Ich habe beschlossen, dass es mir nur noch gut geht - Maria Welser - E-Book

Ich habe beschlossen, dass es mir nur noch gut geht E-Book

Maria Welser

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Beschreibung

Ich kämpfe weiter ─ für mich und für andere
Die Diagnose trifft Maria von Welser mitten in ihrem so geordneten, aktiven Leben: ein Gehirntumor. Es folgt eine fünfstündige OP, deren Folgen, vor allem der starke Schwindel, ihr zu schaffen machen. Doch Aufgeben ist für Maria von Welser keine Alternative. Sieben Monate nach der Entfernung des Tumors ist sie entschlossen, wieder in ihr normales Leben zurückzukehren: Sie hält Vorträge in ganz Deutschland zur Situation von Frauen auf der Welt und zur Flüchtlingsfrage – den Themen ihrer letzten beiden Bücher. Denn sie fragt sich: „Kann ich mich aus der Öffentlichkeit zurückziehen? Will ich mich auf meinen Tumor konzentrieren, wo ganz andere Krebsgeschwüre in unserem Land wuchern?“

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Aufgeben ist keine Option

Die Diagnose trifft Maria von Welser mitten in ihrem so geordneten, aktiven Leben: ein Gehirntumor. Es folgt eine fünfstündige OP, deren Folgen, vor allem der starke Schwindel, ihr zu schaffen machen. Doch Aufgeben ist für Maria von Welser keine Alternative. Sieben Monate nach der Entfernung des Tumors ist sie entschlossen, wieder in ihr normales Leben zurückzukehren: Sie hält Vorträge in ganz Deutschland zur Situation von Frauen auf der Welt und zur Flüchtlingsfrage. Denn sie fragt sich: »Kann ich mich aus der Öffentlichkeit zurückziehen? Will ich mich auf meinen Tumor konzentrieren, wo ganz andere Krebsgeschwüre in unserem Land wuchern?«

Ein berührender Bericht und ein Buch, das Mut macht, sich selbst nie aufzugeben.

MARIA VON WELSER

Ich habe

beschlossen,

dass es mir

nur noch gut geht

LEBEN MIT DEM TUMOR

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Dieses Buch beruht auf wahren Begebenheiten. Einige Schilderungen von Ereignissen und Personen wurden jedoch aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes verfremdet.

Originalausgabe 04/2019

Copyright © 2019 by Ludwig Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Stangl

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Umschlagfoto: © Niels Starnick/Bild am Sonntag

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-23881-0V001

www.Ludwig-Verlag.de

Inhalt

Ein Wort zu Beginn: Warum dieses persönliche Buch?

KAPITEL 1

Die Diagnose kommt aus heiterem Himmel

KAPITEL 2

Die Operation, die Träume und die Folgen

KAPITEL 3

Von wegen es geht aufwärts. Die ersten Wochen nach der Operation

KAPITEL 4

Der erste Sommer in meinem neuen Leben. Ich brauche dringend weiter Hilfe

KAPITEL 5

Ein kleines Wunder: Der Schwindel »verschwindet« – ein wenig

KAPITEL 6

Das Meningeom wächst. Aber wenigstens hilft die Craniosacral-Therapie

KAPITEL 7

Keiner kann es erklären: Auf Skiern bin ich schwindelfrei

KAPITEL 8

Ein Tag, neun Experten, Hundert Impulse: Ich besuche den Hirntumortag in Würzburg

KAPITEL 9

Ein Operateur, eintausend Neurochirurgen und ich. Tagungsbesuch in Münster

KAPITEL 10

Wegbegleiter, ohne die es nicht gegangen wäre: Der Neurologe, die Physiotherapeuten und die Craniosacral-Therapeuten

KAPITEL 11

Immer noch unerforscht: Lassen Hormone Tumore wachsen?

KAPITEL 12

Von Senator John McCain bis Elisabeth Taylor. Prominente Tumorpatienten und wie sie mit dem Krebs umgegangen sind

KAPITEL 13

Ausblick: Der Kampf geht weiter. Aber mein Glas bleibt halb voll

Dank

Ein Wort zu Beginn: Warum dieses persönliche Buch?

Wenn Sie dieses Buch in den Händen halten, dann fragen Sie sich vielleicht: Warum schreibt diese Autorin so ein persönliches Buch? Wo sie doch bisher von Frauen, Kindern und Unrecht berichtet hat? Ich gestehe, dazu bedurfte es schon einiger Überredungskünste meines engagierten Agenten Thomas Montasser und eines mutigen Schrittes meinerseits. Denn als Journalistin berichte ich einfach lieber über andere Menschen, über andere Schicksale, wie in meinen letzten beiden Büchern Wo Frauen nichts wert sind, oder aktuell Kein Schutz nirgends – Frauen und Kinder auf der Flucht. Schreibe aber nicht so gerne über mich. Aber jetzt die Geschichte meines »neuen« Lebens. Die mit der Diagnose Gehirntumor beginnt, einer fünfstündigen Operation am Kopf und den Folgen. Dabei ist erst sechs lange Tage nach der Operation klar: der Tumor ist gutartig. Was für eine Erleichterung!

