Kein Schutz – nirgends - Maria Welser - E-Book

Kein Schutz – nirgends E-Book

Maria Welser

4,8
13,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dem sicheren Hafen so fern

Mehr als 50 % aller Flüchtlinge weltweit sindFrauen – weshalb werden dann 70 % der Asylanträge in Deutschland von Männern gestellt? Maria von Welser reist in die Krisenregionen dieser Welt und recherchiert vor Ort, warum die meisten Frauen buchstäblich auf der Strecke bleiben. Viele Frauen in den Flüchtlingslagern können nicht mehr weiter, aber auch nicht zurück. Weil sie sonst verhungern, vergewaltigt oder ermordet werden. Und wenn sie es doch übers Meer oder auf dem Landweg schaffen, sind sie schwerst traumatisiert – und oft schwanger. Denn Schleuser verlangen als Bezahlung häufig mehr als Geld. Doch auch in europäischen Auffanglagern und Flüchtlingsheimen ist die Lage nicht unbedingt besser: Auch hier kommt es zu sexuellen Übergriffen, und die Frauen wagen nicht, sich zu wehren. Sie haben Angst, abgeschoben zu werden. Ein eindringliches Buch über das verborgene Leid vor den Türen Europas und unser aller Augen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 371

Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
12
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Angst im Gepäck

Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge weltweit sind Frauen, aber die wenigsten von ihnen kommen im vermeintlich sicheren Europa an. Die meisten bleiben buchstäblich auf der Strecke. Ob im Libanon, in Jordanien oder an der türkisch-syrischen Grenze, viele Frauen in den Flüchtlingslagern können nicht mehr weiter, aber auch nicht zurück. Weil sie sonst von Bomben getroffen oder vergewaltigt oder ermordet würden. Doch selbst wenn sie es nach Europa schaffen, können sie oft nicht aufatmen. Denn auch in manchen der hiesigen Auffanglager und Flüchtlingsheime sind die Frauen nicht sicher …

Ein eindringliches Buch über das verborgene Leid vor den Toren Europas und unser aller Augen.

Maria von Welser

Kein Schutz –

nirgends

Frauen und Kinder auf der Flucht

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

Originalausgabe 06/2016

Copyright © 2016 by Ludwig Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Stangl

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von Peter Müller/BILD-Zeitung

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-18370-7V001

www.Ludwig-Verlag.de

INHALT

PRÄLUDIUM

Wo sind die Frauen und Kinder abgeblieben? Warum ich dieses Buch schreibe

BUCH 1 – DIE SYRERIN – 1. TEIL

Der Alltag ist die Hölle – ihr bleibt nur noch die Flucht

Wie alles begann – der Krieg in Syrien und seine Geschichte

Das Drama der syrischen Flüchtlinge aus Aleppo – gestrandet vor der türkischen Grenze

Von den syrischen Rebellentruppen bis in den Sudan: Myriam ahnt nicht, was auf sie zukommt

Die lebensgefährliche Route durch die libysche Wüste

Weder Miryam noch die Kinder können schwimmen

Die Lage der syrischen Frauen

Bilanz des Grauens: Die größte Flüchtlingskrise des 21. Jahrhunderts

Die Not der Kinder – Syriens verlorene Generation

BUCH 2 – TÜRKEI

Auf der Suche nach den vergessenen Frauen und Kindern in den Flüchtlingslagern im Osten der Türkei

Auch hier helfen Frauen Frauen

Erst nach zehn Stunden öffnet sich die Grenze zur Türkei

Sklavenhandel im 21. Jahrhundert

Mit einem Selbstmordattentat ändert sich alles

Sie wollen heim nach Kobane

Harsche Attacken

Wie eine Jesidin in der Verwaltung von Mardin ihren Mitmenschen helfen will

Sie wollen auf keinen Fall in ein türkisches Dorf, sie wollen nach Europa

Kämpferische Jesidinnen

Wenige Monate später

Die türkische Politik, die Kurden und die Auswirkungen auf die Flüchtlinge

Das Ende der Politik der »offenen Tür«

Das neue EU-Abkommen

BUCH 3 – LIBANON

Menschenunwürdige Umstände im Libanon: die Situation der Frauen und Kinder im Bekaa-Tal

ITS Nummer 004

Die große Angst vor dem Winter

Viele Frauen träumen noch von ihrem »alten« Aleppo

Der Fahrer auf der Matratze

Zauberwort: Alemania

Die Hälfte der Flüchtlinge sind Kinder

So viele Flüchtlinge fürchten den IS

Die folgsamen Zweitfrauen aus Syrien

Warum Laila so starke Kopfschmerzen hat

Besuch in Tripoli, dem Tor nach Europa

Statt der Syrer machen sich die jungen Libanesen auf und davon

Bürgerkrieg im Kleinen

Der jüngste Sohn ist die große Hoffnung

Nur ein Buch? – Das reicht nie für alle unsere Geschichten!

BUCH 4 – JORDANIEN

Das kleine Königreich erstickt an der Flüchtlingszahl

Die hübschen Syrerinnen sind auch hier sehr begehrt

Die Araber brausen mit den SUVs durch die Wüste

Warum hungernde Syrer zurück in die Heimat gehen

BUCH 5 – ERITREA

Sie hat ihre Flucht mit ihrem Körper bezahlt

Die Ehemänner verschwinden auf Nimmerwiedersehen

Bisher hat der eritreische Präsident keine Versprechen gehalten

Zwei Mädchen aus Eritrea schaffen es alleine bis nach München

Vom Horror auf hoher See

So berechnen die Schleuser ihre Preise

Die Toten eines Wochenendes im Mittelmeer

Die Rolle der deutschen Marine

BUCH 6 – LESBOS

Das östliche Mittelmeer: Grab oder Brücke nach Europa?

