"Ich habe neun Leben gelebt" - Joseph Melzer - E-Book

"Ich habe neun Leben gelebt" E-Book

Joseph Melzer

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Beschreibung

"Ich habe die Nazis erlebt, die Kommunisten überlebt, die Zionisten erduldet und den Sozialisten geholfen." So beschreibt Joseph Melzer sein bewegtes Leben. Der leidenschaftliche Verleger wurde 1908 in Galizien geboren, kam 1918 nach Berlin, floh 1933 vor den Nazis nach Palästina, kehrte 1936 nach Europa zurück, wo er von Paris über Warschau nach Russland flüchtete. Hier wurde er als deutscher Spion verhaftet und kehrte 1948 nach Israel zurück. Zehn Jahre später gründete er in Köln seinen Verlag, der sich auf Bücher jüdischer Autoren spezialisierte, die die Nazis verbrannt hatten. Ein Buch auch über die Liebe zu und das Leben mit Büchern.

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Seitenzahl: 467

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Ebook Edition

Joseph Melzer

Ich habe neun Leben gelebt

Ein jüdisches Leben im 20. Jahrhundert

Bearbeitet von Abraham Melzer und Jürgen Jung

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-803-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2021

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Prolog
I 1907–1918
Eine unruhige Zeit
Galizien
Schabbat
Pessach
Auf der Flucht
II 1918–1933
Berlin
In der Landwirtschaft
Zurück in Berlin
Die Judenfrage
III 1933–1936
Unterwegs
Im Heiligen Land
Jerusalem
Zu Besuch in Berlin
IV 1936–1939
Paris
Warschau
Endlose Verhöre
V 1939–1941
Sibirien
VI 1942–1945
Samarkand
VII 1946–1948
DP-Lager Admont
VIII 1948–1958
Israel
IX 1958–1984
Zurück in Deutschland
Die Geburt des März-Verlags
Mein Sohn übernimmt den Verlag
Die Affäre Arrabal
Wieder Antiquar
Krebs
Epilog

Sehen wir uns nicht mehr auf dieser Welt, So sehen wir uns doch in Bitterfeld!« – Ludwig Bechstein, Zauberverblendung

Prolog

Wenn man eine Biografie schreibt, wie ich es jetzt vorhabe, dann sollte man ganz bei der Wahrheit bleiben. Andernfalls sollte man lieber Romane schreiben, wenn man unbedingt schreiben will und schreiben kann. Ich wollte schreiben, aber konnte nicht und zögerte damit, weil ich nicht begabt genug dafür bin. Ich ließ andere schreiben, wurde Buchhändler und später auch noch Verleger. Ich war stolz darauf, Bücher in die Hand zu nehmen, auf denen mein Name gedruckt war, obwohl ich sie nicht selbst geschrieben hatte.

Mein Freund Manès Sperber, mein Bruder im Geiste, der in meiner Nachbarschaft aufwuchs, schickte mir seine Lebenserinnerungen, die unter dem Titel Die Wasserträger Gottes im Europaverlag erschienen sind. Beim Lesen musste ich mich immer wieder an meine Kindheit in Galizien erinnern, und ich beschloss, auch meine Lebensgeschichte niederzuschreiben. Ich habe hin und wieder Zitate aus Sperbers Erinnerungen übernommen, wo er mir aus dem Herzen spricht und ich es nicht besser schreiben könnte. Ich bin sicher, dass Sperber das nicht nur erlaubt, sondern auch begrüßt hätte, denn wenn wir uns trafen und Erinnerungen austauschten, mussten wir immer wieder feststellen, dass wir beide oft dasselbe erlebten.

Jetzt sitze ich in meiner Wohnung und schreibe Erinnerungen auf, soweit ich mich erinnern kann. Um nichts zu verdrehen und vor allem um nicht selbst Opfer von Übertreibung oder Unterlassung zu werden, werde ich mich um Sachlichkeit und um eine zusammenhängende Darstellung bemühen, auch wenn es mir manchmal schwerfällt. Einiges ist im Laufe der Zeit verdrängt worden, anderes verloren gegangen, und an vieles will ich mich gar nicht mehr erinnern. Und außerdem ertappe ich mich immer wieder dabei, unangenehme, peinliche Erlebnisse retuschieren und weglassen zu wollen. Das hilft mir aber nicht. Alles soll raus, auch wenn mich der Text da und dort erröten lässt. Dabei gibt es keinen Grund, sich zu schämen. Ich habe mein Leben lang ehrlich gekämpft, für meine Ideale, für meine Würde, meine Existenz und sogar um das nackte Überleben. Ich hätte gern ein anderes Leben führen können, aber die Umstände hatten dies nicht zugelassen. Sie haben mich das Leben führen lassen, das ich in diesem Buch schildern werde.

Ich hätte die Jahre in Berlin kaum überlebt, wenn »Aschinger« nicht großzügig Brötchen gratis verteilt hätte, wenn man dort eine Suppe für fünfzig Pfennig aß. Im Lager in Russland war ich nicht immer ein Held. Um ein Stück Brot zu erwischen, habe ich auch lügen oder mich erniedrigen müssen. In Samarkand war ich notgedrungen gezwungen zu betteln. Ich lief Hunden hinterher, die etwas Essbares im Maul hielten. Ich lebte am Existenzminimum. Der Hunger war mein ständiger Begleiter.

Die besten Jahre verbrachte ich in Paris im Exil. Ich war jung und finanziell unabhängig. Es ging mir gut. Ich war umgeben von lauter interessanten Emigranten, von denen ich viel lernen konnte. Vor allem war ich frei. Ich war nie mehr so frei wie damals in Paris. Später geriet ich in Russland in Haft, wo ich wie ein Sklave behandelt wurde. Und wieder später trug ich Verantwortung für eine Familie.

Ich floh im Januar 1933 vor den Nazis nach Palästina und versuchte, mir dort eine Existenz als Buchhändler aufzubauen. Als ich merkte, dass dort auch der Nationalismus zunahm und man Fahnen mehr verehrte als das biblische Gebot »Liebe deinen Nächsten«, verließ ich das Land wieder. Die Juden in Israel glaubten, besser und menschlicher zu sein als die arabischen Einwohner. Ich kehrte nach Europa zurück, wo mich der Zweite Weltkrieg erwischte, nach dessen Ende ich wieder in Palästina landete, das jetzt Israel heißt.

Wieder verließ ich 1958 »aufatmend« das Land und kehrte zurück nach Deutschland. Aus den wenigen Jahren, die ich bleiben wollte, sind jetzt mehr als 25 geworden. Freunde in Köln, wo ich zu Beginn dieser Zeit Station gemacht hatte, haben mich überredet und überzeugt zu bleiben und einen jüdischen Verlag zu gründen. Ich sollte die in den Nazijahren verbotene, verbrannte oder anderweitig verloren gegangene jüdische Literatur der Öffentlichkeit wieder zugänglich machen. Also blieb ich in Köln und gründete den Joseph-Melzer-Verlag, bei dessen Gründung die Göttin Fortuna Pate stand. Ich brachte eine ganze Reihe wichtiger Bücher zum Judentum auf den Markt. Der Joseph-Melzer-Verlag leistete echte Pionierarbeit, und wie das Schicksal den Pionieren oft mitspielt, konnten erst die Nachfolger die Ernte einbringen.

Zwar fand ich Anerkennung, jedoch wurde meine Verlagsarbeit von den jüdischen Organisationen und den »Berufsjuden« kaum beachtet. Nicht selten wurde meine Arbeit geradezu behindert. In jüdischen Kreisen wurde bevorzugt der als erfolgreich verstanden, der Immobilien besaß. In den ersten Jahren des Nachkriegsdeutschlands galten Bücher wenig, es zählten eher Scheckbücher. In eine Auseinandersetzung mit Heinz Galinski, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, mischte sich Ignaz Bubis ein. Er fragte mich mit aggressivem Unterton: »Was haben Sie denn schon für das Judentum geleistet, dass Sie es wagen, Heinz Galinski zu kritisieren?«

Ja, was? Es stimmt, ich habe keine Häuser im Frankfurter Westend erworben, sondern Bücher verlegt. Und nachdem man wusste, dass ich damit nicht nur kein Geld gemacht, sondern auch noch Geld verloren hatte, habe ich schon gar keine Anerkennung mehr finden können. Dennoch, ich bedauere nichts.

I1907–1918

Eine unruhige Zeit

Ich wurde 1907 geboren in einer für das Judentum und die Judenheit denkwürdigen und geschichtlich hochinteressanten Epoche. Man kann es nicht gerade einen glücklichen Umstand nennen, wenn man zu Beginn des Jahrhunderts in einem jüdischen Städtchen Ostgaliziens zur Welt gekommen ist. Nicht etwa, weil es dort Antisemitismus gab, sondern weil das Leben dort für Juden grau und hoffnungslos war, auch wenn wir Kinder das nicht so empfunden haben. Wir lernten und spielten wie andere nichtjüdische Kinder auch. Je älter wir aber wurden, desto heftiger spürten wir den Unterschied. Unglücklich war der Umstand auch für die Nichtjuden, denn es warteten auf uns alle der Zerfall der alten Welt und zwei Weltkriege, die Millionen von uns dahinrafften, weil wir Deutsche, Franzosen, Engländer, Österreicher, Italiener oder Russen waren und auf uns Juden ganz besonders, weil wir eben Juden waren.

