR der Kosmos und ringsum: Keine Ahnung, was da noch war. Ich wusste es nicht. Es wurde bei uns zu Hause auch nicht diskutiert.

Wenn meine Oma von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erzählte, wurde sie von meinen Eltern in die Schranken verwiesen. Mit der Begründung: „Du bringst die Kinder in Konflikte.“ Damit wir in der Schule ordentlich marschieren konnten, in der Sache, die politisch in der DDR lief. Obwohl ich als Kind die Gängelei und den Pionierkram nicht so negativ empfunden hab. Ich hatte ein Halstuch der Pioniere, aber mit der Ideologie nix am Hut.

Ulli und ich hatten nicht sofort eine feste Beziehung, das hat sich im Lauf der Jahre langsam entwickelt, wir pflegten ein heimliches Verhältnis. Wir haben uns immer mal gesehen, zu Hause sagte ich, dass ich zum Sport gehe. Meine Mutti war eingeweiht.

Als ich mein Abitur in der Tasche hatte und gleichzeitig meine Ausbildung als Zierpflanzengärtnerin beendete, war der große Zeitpunkt gekommen. Ich durfte Ulli zu Hause vorstellen. (LACHT) Mein Vater war Fußballanhänger, und weil der Ulli in unserer Heimatstadt Meißen Fußball spielte, war die Sache dann gegessen und alles lief wesentlich entspannter.

Ich wollte nach dem Abitur studieren und hatte in Leipzig einen Studienplatz für Deutsch und Geschichte im Lehramt. Eigentlich wollte ich immer auf’n Bau, Häuser und Fabriken für Menschen bauen. Das hat mich schon als kleines Kind fasziniert, alles, was mit Bau zu tun hatte. Wenn man in der DDR aber Architekt werden wollte, musste man ’ne Lehre auf dem Bau machen. Maurer mit Abitur.

„Das kommt nicht infrage. Du gehst nicht auf’n Bau!“, sagte mein Vater.

In der zehnten Klasse bin ich von Architektin auf Lehrerin umgeschwenkt: Na ja, wenn der dir das verbietet, dann kannst du das nicht machen. Du bist finanziell noch von deinen Eltern abhängig. Also gut.

Der Ulli und ich, wir haben gedacht: Och ja, kriegen wir hin. Für mich hatte das Studium Priorität vor allem. Meine Überlegung war: Am Wochenende bin ich bei ihm in Dresden, und da können wir uns sehen. Er spielte Fußball und absolvierte sein Fernstudium. Dann passierte etwas, was meine Einstellung zum Staat und meine Haltung grundsätzlich infrage stellte.

Vor Studienbeginn sind wir in die Sommerferien gegangen. Ich bekam einen Brief von der Uni in Leipzig, es gab damals kein Internet, und schnelles Telefonieren war auch nicht. Die Uni teilte mir lapidar mit, dass meine Studiengruppe für Deutsch und Geschichte aufgelöst wurde. Weil die jungen Männer ihren freiwilligen Dienst bei der NVA antraten. Aus diesem Grund würde ich der Seminargruppe „Staatsbürgerkunde/Geschichte“ zugeteilt.

Ich war völlig kopflos und von der Rolle. Ich wusste nicht weiter. Staatsbürgerkunde war für mich keine Option. Das war für mich kein Schulfach, das war Gelurxe. (LACHT) Man lernte nichts fürs Leben, nur politische Indoktrinierung.

Also hab ich mit meinen Eltern darüber gesprochen. Mein Vater: „Keine Ahnung, warum willst’n das nicht machen?“ „Ja. Weiß ich nicht, das mach ich nicht.“

Jetzt stand ich da. Was ich studieren wollte, ging plötzlich nicht. Und mit’m Ulli, der mit seinem Fußball intensiv beschäftigt war. Ich dachte: „Scheiße, Staatsbürgerkunde mach ich nicht. Ich bewerbe mich einfach an ’ner anderen Uni.“

Also hab ich mich in Halle beworben, für Deutsch und Geschichte. Ich wurde zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Bei der Hallenser Unikommission fragte man mich: „Wieso bewerben Sie sich denn hier in Halle? Sie haben doch einen Studienplatz in Leipzig?“

Ich hab das nicht geschnallt. Die wussten also, dass ich einen Studienplatz in Leipzig für Staatsbürgerkunde/Geschichte hatte. Ein Gespräch fand gar nicht statt: „Sie fahren nach Hause, das ist unlauter, was Sie hier machen, Sie haben einen Studienplatz und bewerben sich nochmal.“

Es war Mitte August. Ich hatte keinen Studienplatz. Ich musste irgendwas machen. Ich sah keine Chance, irgendwo zu studieren. Ich musst eine Arbeit finden. Ich war neunzehn.