Enttäuschung bei den Helfern – das Flüchtlingsboot wird von der Küstenwache aufgebracht

Orangefarbene Schwimmwesten – ein Mahnmal für die Ertrunkenen

Janna hat Syrien nur wegen ihrer Kinder verlassen

Die Helfer agieren am Strand hochprofessionell

In Kara Tepe warten vor allem Frauen und Kinder auf die Chance, ihren Männern nachzureisen

Verscharrt: die Toten aus dem Meer

Nach dem EU-Abkommen herrscht erst mal Chaos in Griechenland

Aus dem eisigen griechischen Warteraum doch noch nach Europa?

Die neuen Fluchtwege sind nichts mehr für Frauen und Kinder

BUCH 7 – DIE SYRERIN – 2. TEIL

Ende gut, alles gut? Endlich in Europa – Wo werden Miryam und ihre Kinder landen?

Erster Eindruck: Chaos auf dem Hamburger Bahnhof

Erst mal abschotten, um zu überleben

BUCH 8 – Das Jahr 2015: Was in Deutschland geschah

Deutschland wird zum »Weltmeister der Herzen«

Das Asylrecht wird verschärft

Im Internet überschlagen sich die Gerüchte

Das gute Beispiel Passau

Diese Frau schließt keine Grenze: Alle kennen Angela

MEIN GANZ PERSÖNLICHES SCHLUSSWORT:

Europa muss die syrischen Nachbarländer unterstützen, und wir Deutschen sollten nicht so viel Angst haben

DANKE!

ANMERKUNGEN

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS

PRÄLUDIUM

Wo sind die Frauen und Kinder abgeblieben? Warum ich dieses Buch schreibe

Auf meiner Reise in die Flüchtlingslager dieser Welt begleitete mich immer wieder die Frage: Wieso sind die flüchtenden Frauen und Kinder ohne Schutz? Und: Wo sind denn all ihre Männer, ihre Väter und Brüder? – Wie ich inzwischen weiß, ist das eine längere und bittere Geschichte. Mit diesem Buch möchte ich sie erzählen. Auch, damit sie nicht vergessen wird.

Denn erinnern wir uns: Als die ersten Bilder von Flüchtlingen im Frühjahr 2015 über die Fernsehbildschirme flimmerten, rieben wir uns doch in Deutschland ungläubig die Augen. Wir saßen ja alle warm und sicher in unseren Wohnzimmern. Aber wir sahen Tausende von Menschen, wie sie aus kleinen Booten herauskletterten. Wie sie sich wackelig, ängstlich und zögernd die Gangways der großen Schiffe in Italien herunterwagten. Manchmal wenigstens in wärmende Decken gehüllt und mit Wollmützen auf dem Kopf. Später berichtete die EU-Grenzschutzagentur Frontex, dass in Italien fast siebenmal so viele Männer angekommen seien wie Frauen. Siebenmal!

Aber: Das war für uns ja noch so weit weg. Flüchtlinge, das haben wir begriffen, verlassen in Afrika Not leidende Länder oder Diktaturen, fliehen in Syrien vor einem Krieg, suchen Schutz aus dem unsicheren Afghanistan. Nur wer da genau ankommt, darüber waren wir uns wohl noch nicht so ganz im Klaren. Hatten wir doch jahrelang die EU-Nachbarn Italien und Griechenland mit den Flüchtlingsströmen nur allzu gerne allein gelassen. Außerdem schien Deutschland monatelang wie paralysiert von ganz anderen Themen: von der Griechenland-Krise und ihren Folgen. Vom Mob von Heidenau und von der Frage, wo wir am besten den Sommerurlaub verbringen. Alles ganz normal. Fast.

Erst die Fotos der schier endlosen Menschenschlangen in der Sommerhitze auf der Balkan-Route bis Passau, die Bilder der kauernden Menschen auf den Bahnhöfen von Budapest und Wien, die verzweifelten Gesichter der Flüchtlinge am Stacheldraht von Mazedonien – erst diese Bilder haben uns aufgeschreckt. Ich habe mir damals die Szenen sehr genau angesehen und fast nur Männer, Väter, Söhne und Brüder entdeckt. Ganz selten habe ich auf den Fotos von den engen Booten oder von den Schlangen vor einem Zaun, einer Behörde oder einer Toilette eine Frau gefunden. Wo sind sie bloß geblieben in diesem Flüchtlingssommer 2015? Es kam mir so vor, als gäbe es keine Not leidenden Frauen und Kinder, als wäre der Bürgerkrieg in Syrien, als wären die Gesellschaften in Afghanistan, Eritrea und im Irak reine Männerwelten. So wird wohl auch der Flüchtlingssommer 2015 in Deutschland als eine Massenflucht junger Männer in den Geschichtsbüchern beschrieben werden: Zwei Drittel der Asylanträge in dieser Zeit stellten Männer. Mehr als 70 Prozent von ihnen sind, so vermerkt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) später, jünger als 30 Jahre. Unter den 14- bis 34-jährigen Flüchtlingen sind sogar drei Viertel der Migranten Männer.

Die Frage nach den Frauen und Kindern treibt mich um. Ich lese von den Tausenden Frauen und Kindern, die vor der Terrormiliz Islamischer Staat aus Nordsyrien und dem Nordirak fliehen mussten. Dazu berichtete UNICEF Deutschland in Rundbriefen seinen Komitee-Mitgliedern von den schlimmen Lebensumständen für Frauen und Kinder in den Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon. Ich weiß zudem aus vielen Jahren der Recherche sowohl im Krieg auf dem Balkan als auch in Tschetschenien und in Ruanda: Vor allem Frauen und Kinder sind in Kriegen akut gefährdet. Systematische Vergewaltigungen werden längst als strategische Kriegswaffe eingesetzt, die Entführung von Mädchen und ihr Verkauf an Kämpfer oder an Internet-Bieter ist eine der grausamen Methoden der IS-Terroristen.

Aber ich kenne auch diese Zahlen: Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht, und laut den Vereinten Nationen ist jeder zweite Flüchtling weiblich. Sie fliehen entweder im eigenen Land aus ihrem Heim, ihrem Haus wegen kriegerischer Auseinandersetzungen oder retten sich in ein anderes Land. Tatsache ist in diesem 21. Jahrhundert: Noch nie haben so viele Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Wo sind dann nach diesem Sommer 2015 die Frauen?