Die alte Welt lag in Agonie, und eine neue Welt, die das Leben der Juden umkrempeln sollte, erschien am Horizont. Etwa zehn Jahre vor meiner Geburt wurde die zionistische Bewegung gegründet, die das Leben der Juden veränderte. Ein knappes Jahrzehnt nach meiner Geburt begann der Erste Weltkrieg, der das alte Europa zerstörte und seine Trümmer umgestaltete.

Für meinen Großvater war die Emanzipation ein Irrtum und Zionismus ein Götzendienst. Die Entwurzelung der Juden aus dem Judentum bedeutete für ihn eine Katastrophe. Für mich freilich war die Judenfrage keine Frage der Juden allein, sondern eine Frage der Nichtjuden, der Christen, und damit eine Frage der ganzen Menschheit.

Die Lebensbedingungen der Juden am Ende des 19. Jahrhunderts unterschieden sich – wenigstens was ihre große Mehrheit betrifft – kaum von den finstersten Zeiten des Mittelalters. Die Mehrheit der russischen und der galizischen Juden, unter denen ich aufgewachsen war, lebte in wirtschaftlicher, sozialer und geistiger Not. Viele diskriminierende Gesetze, deren Liste sich kontinuierlich erweiterte, entzog den Juden eine wirtschaftliche Existenzmöglichkeit nach der anderen. Derart repressive Verhältnisse ließen unter Juden den Aberglauben aufblühen. Sie waren fruchtbarer Boden einer sich verbreitenden Mystik des Chassidismus. Die ständige Furcht vor blutrünstigen Verfolgern eliminierte das aufrechte und selbstbewusste Judentum. Besonders für Russland konnte man, auch ohne ein Prophet sein zu müssen, voraussagen, dass sich eine wirtschaftliche, geistige und moralische Katastrophe in Richtung auf die Judenheit Bahn brach, die es in ihren Grundfesten erschüttern sollte. Die Verzweiflung hatte noch einen weiteren Grund. Die modernen Verkehrsverhältnisse, die den Volksmassen Beweglichkeit ver­schaff­­te, schienen zu Beginn auch den Juden zugute zu kommen. Viele von ihnen glaubten, die Auswanderung in die Fremde könne ihnen Freiheit, Sicherheit und Brot verschaffen. Aber abgesehen ­davon, dass Massenauswanderung kaum geeignet sein kann, die ­Lösung des Problems von Millionen zu sein, begann sich auch das gelobte Land der Freiheit, Nordamerika, und mit ihm die alte Hochburg der Toleranz, England, gegen den Zuzug der Ostjuden energisch zu wehren. Auch diese Länder machten die Einwanderungserlaubnis von Bedingungen abhängig, denen nur ein kleiner Teil der Auswanderer genügen konnte. So wurde die Emigration als ein möglicher Weg zur Rettung aus miserablen Lebensverhältnissen erschwert oder gar versperrt.

Um dieselbe Zeit machten sich auch in den westlichen Ländern bedenkliche Entwicklungen bemerkbar. Der politische Liberalismus, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, besonders in Deutschland, tonangebend geworden war, hatte Juden die politische Gleichberechtigung gebracht. Er versprach ihnen die gesellschaftliche Inte­gration und eine verheißungsvolle Zukunft. Umso härter traf darum vor allem die deutschen Juden der zunächst schleichende, aber dann immer weitere Kreise der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens erfassende Machtgewinn reaktionär-konservativer Kräfte. Ohne das verfassungsmäßig gewährte Recht der Gleichberechtigung formal anzutasten, entwickelte sich zunehmend eine diskriminierende Verwaltungspraxis. Freiheiten und Rechte, die die Juden erst wenige Jahrzehnte zuvor errungen hatten, wurden in der gesellschaftlichen Praxis sukzessive wieder eingeschränkt. Posten, die sie mit Eifer ausgefüllt hatten, nahm man ihnen weg. Demütigungen von Westjuden wurden zur alltäglichen Realität, die von denen umso erdrückender empfunden werden musste, die am Erblühen und Erstarken der westlichen Gesellschaften nicht unwesentlich beteiligt waren. Es traf sie ins Mark, dass sie nicht mehr für würdig gehalten wurden, ihrem Kaiser als Offizier zu dienen. Sie, die sich als Deutsche verstanden und deutsch fühlten und die sich im Ersten Weltkrieg bewährt und mit Begeisterung mehr als nur ihre staatsbürgerliche Pflicht getan hatten.

Genauso entsetzt waren sie, dass antisemitische Agitatoren ihr Haupt frei erheben durften und dass Verhöhnung und Beschimpfung von Juden in gewissen Kreisen üblich wurden. Und wenn deutsche Juden in ihrer Verzweiflung sich umschauten, mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass es anderswo nicht besser war. In Frankreich hatte die Dreyfus-Affäre geradezu erschreckende Einblicke in die Tiefe antisemitischer Vorurteile eröffnet. In Österreich waren die beiden wichtigsten miteinander konkurrierenden Parteien, die Christlich-Sozialen und die Deutschnationalen, sich nur dann einig, wenn es gegen die verhassten Juden ging. In jeder jüdischen Seele, die noch eine Spur von Feinfühligkeit und Stolz bewahrt hatte, tauchte die verzweifelte Frage auf, ob es denn überhaupt einen Nichtjuden gebe, der kein Antisemit war. Wer diese Zeiten selbst erlebt hatte, wird für diese Übertreibung wohl Verständnis aufbringen können.

Im Osten wie im Westen bedrohte auch die Gesamtsituation die einzelnen Juden. Gleichzeitig war die innere Verfassung des europäischen Judentums von einem Zustand der spirituellen Schwäche und internen Zerstrittenheit gekennzeichnet. Von der belebenden Frische eines aktiven religiösen Lebens, die das kollektive Gefühl der Stärke und Begeisterung hätte erwecken können, war nichts mehr zu spüren. Es gab nichts, was dem dahinschleichenden Judentum und seiner heranwachsenden Jugend eine inspirierende spirituelle Kraft hätte verleihen können. Politisch spaltete der Widerstand des orthodoxen Judentums gegen den aufkommenden Zionismus in zunehmenden Maßen die europäischen Juden.

Das Interesse an religiösen Themen hatte in weiten Kreisen des Judentums abgenommen. Es machte sich sogar eine atheistische Tendenz bemerkbar. Religionsfeindschaft wurde nicht selten als ein kultureller Fortschritt betrachtet. Der post-napoleonische Erhalt allgemeiner Bürgerrechte in weiten Teilen Europas sowie die Entwicklung eines aufgeklärten Reformjudentums hatten einen Prozess der Säkularisierung in Gang gesetzt, der manchen sogar befürchten ließ, dass die Vermittlung von jüdischer Religiosität an die junge Generation durch elterliche Erziehung und staatliche Schulbildung immer mehr vernachlässigt werde. Ein ausgeprägtes Desinteresse an Religion bemächtigte sich breiter jüdischer Kreise, das das Weltjudentum in kurzer Zeit obsolet machen würde.

In meiner Kindheit habe ich von all dem nichts mitbekommen, denn in meinem beschaulichen Galizien war die alte jüdische Traditionswelt noch sehr lebendig. Dort bestimmten nach wie vor die Gemeinderabbiner, wie Juden zu leben hatten. Ich wuchs im Hause meines Großvaters unter einer streng jüdischen Erziehung auf. Im Grunde kannte ich nur die jüdische Welt, ihre Gebote und strengen Verbote.

Im Gegensatz zu unserer Welt hatte sich in den urbanen Zentren Ost- und Westeuropas ein säkular geprägter Modernisierungsprozess entwickelt. Gerade junge Juden hatten längst angefangen, sich von den Bindungen der Tradition und der von ihnen so empfundenen Fesseln eines autoritär-repressiven Rabbinertums zu lösen.

Die Lage der europäischen Judenheit um die Wende zum 20. Jahrhundert war also äußerst grenzwertig. Für den geschichtsbewussten Beobachter seiner Zeit war dies jedoch nichts wirklich Ungewöhnliches. Schon oft in ihrer Geschichte hatten sich die Juden in einer vergleichbaren oder gar noch kritischeren Lage befunden. Bisher jedoch hatte unsere Gemeinschaft solche Perioden des Niedergangs immer überwinden können.

Eine große Zahl jüdischer Intellektueller verstand die Judenfrage in ihrer vollen Tragweite und empfand ein deutliches Unbehagen ob ihrer erniedrigenden Lage. Befreiungsversuche aufgrund wohlgemeinter und trotzdem schlecht durchdachter Ratschläge schossen in der jüdischen Welt wie Unkraut aus dem Boden. Wenn diesen nicht ein sich stetig ausbreitender Antisemitismus Vorschub geleistet hätte, hätte der Zionismus nie zu einer derartigen Massenbewegung werden können.