Zwei Jahre danach kämpfe ich immer noch mit den Folgen. Beschließe zwar, dass es mir »nur noch gut geht«. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. In diesem Buch will ich darum vor allem denjenigen Menschen Mut machen, die Jahr für Jahr in Deutschland mit einer solchen Diagnose unters Messer müssen. Die sich in Hirntumorforen austauschen, sich gegenseitig helfen und trösten. Die in den Schwindelzentren sitzen und oft nicht weiterwissen, die im Internet recherchieren, wie die Folgen einer solchen Operation besser in den Griff zu bekommen sind. Damit der Alltag wieder Alltag wird. Und die Nächte wieder ruhigen Schlaf bringen.

Dabei muss man wissen: Hirntumore sind unter den Krebserkrankungen selten. Sie machen insgesamt nur ungefähr zwei Prozent aus. Für Deutschland wird geschätzt, dass jedes Jahr etwa 7 040 Menschen neu an einem Tumor des Gehirns erkranken. Männer sind insgesamt etwas häufiger betroffen als Frauen. Im Jahr 2014, so die letzten statistischen Zahlen, erkrankten etwa 3 160 Frauen und 3 900 Männer.

Ich selbst hatte viel Glück: Mein Operateur zählt zu den besten in Deutschland. Er wird in diesem Buch detailliert berichten, wie er den an einer komplizierten Stelle entstandenen Tumor in minutiöser Kleinarbeit entfernt hat. Wie ihm das gelingt, ohne allzu viel an dieser gefährlichen Stelle zu verletzen.

Eine Folge dieser Operation, eine von so vielen, ist ein permanentes Schwindelgefühl. Für dieses Buch habe ich darum das Thema Schwindel gründlich recherchiert und bin auf rund 150 verschiedene Arten von Schwindel gestoßen.

Aus welchem Grund auch immer, ist bei mir während des Aufenthalts in der Klinik übersehen worden, dass ich nach der Operation Anspruch auf eine sogenannte »Anschlussheilbehandlung« gehabt hätte. Aber: wenn diese Rehabilitationsmaßnahme nicht noch aus dem Krankenbett heraus beantragt wird, sind die Krankenkassen nicht mehr dabei, dann zahlen sie nicht.

Der Neurologe, der mich seit meiner Diagnose begleitet hat, setzte sich dennoch engagiert bei den Versicherungen für mich ein und tatsächlich: Es klappte, und ich ging für drei Wochen in ein Sanatorium, in dem mir rund 20 Therapeuten wieder auf die Beine halfen. Im wahrsten Sinn des Wortes. Denn wegen meines Schwindels konnte ich in den ersten Monaten nur mit Stöcken gehen und musste mich sonst an den Wänden abstützen.

So kommen in diesem Buch auch die Physiotherapeuten und die Craniosacral-Therapeuten zu Wort. Denn ohne ihre Hilfe komme ich auch lange nach der Rehabilitation noch nicht gut durch die Woche. Sie berichten von ihren unterstützenden Techniken, von guten Fortschritten, aber auch oft deprimierender Stagnation. Aber zwei Jahre sind wohl bei einer solchen OP keine Zeit – denn alle empfehlen mir: Geduld. Manchmal suche ich gerade die aber ganz verzweifelt …

Da ich sieben Monate nach der Entfernung des Meningeoms wild entschlossen bin, wieder in mein normales Leben zurückzugehen, stehen auch wieder Vorträge in ganz Deutschland zu den aktuellen Büchern, zu Flucht und Migration und zu den beiden Deutschlands in meinem Terminkalender. Der erste Vortrag führt mich nach Schwerin. Wo ich beim Reden sitze, stehen geht noch nicht so gut. Die hoch motivierten Lehrerinnen, die mich eingeladen haben, sind alle etwa zwischen 29 und 45 Jahre alt. Mit ihnen gehe ich danach noch ein Glas Wein trinken. Wir reden über Ost und West, und mir wird einmal mehr auf bittere Weise klar: Die Wiedervereinigung haben wir nicht hinbekommen. Auch weil wir im Westen mit ziemlicher Arroganz auf die Menschen in den neuen Bundesländern herabblicken. Auch darum geht es in diesem Buch. Um das immer noch geteilte Deutschland. Geteilt in pro und contra Flüchtlingspolitik. Geteilt in Gutmenschen und Merkel-Beschimpfer.

»Gemeinsam leben« heißt dann auch einer meiner ersten Vorträge in Berlin, zurück in der politischen Arena. Die Bundestagswahl 2017 steht kurz bevor, die Stimmung ist aufgeheizt. Hat sich meine Sichtweise auf das »Draußen« verändert? Wirkt das Geschehen in meinem Kopf wie eine unsichtbare Glasscheibe? Sie kreisen alle so sehr um sich selbst, scheint es mir. Kein Blick auf Europa, auf die Situation in Deutschland, wo die Armut zunimmt, immer mehr Menschen an den Tafeln anstehen, jedes siebte Kind mit Hartz IV aufwächst. Zwischen den Terminen schlafe ich im Zug, in der Lounge am Flughafen und sogar zuweilen im Stehen an der Wand. Ich brauche immer noch furchtbar viel Schlaf. Der Neurologe beruhigt mich. Das sei normal nach einem solchen Eingriff. Aber ich scharre immer mehr mit den Füßen. Mir reicht es. Es soll jetzt bitte endlich vorbei sein! Alles. Der Schwindel, die Müdigkeit, die dreimonatigen Kontroll-MRTs.