In meiner Verzweiflung hätte ich als Gärtnerin arbeiten können, ich hatte ja einen Facharbeiterbrief. Aber das war eine viel zu schwere Arbeit für mich.

Ich bewarb mich in einem Kinderhort und wurde angenommen, ohne Ausbildung. Ich hab ein Jahr im Kinderhort gearbeitet und dort eine Gruppe Kinder aus der dritten Klasse betreut. Das hat mir Spaß gemacht. Nach einem Jahr habe ich mich wieder in Leipzig um einen Studienplatz Deutsch/Geschichte beworben, dummerweise war das nur an wenigen Unis möglich. Leipzig antwortete, ich gelte jetzt nicht mehr als Abiturientin, sondern als berufstätig. Sie könnten mich für einen Studienplatz nicht zulassen.

Ich verstand die Welt nicht. Der letzte Ausweg für ein Studium in DDR hieß Unterstufenlehrerin, heute sagt man Grundschullehrerin. Fachschulstudium. Ich hatte die Hoffnung, Ach ja, dann mach ich erst mal das, ich werde schon irgendwie weiterkommen. Ich arbeitete am Tag, abends war ich müde. Ulli und mir blieben die Wochenenden nach dem Fußball. Ich bin dann zu ihm nach Dresden gefahren. Unsere gemeinsame Zeit war knapp bemessen. Eigentlich wussten wir voneinander wenig. Ulli: Fußball, Fußball, Fußball. Das war immer wichtig, er war als Spieler sehr, sehr ehrgeizig.

Mein Fachschulstudium in Nossen hätte ich am ersten Tag fast wieder hingeschmissen. Das Studium begann mit einem mehrwöchigen Einsatz in der Kartoffelernte in Mecklenburg. Alle Studenten mussten hin. Studieren stellte ich mir anders vor. Nachdem wir wieder zu Hause waren, kam der nächste Hammer: ein Lager für vormilitärische Ausbildung. Ich wollte das nicht.

Mein Vater sagte: „Das musste dir jetzt überlegen. Das ist deine letzte Chance. Wenn du das jetzt auch hinschmeißt, da sitzt du da. Und die lassen dich nicht studieren.“

Also hab ich wie alle anderen Studenten das Lager für vormilitärische Ausbildung absolviert. Dieser ganze ideologische Mist, in ein Ohr rein und zum anderen Ohr wieder raus. Endlich begann das Studium. Es war methodisch das Beste, was ich jemals lernte. Sie hatten richtig gute Leute für die Fächer Erstlesemethodik, Erst-Mathe-Methodik. Man kann einer ersten Klasse nicht Lesen, Schreiben, Rechnen und Mathe vermitteln, wenn man das nicht gelernt hat, selbst wenn man selbst gut in Rechtschreibung und in Mathe ist.

ULLI THOMALE | Irgendwann fand ein Hallen-Turnier in Dresden statt. Dort wurde die SC Einheit Dresden auf mich aufmerksam. Einheit war der Nachfolgeverein des Dresdner SC, des Dresdner Sportclubs 1898 e. V.

Der DSC war ein traditionsreicher Sportverein, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfolgreich war und 1943 sowie 1944 die deutsche Fußballmeisterschaft gewann. Der DSC ist nach 1945 zur SC Einheit Dresden mutiert, weil in der SBZ und der DDR alle Sportvereine als ehemalige nationalsozialistische Organisationen verboten wurden.

Im DSC waren diverse Sportarten integriert, Rudern, Kegeln, Eiskunstlauf, Wasserspringen, Leichtathletik, Skilauf. 1950 wechselte ein Großteil der Fußballmannschaft auf Initiative von Helmut Schön zu Hertha BSC nach West-Berlin oder zur TSG 78 nach Heidelberg. Der Rest der Mannschaft schloss sich der SG Mickten an, die im gleichen Jahr in BSG Sachsenverlag, danach in BSG Rotation und schließlich 1954 in SC Einheit Dresden umbenannt wurde. 1966 gab’s den Fußball-Beschluss des DFV, als der DDRFußball von oben neu organisiert wurde und besonders geförderte Schwerpunktvereine gegründet worden sind. So wurde aus dem SC Einheit Dresden der Fußball ausgegliedert, und der Fußballverein hieß fortan FSV Lok Dresen.