Es war eine nervöse und überreizte Zeit, Überlegungen verschiedenster Art wurden angestellt und diskutiert, wie und was zu tun sei, um eine grundlegende Besserung der Lebenssituation für die europäischen Juden herbeizuführen. Viele fühlten sich berufen, ihre mehr oder überwiegend weniger nützlichen Vorschläge dazu öf­fentlich vorzutragen. Darunter waren auch solche, die kaum etwas anderes darstellten als wirre, mystisch-religiöse Phantastereien. Typisch für solche kritischen Phasen jüdischer Geschichte waren End­zeitvorstellungen. Weite Kreise erfasste eine Sehnsucht nach dem Erscheinen des Messias. Die messianische Bewegung des Schabatai Zvi im 17. Jahrhundert wäre hierfür ein Beispiel.

Als Rettung aus aller Gefahr trat Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Zionismus eine Bewegung auf den Plan, die von sich behauptete, für die so weit verbreitete Not der Juden die Ursache gefunden zu haben: alles Elend komme daher, dass die Judenheit sich als Nation auflöse. Sie behauptete, das Judentum sei stets eine Nation gewesen und die Assimilation an die Kultur anderer Nationen sei eine Verschwendung und Vernichtung der besten jüdischen Kräfte. Dies stelle einen schmählichen Verrat am Wesen und der Zukunft des Judentums dar, was schon in der Vergangenheit zu nichts anderem als zu Unglück und Niedergang geführt habe. Gerade weil der jüdischen Nation ein territorialer Mittelpunkt fehle, gelte es diesen zu schaffen. Die Judenheit könne nur dann ein erträgliches Schicksal finden, wenn alle nationalen Kräfte zusammengeführt würden. Auf dem geheiligten Boden der Väter könne eine Zuflucht geschaffen werden, die einerseits dem verfolgten Judenvolk eine sichere Heimstätte gewähre, wo es seiner Eigenart gemäß leben könne, und von der andererseits eine geistige Belebung aller jüdischen Werte ausgehen werde. Theodor Herzl war es, der der neuen Bewegung mit seinem Buch Der Judenstaat einen entscheidenden Impuls zur Verwirklichung dieser zionistischen Vision gab.

Es ist schon verwunderlich, dass eine pseudomessianische Mission, wie man die zionistische Bewegung in ihrer Zielrichtung auf einen separaten jüdischen Staat verstehen kann, sich ausgerechnet auf das Prinzip eines säkularen Nationalstaates berief, der dem religiös-orthodoxen Judentum absolut fremd war. Einer zweitausendjährigen Entwicklung, die nur Religion und immer wieder Religion gefordert und gefördert hatte, wurde grundsätzlich widersprochen. Wie konnte es zu diesem Widerspruch kommen?

Hat der nationale Gedanke vielleicht doch eine unbewusste Grundlage in jüdischen Anschauungen? Gibt es irgendein Analogon oder einen zionistischen Vorläufer in der jüdischen Geschichte? Die Strenggläubigen pflegten sich auf die Sprüche Salomons im Alten Testament zu stützen und sagten: »Es gibt nichts neues unter der Sonne.«

Man könnte auf manche Bewegungen hinweisen, welche sich die Rückkehr in das Heilige Land ersehnten, aber keine war je vom prophetischen Wege abgewichen. Nie hatte man etwas anders erträumt als die Wiedererrichtung des Tempels und den Sieg der Religion! Mit dem Zionismus war etwas völlig Neues und Fremdes aufgetreten. Er appellierte nicht an religiöse Gefühle, und es ging ihm nicht um die Errichtung des Tempels und die Herbeiführung des Gottesstaates, sondern um den Aufbau eines nationalen Staatswesens, so wie andere Nationen sich ebenfalls zu Nationalstaaten entwickelt hatten. Die Judenfrage war somit zu einem ausschließlich politischen und wirtschaftlichen Problem mutiert – für jeden mit der jüdischen Geschichte Vertrauten ein völliges Novum.

In diese bewegte, von Zweifeln und Hoffnungen geprägte Zeit wurde ich hineingeboren, in ihr bin ich aufgewachsen. Wenn mein Vater mich in die Arme der zionistischen Bewegung in Deutschland warf, wie noch zu berichten sein wird, dann nicht, weil er ein glühender Zionist war, sondern weil er froh war, dass die zionistische Bewegung ihn von der Sorge um die Ernährung seines Ältesten entlastete. Auch ich war kein glühender Zionist, und der Gedanke, nach Palästina auszuwandern und dort beim Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens zu helfen, wäre mir von selbst nie in den Sinn gekommen.

Wie jede andere Weltanschauung hielt sich auch der Zionismus für unfehlbar. Er wurde zur neuen Religion für viele Juden. Aber nur die wenigsten merkten, dass der Zionismus an der falschen Front kämpfte und gemeinsame Sache mit den Antisemiten machte, indem er propagierte, dass die Juden nach Palästina gehörten. So wurde uns unsere deutsche Identität von zwei Seiten abgesprochen, von der antisemitischen und nicht weniger von der zionistischen Seite her. Vom Standpunkt des Zionismus als einem extremen Nationalismus war der Antisemitismus durchaus legitim. Er war für die zionistische Bewegung ein willkommenes Hilfsmittel.

Im Übrigen bin ich der Meinung. dass es nicht nur der Zionismus war, der später entscheidend dazu beitrug, den jüdischen Staat zu gründen, sondern allem voran der deutsche Nationalsozialismus, der Hunderttausende Juden, die sich vor der Vernichtung durch die Nazis retten wollten, als Flüchtlinge nach Palästina trieb. Wäre Adolf Hitler 1933 nicht an die Macht gelangt und hätte seine nationalistische und rassistische Politik nicht bis zur Vernichtung von sechs Millionen Juden und der Zerstörung halb Europas geführt, dann würde die Welt heute ganz anders aussehen. Ich wäre mit ­absoluter Sicherheit in Deutschland geblieben. Es waren also die Nazis, die mich in die Arme der Zionisten getrieben haben. Die deutschen Juden waren zuallererst Deutsche, viele auch deutsche Nationalisten, die 1870 und 1914 für Deutschland gekämpft und teilweise sogar das Eiserne Kreuz erhalten haben. Einige wären sogar gerne Nazis geworden, wie ich später erzählen werde, wenn die Partei sie nur aufgenommen hätte. Es stimmt, was mein Freund Bruno gesagt hat, dass die Juden Hitler nicht so gehasst haben wie Hitler sie. Und diejenigen, die sich als Juden identifiziert haben, waren auch gegen den Zionismus, weil sie in ihm eine Ideologie erkannt haben, die ihr Deutschtum in Frage stellte und im Grunde dasselbe wollte, was die Nazis propagierten, nämlich die Juden aus Deutschland vertreiben. Und so wuchs ich auf, ohne eine realistische Wahl zu haben. Den Zionismus mochte ich nicht, und die Deutschen mochten mich nicht.

Tatsächlich waren auch die Gründer der zionistischen Bewegung säkulare und zum Teil antireligiöse Juden. Man darf auch nicht vergessen, dass Herzl zwar einen Staat für die Juden forderte – keinen jüdischen Staat –, aber grundsätzlich war es ihm egal, wo dieser Staat liegt. Er war sogar bereit, die britische Kolonie Uganda als Staat der Juden zu akzeptieren. Das Angebot wurde 1903 vom britischen Kolonialsekretär Joseph Chamberlain an Theodor Herzl ausgesprochen. Der Vorschlag war eine Reaktion auf die Pogrome gegen die Juden in Russland und auf die aussichtslose Situation für jüdische Besiedelungspläne im damals noch osmanischen Palästina. Herzl besaß sogar die Naivität, diesen Plan auf dem sechsten Zionistenkongress von 1903 in Basel zu präsentieren. Es löste unter den Delegierten eine heftige Debatte aus. Nach Uganda in Zentralafrika wollte kein Jude auswandern. Zwar wurde der Plan sehr bald auf Druck der traditionellen Ostjuden annulliert, die sich nur »Eretz Jisroel« vorstellen konnten, aber ein Misstrauen blieb, und der Judenstaat blieb das Steckenpferd einer Minderheit von Idealisten und Träumer. Selbst als die britische Regierung durch ihren Außenminister Lord Balfour ankündigte, dass sie bereit sei, eine »Heimstätte« für die Juden in Palästina zu gewähren, hat das keine Masseneinwanderung ins Heilige Land verursacht. Und wenn am Ende der Zionismus stark und stärker wurde, dann ist es nicht zuletzt der antijüdischen Propaganda zu verdanken, und insofern hatten auch die Zionisten nichts dagegen, dass der Antisemitismus wuchs, denn er zwang die Juden, sich mit den zionistischen Ideen zu identifizieren. So zum Beispiel auch mich. Ganz besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Katastrophe des europäischen Judentums bekannt wurde. Viele Juden, besonders in Amerika, fühlten sich schuldig und verantwortlich für das Schicksal ihrer Schwestern und Brüder und verpflichteten sich, den Überlebenden zu helfen, und diese Hilfe konzentrierte sich auf den Staat Israel. Es war aber weniger eine Identifikation mit dem Zionismus als eine Beruhigung des schlechten Gewissens, weil sie die Shoah nicht verhindert haben, nicht verhindern konnten. Nichtdestotrotz war es eine gewaltige Unterstützung der Zionisten, die schließlich zur Gründung des Staates Israel führte.

Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, muss ich feststellen, dass es immer vom Schicksal, aber nicht von mir bestimmt war. Wie es verlief, war kaum je meine eigene Entscheidung gewesen. So aber ist das Leben anderer Juden auch gewesen. Sie waren nicht, wie Joseph Roth es in seinem Roman beschrieb, auf der Wanderschaft, sondern waren Getriebene und Vertriebene. Wer Geld und Wertsachen hatte, nahm sie mit, und wer wie ich nichts hatte, nahm dieses Nichts mit, das bei mir aus der Liebe zum Buch bestand. So konnte ich diese Liebe, die in Berlin begann, auch nach Jerusalem mitnehmen, von dort dann nach Paris und sodann wieder »Jerusalem« und schließlich zurück nach Deutschland.

Aber ich möchte dem Leser meine Geschichte von Anfang an erzählen.

Galizien

Galizien, die östlichste Provinz der österreichischen K.-u.-k.-Monarchie, war unterteilt in einen östlichen und einen westlichen Teil. Nach dem Ersten Weltkrieg war diese Bezeichnung verschwunden und mit ihr ein Großteil der dort seit Jahrhunderten ansässigen Bevölkerung. Der eine unter der polnischen Herrschaft befindliche Teil wurde Małopolska (Kleinpolen) genannt, der andere Wielkopolska (Großpolen). Nach 1945 fiel der östliche Teil an Russland und hieß fortan Zapadnie. Heute gehört er zur Ukraine. Uns interessiert aber nicht die Gegenwart, sondern die »gute, alte Zeit«.

Ost- und Westgalizien – so die Bezeichnung im Habsburger Reich – waren in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung und ihrer Mentalität durchaus verschieden voneinander. Während der östliche Teil von fünf unterschiedlichen Minderheiten bevölkert war – Ruthenen, Ukrainern, Huzulen, Polen und Juden –, bewohnten den westlichen Teil zwei homogene: Polen und Juden. Im Osten bildeten die griechisch-orthodoxen Ruthenen und die Huzulen die Mehrheit der Bewohner, ihnen gegenüber standen die römisch-katholischen Polen.

Polen und Juden wohnten vorwiegend in Städten. Die Juden waren mehrheitlich kleine Handwerker (mehr als man je hätte brauchen können) und Händler (von denen es mehr gab als Kunden). Weil Geld immer rar war, konnten sich die meisten kaum mehr leisten als gesalzene Heringe, einen Kamm für die Braut und einmal im Jahr ein Paar billige Schuhe. Aber auch fromme oder frömmelnde Thoraschüler und Schnorrer sowie Taugenichtse – »Luftmenschen« oder »Luftexistenzen«, wie sie sich selbst ironisch nannten – gab es zahlreich. Auf solche Selbstironie konnten die Juden kaum verzichten, schon eher auf ihre kärgliche Mahlzeit. Mein Freund Manès Sperber schrieb dazu: »Die Flickschneider und -schuster waren die meistbeschäftigten Handwerker, denn ohne sie hätten viele Kinder unzureichend bekleidet und auch im Winter barfuß gehen müssen. Manche Männer fasteten nicht nur an den zahlreichen Fastentagen, sondern überdies jeden Montag und Donnerstag, damit auch die Kinder oder die Enkel etwas mehr zu essen hatten. Den Frauen ging es nicht viel besser.

Es gab bei den Juden Bettler aller Art: So zum Beispiel die »Verschämten«, die immer nur eine Anleihe machen wollten, die sie aber nie zurückzahlen konnten. Dann gab es die professionellen Bettler, die eingesessenen und die wandernden, die zumeist in Gruppen auftraten. Es gab die Armen, die still hungerten und froren und auf Wunder warteten, die tatsächlich hin und wieder eintraten, wenn auch meist zu spät. Eine kleine Geldsendung eines Verwandten aus Amerika, eine Erbschaft, die einige Kronen einbrachte. Das größte Wunder war, wenn die Kinder in die Fremde fuhren und den darbenden Eltern gelegentlich einige Dollar schickten.

Auch wenn so viele an Hunger litten, musste doch niemand verhungern. Man erzählte: Mitglieder der Gemeinde weckten den Rabbi am frühen Morgen: »Es ist etwas Furchtbares geschehen«, klagten sie. »In unserer Mitte ist einer hungers gestorben, man hat ihn soeben tot in seiner Stube aufgefunden«. Darauf der Rabbi: »Das kann nicht sein. Ja, es ist unmöglich. Hättet ihr ihm ein Stück Brot verweigert, wenn er es von euch verlangt hätte?« – »Nein«, antworteten sie, »aber Elieser war zu stolz, um etwas zu bitten.« – »Also sagt nicht, dass mitten unter uns einer hungers gestorben ist, denn er ist an seinem Stolz zugrunde gegangen.«

Und so arm die Juden auch waren, so glücklich waren sie auch. Und am glücklichsten waren sie, wenn der Schabbat kam und sie am Tisch saßen und vom geflochtenen Weißbrot aßen, von der süßlichen Challa. Ja, es war eine bis zur Absurdität maßlose, groteske Armut, jedoch keine Armseligkeit, weil die Menschen nicht nur innigst glaubten, sondern auch zu wissen glaubten, dass dieser Zustand nur vorübergehend sei und sich bald ändern würde, auch wenn die Not schon seit Jahrhunderten dauerte, denn jeden Augenblick konnte man mit der Ankunft des Messias – der endgültigen Erlösung – rechnen. Es gab zwar vereinzelt Kleinmütige und Zweifler, die befürchteten, dass sie die Erlösung nicht mehr erleben würden, doch kaum einen, der nicht an den Messias und sein nahes Kommen glaubte.

Die Ostjuden sahen kaum die Schönheit des Landes, in dem sie lebten. Ihr Leben war von Verboten und Einschränkungen bestimmt. Sie gingen zumeist als Bettler und Hausierer über Land und hatten kein Auge und keinen Sinn für die Natur. Die große Mehrheit kannte den Boden nicht, der sie ernährte. Sie fürchteten sich, in fremde Dörfer einzukehren und mit Peitschen vertrieben zu werden. Der Ostjude hatte nur Pflichten, keine Rechte. Einem solchen Schicksal entgeht man schwer, und anstatt davor zu fliehen, fanden sich viele mit ihm ab.

Deshalb war auch der jüdisch-nationale Gedanke im Osten so lebendig. Theodor Herzl, der Begründer der zionistischen Bewegung, wurde dort wie ein neuer Messias oder zumindest wie ein zeitgenössischer Moses, der das Volk Israel ins Gelobte Land führen wird, verehrt. Die Idee einer »jüdischen Nation« verbreitete sich im Osten sehr schnell, auch wenn viele orthodoxe Rabbiner den »Zionismus« verfluchten, weil sie darin eine Gefahr für die Juden und das Judentum sahen. Und als der Zionismus sich immer mehr verbreitete und die orthodoxen Rabbiner immer mehr fluchten, da tauchten national-religiöse Rabbiner auf, die im Zionismus ein Zeichen dafür sahen, dass der Messias schon unterwegs sei und jeden Augenblick erscheinen könne. Der Zionismus wurde zum Vorboten des Messias. Damit machten sie den Juden Mut, die Widrigkeiten des täglichen Lebens zu ertragen und den existierenden Judenhass, der damals noch nicht Antisemitismus, sondern eben schlicht und einfach »Judenhass« hieß, zu erdulden, in der festen Überzeugung, dass der Messias bald kommen würde.

Dennoch schrieb ein Chefredakteur einer ostjüdischen Tageszeitung über die Ostjuden: »In meinem Heimatstädtchen war jeder Jude ein heimlicher Prinz, und auch der Ärmste hatte etwas von einem Aristokraten in sich.« Und auch der Historiker und Philosoph Franz Rosenzweig, der bedeutende Exeget Hegels, schrieb seiner Mutter als Besatzungssoldat aus Polen im Ersten Weltkrieg: »Wir deutschen Juden sind geistig gesehen Proletarier, während die polnischen Juden, die in proletarischen Verhältnissen leben, Aristokraten des Geistes sind.«

Diese Worte sind umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, welch tiefe Verachtung viele deutsche Juden für ihre Religionsbrüder im Osten empfanden. Für sie, die sich schon weitgehend dem westlichen Leben angepasst hatten, verkörperten diese bärtigen Juden mit Schläfenlocken und Kaftan eine seit langem veraltete Kultur.