Aber es ist auch nach zwei Jahren alles andere als vorbei: Der Radiologe berichtet bei einer weiteren Untersuchung von einem »beunruhigenden Neuwachstum« des Tumors. Auch davon erzählt dieses Buch. Und von der geschenkten Zeit, als der Facharzt im Cyberknife-Bestrahlungs-Center in München-Großhadern mir empfiehlt: »Kommen Sie in einem Jahr wieder, das würde ich auch meiner Mutter so raten.«

KAPITEL 1

Die Diagnose kommt aus heiterem Himmel

Ganz langsam gehe ich die Treppe hinunter. Halte mich mit der Hand fest am Lauf. Mein Mann geht vor mir. Er weiß von nichts. Soll ich es ihm sagen? Jetzt? Gleich? Wann? Ich weiß es nicht. Die Diagnose im Radiologiezentrum in Hamburg trifft mich völlig unvorbereitet – »out of the blue«, wie es die Briten so schön nennen. Mitten in meinem so geordneten, aktiven dritten Leben: ein Tumor im Gehirn. Ich fasse es nicht.

Mir ist schwindelig. Dabei ahne ich noch nicht, dass das in Zukunft mein Dauerzustand sein wird. Eingehängt in den starken Arm meines Mannes gehe ich auf ein Café zu. Ich kann nur murmeln: »Mir ist nach einem starken Tee.«

Mein Mann fragt nach: »Was ist herausgekommen? Was sagt der Radiologe?« Noch bevor wir die Mäntel aufhängen, es ist Winter und kalt in der Stadt, schaue ich ihn direkt an und sage: »Ich habe einen Gehirntumor.« Klaus guckt erst verständnislos, dann schüttelt er den Kopf. Ich sehe ihm an, dass er es nicht glauben kann, nicht glauben mag. Und dann kommt der Satz, den ich in den kommenden Wochen nicht mehr vergessen werde: »Mach Dir keine Sorgen, Fröschlein, Du schaffst das.« Fröschlein – sein Kosename für mich. Sein Satz dringt noch nicht ganz durch zu mir, ich schwebe noch irgendwie in einem dichten Nebel. Der Radiologe geht mir nicht aus dem Kopf. Als er mich zwanzig Minuten nach dem MRT, der Magnetresonanztomografie, zu sich zur Betrachtung der Bilder bittet. Er schiebt meinen Stuhl neben seinen, die Bildschirme vor uns. Ich sehe meinen Kopf von innen. Angefüllt mit einem Kontrastmittel, damit man etwaige Veränderungen, Wucherungen oder Tumore besser erkennen kann. Und schon zeigt er mir einen haselnussgroßen Fleck. So kommt es mir vor. »Das könnte«, sagt er vorsichtig, »ein Tumor sein. Unten am Hirnstamm, sehen Sie das?« Ich sehe es, ich betrachte das Innere meines Schädels wie eine Journalistin bei der Recherche. Dass es meiner ist, wird mir noch nicht so klar. Sechs Zentimeter tief in meinem Kopf. Meine erste Frage lautet dann auch gleich: »Ist das ein bösartiger Tumor?« Und weiter will ich wissen: »Der muss raus, oder?«

Sofort fällt mir bei dieser Gelegenheit das Buch des bei seiner Diagnose noch so jungen Schriftstellers Wolfgang Herrndorf ein: Arbeit und Struktur, in dem er über sein Leben mit dem Glioblastom, einem bösartigen Hirntumor, schreibt. Das Buch war aus dem Blog des Autors entstanden, der sich am 26. August 2013 das Leben nahm. Ich hatte es vor einiger Zeit in der Hand. Es hat mich erschüttert. Aber, ehrlich, ich konnte es nicht ganz lesen. Damals ahnte ich noch nicht, dass es mich auch mal treffen könnte.

Immer noch reagiere ich vor allem professionell. Auch jetzt, vor den MRT-Bildern mit meinem Tumor. Nur in meinem Magen beginnt es zu drücken, als wenn ich Steine geschluckt hätte. »Ob bösartig oder gutartig, das können wir von hier nicht wirklich beurteilen. Das kann erst festgestellt werden, wenn ein Histologe nach einer Operation oder einer Probenentnahme das Gewebe untersucht hat.« Nicht wirklich beruhigend. Der Radiologe erklärt mir noch den weiteren Verlauf. Er schicke die Bilder jetzt gleich per Mail an meinen Neurologen. Auch der ist mir vom befreundeten Orthopäden und Rotarier Hans-Ulrich Schmidt empfohlen worden. Mit ihm könne ich dann alles Weitere besprechen. Alles Weitere? Was ist das? Was wird das sein? Der Radiologe verabschiedet mich freundlich und professionell mit einem festen Händedruck, und ich schwanke wie betäubt hinaus ins Wartezimmer zu meinem Mann. An den Neurologen schreibt er noch am gleichen Tag: »Es zeigt sich eine homogen kontrastmittelanreichernde 15 mal 20 mm messende Raumforderung, welche zu einer leichten Rechtsverlagerung der Pons führt. Die Raumforderung tangiert den Nervus trigeminus und hat breitflächigen Kontakt zur Dura links-temporal, sodass anhand der Bildgebung an erster Stelle an ein Meningeom zu denken ist.«