1966 beendete ich meine Lehre, begann ein Fernstudium und wechselte nach Dresden zu Einheit. Sie spielten 2. Liga, waren aber von 1954 bis 1962 in der DDR-Oberliga und wollten wieder in die höchste Spielklasse aufsteigen.

Ich war so helle, dass ich gesagt habe: „Ich mache die Aufnahmeprüfung an der DHfK.“ Es gab eine Außenstelle in Dresden. Die Prüfung habe ich bestanden und wurde Sportstudent. Mir wurde nichts geschenkt. Ich wurde als Leistungssportler gefördert, trotzdem war es ein harter Weg zum Diplom-Sportlehrer.

Trainiert habe ich bei Einheit jeden Tag, ich war ein Profi mit wenig Geld. Es gab für mich in der Woche einen Studientag, den Dienstag. Am Dienstag trainierte ich nicht. Ich büffelte in der DHfK-Außenstelle in Dresden, Pieschener Allee. Das war nicht einfach, weil der Übergabe von der Schule zum selbstständigen Wissenserwerb in einem Fernstudium erstmal gemeistert werden will.

In Dresden habe ich mein erstes Geld als Fußballspieler verdient, musste aber halbtags arbeiten, in der Entwicklungsabteilung für Spielzeugwaren in Dresden. Sie haben mir Aufgaben gegeben, aber ich war nicht derjenige, der die Produkte vom Band geschoben hat, ich wurde durchgeschleift, hab bissel mitgemacht. Wir haben zum Beispiel große Spieluhren aus Plastik entworfen oder ein Unterseeboot, das konnteste programmieren.

Der Direktor hat bereits ein bisschen mit dem Kapitalismus geschmust, ist zu internationalen Messen gefahren. Dort hat der geguckt, was es an Neuigkeiten gibt, und wir mussten das nachbauen. Ähnlich wie das heute die Chinesen sehr effektiv tun.

Mittags bin ich zum Training gegangen. Der Direktor schaute sich sofort an, was ich beim Fußball draufhabe. Ich glaube, es war mein erstes Spiel für Dresden. Ich schoss ein oder zwei Tore gegen Motor Schott Jena. Am nächsten Tag hat mich der Direktor in der Früh hochbestellt: „Kleiner! Komm’ mal hoch! Ab jetzt kriegst du ’ne Gehaltserhöhung! Außerdem kannst du jetzt immer schon um elf gehen.“ So’n Fußballverrückter war das.

Mir war’s ein Herzensbedürfnis, von meinem ersten Geld in Dresden meinem Vater ein neues Fahrrad zu schenken.

Er hatte eine alte Mühle, mit der er sich quälte. Und ich hab dem ein neues Fahrrad gekauft. Das war für mich eine ungeheure Freude. Er ist dann leider im Krankenhaus schnell verstorben. Ich wusste, dass er stirbt, und hab ihn jeden Tag besucht. Er lag auf der Intensivstation, und der Arzt hat gesagt: „Er wird’s nicht schaffen.“

Da hab’ ich erstmal richtig registriert, was der verdient hat. Oder nicht verdient hat. Und die lächerliche Rente für seine hundertprozentige Schwerbehinderung. Ich hab mich aufgeregt, das hat sich mir eingeprägt. Für mich war das auch ein Vermächtnis gegenüber meinem Vater, als Fußballer beziehungsweise im späteren Leben etwas zu leisten. Weil er so ein Typ war, ein Kämpfer, trotz seiner schweren Kriegsverletzungen. Ich wollte es der Welt zeigen. Auch weil mein Vater wegen des Krieges keine Chance hatte, sich zu verwirklichen, der Krieg hat ihn fertiggemacht. Bis zum Schluss liebte er mich, interessierte sich für mein Tun und förderte mich.

Eine Schwester ist bei der Mutter geblieben. Meine Mutter erlitt einen Schlaganfall, meine Schwester hat sie drei Jahre gepflegt und dessen ungeachtet als Lehrerin gearbeitet. Sie ist jetzt siebenundsiebzig. Wir telefonieren jede Woche. Sie kriegt von mir jede Unterstützung, die ich leisten kann.

In Dresden wohnte ich im Internat Pieschener Allee. Neben mir lebten dort diverse Sportler. Das Internat war eigentlich eine Baracke mit ordentlich eingeräumten Zimmern. Heizung, ja. Toilette auf dem Gang. Zwei Mann in einem Zimmer.