Die wesentliche Kraft, die den Zionismus in Russland in Bewegung und am Leben hielt, war die der Gebildeten, die Anhänger der Aufklärung. Oft waren sie ehemalige Talmud-Schüler, die eine gewisse Ahnung von systematisch-europäischer Bildung hatten. Sie waren es, die sich ein neues säkularisiertes Bewusstsein aneigneten. Die einfachen, gläubigen Juden blieben hingegen ihren Rabbinern treu.

Ein Teil der Gebildeten lernte Hebräisch und fing an, die jiddische Muttersprache zu verachten. Im Gegensatz zu den westlichen Juden engagierten sie sich insbesondere für gesellschaftliche Veränderungen und übten scharfe Kritik an den jüdischen Gemeinde-Institutionen. In den ersten Jahrzehnten war der Zionismus durchdrungen von radikalem Idealismus und sozialistischen Ideen von Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Die Pogrome gegen Ende des 19. Jahrhunderts trugen ebenfalls dazu bei, dass junge Juden sich politischen Ideologien zuwandten, insbesondere dem Kommunismus und auch dem Zionismus.

»Denke ich an diese Juden zurück, die ich täglich in den Gassen und Straßen und in den Bethäusern sah, so bringt die Erinnerung viel Seufzen und Ächzen, aber auch Gelächter in mir hervor«, schrieb der österreichisch-französische Schriftsteller Manès Sperber, den ich erst viel später kennenlernte, und er meinte, dass das jüdische Schtetl in all seiner Misere eine kleine »Civitas Dei«, eine Stadt Gottes, gewesen sei, geistig und geistlich zugleich. Im Gegensatz zu den Juden in den Ghettos von Venedig und in den Judengassen von Worms oder Frankfurt, die immer eine diskriminierte Minderheit in der eigenen Vaterstadt blieben, waren die Einwohner der Schtetls in Osteuropa selbstbewusste und freie Juden. Sie fühlten sich dort bei sich zu Hause, auch wenn sie Fremde im eigenen Land waren. »Die polnischen Adeligen mochten mächtig und reich sein und auf sie herabsehen: Die Juden waren jedoch von ihrer eigenen Überlegenheit überzeugt, und in dem Schtetl fand sich nicht die Spur eines jüdischen Minderwertigkeitsgefühls. Im Gegenteil: man fühlte sich den polnischen Bauern und selbst den polnischen Adeligen überlegen.«

Folgende Anekdote gibt davon Zeugnis: Ein polnischer Gutsbesitzer, natürlich ein Judenhasser, will seinen jüdischen Gutsverwalter entlassen. Dieser bietet ihm an, seinem Hund innerhalb eines Jahres das Sprechen beizubringen, falls er auf die Entlassung verzichte. Der einfältige Gutsbesitzer ist neugierig, ob der Jude dazu in der Lage sein würde, und willigt ein. Die Frau des Juden schlägt die Hände über den Kopf und schreit ihren Mann an: »Wie konntest du in ein solches Geschäft einwilligen? Du weißt doch, dass der Hund nie sprechen lernen wird.« Darauf der Jude: »Mach dir keine Sorgen, ein Jahr ist lang, es hat 365 Tage. Da kann der Gutsherr sterben, da kann der Hund sterben, und da kann auch ich sterben. Hauptsache, wir sind geblieben, und wenn Gott will, werden wir noch lange bleiben.«

Die Juden waren schon immer praktisch veranlagt und pragmatisch in ihrer Gesinnung. Sie lernten, sich mit allem abzufinden, mit den guten Sachen, die freilich selten vorkamen. Vor allem aber fanden sie sich mit den schlechten, nahezu alltäglichen Umständen ab. Vor allem in Galizien waren sie eine Minderheit unter vielen Minderheiten. Genau das machte alles vergleichsweise erträglich, zumindest erträglicher als das Leben in Westeuropa, wo sie eine Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft waren. Alles in allem war es eine multikulturelle und multiethnische Gesellschaft, in der viele Völker friedlich nebeneinander und miteinander auskamen. Der Schriftsteller Joseph Roth, der in Brody, ganz in der Nähe meines Geburtsortes, aufgewachsen war, zeugte in seinen Romanen von seiner und fast aller Juden Liebe zu diesem Landstrich. Zwar konnte niemand den anderen leiden, aber dennoch achtete man einander. Katholiken hassten Protestanten, und Protestanten hassten die Katholiken, und beide hassten Juden, aber man hatte Respekt voreinander, trieb Handel, und manchmal heiratete man sogar grenzüberschreitend. Es war eine mehr oder minder friedliche Welt. Kaiser Franz Joseph war unser aller Vater und die Donaumonarchie unsere Heimat. Der Kaiser schützte seine Juden, und die Juden liebten ihren Kaiser.

Es gab auch einzelne Juden, wie meinen Onkel Schemarja Melzer in Skala oder meinen Onkel Israel Stein, der Bruder meiner Mutter, in Butschatsch, die Großgrundbesitzer waren. Indessen lebte die große Masse der Juden in erbärmlicher Armut. Die Polen stellten die hohen und niederen Beamten, vereinzelt gab es auch Großgrundbesitzer unter ihnen, besonders unter dem polnischen Adel. Die Ruthenen und Ukrainer waren das Landvolk, selbständige Bauern oder Landarbeiter. Die folkloristisch interessanteste Gruppe waren die Huzulen. Sie lebten bettelarm im Gebirge und verdingten sich als Knechte oder Holzfäller.

Für ihren Lebensunterhalt übten Juden die verschiedensten Berufe aus: Sie arbeiteten als Gerber und Weber, Schneider, Hut­macher und Schuster, Tischler, Stellmacher, Schindelschneider, Schmiede, Seifensieder, Kerzenzieher, Fuhrunternehmer und Wasserträger. Manche zogen Tag für Tag durch die umliegenden Dörfer, kauften den Bauern ein Kalb, ein Maß Korn, ein paar Eier oder Geflügel ab und verkauften diese Dinge an andere Juden weiter oder jeden Donnerstag auf dem großen Marktplatz. Und schließlich gab es die Händler, die in den großen umliegenden Städten ihre Ware einkauften und zur Verbreitung des Jiddischen beitrugen. Man fand praktisch kein Gewerbe, das nicht auch von Juden betrieben wurde, von den oft reichen Kaufleuten ganz zu schweigen.

Und auch dazu schrieb Sperber: »Es gab kein Gas, keine Elektrizität, keine Kanalisation und kein Telefon im Schtetl und natürlich auch keine Wasserleitungen, sondern nur einige wenige Brunnen. Wasserträger brachten es jenen, die es bezahlen konnten, ins Haus. Die Armen mussten sich ihr Wasser selbst holen.«

Die fleißigen Menschen, die jeden Donnerstag auf dem Marktplatz ihre Waren anboten, verließen in der Regel nie die engen Gassen ihrer kleinen Stadt, in der sie geboren waren und wo sie auch in der Regel starben. Sie sorgten dafür, dass das kulturelle Erbe ihrer Väter lebendig blieb, und gaben sich mit einem sehr bescheidenen Einkommen zufrieden. Sie glaubten an Gott und setzten ihre ganze Hoffnung in ihn.

Juden sprachen untereinander Jiddisch, die Polen natürlich Polnisch, die Ruthenen, Ukrainer und Huzulen einen russischen Dialekt. Donnerstags kamen sie alle in die Stadt, ins Schtetl, und man konnte auf dem Markt ein babylonisches Sprachgewirr vernehmen. Jeder redete in seiner Sprache, aber sie verstanden einander prächtig. Es gab selten Streit und wenn, dann nicht aus ethnischen Gründen, sondern weil jemand beispielsweise zu viel getrunken hatte und im Rausch gewalttätig wurde. Um zu schlichten, bedurfte es aber meist keiner Polizei. Die anwesenden Händler und Kunden sorgten im eigenen Interesse dafür, dass man die Streithähne voneinander trennte und dass der betrunkene Pole oder Huzule ausgenüchtert wurde. Betrunkene Juden aber gab es so gut wie nie.

In diesem Ostteil Galiziens wurde ich geboren, und bis zu meinem siebten Lebensjahr, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, wuchs ich dort auf. Wir warteten auf den Messias und wussten, dass er nie kommen wird. Das Wort Antisemitismus kannten wir freilich nicht und Judenhass nahmen wir wahr, wie wir den Sommer oder den Winter wahrgenommen haben. Die Christen hassten uns, und wir hassten sie, und trotzdem haben wir mit ihnen Handel betrieben, Feste gefeiert und manchmal auch Hochzeiten, wenn ein jüdischer Junge oder ein jüdisches Mädchen einen Goi, einen Nichtjuden, heiratete. Es war kein persönlicher Hass, es war ein seit Jahrhunderten übertragener Hass, der mehr ein dumpfes Gefühl von Abneigung war, weil man es uns so beigebacht hatte. Ja, wir wussten, dass es früher, vor mehr als 100 Jahren, die Pogrome eines durchgedrehten Kosaken gab und wir hörten auch von den Unruhen in Kischinau und von der Dreyfus-Affäre oder vom Ritualmordprozess gegen Beilis und auch, dass er am Ende freigesprochen wurde, aber während der Lebenszeit meiner Eltern und Großeltern hat es nie Probleme gegeben. Der gegenseitige Hass war nie persönlich gemeint. Von diesem Teil der Welt will ich erzählen. Er existiert nicht mehr, er wurde während des Ersten Weltkriegs schon erheblich zerstört, und in den Jahren 1939 bis 1945 in Blut und Feuer, in Massenmord und Genozid schließlich gänzlich ausgelöscht.