Zehn Minuten später sitze ich mit meinem Mann Klaus im Café, ich mit einem heißen, starken Tee. Mein Mann hat sich einen Milchkaffee bestellt. Rührt den Süßstoff gedankenverloren um. Mehrfach. Immer wieder. Wir sind stumm und still. Allmählich kehrt meine Denkfähigkeit zurück. Morgen früh um 8.30 Uhr bin ich beim Neurologen. Mit dem muss ich besprechen, was zu tun ist. Und sonst? Füße stillhalten. Die Meinungen der Fachleute einholen. Und entsprechend das eigene kleine Leben organisieren. Mein lieber Mann legt seine große Hand auf meinen Arm. Schaut mich aufmunternd an und sagt noch mal: »Du schaffst das, nur keine Panik.«

Es ist ja schon gut, dass jetzt nach Wochen des Suchens wahrscheinlich die Ursache für meine seltsamen Beschwerden entdeckt wurde.

So hat alles begonnen: Ziemlich irritiert war ich schon in den Weihnachtsferien. Als ich immer erst ab Mittag das rechte Augenlid aufbekam. Bis dahin hatte ich die Süddeutsche Zeitung, die BILD und das Hamburger Abendblatt auf dem iPad mit nur einem Auge gelesen. Ging auch, war aber anstrengend. Dazu schmerzten mein Genick und meine Halswirbelsäule. Auch meine täglichen Yogaübungen halfen dagegen nicht. Der Schultergürtel kam meinem Physiotherapeuten »wie Beton« vor. Ein wenig ratlos empfahl er mir dann eine MRT der Halswirbelsäule.

Vorher reiste ich aber noch zu meinem neurologischen Spezialisten Prof. Jost in die Nähe von Freiburg. Der mich seit über 15 Jahren alle drei Monate gegen meinen Blepharospasmus spritzt. Das ist eine Form der Dystonie, bei der sich die Augenlider zusammenkrampfen. Mit den Spritzen legt er die Nerven um die Augen lahm, sodass ich ungestört gucken kann und mir nicht mehr die Augen zukrampfen. Ich habe diese seltene Erkrankung 2003 in meinem Buch Zurück zur Zuversicht beschrieben.

Aktuell vermutete der Neurologe erst mal ein Problem in der Halswirbelsäule und stellte zudem einen leicht nach unten gesunkenen rechten Mundwinkel fest, und das rechte Augenlid befinde sich »auf halbmast«. Er untersuchte mich mit dem Ultraschallgerät. Nichts. Oder wie die Ärzte dann so sachlich-kühl schreiben: »kein wegweisender Befund«.

Aber auch die Injektionen in die Nackenmuskulatur führten zu keiner Besserung. Er schreibt mir dann noch quasi zur Aufklärung: »Bei der Inspektion zeigt sich eine Asymmetrie mit tiefer stehendem Mundwinkel rechts. Zusätzlich beklagen Sie einen deutlichen Zug vom Schulterblatt nach okzipital rechts ziehend.« Bilanz: Ratlosigkeit.

Nächste Station auf der Suche nach den Ursachen: das Marienkrankenhaus in meiner Heimatstadt Hamburg. Ich bitte um eine MRT der Halswirbelsäule. Aber auch das: »o. B.« – ohne Befund. Die Halswirbelsäule steht astrein und trägt brav und klaglos meinen Kopf. Diesen Kopf in die Röhre des MRT zu legen und weiter zu suchen, auf diese Idee kam da noch keiner. Erst mein rotarischer Freund Hans-Ulrich Schmidt, Orthopäde aus und mit Leidenschaft, guckte sich meinen Hals, mein Genick, meinen Schultergürtel an und schüttelte nur den Kopf: »Du brauchst kein Halswirbelsäulen-MRT, sondern ein Kopf-MRT. – Meine Damen machen Dir gleich für morgen früh einen Termin.« So kam der Tumor im Hirn quasi ans Tageslicht. Oder besser: zum Vorschein.

Mein Mann und ich fahren nach dem MRT schweigend nach Hause. Jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Die Stadt ist voll, der Verkehr dicht. Der Himmel wird schon wieder dunkler. Winterzeit im Norden. Am Nachmittag widerstehe ich diszipliniert einer Recherche im Internet. Solange noch nicht klar ist, welcher Art der Tumor ist, will ich lieber an der Alster spazieren gehen, als mich mit Informationen zu belasten, die dann womöglich doch nicht relevant sind. Mir ging so viel durch den Kopf. Und erfreulicherweise hatte ich auch genug anderes zu tun.