Ich beginne in den Ländern zu recherchieren, die bisher die meisten Flüchtlinge beherbergen: in der Türkei, im Libanon, in Jordanien. Denn genau dort sitzen sie fest, die Frauen, Mütter und Großmütter mit ihren Kindern. Dabei wird mir schnell klar, dass der große Flüchtlingstreck der syrischen Männer in dem Augenblick begann, als das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) seine bisherigen monatlichen Zahlungen von 26 Dollar pro Flüchtling halbierte auf nur noch 13 Dollar. Schlichtweg, weil viele Länder nicht eingezahlt haben. Denn das Programm lebt ausschließlich von freiwilligen Zahlungen und besitzt keine Grundfinanzierung der UN-Organisationen. So fehlte das Geld für Millionen syrischer Flüchtlinge. Ein Desaster für die Betroffenen. »Die Einstellung der Nahrungsmittelhilfe wird die Gesundheit und Sicherheit dieser Flüchtlinge gefährden und weitere Spannungen, Instabilität und Unsicherheit in den Aufnahmeländern verursachen«, so mahnte schon 2014 die Direktorin des Programmes, Ertharin Cousin, in New York.1 Mit den Aufnahmeländern sind die Türkei, der Libanon und Jordanien gemeint.

Damals haben sich wohl viele Flüchtlingsfamilien gesagt: Hier in den Lagern nahe unserer einstigen Heimat haben wir keine Zukunft mehr. Lieber steigen wir in Schlauchboote auf dem Mittelmeer, als hier zu verhungern. Das wenige noch vorhandene Geld in den Familien wurde zusammengekratzt und in die Flucht des »starken« Mannes, in den Sohn, den Vater investiert. Auf dass er die gefährliche Reise schafft in einen sicheren Staat in Europa. Um dann von dort aus die Familie nachzuholen. Eine nachvollziehbare Entscheidung, denn ein Mann kommt allein eher durch als mit der ganzen Familie im Schlepptau.

Meine erste Station auf der Suche nach den Frauen und Kindern ist die Türkei. Das Land mit seinen 78 Millionen Einwohnern hat bis 2016, ohne zu klagen, 2,8 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Überwiegend syrische Familien. Vor allem aber Frauen und Kinder. Ich reise also nach Diyarbakir, in die kurdische Hauptstadt im Osten des Landes. Insgesamt sind es 25 Zeltstädte, die die Türkei bis dahin entlang der syrischen und irakischen Grenze mithilfe ihres Militärs aufgebaut hat. Die Jesidinnen aus dem irakischen Sindschar-Gebirge sind dorthin geflohen. Ihre Männer sind entweder tot oder noch im Kampf. Einige befinden sich auch auf dem Weg nach Europa. In den großen, aber im Sommer unglaublich heißen Militärzelten erzählen sie mir ihre traurigen Geschichten. Von ihren Tränen um die im Krieg Getöteten. Von ihrem Kummer um die von den IS-Milizen entführten Töchter und über ihre Angst, hier im kurdischen Teil der Türkei zurückzubleiben. Denn das habe ich immer wieder gehört: Vor 100 Jahren haben die Jesiden als christliche Gemeinschaft genau in dieser Region der Türkei einen schrecklichen Genozid durch die Muslime erlitten. Sie fragen mich immer wieder: »Warum nimmt uns Deutschland nicht auf? Warum nur die Syrer?« Damals kursierten die Selfies der Bundeskanzlerin mit den syrischen Flüchtlingen im weltweiten Netz. Ich begegne aber auch tapferen syrischen Kurdinnen, die nahe ihrer zerstörten Heimatstadt Kobane in Lagern untergekommen sind und so bald wie möglich wieder zurückwollen über die Grenze. Auch wenn dort noch Krieg herrscht. Viele von ihnen sind sogar dazu bereit, ihre Kinder den Großmüttern zu überlassen, um selbst gegen den IS zu kämpfen. So wie viele andere Irakerinnen auch, die sich zum Teil den kurdischen Peschmerga angeschlossen haben, um mit in den Kampf gegen den IS zu ziehen. Diese Frauen haben Mut, sie geben nicht auf und nehmen die Waffen selbst in die Hand. Aufregende Geschichten haben sie alle miteinander zu erzählen.

Die Situation der im Libanon zurückgebliebenen Frauen und Kinder ist dagegen viel hoffnungsloser. Das Land mit seinen 5,8 Millionen Einwohnern hat bis zum Januar 2015 die Grenzen zum Nachbarstaat Syrien offen gehalten. Inzwischen aber sind die Grenzstationen geschlossen, und die rund 1,2 Millionen registrierten Flüchtlinge bleiben im Libanon auf sich alleine gestellt. Denn das kleine Land schafft es finanziell nicht, den Menschen so etwas wie organisierte Lager oder schützende Zelte zur Verfügung zu stellen. Das müssen die Flüchtlingsfamilien selbst organisieren. So leben sie in selbst gebastelten Unterkünften aus Pappe, Papier, ein wenig Holz und Plastikplanen. Oder in engen, dunklen Räumen mit Schimmel an den Wänden und dünnen Matten auf dem kalten Boden. Es ist zum Erbarmen. Ich sehe, dass die Hilfsorganisationen tun, was ihnen möglich ist. Aber die Geschichten der Frauen und ihrer Kinder bereiten mir schlaflose Nächte. Vor allem die Ausweglosigkeit ihrer Situation ist erschütternd.

Was auch überall sichtbar wird: Vergewaltigung, Zwangsheirat und Zwangsprostitution sind an der Tagesordnung in den Lagern. Vor allem, wenn die Männer fehlen. Familien bieten den Frauen und Kindern Schutz. Ohne Männer verlieren sie diese Sicherheit. Da helfen dann nur Zusammenschlüsse von starken Frauen, die sich gemeinsam wehren und füreinander einstehen. Das habe ich im Libanon gesehen, und das gilt auch für Jordanien.