Ich wurde als Sohn einer seit Jahrhunderten in Kuty und Umgebung ansässigen wohlhabenden Patrizierfamilie geboren. Unter den ersten zehn jüdischen Familien, die sich im Jahr 1562 in Kuty niederließen, befand sich, wie die Urkunden des Stadtarchives bezeugen, ein gewisser Wolf Stein. Das war mein Vorfahr mütterlicherseits. Weil die Gründungsfamilien streng darauf achteten, dass die jüdische Tradition lebendig blieb und neue Wurzeln trieb, konnte sich in Kuty im Lauf der Jahrhunderte eine genuin jüdische Lebensart entwickeln.

Die Eltern meines Vaters waren dagegen einfache Leute. Sie lebten in einer bescheidenen Mietwohnung am Rande der Stadt. Geboren wurde ich im Haus meines Großvaters mütterlicherseits, Abraham Stein, wo meine Eltern nach ihrer Hochzeit wohnten. Es war ein sehr großes Haus, und der ältere Bruder meiner Mutter, Jakov, lebte gleichfalls dort mit seiner Familie. Seine Frau hieß Sara, und sie hatten fünf Kinder, zwei Mädchen und drei Jungs. Onkel Jakov half Großvater in seiner Holzhandlung, wo noch weitere Juden beschäftigt waren. Mein Großvater war der größte Waldbesitzer in Kuty und lieferte sein Holz bis nach Czernowitz aus. Für seine Waldarbeiter, die alle Polen waren, hatte er einen polnischen Gutsverwalter, der auch für deren Entlohnung zuständig war. Ich sah diesen herben und grimmigen Mann immer dann, wenn er kam, um den Lohn für die Waldarbeiter abzuholen. Mein Großvater hatte nichts mit ihm zu tun. Die Geschäfte führte meine Großmutter, und von ihr bekam er auch das Geld. Überhaupt kümmerte sich mein Großvater mehr um Thora und Talmud und weniger um die banalen, alltäglichen Angelegenheiten. Für seine Arbeiter hatte er freilich immer Zeit und ein offenes Ohr.

Während meiner ganzen Kindheit lebte ich in ständigem Kontakt mit den einfachen Arbeitern unseres Volkes. Wie gerne betrat ich die vom feuchtwarmen Dampf der Bügeleisen erfüllte Werkstatt des Schneiders, in der die Gesellen zum Klappern der Nähmaschinen alte jiddische Volkslieder sangen: »Unter Jankeles Wiege, da liegt eine goldene Ziege …« oder das besonders beliebte und inzwischen weltbekannte Lied Tumbalalaika:

Steiít a bocher un er trachtet,

trachtet und trachtet a ganze nacht,

wemen zu nemmen un nicht farschemen.

Tumbala, tumbala, tum-balalaika …

Mei’dl, mei’dl, ich will bai dir freigen,

wos ken waksen, waksen ohn regn?

Wos ken brennen un nischt oifheren?

Wos ken benken, weínen ohn trenen?

Tumbala, tumbala, tum-balalaika …

Narrischer bocher, wos darfst du freigen?

A stein ken waksen, waksen ohn regen;

Liebe ken brennen und nicht verbrennen,

a harz ken benken, weinen ohn tränen.

Es steht ein Jüngling und überlegt

überlegt und überlegt, eine ganze Nacht

Wen zu nehmen und sich nicht zu schämen

Tumbala, tumbala, tum-balalaika

Mädchen, Mädchen ich will dich fragen

Was kann wachsen, wachsen ohne Regen?

Was kann brennen und nicht verlöschen?

Was sorgt sich mit Weinen ohne Tränen?

Dummer Junge, wozu fragst du?

Ein Stein kann wachsen ohne Regen

Liebe kann brennen und nicht verlöschen

Ein Herz kann sich Sorgen machen und weinen ohne Tränen.

»Wann singt ein Jude?«, fragt man, und manche antworten: »Er singt, wenn er hungrig ist.« Andere sagen: »Er singt, wenn er traurig ist.« Aber am meisten singt er, wenn er verliebt ist oder Hochzeiten feiert.

Noch lieber war ich in der großen Holzhandlung meines Großvaters Abraham Stein, besonders um den Schindelschneidern zuzuschauen, wie sie riesige Holzklötze spalteten, um daraus Schindeln für die Dächer zu schnitzen. Während sie sich den Schweiß von der Stirn wischten, hörte ich sie murmeln: »Schema jisroeil adaunoi elauheinu adaunoi echod!« – Höre, Israel, unser Gott ist einzig, und du sollst lieben den Ewigen, deinen Gott, mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele.« Ich war voller Bewunderung für ihr männliches Handwerk und ihren festen Glauben.

Etwa 20 jüdische Arbeiter waren in der Schindelwerkstatt beschäftigt. Großvater kümmerte sich sehr um sie, und wenn einer von ihnen Sorgen hatte oder Geldprobleme, dann hat er immer geholfen. Sie hatten es gut bei ihm. Sie arbeiteten fünf Tage in der Woche. Freitag und Schabbat hatten sie frei. Am Donnerstagabend nach Beendigung der Arbeit saß meine Großmutter vor dem Ausgang und reichte jedem seine Lohntüte, damit er Geld für den Schabbat hatte, um das Notwendige einzukaufen. Freitags sollten sie Zeit haben, um den Schabbat vorzubereiten.

Denke ich an diese Juden zurück, wie ich sie täglich in den Gassen, auf dem Marktplatz, in Bethäusern und Studierstuben sah, so bringt mir die Erinnerung zweierlei Geräusche zurück: Seufzen, viel Seufzen und Ächzen, aber auch Gelächter, gutmütiges oder spöttisches, doch stets lautes Lachen. Chassidim brachten diese Lebensart vom Hofe ihres Zaddiks, des Wunderrabbis, zu dem sie immer wieder fuhren.

Meine Geburtsstadt hieß und heißt heute immer noch Kuty. Juden nannten sie liebevoll Kitew. Es war ein quirliges Schtetl mit etwa 10 000 Einwohnern, wovon die meisten Juden waren. Es gab auch einige Deutsche in der Stadt; Hermann Jäckel war der reichste unter ihnen, Mühlenbesitzer und Villenbewohner mit einem eigenen Generator für die Elektrizität und einem Telefonanschluss. Beides war den übrigen Bewohnern noch unbekannt. Es arbeiteten bei ihm nur Juden, und er war anständig und höflich zu ihnen, wie zu allen anderen Bewohnern der Stadt.

Mein Vater arbeitete als Buchhalter in der Mühle von Hermann Jäckel. Die Melzers waren, wie schon erwähnt, der ärmere Teil meiner Familie. Wohlhabend, wenn nicht sogar reich, war der Vater meiner Mutter, mein Großvater Abraham Stein. Er führte das Leben eines Großgrundbesitzers, während es bei uns zu Hause sehr bescheiden zuging. Aber weil mein Großvater seine Tochter, meine Mutter, liebte, sorgte er dafür, dass es uns an nichts fehlte, denn das Gehalt meines Vaters reichte nicht aus, um alles Lebensnotwendige zu bezahlen. Dennoch respektierte Großvater meinen Vater sehr, weil er als begabter Schüler und als Kenner des Talmuds galt. Das bedeutete damals für reiche jüdische Familien mehr als Geld. Während in der christlichen Welt Adel und reiche Familien unter sich heirateten, war es in der jüdischen Welt für die Reichen eine Ehre, einen begabten Talmudschüler zum Schwiegersohn zu nehmen, selbst – oder sogar ganz besonders dann – wenn er arm war. Der Vater der Braut verpflichtete sich, das junge Paar einige Jahre lang zu ernähren und dafür zu sorgen, dass der Schwiegersohn später auf eigenen Füßen stehen konnte. So besorgte Großvater Stein meinem Vater die Stelle beim deutschen Mühlenbesitzer, mit dem er geschäftlich zu tun hatte.

Es waren beinahe paradiesische Zustände, unberührt von der Hektik der damaligen Zeit. Das Schtetl lag eingebettet in einem Tal, umgeben von einem mächtigen Gebirgszug, den von Buchen, Eschen und Birken bewaldeten Karpaten. Soweit ich mich erinnern kann, war Kuty im Vergleich zu den benachbarten Orten sehr sauber. Die Straßen waren gepflastert, systematisch angelegt, und es gab sogar Bürgersteige; im Zentrum lag der große Marktplatz. Am oberen Ende des Marktes erhob sich ein zweistöckiges Gebäude in Hufeisenform. Dieses Haus gehörte meinem Großvater Abraham, und dort wohnten wir die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg.