Wir hatten viele Fans, weil die Leute in Dresden in uns den Nachfolger des beliebten Dresdner SC sahen. Etliche Ältere, Verrückte, aus der uralten Garde vor 1945. Die gern mal mit Geschenken ankamen, heute Bananen, einem Stück Butter. (LACHT) Der DSC war zu DDR-Zeiten offiziell verpönt, weil die Mannschaft fast komplett in den Westen abgehauen war.

Den Verein Volkspolizei Dresden gab es auch schon, daraus wurde später Dynamo Dresden, der Verein der Sicherheitskräfte. Dynamo besaß damals bereits die Sportschule, bei Volkspolizei/Dynamo wurde immer ein sehr guter technischer Fußball gespielt. Die Bezirksleitung der SED-Partei war Dynamo-lastig. Wir wurden auch mal von der Bezirksleitung eingeladen, aber das hauptsächliche Interesse galt Dynamo. Sie spielten in der 1. Liga, wir in der 2. Dynamo Dresden wurde das Lieblingskind der Dresdner. Alle Kraft für Dynamo! Um das zu festigen, wurde unser Spieler Eduard Geyer von Einheit zu Dynamo delegiert.

Wir hatten einen sehr patenten Mannschaftsleiter, einen Rechtsanwalt, er hat mich gemocht. Als mein Vater starb, sind die Leute von Einheit zur Beisetzung gekommen. Das hat mir geholfen. Ich dachte, ich kann nicht einfach so zu einem anderen Verein verschwinden. Und bin geblieben. Wir wollten eigentlich aufsteigen.

Unser Trainer war vor meiner Zeit mit dem SC Einheit FDGB-Pokal-Sieger geworden. Ein sehr guter Ausbilder, aber kein guter Coach, kein Psychologe, trotzdem ein akribischer, fleißiger Mensch. Du musst aber manchmal im Fußball dem einen oder anderen eins auf die Fresse hauen, streng symbolisch formuliert. Ich überspitze. Aber um die Mannschaft nach vorn zu bringen, musst du zuweilen Tacheles reden. Du kannst nicht immer alle lieb haben. Wenn es nicht lief, meinte unser Trainer: „… aber wir haben doch alles gemacht …“

Der hat uns sogar unterschreiben lassen, was wir im Spiel für Aufgaben zu erfüllen hatten. Es schien durchdacht. Ich hab als Trainer auch Verschiedenes probiert, ich bin sicher der emotionale Typ, bei mir ist auch mal ein böses Wort gefallen, und mancher meinte hinter vorgehaltener Hand: „Der Thomale ist verbissen.“

Ich glaube, dass ich das Coachen später ganz gut beherrscht habe. Man muss ein gewisses Schauspieltalent haben, um zwischen hartem Hund und Pferdeflüsterer hin und her switchen zu können.

Ein Trainer hat Wissen. Er muss analysieren können. Aber ein Coach, der muss seine Fußballphilosophie in eine Mannschaft einbringen können.

Ein Beispiel. Otto Rehhagel ist für mich ein besserer Coach als Trainer. Der hatte die Gabe – und das verstehe ich unter coachen –, aus den Menschen, aus den Spielern von der emotionalen Seite alles rauszuholen. Dass die zusammenhalten, dass sie für ihn Gas geben. Ein perfekter Trainer trainiert ordentlich, der weiß, was er zu tun hat, er analysiert und kann gut coachen. Nehmen wir jetzt mal den Klopp. Das ist wahrscheinlich im Moment der beste Mann auf dem Trainerstuhl. Klopp ist die Inkarnation des Erfolgs.

Jürgen „Klinsi“ Klinsmann hingegen ist nur ein guter Coach! Der hat 2006 vor der WM in Deutschland gesagt: „Wir wollen Weltmeister werden!“ Ich dachte: „Spinnt der?“

Ne! Der hat lange in Amerika gearbeitet und dort gesehen, auf welche Art und Weise die den Leuten einreden, wie gut die sind.

Wir waren mit unserer Dresdner Mannschaft immer vorne dabei, sind aber nie aufgestiegen. Trotzdem kamen ein paar tausend Zuschauer. Als Einheit spielten wir in Rot-Weiß, als wir FSV Lok Dresden wurden, änderten sich die Farben in Schwarz-Rot und Schwarz-Weiß. Das hat uns gefallen, weil es in der DDR ungewöhnliche Farben waren. Ich spielte meist vorn in der Mitte oder vorn rechts und schoss in 76 Spielen 13 Tore.