Dort ist der Frauenhandel inzwischen zu einem guten Geschäft geworden. Die Araber lieben es, sich eine Syrerin als Zweit- oder Drittfrau zu kaufen. Dafür sind sie in Jordanien bereit, bis zu 10 000 Dollar auszugeben. Syrerinnen sind nicht nur schön, sondern angeblich auch sanfter als die Araberinnen. Das haben mir die Libanesinnen selbst erzählt. Zudem erlaubt der Koran eine Zweit-, Dritt- oder Viert-Frau.

Oft ist es jedoch die dramatisch schlechte wirtschaftliche Lage ihrer Familie, die Flüchtlingsfrauen in die Prostitution zwingt. Das funktioniert in den Lagern genauso wie außerhalb in den Städten. Tatsache ist aber auch: Das kümmert weder die Regierungen der Gastländer noch die Gesellschaft. Da rührt keiner auch nur einen Finger. Dabei ist die Lebenssituation all der Mütter und ihrer Kinder menschenunwürdig. Warum die Vereinten Nationen es nicht schaffen, die Flüchtlinge besser zu versorgen, ist mir in dieser reichen Welt ein Rätsel. Damit sich keine Frau verkaufen muss und kein Vater seine Tochter gegen Dollar einem fremden Mann überlässt.

Waren es 2015 noch überwiegend Männer, die als Flüchtlinge in Deutschland angekommen sind, wendet sich das Blatt in den ersten Monaten des Jahres 2016. Da kommen sie, die Frauen und Kinder. Auch vor dem Hintergrund, dass mit der Verabschiedung des deutschen Asylpakets II Anfang des Jahres die Gefahr droht, dass ein Mann seine Familie nicht mehr nachholen darf. 55 Prozent der allein im Januar über Griechenland eingereisten Migranten waren Frauen und Minderjährige, berichtet der UNHCR. Noch dramatischer: 36 Prozent der Flüchtlinge, die die gefährliche Fahrt auf Gummibooten von der Türkei nach Griechenland auf sich nehmen, sind Kinder. Das sind die Zahlen von UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen.

Weil ich es mit eigenen Augen sehen will, reise ich auf die kleine Insel Lesbos, wo der erste der von der EU errichteten »Hotspots« funktionieren soll und die meisten der überwiegend syrischen und afghanischen Flüchtlinge ankommen. Mir kommen die Tränen, als die Menschen mit ihren Babys im Arm, durchnässt und total durchgefroren, im Winter am Strand ankommen. Tausende freiwillige junge Helfer warten auf sie und versorgen sie mit warmer Kleidung, einem heißen Tee und ein wenig Trost. Das Registrieren funktioniert tatsächlich bereits, und schon 24 Stunden später stehen ein-, zweitausend Menschen an, um mit der Fähre das griechische Festland zu erreichen. Ich stehe an der Gangway und kann nur eines: viel Glück wünschen auf diesem Weg. Sie sind alle so froh, hoffen, dass sie es jetzt endlich nach der langen Flucht geschafft haben in ein sicheres Leben. Nur – ich lese auf meinem iPhone, dass zur gleichen Zeit Mazedonien die Balkan-Route dichtmacht. Dass sich im Grenzlager Idomeni täglich mehr Flüchtlinge in Schlamm und Dreck und bei eisiger Kälte sammeln. Schon wieder zeichnet sich ein Drama ab. Zudem haben sich die Europäer mit der Türkei in einem Abkommen über die Sicherung der europäischen Grenzen geeinigt: So sollen die Flüchtlinge nach dem 20. März aus Griechenland wieder in die Türkei zurückgeschickt werden. Wenn sie keinen Asylantrag im europäischen Griechenland gestellt haben.

Das alles aber muss erst noch funktionieren. Denn eines ist immer sicher: Die Flüchtlinge werden auch in Zukunft kommen. Denn der Krieg in Syrien ist nicht zu Ende. Die Situation in Afghanistan, im Irak und in Pakistan wird nicht sicherer. Das Leben in Eritrea bleibt für die Bürger gefährlich. Noch nie in der Geschichte der Menschheit haben sich fliehende Menschen aufhalten lassen. Flucht ist Teil dieser Welt und wird es immer bleiben. Nach dem Zweiten Weltkrieg sind zwölf Millionen Vertriebene aus dem Osten in Deutschland angekommen, untergekommen und integriert worden. Auch mein Mann war ein »Flüchtlingskind«. Seine Mutter ist mit ihrem sechsjährigen Sohn und ihrem Neugeborenen in einem Kinderwagen über Dresden geflohen und im bayerischen Garmisch-Partenkirchen gelandet. Ihr Ehemann war viele Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft. Die Integration dieser Mutter und ihrer Kinder ist gelungen, wie die all der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen. Damals eine Aufgabe, die viel schwieriger zu lösen war als heute. Bedenkt man nur die schiere Zahl, die materielle Not dieser Zeit und die Unsicherheit der politischen Umstände. Auch wenn heute die Flüchtlinge aus ganz anderen Teilen dieser Welt zu uns kommen. Der Historiker Andreas Kossert schreibt in seinem Standardwerk über die Vertriebenen, ihre Flucht und den Empfang von der »Kalten Heimat«. Damals. Aber letztlich ist es doch gelungen. Warum soll es dann nicht möglich sein, heute die 1,3 Millionen Flüchtlinge aus dem Jahr 2015 zu integrieren?