Mein letztes Buch Kein Schutz – nirgends: Frauen und Kinder auf der Flucht über die Situation der aus dem Syrienkrieg geflüchteten Frauen und Kinder in den Lagern im Libanon, in Jordanien, in der Türkei und auf der griechischen Insel Lesbos war von Greystone Books Vancouver, einem kanadischen Verlag, gekauft und ins Englische übersetzt worden. Jetzt fehlte noch das aktualisierte Vorwort zur Situation der Flüchtlinge in Kanada, den USA, Großbritannien und Australien/Neuseeland. Das musste jetzt geschrieben werden. Denn wer weiß, wie es mir nach einer möglichen Operation geht. Ob ich dann überhaupt noch schreiben kann? Jetzt aber heißt es: recherchieren, die Fakten zusammentragen, die neuesten Meldungen in der internationalen Presse suchen. Wie sieht die Situation der Migranten in den Vereinigten Staaten aus? In Großbritannien, in Australien? Das sind die Länder, in denen der Verlag das Buch publizieren will. Und vor allem in Kanada. Ich bin dankbar, dass mich das ablenkt. Es gibt noch so vieles zu entscheiden. Dann zum Titelbild. Greystone schickt die Vorschläge. Schade, sie nehmen nicht den Titel der deutschen Ausgabe. Aber sie kennen den internationalen Markt besser und hoffen, so mehr Erfolg zu haben. Egal was bald in meinem Kopf passiert: Jetzt wird geschrieben. Zehn Buchseiten sind geplant.

Mein Mann und ich reden am Abend nicht weiter über den radiologischen Befund meines Kopfes. Meine 21-jährige Enkeltochter Melanie schaut noch vorbei. Sie ist gerade erst zu ihrem Freund gezogen. Wir zwei haben viel zu bereden: ihre Klausuren in der Schule, die Prüfungen im Sommer. Was dann? Zurzeit arbeitet sie freitags und samstags nebenbei in einem thailändischen Restaurant. Mit viel Freude und Engagement. Nach einem wenig erfreulichen Praktikum in einem Medienunternehmen neigt sie immer mehr dem Hotel- und Gastronomiebereich zu. Ich erzähle ihr nichts von meinem Befund. Mit Klaus bin ich mir einig: erst mal niemandem was sagen. Erst mal abwarten.

Ich mache mich früh auf den Weg in die Stadt. Die Praxis des Neurologen liegt zentral an der Bleichenbrücke. Berufsverkehr, die Parkhäuser sind schnell voll … aber es klappt alles. Danach, nehme ich mir vor, gehe ich schön gemütlich in einem Café frühstücken. Egal was rauskommt.

Ich bin zum ersten Mal bei Dr. Theis. Die Mitarbeiterinnen nehmen mich freundlich in Empfang und führen mich gleich in ein Behandlungszimmer. Erst, so erklären sie mir, müssen sie eine Dopplersonografie machen und dann ein EEG – ein Elektroenzephalogramm. Um die Hirnströme zu messen. Erst nach diesen Untersuchungen wird der Arzt mit mir sprechen. Ein freundlicher Mann, der mich persönlich im Wartezimmer abholt. Nette Geste. Auch seine ersten Worte beruhigen mich sofort: »Ich bin ja so froh, dass es kein Glioblastom ist in Ihrem Kopf. Ich hatte schon Bedenken nach dem ersten Anruf von unserem rotarischen Freund und Kollegen mit der Bitte um einen schnellen Termin.« Wie, also doch gutartig? Aber das relativiert Dr. Theis gleich wieder nach meiner Frage: »Wie können Sie das erkennen ob der Tumor gut- oder bösartig ist?« Er erklärt mir dann, dass das eine Mischung aus Erfahrung und Kenntnis von MRT-Bildern sei, ergänzt von den Dopplerergebnissen und dem EEG. Im besten Medizinerdeutsch schreibt er später über seinen visuellen Befund des Tumors: »Zusammenfassend besteht der Verdacht auf ein Meningeom im Bereich der linken präpontinen Zisterne paramedian, sowie ein Frontobasismeningeom rechts. Die Patientin wird sich morgen früh bei Prof. Westphal zur Frage einer operativen Intervention vorstellen.«

Fazit: ich habe nicht einen Tumor, sondern zwei Tumore im Kopf und sollte schnellstmöglich einen Termin bei einem Neurochirurgen zu einer Operation machen. Bei wem nur? Dr. Theis empfiehlt im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Prof. Dr. Westphal und in Essen in der Uniklinik Prof. Dr. N. Bei beiden habe er schon sehr gut operierte Tumorpatienten gesehen.