Großvater war ein entfernter Nachkomme des Hohen Rabbi Löw von Prag und des nicht minder berühmten Chacham Zwi aus Amsterdam. Was Ersteren betrifft, so erzählt die bekannteste der zahlreichen Versionen der Prager Golem-Saga, wie er sich große Sorgen wegen der zahlreichen Anschuldigungen machte, die seine Zeitgenossen gegen die jüdische Gemeinschaft erhoben. Und so lautet der Text, den ich hier zitieren möchte, da ich es selbst nicht besser schrei­ben könnte: »Im Jahr 1580 soll sich ein christlicher Geistlicher mit dem Namen Thaddäus erneut gegen die Juden gewandt und ihnen vorgeworfen haben, rituelle Morde zu begehen. Daraufhin hatte der Rabbi einen Traum, in dem der Himmel ihm auftrug, ein Menschenbild aus Lehm zu erschaffen: »Erschaffe ein Menschenbild aus Lehm, und du wirst der Böswilligen Absicht zerstören.« Um den Golem zu erschaffen, ging er mit einem seiner Schüler und einem Diener zu einer Lehmgrube an der Moldau. Dort kneteten sie aus der formlosen Masse eine menschliche Figur, um die sie dann siebenmal liefen und daraufhin mehrere Formeln sprachen. Der Golem erwachte zum Leben. Er war ausdruckslos, nur seine Augen leuchteten rot. Es ist nicht genau überliefert, wie er aussah, es steht aber fest, dass er sehr groß war und ungeheure Kräfte hatte. Die meiste Zeit saß er reglos zurückgezogen in einem Winkel der Stube des Rabbis. Mit einem Amulett aus Hirschhaut konnte dieser ihn unsichtbar machen. Und wenn er einen Auftrag für den Golem hatte, legte er ihm ein mit Zaubersprüchen beschriebenes Pergament in den Mund. Die meisten Aufträge, die der Rabbi ihm gab, bezogen sich auf die Bekämpfung der diversen widerlichen Blutbeschuldigungen. Der Golem patrouillierte dabei nachts im jüdischen Viertel. Er hielt jeden an, der eine Last trug. War die Last eine Kinderleiche, die zum Zwecke der Beschuldigung der Prager Juden in ihrem Viertel abgelegt und aufgefunden werden sollte, wurde der Überführte den hohen Leuten im Stadthaus übergeben.

Als 1593 wieder Ruhe eingekehrt war, nicht zuletzt dank eines Gesetzes, das die Blutbeschuldigung unter Anklage stellte, beschloss der Rabbi, den Golem wieder den Elementen zurückzugeben. Wieder ging er mit seinen Vertrauten zur Lehmgrube und vollzog das Ritual in umgekehrter Reihenfolge. Dann verstauten sie die Überreste in Rabbi Löws Dachstube. Bis heute sollen sie dort noch liegen.«

Eine andere Version berichtet, dass Rabbi Löw ein Pergament mit einer Zauberformel im Mund des Golems vergessen hatte, der Golem Amok lief und deswegen beseitigt werden musste.

In diesen Zeiten verbreitete sich der Chassidismus in Osteuropa. Auch meine Familie war davon berührt. Den Schritt zum Chassidismus tat mein Urgroßvater Schalom Stein. Er war, wie man so sagt, ein »seidener« Mensch, ganz ungewöhnlich gelehrt, von vollendeter Frömmigkeit und mit allen Tugenden reich gesegnet. Rabbiner wollte er aber aus Bescheidenheit nicht werden. Sein Wunsch war, ein gewöhnlicher Geschäftsmann zu sein, ein Holzhändler zu werden wie sein Vater. Doch meistens saß er über seinen heiligen Büchern gebeugt und studierte den Talmud. Die Holzgeschäfte führte seine Frau, die dazu auch noch den Haushalt beaufsichtigte. Das war aber keineswegs ungewöhnlich. Überall führten bei wohlhabenden chassidischen Geschäftsleuten die Frauen die Geschäfte, und die Männer konnten sich dem Studium der Thora und des Talmuds widmen.

Mein Großvater wurde also, so wie sein Vater, von dem er das Geschäft geerbt hatte, Holzhändler. Holz gab es in den Wäldern der Umgebung genug. Mein Großvater trug einen dichten weißen Bart und sah mit 40 schon wie ein alter Mann aus. Er spendete viel Geld für wohltätige Zwecke. In seiner jüdischen Gemeinde war er sehr aktiv und half dem, der Hilfe bedurfte. Seine Gemeinde war die der Chassidim, die sich in der Kleidung nicht nur von den Konservativen, sondern noch deutlicher von den Liberalen unterschieden.

Die Juden vermieden es in der Regel, zu den staatlichen Gerichten zu gehen, und regelten ihre Streitigkeiten unter sich. Natürlich musste alles später vom Rabbiner gesegnet werden. Unser Rabbi war ein fröhlicher Chassid, stets zu einem jiddischen Witz aufgelegt, und damit ein scharfer Kontrast zu den konservativen Rabbis, die immer streng, humorlos und ernst auftraten. Bei uns hielt man sich an die Lehre von Rabbi Hillel, der predigte: »Was Du nicht willst, dass man es Dir tut, das füg auch keinem anderen zu.«

Großvater Abraham Stein

Besonders deutlich wurde der Unterschied am Pessachfest. Bei den Konservativen reichte ein Becher Wein für die ganze Zeremonie beim Abendmahl, bei dem man zur Heiligung des Namens, zum Segnen des Mahls und zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten koscheren Wein trinkt. Auf dem Tisch stand auch ein voller Becher für den Propheten Elijahu (oder Elijas), der als Gast erwartet wurde, von dem man aber wusste, dass er nie kommen würde. Bei den Konservativen nippte der Rebbe beim »Kiddusch« nur am Becher, und am Ende der ganzen, langen Zeremonie lautete der Segensspruch: »Nächstes Jahr in Jerusalem«.

Bei den Chassidim hingegen trank der Rebbe bei jedem Segensspruch den vollen Becher aus, und einer der Schüler war immer dafür verantwortlich, ihn mit koscherem Wein aufzufüllen. Nach dem fünften oder sechsten Spruch war der Rebbe beschwipst und am Ende leicht betrunken, so dass er nach der Zeremonie auf den geräumten Tisch stieg und anfing zu tanzen. Er blieb allein da oben, die anderen tanzten auf dem Boden, denn man hatte Angst, dass der Tisch die Last nicht tragen könne. Und so tanzte man bis in den frühen Morgen, bis alle vor Erschöpfung umfielen.

In der chassidischen Synagoge, oder wie wir sie nannten, in der »Schul«, herrschte immer ein fröhliches Durcheinander, besonders weil man die Kinder machen ließ, was sie wollten. Die Erwachsenen sprachen mehr über ihre Geschäfte, anstatt sich dem Gebetbuch zu widmen, und manch erfolgreiches Geschäft wurde zwischen zwei Gebeten beschlossen. Die Frauen saßen auf der Galerie und blickten auf die Männer herunter. Auch sie redeten ununterbrochen miteinander, und nur Gott weiß, was sie sich zu sagen hatten. Möglicherweise tauschten sie Backrezepte aus oder verkuppelten ihre Töchter und Söhne, möglichst gut und teuer. Wenn der Sohn eines reichen Honoratioren Bar-Mizwa feierte, wurden Süßigkeiten verteilt und von den Frauen auf der Galerie heruntergeworfen; für die Erwachsenen gab es nach dem Gebet einen Umtrunk.

Besonders beliebt waren bei mir die Mahlzeiten am Schabbat. Da gab es immer meine Lieblingsspeise, die »Kreplach«, Knödel oder dreieckige Taschen aus unvergorenem Teig, gefüllt mit feingehacktem Fleisch. Kreplach wurden nur an Samstagen und Feiertagen gemacht. An letzteren, zum Beispiel Pfingsten, werden sie jedoch nicht wie üblich mit Fleisch gefüllt und auch nicht in Suppe gekocht, sondern in Töpfe gefüllt und gesondert gekocht. Wer die Kreplach meiner Großmutter nicht gegessen hat, hat noch nie in seinem Leben richtige Kreplach gegessen.

Hinter dem Haus meines Großvaters standen die Kirchen der drei verschiedenen christlichen Konfessionen, jeweils mehrere hundert Meter voneinander entfernt. Die größte war die römisch-katholische der Polen. Die Ruthenen hatten ihre etwas kleinere griechisch-orthodoxe, und die kleinste war die protestantische Kirche, in welche die meisten Deutschen gingen.

Es gab eine Hauptsynagoge und mindestens 20 Bethäuser für die Anhänger der untereinander zerstrittenen chassidischen Rabbis. Mein Großvater war auch ein Chassid, jedoch einer von sanfter, milder Natur. Ihm war jede Art von Zelotentum fremd, ohne dass er dabei auch nur ein Jota der 613 Gebote und Verbote missachtete. Ihm galten meine große kindliche Liebe und Verehrung.