Dabei bedürfen Frauen und Kinder natürlich des besonderen Schutzes. Schon im Juli 2015 lese ich die ersten Berichte, dass weibliche Flüchtlinge häufig Opfer von Übergriffen sind in Gemeinschaftsunterkünften. Es gibt dort körperliche Gewalt, sexuelle Belästigung. Auch Vergewaltigungen, die oft nicht angezeigt werden von den Frauen, weil sie Angst haben vor den Behörden. Alleinreisende Frauen werden zum Beispiel aber auch ganz simpel von den Waschmaschinen in den Einrichtungen verdrängt und aus den Küchen vertrieben. Das ist unsäglich und darf so nicht weiter passieren. Aber die Gesellschaft in Deutschland ist sensibilisiert. Auch und gerade nach den Übergriffen von Tausenden maghrebinischen Asylbewerbern, die in der Silvesternacht vor den Bahnhöfen in Köln, Hamburg und in anderen deutschen Städten gezielt junge Frauen sexuell bedrängten und ihnen die Handys stahlen. Auch das ist unsäglich und darf einfach nicht mehr geschehen. Deshalb aber alle männlichen Flüchtlinge zu verdächtigen wäre in dieser Flüchtlingsdebatte falsch und nicht hilfreich. Denn »Flüchtlinge begehen in Deutschland nicht mehr Straftaten als die einheimische Bevölkerung. Das geht aus einer Lageübersicht des Bundeskriminalamts (BKA) und der Bundesländer für das Jahr 2015 hervor.«2 Auch wenn Pegida und AfD anderes behaupten.

Weil es aber immer auch die einzelnen Schicksale sind, die uns besonders berühren, habe ich für dieses Buch die Geschichte von Miryam aufgeschrieben. Sie ist Syrerin und mit ihren fünf Kindern geflüchtet. Heute leben sie in einem Containerdorf für Familien in Hamburg, in drei Zimmern, mit einem kleinen Bad und einer Küche. Wie sie das alles geschafft haben, durch die Linien der Rebellen in Syrien, dann über den Sudan, durch die libysche Wüste nach Tripolis und von dort über das Mittelmeer – das ist beeindruckend. Und, wie ich denke, ein positives Beispiel für die Stärke der syrischen Frauen.

Miryam hat es mit ihren vier Mädchen und ihrem kleinen Sohn geschafft. Aber Hunderte anderer Familien betrauern den Tod ihrer Kinder auf der Flucht. Denn jeden Tag sind seit September 2015 durchschnittlich zwei Flüchtlingskinder im östlichen Mittelmeer ertrunken. Vor den Augen ihrer Eltern. Das sind bis heute mehr als 420 tote Kinder. UNICEF vermutet gar, dass die Zahl viel höher ist, da viele Körper nicht gefunden werden. Rund 300 000 Kinder sind bereits 2015 mit ihren Müttern nach Deutschland gekommen. In den ersten Monaten des Jahres 2016 war mehr als jeder dritte von den 80 000 Flüchtlingen, die bis Ende März auf den griechischen Inseln mit den Schlauchbooten angekommen sind, minderjährig: 28 800. Da kommen Herkulesaufgaben auf die Länder, auf die Kommunen zu. Denn Flüchtlingskinder müssen immer in erster Linie als Kinder behandelt werden, mit eigenen Rechten – wie das ja auch in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben steht. Das heißt: Sie bedürfen des besonderen Schutzes. Da alarmiert mich die Meldung, dass angeblich Tausende der in Europa angekommen Flüchtlingskinder verschwunden sind. Sie sind einfach weg. Europol spricht von mindestens 10 000 Kindern, die in der EU unauffindbar sind.3 In Deutschland seien es 5 835.4 Sie könnten in den Händen von Banden gelandet sein, durch Kinderarbeit ausgebeutet werden, im Prostitutionsgeschäft missbraucht werden. Das ist für jedes Kind ein Albtraum, für Europa eine Schande. Hier wurden Kinder nicht beschützt. Vor allem die allein reisenden. Die, die von den Familien losgeschickt wurden, um es bis in das vermeintlich sichere Europa zu schaffen. Sie sind zwischen 15 und 17 Jahre alt und stammen überwiegend aus Eritrea, Somalia und Syrien, wie die Hilfsorganisation »Save the Children« berichtet.

Kinder werden aber auch von den Familien alleine vorgeschickt, weil die Eltern die Hoffnung haben, dass die unbegleiteten Jugendlichen nach Abschluss des Asylverfahrens ihre Eltern nachholen können. Das ist derzeit strittig in der Politik. Dabei wäre es fatal, hier an wenigen jungen Flüchtlingen ein Exempel statuieren zu wollen, nur um den Flüchtlingsstrom einzudämmen. 2015 haben gerade mal 105 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge subsidiären Schutz in Deutschland erhalten. Und nur um die geht es im Asylpaket II.

Da alle diese Schicksale letztlich auch mit der politischen Entwicklung in Deutschland verbunden sind, weil vieles von dem Geschilderten nur so begreifbar wird, ziehe ich am Ende dieses Buches Bilanz: »Was 2015 in Deutschland geschah«, so heißt es am Schluss dieses Buches. Die Kanzlerin spielt dabei eine zentrale Rolle. »Die Frau, die keine Grenzen schließt« heißt dieses Kapitel über Angela Merkels Haltung, über ihre Aussagen und Interviews. Weil vor allem sie es ist, die den Frauen und Kindern nach der Flucht Schutz gewährt in Deutschland.

Bevor Sie sich den »Menschen-Geschichten« in diesem Buch zuwenden, möchte ich uns alle an die wunderbare, politische Philosophin Hannah Arendt erinnern. Sie schreibt bereits 1951 nach ihrer Flucht aus Deutschland vor den Hitler-Schergen: »Historisch beispiellos ist nicht der Verlust der Heimat, wohl aber die Unmöglichkeit, eine neue zu finden.« Und weiter formuliert die jüdische Emigrantin voller Weitsicht und Klugheit: »Es war kein Raumproblem, sondern eine Frage der politischen Organisation.« So hoffe ich, dass wir heute in Deutschland den Flüchtlingen eine neue Heimat geben können, dass die Politik es hinbekommt mit der Organisation und dass die Geschichten in diesem Buch schon bald Geschichte sind.