Jetzt aber doch: ab ins Internet. Meine Recherche auf der Seite mit den erfolgreichsten Operateuren in den einzelnen Fachgebieten nennt zwei Spitzenoperateure in Deutschland: Prof. Westphal im Hamburger UKE und Prof. N. im Universitätsklinikum Essen. Dr. Theis liegt also goldrichtig mit seiner Empfehlung. Nur: wie komme ich jetzt an einen Termin? Ich will das schnell klären, auf den Weg bringen, hinter mir haben. Nicht lange rumtun. Das liegt mir nicht. Und an dieser Stelle muss ich wieder und wieder meine guten rotarischen Freunde »über den Schellenkönig«, so sagt man in Bayern, loben: sie sind allesamt hilfreich, schnell und pragmatisch. Einer ist Chef der Radiologie im Hamburger UKE, Prof. Dr. Gerhard Adam. Ich schicke ihm eine etwas verklausulierte Mail. Vorsichtig formuliere ich die Bitte nach der Telefonnummer der Vorzimmerdame von Prof. Dr. Westphal. Klick, weg ist sie. Dann bin ich richtig sprachlos: Kaum war die Mail draußen, klingelt bei mir schon das Telefon: »Was ist da los? Was kann ich für dich tun?« Ich berichte von meinem Befund. Prof. Adam kommentiert das auf seine sehr sachliche Art erst mal nicht, sondern verspricht nur: »Du hast morgen einen Termin.« Ich kann es kaum glauben. Aber mir ist es nur recht, dass die Dinge jetzt schnell vorangehen. Damit ich gar nicht erst so recht zum Nachdenken komme. Geschweige denn zum Angsthaben: Am Montag die MRT vom Hals, am Dienstag der Ratschlag des Orthopäden Hans-Ulrich Schmidt zu einer MRT des Kopfes, am Mittwoch die Kopf-MRT, am Donnerstag dann der Neurologe – und am Freitag früh um Punkt acht Uhr im Wartezimmer des Neurochirurgen. An dieser Stelle kommt auch ein wenig schlechtes Gewissen auf, wenn mir die vielen Klagen der Patienten einfallen, die oft wochenlang auf Termine warten müssen. Aber jetzt bin ich einfach nur dankbar. Für das wunderbare, hilfreiche rotarische Netzwerk.

Die Stadt ist noch winter-dunkel. Es nieselt. Die Scheibenwischer bewegen sich langsam im Takt. Unter dem UKE gibt es eine riesige Tiefgarage, ich erinnere mich an die Einweihung, an der ich als NDR-Direktorin damals teilgenommen habe. Alles ist gut ausgeschildert. Inmitten von Hunderten von anderen Patienten und Mitarbeitern fahre ich erst Aufzug und dann die Rolltreppe hinauf in den dritten Stock. Rechts zeigt der Pfeil in die Neurochirurgie. Ich sitze bereits um halb acht auf dem Plastikstuhl im Gang vor dem Zimmer von Prof. Westphal. Als Journalistin bin ich immer lieber zu früh – als einmal zu spät. Noch herrscht hier große Ruhe. Ich frage mich, ob er immer so früh anfängt. Die Sekretärin kommt um acht Uhr mit ein paar Ordnern unterm Arm: »Der Professor operiert noch, aber er ist meist pünktlich und sicher bald da«, tröstet sie mich. Aber ich brauche gar keinen Trost. Ich habe ja alle Zeit der Welt, so früh am Morgen, mit dem iPad auf den Knien, den Tageszeitungen darauf und der stillen, versteckten Hoffnung, dass alles nicht so schlimm wird. Vielleicht lösen sich die Tumore ganz von alleine auf? Fliegen »davon?« Vielleicht ist das alles nur so ein Horrortraum, eine Chimäre auf den MRT-Bildern. Mein Kopf funktioniert doch gut, bis auf das sinkende rechte Augenlid, ja, und der Mundwinkel, der ein wenig herunterhängt. So what … Was soll’s.

Kein »Gott in Weiß«, sondern ein ganz normaler Mensch in Alltagskleidung, ein wenig gebückt, verschwindet der Professor schnellen Schrittes vorbei an der Sekretärin in sein Büro. Ich werde gleich hereingebeten. Die Bilder des MRT aus dem radiologischen Zentrum sind schon hochgeladen, das Sekretariat funktioniert perfekt. Prof. Westphal wirkt entspannt und konzentriert, als er so vor mir sitzt in seinem relativ kleinen Chefbüro. Hört mir zurückgelehnt in seinen Stuhl erst mal zu, schaut sich auf dem Bildschirm die Bilder an, scrollt rauf und runter. »Ja, das ist eindeutig ein Tumor am linken Kleinhirnbrückenwinkel. Möglicherweise ein Meningeom. Es geht von der Hirnhaut des Tentoriums aus. Hat einen Zapfen in den Hirnstamm gebildet, was diese Meningeome gerne bei ihrer langsamen Wuchsform tun.« Sein Rat: die Gewebeherkunft des Tumors feststellen und ihn dann entfernen: »Denn irgendwann tritt eine Hirnstammschädigung auf, und dann wird es schwieriger zu operieren. Vor allem könnte das möglicherweise mit Folgen verbunden sein.« Der Neurochirurg erklärt mir noch einmal ausführlich die Bilder und auch das operative Vorgehen. Ich bin schon längst entschlossen, mich so schnell wie möglich operieren zu lassen. Aber Prof. Westphal will mir unbedingt vorher, quasi als Warnung, noch von anderen Fällen erzählen, wo sich die Patienten nicht entscheiden konnten, ein, zwei Jahre gewartet haben, aber dann doch zur OP kamen. Dabei aber immer dieses Damoklesschwert über sich schweben hatten: Ein Tumor im Kopf, wie wächst er? Wie schnell? Was macht er mit mir? Dabei musste er mich gar nicht erst überzeugen. Ich hatte nach unserem 20-minütigen Gespräch nur eine einzige Frage: »Wann können Sie mich operieren?« Er schaut mich kurz an, ich spüre ein Schmunzeln, dann prüft er seinen Terminplan auf dem Bildschirm: »Also am Montag, Dienstag und Mittwoch nächste Woche bin ich zu, am Donnerstag bekomme ich Besuch aus den Vereinigten Staaten, aber am Freitag um sechs Uhr früh könnte es klappen.« Ich hole tief Luft und sage nur noch: »Okay, vielen Dank, wann soll ich am Donnerstag einpassieren?«