Unter seinen Fittichen bin ich bis zu meinem siebten Lebensjahr herangewachsen, nur der unselige Krieg 1914 konnte mich von ihm trennen, ihn aber nicht vergessen lassen. Sein Bild hängt über meinem Schreibtisch. Über seinem Antlitz mit dem schlohweißen Bart schwebt eine Aureole von Güte und Weisheit, die mich immer noch tief beeindruckt. Es verging kein Tag, an dem er nicht »lernte« oder einen Traktat des Babylonischen Talmuds mit melodischem Gesang vortrug. Seine Gottesfurcht und -liebe war nicht nur Lippenbekenntnis, sondern voll warmer Herzensgüte für Menschen und Tiere. Ich entsinne mich noch sehr deutlich, wie er mich bei einem Spaziergang am Schabbat davor warnte, einen Wurm zu zertreten. »Dieses ist ein Geschöpf Gottes, mein Kind, wir dürfen es nicht töten.«

Ich erlebte, wie er jeden Morgen inbrünstig sein Morgengebet sprach – nein –, sogar sang: »Mit großer Innbrunst hast Du uns geliebt, Ewiger, unser Gott! Mit großer und überschwänglicher Barmherzigkeit Dich unser erbarmt, unser Vater und König! Um unserer Väter willen, die auf Dich vertraut und denen Du die Lehren des Lebens erteiltest, sei auch uns gnädig und belehre uns, unser Vater, Barmherziger, Gnadenreicher! Erbarme Dich unser und gib uns in das Herz, all die Worte der Belehrung aus Deiner Lehre zu verstehen und zu erkennen, zu hören, zu lernen und zu lehren, zu bewahren und auszuüben.«

Und so ging es noch lange weiter, und wenn er fertig war, wusch er sich die Hände und nahm sein Frühstück ein. Am Schabbat sprach er noch den Kiddusch, bevor er das Brot an alle Anwesenden verteilte.

Mein Großvater war eine Zeitlang der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde in Kuty. Er war nicht nur für Streitigkeiten als Schlichter oder, wenn er nicht zu schlichten vermochte, als Richter zuständig. Manchmal hielt er auch Grabreden für besonders beliebte und vornehme Verstorbene. Im Kuty von heute gibt es keine Gräber, die an die verstorbenen Vorfahren erinnern. Das Jüdische ist aus der Stadt vollständig verschwunden, wahrscheinlich verbrannt, so auch die Geburten- und Todesbücher, die seit Urzeiten geführt wurden. Mein Großvater starb 1926 nach einer langen, unheilbaren Krankheit. Ich dachte an den Spruch aus der Thora: »Warum wird der Gerechte mit Leiden bestraft, der Bösewicht dagegen lebt in Wohlstand?«

Alles in allem hatte ich dennoch eine glückliche Kindheit. Ich musste seit meinem dritten Lebensjahr im »Cheder« hebräisch lesen und beten und schließlich die Bibel übersetzen lernen. Cheder nann­te man den Raum, der gewöhnlich von einem bettelarmen Lehrer bewohnt wurde und in dem der Unterricht abgehalten wurde, in dem aber auch seine Frau und seine zahlreichen Kinder lebten, aßen und schliefen. Aber es gab auch reichlich Gelegenheiten, mit Gleichaltrigen zu spielen, im Sommer im Tscheremosch zu baden und im Winter Schneeballschlachten zu veranstalten. Es war eine heile Welt – und für uns Kinder ein Paradies. Wir kannten keine unmittelbare Feindseligkeit gegenüber uns Juden, denn alle Religionen im Schtetl pflegten gute Beziehungen zueinander.

Mein bester Freund hieß Schalom, und sein Vater war Fuhrmann. Ein Fuhrmann ist aber den ganzen Tag unterwegs und verdient dabei wenig Geld. Pinchas aber, Schaloms Vater, wollte bei seinem kleinen Sohn bleiben. Er ließ also den Wagen Wagen sein und siedelte nach Kuty über. Über Nacht wurde aus ihm ein Schneider. Nun war aber in Kuty bereits jeder achte Jude Schneider. Und sich schön herauszustaffieren war nicht die Sache der Juden. Beim Feiertagskaftan handelte es sich meist um ein Erbstück, das vom Vater auf den Sohn bis ins dritte und vierte Geschlecht weitergegeben wurde. Wenn der Wochenkaftan etwas zerfranst war, so machte das auch dem Reichsten nichts aus. Arbeit gab es wenig und Geld noch weniger. Die Eltern meines Freundes Schalom waren arm. Sie hatten nicht einmal das Geld für einen Lehrer, der das Söhnchen Gottes Wort hätte lehren können. Zum Glück erlaubte aber mein Großvater, dass Schalom zusammen mit mir in den Cheder ging, und zahlte dafür das Schulgeld. So lernten wir beide gemeinsam die Thora und übten das Hebräische. Alphabet: Aleph, Beth, Gimel, Daleth und so weiter.

Kuty war wie Hunderte anderer Städtchen, in denen bis 1942 die jüdische Bevölkerung Galiziens, Russisch-Polens, Litauens, Weißrusslands und der Ukraine auf engstem Raum zusammengepfercht lebte. Am Rande der Stadt floss langsam und ruhig der Tscheremosch. Dieser Fluss kennzeichnete die Landesgrenze zwischen Galizien und der Bukowina. Es war keine Reichsgrenze, sondern nur eine offene Landesgrenze. Die nächstgelegene Stadt in der Bukowina, auf der gegenüberliegenden Seite des Tscheremosch, hieß, wie gesagt, Wischnitz. Sie war der Sitz des berühmten Wischnitzer Rebben Chaim Meir Hager und bis zu ihrem Wegzug nach Wien der Wohnort meiner Tante, der Schwester meiner Mutter.

Die Bukowina mit ihrer Hauptstadt Czernowitz war die östlichste deutsche Provinz mit einer deutschsprachigen Universität, mehreren deutschen Tageszeitungen sowie einem deutschen Theater. Mit der Vernichtung der Juden ist auch diese deutsche Kulturstätte untergegangen. Besonders die deutschen Verleger spürten das, denen ein großer Buchmarkt verloren ging, denn es gab kein jüdisches Haus östlich von Wien, in dem nicht die deutschen Klassiker fein geordnet im Bücherregal standen. Von Kuty in nördlicher Richtung lag die Stadt Zablotow, was »hinter den Pfützen« bedeutet. Dort wurde der deutsch-jüdische Schriftsteller Manès Sperber geboren, dort wohnte auch eine andere Schwester meiner Mutter, die einen reichen Juden geheiratet hatte, der Gutherz hieß.

Wie ich bereits erwähnt hatte, war mein Vater als Buchhalter bei dem deutschen Mühlenbesitzer Hermann Jäckel beschäftigt. Eigentlich wollte Großvater, dass er Kaufmann wird. Er beschloss, ihn in die kaufmännische Lehre zu Onkel Schmuel nach Czernowitz zu schicken, der dort eine große Tuchhandlung besaß. So fuhr er mit ihm eines Tages mit dem Pferdefuhrwerk bis zur Eisenbahnstation und von dort mit der Eisenbahn in die »Großstadt« Czernowitz. Beim Onkel angekommen, nahm dieser sofort meinen Vater zur Seite und fragte ihn:

»Was machst du, wenn eine Bäuerin kommt und rotes Tuch haben will und du hast aber nur blaues?«

Mein Vater soll äußerst verlegen geguckt und gestottert haben:

»Ich bestelle für sie rotes Tuch.«

»Taugt nicht, taugt nicht«, schrie der Onkel verzweifelt. »Was heißt schon, sie will rotes Tuch? Sie ist Bäuerin, sie hat nichts zu wollen, und du musst ihr verkaufen, was du hast, und nicht, was sie will.«

Damit endete die Karriere meines Vaters als Kaufmann, noch bevor sie begonnen hatte. Enttäuscht, aber erleichtert kam er nach Kuty zurück. Er wollte kein Kaufmann, sondern Schriftsteller werden. Schon früh hatte er sich von der jüdischen Tradition gelöst, lebte schon im Schtetl als »Freigeist« und nahm, wenn er zum Gebet in die Synagoge ging, immer irgendeinen deutschen Klassiker mit, den er unter seinem Gebetbuch versteckt hatte. Während alle anderen inbrünstig beteten, las er Goethes Faust und Schillers Räuber oder Kleist und Heine. Oh, Heine, den mochte er ganz besonders. Er pflegte, seine Gedichte auswendig zu lernen, verschlang seine Reisebeschreibungen und träumte davon, diese Reisen eines Tages selbst zu machen. Er war aber auch ein profunder Kenner der rabbinischen Literatur, des Talmuds und der Kabbala, und auch das Buch Zohar stand später in seinem Bücherregal neben den deutschen Klassikern. Nicht zuletzt deswegen respektierte und mochte ihn der Vater meiner Mutter, Großvater Abraham Stein, und das war auch der Grund, warum er ihm seine Tochter zur Frau gab.