BUCH 1

BUCH 1 – DIE SYRERIN – 1. TEIL

Die Syrerin – 1. Teil

Der Alltag ist die Hölle – ihr bleibt nur noch die Flucht

Sie hält ihre blutende Tochter im Arm. Akilah, die 17-Jährige, hat es schlimm erwischt. Einmal mehr haben Assads Schergen in diesem Herbst 2014 Fassbomben über Kafer Sosseh, den Vorort von Damaskus, abgeworfen. Hier, im Osten der Hauptstadt, ist der Widerstand gegen die Regierung zu Hause. Miryam weiß das, aber es hat ihr bisher wenig bedeutet. Denn die 35-jährige Mutter kümmerte sich nicht um Politik, sondern um ihre Familie. Um den gerade mal vierjährigen Amir, um die vier Töchter Olcay (6), Kalila (12), Djamila (16) und eben Akilah. Aber jetzt ist sie sicher: Sie muss hier weg. Raus aus diesem Chaos. Ihre fünf Kinder retten. Alles hinter sich lassen. Jetzt gleich. Sonst verblutet ihre Tochter. Mit der Nachbarin trägt sie Akilah auf eine Schubkarre, zieht sie durch den Staub, den Dreck. Nur drei Straßen weiter gibt es ein Krankenhaus. Schnell, schnell. Miryam ist panisch. So viele Menschen drängen sich vor dem großen Tor. So viele Verletzte. Sie sieht in den Himmel. Hofft, dass nicht schon wieder ein Helikopter anfliegt und diese üblen Kanister mit Sprengstoff und Metallteilen abwirft. Miryam entdeckt einen befreundeten Arzt. Er übernimmt Akilah, und die Mutter holt erleichtert ein wenig Luft. Der Arzt schickt sie nach Hause zu den anderen Kindern. In den Straßen hat sich der Staub ein wenig gelegt. Wenn Akilah wieder rauskommt aus dem Krankenhaus, dann packt Miryam die Sachen. Da ist sie sich jetzt sicher. Denn der syrische Präsident Baschar al-Assad bekämpft in seinem Land sein eigenes Volk. Er lässt unverändert die international geächteten Fassbomben abwerfen. Sie fallen ungesteuert aus großer Höhe auf die Zivilbevölkerung herunter. Beim Aufprall auf dem Boden verursachen sie gewaltige Explosionen. Verletzen die Menschen mit den kleinen Metallsplittern am ganzen Körper. Zeitweise sind es täglich Dutzende dieser Geschosse, die auf die Gebiete rund um Aleppo, Daraa und vor allem in den Vororten von Damaskus niedergehen. Ganze Stadtviertel werden so dem Erdboden gleichgemacht. Wie jetzt ihre bisherige Heimat Kafer Sosseh. Später werden die Flüchtlinge in Deutschland immer wieder beteuern, dass sie vor Assads Fassbomben geflohen sind – und nicht vor der Terrormiliz des IS. Das berichtet auch Miryam.

Mit Miryam sitze ich inzwischen in Hamburg in einer Familienunterkunft. Ein weißes Tuch bedeckt züchtig ihr Haar. Die weite Strickjacke umhüllt ihren zierlichen Körper. Eine schöne Frau. Mit ihrem offenen Gesicht sieht sie mich, die fremde Deutsche, freundlich an. Sie ist bereit, die Geschichte ihrer Flucht zu erzählen. Will alle Fragen beantworten, damit ich es auch verstehe. Aber ihre Stimme zittert bereits, wenn sie von ihren Eltern erzählt, ihren Freunden. Denn wo in ihrem Damaszener Vorort einst Märkte, Schulen, Kliniken und Wohnhäuser standen, sind nur noch Schneisen des Todes und der Zerstörung geblieben. Die Eltern leben noch dort. Aber unter schlechtesten Bedingungen. Das mobile Telefon ist Miryams letzte Verbindung zur Heimat, zur Familie und den Freunden. Sie erzählt mir auch, dass die Fassbomben zwar beim Fallen als leises Surren zu hören seien, dass aber erst kurz vor dem Aufprall klar ist, wohin genau sie den grauenvollen Tod tragen. Das war auch das Unglück für Akilah, die gerade Obst und Gemüse auf dem Markt kaufen wollte. Sie hörte zwar das Surren, erzählt sie später, suchte aber unglücklicherweise auf der falschen Straßenseite Schutz.

Stockend berichtet Miryam weiter. Sie ist zur Hälfte Syrerin, zur anderen Hälfte Palästinenserin. Ihr Mann hat als Friseur gut verdient, konnte die siebenköpfige Familie ernähren. Bis 2011 nach dem Arabischen Frühling der Krieg in ihrer Heimat ausbrach. Ihr Haus wurde bombardiert und schlimm beschädigt. Sie blieben dennoch in den Ruinen. Reparierten Löcher und Mauern notdürftig. Das erschien ihnen allen damals noch sicher. Miryam kramt in ihrer großen Tasche nach einem Taschentuch. Aber vor allem nach Akilahs Verletzungen sind sich die Eltern einig: Die Mutter und die Kinder müssen fliehen. Nur: wie? Und woher das Geld nehmen? »Inzwischen hatten die Truppen von Assad unser ganzes Stadtviertel abgesperrt, meinen Mann verhaftet und in ein Militärcamp gesteckt – und Akilah konnte ich nicht aus dem Krankenhaus holen, weil ständig weitere Bomben in unserem Stadtteil fielen.«

Und gerade deshalb wird Miryam jetzt aktiv. Verkauft das zerstörte Haus, den Grund. Alles für einen Schleuderpreis, aber egal. Verkauft all den Goldschmuck, den ihr ihre Eltern traditionsgemäß als Mitgift und für schlechte Zeiten zur Hochzeit geschenkt haben. Sie verschleudert die Küchengeräte, die Betten der Kinder, das Sofa und die Sessel aus dem Wohnraum – denn ihr ist klar: Sie wird viel Geld brauchen, wenn sie die Flucht mit den Kindern schaffen will.

Aber bis es so weit ist, leidet die Mutter mit den Kindern jeden Tag. Selbst beim Brotanstehen fallen von oben Assads Bomben auf die Menschen, und aus den nahe gelegenen Bergen schießen gleichzeitig die syrischen Rebellen. Es ist die Hölle. Die Schulen in Miryams Stadtviertel sind geschlossen. Im ganzen Land sind mindestens zwei Millionen Kinder ohne Schulunterricht. Miryam redet mit Freunden, mit zuverlässigen Nachbarn. Wie komme ich an einen Schlepper? Wie kommen wir hier raus?