Das erklärt mir dann die Sekretärin. Sagt’s und schon bin ich draußen aus dem Büro des Operateurs. Die Sekretärin drückt mir dann alle nötigen Papiere dazu in die Hand. Um neun Uhr verlasse ich das UKE, den dritten Stock, die Neurochirurgie. In einer Woche werde ich dort operiert. Bis dahin ist noch viel zu tun. Ich bin erstaunlich ruhig. Aber jetzt bricht die Journalistin endgültig aus mir heraus. Ab ins Internet.

Was ist ein Meningeom?

Ein Meningeom ist ein »überwiegend gutartiger, der harten Hirnhaut anhaftender Tumor des Erwachsenenalters, der aus den Deckzellen der weichen Hirnhaut entsteht. Häufigkeit: etwa 25 Prozent aller Tumoren des Zentralnervensystems. Manifestationsalter: gehäuft ab dem 5. Lebensjahrzehnt. Frauen sind zwei- bis dreimal so häufig betroffen wie Männer. Gutartige Meningeome sind scharf begrenzte Tumoren, die nicht in das angrenzende Hirngewebe einwachsen. Der Schädelknochen über einem Meningeom ist jedoch nicht selten verdickt. Die WHO-Klassifikation unterscheidet bei den Meningeomen drei WHO-Grade:

•   WHO-Grad I: Diese Tumoren machen über 85 Prozent aller Meningeome aus, sind gutartig, operativ meist komplett entfernbar und prognostisch günstig.

•   WHO-Grad II: Atypische Meningeome, zeichnen sich durch ein erhöhtes Wachstumspotenzial aus. Sie machen etwa 10 Prozent aller Meningeome aus und haben selbst nach kompletter operativer Entfernung eine hohe Rezidivquote. Deshalb sind regelmäßige Nachkontrollen nach der Operation erforderlich.

•   WHO-Grad III: anaplastische Meningeome sind relativ seltene, aber bösartige Tumoren der Hirnhäute. Sie machen 2 bis 3 Prozent aller Meningeome aus. Eine Absiedlung von Tochtergeschwülsten in entfernte Organe ist möglich und die Prognose ist insgesamt ungünstig. Eine postoperative Strahlentherapie ist erforderlich. Patienten, die aus internistisch-anästhesiologischen Gründen nicht operiert werden können, versterben überwiegend im Lauf der folgenden sechs Monate.«

(Aus Wick, Wolfgang und Vajkoczy, Peter: »Primäre Tumoren und Metastasen im zentralen Nervensystem«, in: Harrisons Innere Medizin, Thieme Verlag 2015, S. 730ff.)

Da lese ich es wieder: »Bestrahlung ist erforderlich.« Das beunruhigt mich. Was tun, wenn nach der Operation nicht alles wieder gut ist? Ich scrolle immer weiter, komme auf das Forum der Hirntumorhilfe. Melde mich dort an, damit ich mich zu den einzelnen Themen weiter informieren und selbst Fragen stellen kann. Was tun, wenn der Tumor zwar entfernt, aber bösartig ist? Wenn die Ärzte sagen: Bestrahlung und Chemo sind jetzt nötig? Das will ich aber alles erst nach der Operation wissen. Im Augenblick bin ich mir noch sicher: danach ganz bestimmt keine Bestrahlung und keine Chemo. Das beschließe ich jetzt erst mal. Wohl wissend, dass viele Menschen später doch ihre Meinung ändern und sich zu einer Chemotherapie überreden lassen. Aber aus meiner Sicht oft an ihr sterben, und nicht am Krebs. Ich habe das im Freundeskreis immer wieder erlebt und mir vorgenommen: ich nicht. Keine Chemotherapie.