Früher, ja früher war alles gut in ihrer Heimat. Kinderreichtum bedeutete gesellschaftliches Ansehen. Viele Kinder zu haben galt als muslimische Lebenspflicht. Vor dem Krieg lag die Geburtenrate bei 3,5 Kindern je Frau. Miryam lag mit ihren fünf Kindern weit darüber. Und hatte genug zu tun. Wer im Haushalt was machte – das war bei ihnen in der Ehe klar geregelt. Miryam kochte, wusch, kaufte ein und wechselte die Windeln der Kleinen. Sie sagt heute: »Mein Mann hat mich nie herumkommandiert. Wenn ich meine Pflichten aus seiner Sicht nicht erfüllt habe, etwa wenn kein Essen gekocht war, wenn er nach Hause kam, hat er sich darüber nicht beschwert.« Ob das wirklich stimmt, wer weiß es?

Sie erzählt weiter: »Eine berufstätige Mutter bei uns im Viertel, im Land – das war ganz normal. Vor allem unter dem wachsenden Druck, Geld verdienen zu müssen. Denn viele Familien konnten ohne ein zweites Einkommen nicht überleben.« Für Miryam aber war alles in Ordnung so. Sie musste mit den fünf Kindern nicht zusätzlich arbeiten. Denn das Geld, das ihr Mann verdiente, reichte aus.

Von der Politik, erinnert sie sich auch, gab es seit jeher wenig Unterstützung für Frauen und Familien. Berufstätige Frauen hatten nur in Sonderfällen Anspruch auf Mutterschaftsurlaub. Zwar konnten Beamtinnen, wie eine ihrer Schwägerinnen, bei vollem Gehalt drei Monate zu Hause bleiben, doch in der Privatwirtschaft stand nur sozialversicherten Arbeitnehmerinnen eine Babypause zu. Und von denen gab und gibt es bis heute nur sehr wenige. Auch existierten kaum staatlich organisierte Möglichkeiten zur Kinderbetreuung. Kindergarten? Kinderhort? – Fehlanzeige. Damals – und erst recht, seit der Krieg das Land und seine Menschen im Würgegriff hält. Die Straße war in Syrien schon immer der bevorzugte Kinderhort. Auch für Miryams Kinder. Aber daran ist schon lange nicht mehr zu denken. Denn heute gerät selbst das tägliche Einkaufen zu einem lebensgefährlichen Unterfangen.

Täglich kommt inzwischen die Polizei zu Miryam. In das einst hübsche und ruhige Neubaugebiet, weit weg vom verstaubten, quirligen Durcheinander, das im Zentrum von Damaskus auch während des Krieges herrscht. Die Polizei kontrolliert die Pässe der Familie. Sie verlangen sie in barschem Ton zu sehen. Wollen wissen, ob die Familie sie noch hat – oder ob sie wie Tausende andere die Flucht vorbereitet. Denn die syrischen Schlepper verlangen mit den Anzahlungen auch die Pässe. Angeblich zu ihrer eigenen Sicherheit. Und als Beweis, dass die Menschen wirklich fliehen wollen. Auf der Straße vor Miryams Haus finden nun ständig heftige Schießereien zwischen den Assad-Truppen und den aufständischen Syrern statt. Tagelang kann sie mit ihren Kindern das Haus nicht mehr verlassen. Wenigstens geht es Akilah wieder besser. Sie kann sie aus dem Krankenhaus nach Hause holen. Das junge Mädchen ist schwach, die Wunden sind noch nicht verheilt, nur mit Pflastern verklebt. Miryam schläft jede Nacht eng aneinandergeschmiegt mit all ihren fünf Kindern auf dem Boden: Neben Akilah liegt Djamilah, dann Kalila und Olcay. Amir, der Kleine, darf ganz nah im Arm der Mutter kuscheln. Sie hoffen so, nicht von irgendwelchen Querschlägern getroffen zu werden. Miryam holt tief Luft, wenn sie sich an diese Situationen erinnert. Sie sagt aber auch: »Ich bin meinem Nachbarn Mohammed bis heute dankbar. Er hat mich mit einem Mann zusammengebracht, der uns erst mal hier rausholte und zu den Rebellentruppen führte. Damit wir nicht mehr in akuter Gefahr durch die Bomben leben mussten.«

Miryam zahlt ihm 25 000 Lira für sich und ihre Kinder. Das sind rund 200 Euro. Sie weiß, dass das erst der Anfang ist. Aber jetzt erst mal: raus aus dem umkämpften Vorort von Damaskus. Nachts, im Dunkeln. Sie hofft, dass es nur ein Übergang ist, ein erster Schritt vor der richtigen Flucht. Nur für eine kurze Zeit. Aber es wird ein Jahr und drei Monate dauern, bis Miryam mit den Kindern weiterkommt. Dann werden die Kinder schon wieder ein Jahr älter sein: Akilah 18, Djamila 17, Kalila 13, Olcay sieben und der kleine Amir fünf.

»Nur für meine Kinder gehe ich hier weg, ich selbst hänge nicht mehr am Leben. Aber meine Kinder sollen eine Zukunft haben.« Miryam weiß, dass sie mit ihnen nie mehr in das »Happy Land«, den Vergnügungspark von Damaskus gehen wird. Achterbahn fahren, ins Schwimmbecken rutschen und Zuckerwatte bis zum Schlechtwerden essen – das ist vorbei. Die bunten Lichter der Karusselle versinken in ihrer Erinnerung. Die Treffpunkte ihrer Jugend gibt es längst nicht mehr. Pizza Hut und Kentucky Fried Chicken sind verschwunden. Zara, ihr Lieblingsklamottenladen, ist verbarrikadiert. Viele Nachbarn sind schon weggezogen. Die besten Freunde über Nacht verschwunden. Nur über WhatsApp erfährt sie immer mal wieder, wo sie sich inzwischen verstecken. Ihr Mann hat ihr nachts immer wieder zugeflüstert, dass wohl nur noch eine Flucht die Familie retten kann. Sie haben zu lange gewartet. Denn nach einer solchen Nacht holten Assads Soldaten ihn im Morgengrauen ab. Zum Kämpfen. Zwangsrekrutiert. Wie Tausende von Syrern im eigenen Land.