Über Bestrahlung, na ja, kann man ja dann vielleicht doch reden. Aber nicht jetzt, und schon gar nicht mit meinem Mann. Ich will ihn nicht noch mehr beunruhigen. Bei meiner Recherche komme ich aber auch noch auf interessante statistische Zahlen: Hirntumore sind unter den Krebserkrankungen selten. Sie machen insgesamt nur ungefähr zwei Prozent aus. Für die Bundesrepublik Deutschland wird geschätzt, dass jedes Jahr etwa 7 040 Menschen neu an einem Tumor des Gehirns oder des Rückenmarks erkranken. Primäre Tumore des Gehirns sind dabei wesentlich häufiger als die Rückenmarkstumore. Männer sind insgesamt etwas häufiger betroffen als Frauen. Im Jahr 2014 zum Beispiel erkrankten etwa 3 160 Frauen und 3 900 Männer an einem Gehirntumor. Das Meningeom aber trifft vor allem Frauen ab dem 50. Lebensjahr. Das finde ich hoch spannend und beschließe, weiter über den Zusammenhang von Krebs und Frauen einer bestimmten Altersgruppe zu recherchieren.

Über ein anderes Thema sind sich mein Mann und ich einig: vor der OP kein Wort, nicht zu meinen Kindern, meiner Enkeltochter, meinen Freunden. Erstens weiß keiner, wie es tatsächlich ausgehen wird, und zweitens würde es nur unnötig unsere Lieben aufregen. Ich will sie jetzt erst mal schützen. Es reicht schon, was in mir selbst alles vorgeht vor der OP.

Da ist jetzt vor allem mein Terminkalender: Voller Vorträge bis zum Herbst dieses Jahres. Alle absagen. Alles, was ich über eine solche OP lese, sagt mir, dass ich danach viel Zeit brauchen werde, um wieder auf die Beine zu kommen. Dann der »worst case«: Meine Patientenverfügung noch einmal lesen, prüfen, eventuell aktualisieren. Ebenso die Vorsorgevollmacht. Dafür sind diese Verträge ja da, damit sie greifen, wenn man sie braucht. Dann steht der Verkauf unseres Hauses an. Wir haben einen Käufer, aber es ist noch nichts notariell vereinbart. Sollte ich nach der OP nicht mehr fähig sein zu unterschreiben, dann muss mein Mann eine notarielle Vollmacht haben. Also so schnell wie möglich einen Termin vereinbaren bei unserem Notar, in der Woche vor der OP. Das klappt dann alles, wie gut.

Dann muss ich noch das Vorwort für die kanadische Ausgabe meines Buches schreiben. Zwischen dem Tippen sitze ich oft gedankenverloren an meinem antiken Schreibtisch, den ich von meinem Vater geerbt habe. Schaue hinaus auf die kahlen Bäume an der Alster. Immer wieder kommt eine große Angst auf: Werde ich danach wieder schreiben können? Was wird anders sein? Also setze ich mich hin, auch noch in der Nacht. Ich habe den Verlag über meine bevorstehende Operation informiert. Auch dass ich noch in dieser Woche schreibe, vermutlich aber dann erst ein paar Wochen danach wieder zu einem »schriftstellerischen« Kontakt fähig sein werde. Sie sind besorgt im fernen Vancouver, wir skypen nochmals wegen des Vorworts, und ich schaffe es bis zu meiner letzten Berlinfahrt in der Woche vor der Operation eine Rohfassung zu schreiben. Der Titel des englischen Buches lautet No Refuge for Woman: The Tragic Fate of Syrian Refugees. Im Zug lese ich dann die Endfassung. Das Schicksal der geflüchteten Menschen hat mich auch in den letzten Monaten sehr bewegt, umgetrieben und oft nicht schlafen lassen. 3,6 Millionen Frauen und Kinder in den Flüchtlingslagern vor der »Festung Europa«. Unfassbar.

Vor allem eine junge Jesidin bewegt die Menschen in Deutschland und überall auf der Welt in diesem Winter 2017. In Zeitungen, Radio und Fernsehen wird von der 19-jährigen Nadia Murad berichtet. Sie prangert als UN-Botschafterin das Drama der Jesiden an. Spricht von ihrer Gefangennahme, ihrer Zwangsverheiratung durch die IS-Terroristen, von den Vergewaltigungen, der Isolation im Terrorstaat. Zwei Jahre später wird sie den Internationalen Friedensnobelpreis erhalten.

Im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat Minister Gerd Müller zu einem Termin gebeten. Ich bin mit eingeladen. Sein Petitum: Die NGOs im Nahen Osten sollten konkret unterstützt werden. Endlich, es ist höchste Zeit. Und auch im Entwicklungshilfeministerium habe ich noch einen Termin. Thema: Zusammenarbeit in der Flüchtlingsfrage mit allen anderen NGOs und Hilfsorganisationen. Der damalige und auch nach der Wahl weiter umtriebige Entwicklungshilfeminister Gerd Müller bewegt wirklich etwas und war auch einer der wenigen Politiker, die sich tatsächlich in den Flüchtlingslagern in Jordanien, im Libanon und in der Türkei und im Irak umgesehen haben. Chapeau!

Dort treffe ich auch Düzen Tekkal, die rührige Jesidin aus Hannover, der es wie Nadia Murad gelingt, das Schicksal der jesidischen Mädchen und Frauen immer wieder zu thematisieren und in die Öffentlichkeit zu tragen. Während meiner Recherche zu Kein Schutz – nirgends