Wie alles begann – der Krieg in Syrien und seine Geschichte

Miryams Geschichte ist nur eine von Hundertausenden.

Wir vergessen in Europa leicht, wie alles angefangen hat mit dem Krieg in Syrien. Warum bis heute über vier Millionen Syrer aus ihrer Heimat geflohen sind, über 500 000 Menschen allein in Europa Asyl erbeten haben, im Land selbst acht Millionen Menschen ihre Häuser, Wohnungen verlassen mussten und irgendwo anders Unterschlupf gesucht und gefunden haben. Wohlgemerkt: in Syrien selbst. In ihrer Heimat. Schlimm daran ist, dass die Hälfte von ihnen Kinder sind. Außerdem kamen bis 2016 über 470 000 Menschen in diesem Bürgerkrieg ums Leben. Erschossen, gefoltert, umgebracht, von Fassbomben zerfetzt oder von Chemikalien für den Rest ihres kärglichen Lebens gezeichnet.

Am Anfang dieses Bürgerkrieges standen friedliche Demonstrationen von Syrern, die in keinem europäischen Medium auch nur mit einer Zeile oder einer Minute Sendezeit Widerhall fanden. Obwohl längst klar war, dass Syrien zu einem brutalen Überwachungsstaat geworden war, in dem sich verschiedene Geheimdienste und mafiöse Gruppierungen Macht über Geld, Wirtschaft und Unternehmen verschafft hatten. Das alles gebilligt und gefördert vom Präsidenten Baschar al-Assad. Ein Alevit, der die Vetternwirtschaft zu seiner Regierungsform erklärte. »Wasta«, Beziehungen, das Zauberwort für Erfolg und Reichtum. Aber der Großteil der Menschen hatte nichts davon, besaß kein »Wasta«. So geriet der Graben zwischen den wenigen Reichen und sehr Einflussreichen auf der einen Seite zu den Bitterarmen auf der anderen Seite immer größer.

Der Anlass, dass Tausende Syrer wütend und mutig gegen ihren Präsidenten und sein System auf die Straße gingen, war »Kindergekritzel«. Schuljungen sprühten 2011 in Daraa im Süden Syriens, aus Spaß und weil es gerade »in« war, erst Herzen und dann regierungskritische Graffiti an Hauswände. Sie hatten das im Fernsehen gesehen, in Berichten aus Tunesien, Ägypten und Libyen nach dem Arabischen Frühling. Der Militärgeheimdienst von Baschar al-Assad reagierte brutal: Die gefürchteten Männer inhaftierten 20 Schulkinder, folterten sie über Wochen grausamst und brachten einige von ihnen um. Das Regime fühlte sich nicht nur zu dieser Zeit umgeben von Verschwörern, die einen Umsturz des Regimes anstrebten. Die Reaktionen auf Kritik an der Regierung waren entsprechend gnadenlos, sobald auch nur der Ansatz einer Verschwörung vermutet wurde. Mit den zu Tode gefolterten Kindern begann der Krieg. Zynisch ließ der Geheimdienst damals verbreiten: »Macht einfach neue.« Und meinte damit Kinder. Die Botschaft war an ihre trauernden und verzweifelten Eltern adressiert. Das war zu viel. Das hielten die Bürger nicht mehr aus. Sie zogen im ganzen Land auf die Straße. Nicht mehr friedlich, nein, mit Waffen. Jetzt war Bürgerkrieg. »Assad, hau ab«, skandierten die Demonstranten. Der reagierte mit brutaler Gewalt. Das geht bis heute so.

Dieser Bürgerkrieg führt de facto zu einer Teilung des Landes: Über die Hälfte des Staatsgebietes kontrolliert jetzt die Terrororganisation Islamischer Staat. Auch wenn sie inzwischen das umkämpfte Palmyra wieder räumen mussten, vertrieben von Assads Truppen und den russischen Bombern. Die Regierungstruppen halten bis April 2016 unverändert die Hauptstadt Damaskus und elf der 13 Provinzhauptstädte, zusammen mit den dicht besiedelten Gebieten im Westen des Landes. Der Rest wird von Rebellengruppen wie der Freien Syrischen Armee, der Islamischen Front, der Kurdischen Miliz und dem al-Qaida-Ableger Al-Nusra-Front kontrolliert. Von den einst 22 Millionen Menschen sind nur noch 16 Millionen im Land geblieben. Wer kann, der geht. Wohin auch immer. Von den im Land Zurückgebliebenen brauchen 12,2 Millionen Menschen inzwischen dringend humanitäre Hilfe. Davon sind die Hälfte Kinder. Es gibt nicht mehr genug zu essen, keine Hilfe bei Krankheiten, kaum sanitäre Einrichtungen, und 25 Prozent der Schulen sind zerstört. Rani Rahmo von den SOS-Kinderdörfern berichtet, dass Kinder inzwischen Gras essen, um überhaupt etwas im Magen zu haben. Die Hälfte der Krankenhäuser ist zerstört. Zynisch, wer hier behauptet, man könne ja die Syrer auch wieder zurückschicken. Es herrsche schließlich nicht überall Krieg. Der Direktor der SOS-Kinderdörfer in Syrien ist sehr aufgebracht darüber: »Besonders dramatisch ist die Situation außerhalb Damaskus. Dort leben die Kinder in ständiger Angst vor Bombardements. Sie sind traumatisiert. Wenn das so weitergeht, werden sich bis zu zwei Millionen Syrer auf den Weg nach Europa machen. Die Passbehörde in Damaskus wird jetzt schon überrannt. 5000 Menschen stehen dort täglich an.«5

ENDE DER LESEPROBE